FA LTER
Nr. 12a/25
Nr. 12a/25
68 Bücher auf 40 Seiten
ILLUSTRATION:
Belletristik: Chaim Nachman Bialik erstmals auf Deutsch +++ Neuer Roman von Chimamanda Ngozi Adichie +++ Kracht, Krechel, Kopetzky & Co. +++ Wieder entdeckt: Be y Paoli +++ Kinderbücher: Traurigsein, Wut, sich verlieben +++ Sachbuch: Laura Wiesböcks „Digitale Diagnosen“ +++ Patriarchat: Auf die Couch! +++ Psyche im Ausnahmezustand +++ Warum ziehen Demagogen? +++ „Hase und ich“ +++ Armin Thurnhers Kochbuchauslese
OPENJEUNESSEHOUSE
20. März –31. März 2025
Klaus Nüchtern ist für die schöne Literatur zuständig
Das Italien der Renaissance und Nazi-Deutschland, ein Dorf im historischen Wolhynien und die Ukraine der Gegenwart, Lyrik des 19., Science-Fiction des 20., Dystopien des 21. Jahrhunderts – wer sich im saisonalen Spektrum der Belletristik nichts findet, bleibt wohl wirklich besser auf TikTok.
Die Erzählungen aus Wolhynien von Chaim Nachman Bialik wurden erstmals ins Deutsche übersetzt 4–5
TOUR DE FRANCE
Laurent Binet lässt in „Perspektiven“ Maler morden 6 Yasmina Reza betrachtet „Die Rückseite des Lebens“ 6 Kurzweilig: „Sekunden“ von Nicolas Mathieu 7 Langatmig: Eine Philip-K.-Dick-Bio von Emmanuel Carrère 7
Liz Moore und ihr Mystery-Thriller „Der Go des Waldes“ 8 „Dream Count“ – nach zehn Jahren wieder ein neuer Roman von Chimamanda Ngozi Adichie 9
Rebecca Godfrey mit Leslie Jameson „Peggy“ 10 „Die Insel Kolbeinsøy“ von Bergsveinn Birgisson 10 Ismael Kadare über Dichter und Diktator: „Der Anruf“ 11 Geschichten aus Charkiw von Serhij Zhadan 11 Geschichten aus Róznowice von Urszula Honek 12
DEUTSCHLAND / SCHWEIZ
Gesa Olkusz „Die Sprache meines Bruders“ 12 Spionage im Zweiten Weltkrieg: „Atom“ von Ste ff en Kopetzky 13
Ursula Krechel „Sehr geehrte Frau Minister“ 14 Endlich mit Inneneinrichter: „Air“ von Christian Kracht 15 Wassersport mit Marion Poschmann 16 Kampfsport in „Striker“ von Helene Hegemann 16 Antje Ravik Strubel „Der Einfluss der Fasane“ 17
ÖSTERREICH
Dystopisch: „Schweben“ von Amira Ben Saoud 18 Ökonomisch: Mario Wurmitzer mit „Tiny House“ 18
Martin Prinz „Die letzten Tage“ 19
Robert Neumann „An den Wassern von Babylon 19 Wieder entdeckt: Be y Paoli (1814–1894) 20
Gerlinde Pölsler betreut das Sachbuch und das Kinderbuch
W ie geht es uns mental im Neoliberalismus? Ist Scheitern erlaubt? Und wie l(i)ebt es sich nach einem Missbrauch? Psyche und Gesellscha stehen diesmal im Zentrum, auch das Patriarchat muss auf die Couch. Dann aber raus in die Natur: Zum Beispiel, um sich mit einem Wildtier zu befreunden.
