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Ethik und Herzensbildung Geistes- und Humanwissenschaften leisten ihren Beitrag zu unserem Selbstverständnis n vordem unvorstellbar kurzer Zeit sind Impfstoffe gegen eine grassierende Seu­ che entwickelt worden. Computergesteuerte Analysen riesiger Datenmengen geben Auf­ schluss über deren Verläufe. Ständig werden neue Technologien zur nachhaltigen Ener­ giegewinnung gefunden, umweltschonende­ re Formen der Mobilität und des Individu­ alverkehrs entwickelt und Konzepte erstellt, um die fortschreitende Erderwärmung unter Kontrolle zu bekommen: Die großen Pro­ bleme unserer Zeit scheinen den Naturwis­ senschaften überantwortet. Nicht gefragt dagegen sind offenbar Wissenschaften, die sich mit menschlichen Werken, Handlun­ gen und Befindlichkeiten befassen. „Huma­ nities“ nennt sie der international gebräuch­ liche Anglizismus, für dessen deutsche Ent­ sprechung sich der Terminus „Geisteswis­ senschaften“ eingebürgert hat. Sind die „Humanities“ gleich den „Humanwissenschaften“? Zunächst gilt es zu klären, ob diese Ana­ logie überhaupt legitim ist. Ja, meint, so wie alle für diesen Artikel befragten Wissenschaftler*innen, Julian Reiss, Lei­ ter des Instituts für Philosophie und Wis­ senschaftstheorie an der Universität Linz. „Wenn auch Philosophen etwas andere, grundsätzlichere Fragen stellen als Wissen­ schaftler, gibt es doch viele Überschneidun­ gen, etwa was Kausalität, Methoden oder Begriffsbildung betrifft“, erklärt Reiss, der in den 1990er-Jahren an dem von Karl Pop­ per begründeten Lehrstuhl in London Wis­ senschaftsphilosophie studiert hat. „In die­ ser Tradition intellektuell aufgewachsen, ist mir der deutsche Begriff der Geisteswissen­ schaften, der die Gemeinsamkeiten mit den Natur- und Sozialwissenschaften betont, sehr recht.“ „Das englischsprachige ‚Humanities‘ kann als ein allgemeinerer Begriff angese­ hen werden, der auch sozialwissenschaftli­ che Fächer umfasst“, erläutert der Sprach­ wissenschaftler Lars Bülow vom Wiener Ins­titut für Germanistik. „Sicher jedoch verwenden wir ,Humanities‘ auch als Sy­ nonym zum Begriff ‚Geisteswissenschaften‘. Man findet im Deutschen allerdings auch den Begriff der ,Humanwissenschaften‘, der die beiden Teilbereiche Geistes- und Sozi­ alwissenschaften umfasst und dem Begriff ,Humanities‘ eigentlich gerechter wird.“

TEXT: BRUNO JASCHKE

„Geisteswissenschaftler*innen eignen sich gut zur Moderation interdisziplinärer Dialoge“ JULIAN REISS, UNIVERSITÄT LINZ

Lars Bülow, Universität Wien

Martin Kusch, Ethische Fragen der Gentechnik Universität Wien bleiben den Humanities Das Problem der Geisteswissenschaften ist gewiss nicht ihr deutscher Name, son­ dern dass sie keine so spektakulären Er­ rungenschaften wie die Naturwissenschaf­ ten anbieten können. Bisweilen wird daher ihre Legitimität in Frage gestellt. „Das wird natürlich auch gern von Politik oder Wirt­ schaft aufgenommen und ausgenützt“, be­ merkt Martin Kusch, Wissenschaftsphilo­ Bernhard Söllradl, soph an der Universität Wien. Universität Wien

