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Anderstönende Zikaden in Tschernowo Mit „Baba Dunjas letzte Reise“ hat es sich Alina Bronsky in der Todeszone von Tschernobyl etwas zu gemütlich gemacht s gibt sie wirklich, die alten Frauen von E Tschernobyl, die an den Ort der Katastrophe zurückkehrten. Die Zeitungen be-
richteten darüber, die amerikanische Bestsellerautorin Elizabeth Gilbert schwärmte auf Facebook von der inneren Stärke jener Frauen, die sich in der sogenannten „Todeszone“ niederließen. Alina Bronsky hat sich davon zu ihrem Roman „Baba Dunjas letzte Liebe“ inspirieren lassen und erzählt aus der Sicht einer dieser hemdsärmeligen Frauen, die mit geradem Rücken ihren eigenen Garten bestellen und sich unbeeindruckt zeigen von der Strahlung, die man ohnehin nicht sehen kann. Bronsky, 1978 im russischen Jekaterinburg ge-
boren, lebt seit Anfang der 90er-Jahre in Deutschland, mittlerweile in Berlin. Baba Dunja hingegen bleibt ihren Wurzeln treu. Kein „Reaktor“, wie die Nuklearkatastrophe genannt wird, soll sie vertreiben. Gemeinsam mit ihr wohnen auch noch die dicke Marja oder der verwahrloste alte Mann Petrow in dem halb zerfallenen Dorf Tschernowo. Baba Dunja, ehemals medizinische Hilfsschwester, bringt ihnen Suppe oder Neuigkeiten aus der Zeitschrift Die Bäuerin. Sie ist die Dorfälteste, „keine 82 mehr“, wie sie kokett an die Enkelin in Deutschland schreibt, die sie nur von Fotos kennt. Man besucht sie hier besser nicht. Das winzige Tschernowo hat sogar einen eigenen Friedhof, weil keiner die Leichen haben will, und die Nachbarstadt diskutiert we-
gen der Strahlengefahr bereits über die Einführung von Bleisärgen. Die düstere Szenerie bietet gute Voraussetzungen für einen Roman. Allerdings hat es sich die Autorin mit ihrer Hauptfigur Baba Dunja zwischen den Häusern, durch die Bäume wachsen, etwas zu bequem eingerichtet. Manchmal kommt ein Biologe vorbei, um festzustellen, dass die Netze, die Spinnen hier weben, anders aussehen als sonstwo und dass das Gezirpe der Zikaden anders klingt. Vom Birkensaft, den Baba Dunja für ihn frisch zapft, will er aber lieber nicht probieren. Einmal macht ihr sogar einer ihrer Nachbarn einen Heiratsantrag, eher aus Langeweile oder Pragmatismus, denn man verfügt über unendlich viel Zeit an diesem Ort und macht eben das Beste aus der bedrohten Lage: „Uns kriegt keine Mikrowelle weich“, erklärt Baba Dunja salopp. Ansonsten helfen ihr die fantasierten Gespräche mit ihrem toten Mann über viele einsame Stunden hinweg.
werden nicht auserzählt, weswegen sie mäßig plausibel erscheinen. Und mit der Entscheidung, ihre Hauptfigur alle Vorfälle und Rückblicke im bedeutungsschweren Präsens schildern zu lassen, handelt sich Bronsky eine Schwere und Überdeutlichkeit ein, die zur proklamierten Gelassenheit der Erzählerin nicht so recht passen wollen. Nach ihrem Debüt „Scherbenpark“ über das Le-
Die Atmosphäre eines Zwischenreichs vermittelt
Bronsky zunächst zwar gut, bloß dass diese keinen ganzen Roman trägt. Am schwersten aber wiegt, dass die Titelheldin in ihrem Monolog nie zu einer Figur wird, die einen wirklich bewegt, und „scheppernde Knochen“ auch kein hinreichend komplexes Attribut ist, um eine alte Frau zu charakterisieren. Und die Folgen, die sich aus einer sehr forciert wirkenden Dramatik ergeben,
Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 154 S., € 16,50
ben russischer Jugendlicher in Deutschland hat die Autorin mit zwei weiteren Romanen bewiesen, dass sie mit ihrer lebendigen Sprache einen Text zum Klingen und die Handlung ins Rollen bringen kann. „Baba Dunjas letzte Liebe“ hingegen stagniert auf einem Schauplatz, der alles schluckt. Leicht pathetische Strecken der Innenschau wechseln mit betulichen Beschreibungen noch der nebensächlichsten Tätigkeiten der Protagonistin, wodurch diese als starke Erzählstimme unterlaufen wird. Ein Perspektivwechsel hätte dem Text gutgetan und diesen um eine gesellschaftlich relevante Ebene bereichern können. Man hätte zum Beispiel gerne mehr dar über erfahren, warum westliche Medien ausgerechnet diese alte Frau zur Symbolfigur auserkoren haben. Auch über die bis heute spürbaren Folgen dieser geopolitischen Wunde, die das Reaktorunglück geschlagen hat, schweigt sich der kleine Roman leider aus. Er bleibt arglos und vage in Tonfall und Anlage. A N J A H I R S C H
Über allen Gipfeln ist Glas Der Schelmenroman ist das Lieblingsgenre von Radek Knapp. Zu neuen Höhen führt er es mit „Der Gipfeldieb“ aber nicht udwik Wiewurka ist Heizungsableser L in Wien bei der Firma Wasserbrand & Söhne. Er stammt aus Polen und wurde
von seiner Mutter gegen den eigenen Willen nach Österreich geholt. Mittlerweile liebt er seine Arbeit und schätzt seinen Chef. Auf seinen Wegen durch die Stiegenhäuser und Wohnungen hat er sich einige Menschenkenntnis erworben: Es genügt ihm ein Blick auf die Eingangstüren, um darüber Bescheid zu wissen, wer dahinter in welchen Verhältnissen wohnt. Eine eherne Regel gilt allerdings immer und überall: Trinkgeld gibt es nur im Wohnzimmer, nie im Badezimmer. Weswegen ein versierter Heizungsableser seine Arbeit auch immer im Wohnzimmer beenden sollte, auch wenn er dort bisweilen Bekanntschaft mit Leguanen macht, oder ein Esel plötzlich im Raum steht.