Bilderbücher
Diesmal geht es um starke Gefühle 22 Kinderbücher
Freunde, Brüder, schwierige Beziehungen 24 Jugendbücher
Krankheit, Liebe und Verbrechen 25
GESELLSCHAFT UND PSYCHOLOGIE
Laura Wiesböck über „ Digitale Diagnosen“ 26 Das Patriarchat braucht eine Therapie 27 Missbrauch und Begehren: „Das Lieben danach“ 28 Die Schlagkra des Scheiterns 29 Rachel Avivs Geschichten von der Psyche in Ausnahmezuständen 29 Versuch, den Aufstieg der Demagogen zu begreifen 30
POLITIK UND GESCHICHTE
Roberto Saviano über die Frauen in der Mafia 31 Ihn nahm Wladimir Putin zum Vorwand für seinen Überfall auf die Ukraine: Stepan Bandera 31 Wie Opium die Weltgeschichte prägt(e) 32 Das Jahr der Extreme: Österreich 1945 32 Bosnien und Herzegowina: Die Suche nach den vermissten Toten 33
KULTUR UND NATUR
Ewige Wiederkehrer: die Themen William Shakespeares 34 Süßes Frankreich! Eine Kulturgeschichte 34 Auf Sinnsuche mit Physik 35 „Hase und ich“: Eine Mensch-Wildtier- Begegnung 35 Wie sehr ist Architektur eine Klimasünderin? 36 Die Klimakrise braucht Zuversicht, sagt Roger Hackstock 36 Harry Rowohlt und sein „Freies Leben“ 37 Wenn Mode auf Philosophie triff t 37 Dem Rätsel des Ich auf der Spur 37 Armin Thurnher stellt die neuen Kochbücher vor 38
Schorsch Feierfeil ist Illustrator, Grafiker und Animationsfilmemacher. Seit vielen Jahren zeichnet er regelmäßig für den Falter. Zudem gestaltet er Albumcovers und animiert Musikvideos. Einen Überblick seines künstlerischen Schaffens und die Möglichkeit einen Kunstdruck zu erwerben, bietet seine Homepage: www.schorschfeierfeil.com
Falter 12a/25 Herausgebe r: Armin Thurnher Medieninhaber : Falter Zeitschri en Gesellscha m.b.H., 1011 Wien, Marc-Aurel-Str. 9, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at Redaktion: Klaus Nüchtern, Gerlinde Pölsler Herstellung: Falter Verlagsgesellscha m.b.H.; Layout: Barbara Blaha; Korrektur: Helmut Gutbrunner, Rainer Sigl; Geschä sführung: Siegmar Schlager; Leitung Sales: Ramona Metzler (kar.), Sheila Martel, Christian Fabi Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die O ff enlegung gemäß § 25 MG ist unter www.falter.at/o ff enlegung/falter ständig abru ar Bücher-Frühling ist eine entgeltliche Einschaltung aufgrund einer Subvention durch das Bundesministerium für Kunst, Kultur, ö ff entlichen Dienst und Sport.
Irene Diwiak Günter Eichberger
Martin Puntigam
Mithu Sanyal
Teresa Reichl
Sabine Scholl
Raoul Schrott
PoetrySlam: StädteGrazBattle vs. Stuttgart
Daniel Glattauer
Reinhard KaiserMühlecker
Adrian Goiginger
Kurt Kotrschal
Bettina Balàka
Neues von der Plattform
Monika Helfer Grundbücher
Gerhard Melzer
Clemens J. Setz
August Schmölzer
Franzobel
Verena Stau er
Olga Flor
Kathrin Röggla
Wolf Haas
Andreas Unterweger
Junges Literaturhaus
Florian Freistetter
Gilbert Prilasnig
Susanne Gregor
Erste LesebühneGrazer
Michael Köhlmeier
Elisabeth Reichart
Konrad Paul Liessmann
Amira Ben Saoud
Caroline Peters Martin Prinz
Johannes Silberschneider
100Jahre Science Busters Podcast
Literarische Soiree Ein Abend fürBodoHell
Helga KrompKolb
Erika Pluhar Nicole StreitlerKastberger
Andrea Winkler
Birgit Birnbacher Josef Winkler
Martin Schenk Ilija Trojanow
Heidi Kastner
Anna Baar
Milica Vučković
Marlene Streeruwitz
Antje Rávik Strubel
JugendSoirée Grazer zurVorlesungen Kunst Schreibensdes
Dinçer Güçyeter
Barbi Marković
FranzNablPreis
Unruhe bewahren Science meets Poetry
Carlos Watzka
Reinhard P. Gruber
Internationale Germanistentagung
Raphaela Edelbauer
Nava Ebrahimi
Erstes Halbjahr 2025
Der Band „Wildwuchs“ des israelischen Nationaldichters Chaim Nachman Bialik (1873–1934) ist eine literarische Sensation
Am 7. Oktober 2023, jenem Tag, an dem die Terrororganisation Hamas mit unüberbietbar zynischer Grausamkeit ein Massaker an israelischen Zivilisten verübt hat, zitiert Premier Benjamin Netanjahu in seinem Statement eine Verszeile aus einem 120 Jahre alten Gedicht. „In der Stadt des Tötens“, so dessen Titel, hat ein Pogrom zum Gegenstand, das im Jahr 1903 an der jüdischen Bevölkerung von Kischinjov begangen worden war. Die schreckliche Bilanz: 50 Ermordete, an die 500 Verletzte und 700 zerstörte Häuser.