Dennoch können große Diskurse nicht ohne Beitrag der Geisteswissenschaften aus­ kommen. Selbst bei wesenhaft technokrati­ schen Entwicklungen ist ihr Input gefordert. Das zeigt sich etwa bei Fragen der Gen­ technik: Es ist zwar möglich, Lebewesen zu klonen, ob es auch ethisch vertretbar ist, will man aber lieber von Philosoph*innen, Theolog*innen oder Anthropolog*innen als von Gentechniker*innen behandelt wissen. Herausforderungen solcher Art warten, wie Reiss erklärt, auf die Geisteswissen­ schaften in vielen Bereichen: „Nehmen wir den Klimawandel. Um zukünftige Schäden mit den heutigen Kosten von Maßnahmen vergleichbar zu machen, brauchen wir einen Diskontfaktor, das heißt, eine Art von Zins­ satz, mit dem man den heutigen Wert zu­ künftiger Geldströme berechnen kann. Was ist ein guter Faktor? Das ist keine rein öko­ nomische Frage, sondern eine, die auch po­ litische, ethische und viele andere Kompo­ nenten hat. Wegen ihrer abstrakteren und ganzheitlicheren Sicht auf die Dinge eig­ nen sich Vertreter*innen der Geisteswissen­ schaften hervorragend als Moderator*innen von interdisziplinären Dialogen.“ Corona ist nur zu einem Teil ein medizinisches Problem Auch die Coronakrise wirft Fragen auf, die nicht mit Wirkstoffen und statistischen Be­ rechnungen zu klären sind. In der Pande­ mie sieht Kusch die Philosophie besonders gefordert. „Philosophische Arbeit hat zu ei­ nem besseren Verständnis von wissenschaft­ lichen Modellen für die Vorhersage, die in der Pandemie sehr wichtig sind, beigetra­ gen. Dann gibt es vielfältige philosophische Ansätze, Phänomene wie Fake News, Un­ wissen, Fehlinformation, soziale Medien etc. besser zu verstehen. Philosoph*innen haben sich bemüht, die Rolle des Staates und demokratischer Institutionen in Pan­ demiezeiten zu analysieren.“ Sprachwissenschaftler Bülow hat die öf­ fentliche Krisenkommunikation und die da­ rin geäußerten Geltungsansprüche im Vi­ sier: „Die Angewandte Sprachwissenschaft kann Erkenntnisse zur Verfügung stellen, wie Diskurse in unterschiedlichen kommu­ nikativen Zusammenhängen strukturiert sind und wie man ‚effektiv‘ kommuniziert. Wir können untersuchen, welche sprach­ lichen Faktoren bei der Weiterleitung von textuellen Artefakten, etwa Internet-Me­ mes, zur Coronakrise eine Rolle spielen.“ „Corona ist eben nur teilweise, und ich meine zu einem relativ geringen Teil, ein medizinisches Problem“, erklärt Reiss. „Die Krise hat auch eine politische, gesellschaft­ liche, ökonomische, kulturelle und ethische Seite, und sie ist auch eine Krise der Bil­ dung und Erziehung und wahrscheinlich sogar eine der nationalen Sicherheit. Viel­ leicht braucht es die etwas ganzheitliche­ re Sicht der Geisteswissenschaften, um das zu erkennen.“

Weitere dringende Agenden wie Gender und Migration warten auf Antworten der Geisteswissenschaften. Und neue Heraus­ forderungen zeichnen sich ab. „Da fällt mir spontan die Digitalisierung ein“, sagt Reiss. „Auch eine extrem komplexe, alle Aspek­ te des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens berührende Entwicklung. Die Geis­ teswissenschaften sind dringend gefordert, Beiträge zu leisten, damit Chancen genutzt und Risiken abgefedert werden können.“ Neue Formen der Geschichtsbetrachtung nehmen zu Was künftige Trends angeht, sieht Reiss die sogenannte Alternative History auf dem Vormarsch und in den eigenen Reihen Wiedergutmachung angesagt. „Noch in den 1960er-Jahren war es in der Geschichtswis­ senschaft verpönt, sich der Frage ,Was wäre, wenn …?‘ zu widmen: Was, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte? Diese Fragen galten als zu spekulativ für die stark positivistisch beeinflusste Geschichtswissenschaft. Heu­ te ist man wieder spekulativer, das Gen­ re der kontrafaktischen oder virtuellen Ge­ schichte blüht. In meiner eigenen Disziplin ist man bemüht, vergangenes und aktuel­ les Unrecht zu benennen und wiedergutzu­ machen. So wird ein Forschungsantrag, der explizit Themen wie Rasse, Ethnizität und Rassismus behandelt, größere Erfolgsaus­ sichten haben. Das war vor einem halben Jahrhundert kaum denkbar.“ „Ein wiederkehrendes Thema ist die Fra­ ge nach den besten methodischen Zugän­ gen in der konkreten Analyse geisteswis­ senschaftlicher Untersuchungsgegenstände. Unter dem Schlagwort ‚Digital Humanities‘ wird etwa der Einsatz von computergestütz­ ten Recherchemethoden, Datenbanken etc. forciert, da diese den Vorteil quantifizierbarer, per Mausklick nachprüfbarer Ergebnisse bie­ ten. Die exakte Beschreibung des Materials ist aber nicht das Ergebnis, sondern die Ba­ sis von Forschung“, meint Bernhard Söllradl vom Institut für Klassische Philologie, Mit­ tel- und Neulatein an der Universität Wien, der aus seinem „antiken“ Forschungsgebiet eine interessante Erklärung für den (Stel­ len-)Wert der Geisteswissenschaften ableitet: „In der klassisch-philologischen Forschung haben wir es mit Texten zu tun, die mehre­ re Hundert oder gar Tausend Jahre alt sind. Wenn ich die Themen, Fragen und Proble­ me nachvollziehen möchte, die dort verhan­ delt werden, ist es notwendig, mich in Wer­ tehorizonte und Weltanschauungen hinein­ zuversetzen, die mir zunächst vielleicht völlig fremd sind. Man könnte von der Notwen­ digkeit ‚philologischer Empathie‘ sprechen. Von hier lässt sich der Bogen zur Gegenwart spannen: Wenn man einen Zweck geistes­ wissenschaftlicher Studien definieren woll­ te, könnte man also vielleicht von ihrem Bei­ trag zur Herzensbildung sprechen, die uns dazu befähigt, zeitaktuellen Problemstellun­ gen in angemessener Weise zu begegnen.“

FOTOS: EUROPEAN ACEDEMY OF SCIENCES, INSTITUT F. GERMANISTIK UNI WIEN, PRIVAT, UNIVERSITÄT WIEN/TOBIAS STEINMAURER

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