Doch selbst der Abgeklärteste seiner Zunft wird noch überrascht. Denn eines Tages trifft Ludwik einen Mann an, dessen Wohnzimmer Teil der erdgeschichtlichen Abteilung eines Naturhistorischen Museums sein könnte. Hinter Vitrinen hortet dieser Steine, die wie unscheinbare kleine Felsbrocken aussehen, tatsächlich aber Berggipfel sind. Unter diesen finden sich etwa die Spitzen des K2, des Montblanc und des Großglockners. Es gehe ihm um die Vogelperspektive, erklärt der Mann. Diese helfe, auch schlimme Phasen im Leben zu überstehen. Zum
Abschied schenkt der skurrile Sammler Ludwik den Gipfel der Hohen Tatra als Glücksbringer. Und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
die Nerven, der Chef fungiert als eine Art Beichtvater und der Gipfelsammler hat einen einzigen Auftritt. Erfrischend hingegen sind die Beschreibungen einzelner Situationen, denen man anmerkt, dass sie der Autor wohl selbst erlebt hat. Die Begegnungen mit den Wienern in ihren Wohnungen oder dem für die Verleihung der Staatsbürgerschaft zuständigen Beamten sind so witzig und authentisch, dass sie nur Feldforscher wie Radek Knapp formulieren können.
Der in Polen geborene und in Wien lebende
Schriftsteller Radek Knapp hat wieder einen Schelmenroman geschrieben. An Knapps bekanntestes und erfolgreichstes Buch, den charmanten und klugen Roman „Herrn Kukas Empfehlungen“ (1999), reicht „Der Gipfeldieb“ allerdings nicht heran. Im Prinzip sind die beiden Romane ähnlich aufgebaut: Ein leicht naiver, aber sympathischer Antiheld tritt mehr oder weniger gewollt in eine Umbruchphase des Lebens ein. Am Beginn dieser großen Veränderung stehen bizarre Ereignisse, die von anderen Figuren im Hintergrund ein bisschen angestupst werden. Das ist in „Herrn Kukas Empfehlungen“ der verschroben-märchenhafte Titelheld und Nachbar des jungen Protagonisten Waldemar, der in Wien sein Glück versuchen will. Herr Kuka hat für Waldemar zahlreiche Ratschläge parat, die dieser hocherfreut befolgt, was für einige komische Verwirrung sorgt. Dem „Gipfeldieb“ fehlt eine vergleichbar prägnant und liebevoll gezeichnete Figur. Die Entwicklung, die vor allem im Kopf von Ludwik stattfindet, wird in erster Linie von dessen Mutter, dessen Chef und eben dem Gipfelsammler beeinflusst. Die Mutter geht dem Protagonisten meistens auf
In seinen großen Zusammenhängen aber funk-
Radek Knapp: Der Gipfeldieb. Roman. Piper, 208 S., € 20,60
tioniert der Roman nicht. Eine tiefgreifende Metamorphose wird zwar wiederholt angekündigt und bedeutungsschwer mit Gipfelmetaphorik garniert, tatsächlich aber handelt es sich nur um eine Episode aus dem Leben eines wenig ambitionierten 34-jährigen mit Migrationshintergrund, der irgendwann doch erwachsen wird. Etwas mehr Leichtigkeit und etwas weniger schicksalshafte Zeichen hätten dem Roman gut getan. Viel zu selten kommt Knapps Gespür für absurde Situationen zum Tragen, und die über viele Seiten hinweg aufgebauten Erwartungen bleiben schlussendlich unerfüllt. Radek Knapp ist ein Autor, der den Sinn des Lebens, der Liebe, der Zukunft und der Vergangenheit gerne augenzwinkernd und im Vorbeischlendern erklärt. Das ist ihm mit dem „Gipfeldieb“ allerdings nicht geglückt. STEFANIE PANZENBÖCK