Chișinău, heute Hauptstadt der Republik Moldau, war damals Teil des russischen Zarenreichs und das Zentrum des jüdischen Lebens. Ausgelöst hatten das Massenmorden die Leichen eines christlichen Mädchens und Buben, die in einer 40 Kilometer von Kischinjov entfernten Kleinstadt gefunden und sofort mit einem der notorisch antisemitischen Ritualmordmythen erklärt worden waren. Der zu dieser Zeit 30-jährige Chaim Nachman Bialik war von seinem damaligen Wohnort Odessa nach Kischinjov gesandt und beau ragt worden, die Folgen und Umstände des Verbrechens zu recherchieren. Wochenlang hatte er mit Vergewaltigungsopfern und Überlebenden gesprochen und schließlich besagtes Poem verfasst, neben dem sich Celans „Todesfuge“ wie Erbauungslyrik ausnimmt.
„In der Stadt des Tötens“ ist ein wütender, in seiner Drastik fast obszön anmutender Aufschrei, der seiner Leserscha nichts ersparen will. Der Dichter nimmt diese an der Hand, um sie mit verstörender, nachgerade forensisch anmutender Beflissenheit durch die Topografie des Terrors zu geleiten:
WÜRDIGUNG:
KLAUS NÜCHTERN
Chaim Nachman Bialik: Wildwuchs. Erzählungen aus Wolhynien. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Mit einem Nachwort von Ayelet Gundar Goshen. C.H. Beck, 299 S., € 26,80
„Frage nur die webenden Spinnen“, heißt es zu Beginn des knapp zehnseitigen Gedichts, „Sie sind Zeugen, haben alles mitangesehen und lassen dich wissen, / Wie man Frauenleiber aufriss und mit Federn füllte, / Wütete mit Hammer und Rad, Gesichter beschlug mit Nägeln, / Wie man Menschen schlachtete, an Balken au nüp e / Den Säugling schlafend fand an der kalten Brust der erstochenen Mutter.“ Hader gegen einen Gott, der dies zuließ, findet man hier ebenso wie Verachtung für jene, die sich wie Mäuse verkrochen, anstatt sich zu wehren, und ihr Opferdasein gar zu kapitalisieren suchen: „Siehst du in Massen gebrochene Menschen stöhnend und ächzend / Vor der Reichen Fenstern lauern, die Türen belagern, / Prahlend die Wunden zeigend, als seien es Krämerwaren […]: ,Mein Vater war ein Märtyrer –mögt ihr’s uns entlohnen.‘“
Das lese sich, so merkt die israelische Schristellerin Ayelet Gundar-Goshen in ihrem Nachwort an, gerade so, als wären die gescholtenen jüdischen Männer „einem antisemitischen Artikel in einem deutschen Nazi-Blatt entstiegen“. Tatsächlich aber handle es sich um eine Rhetorik, die die Adressierten zur Wehrha igkeit und dazu ermuntern will, nicht in der Position des Opfers zu verharren.
„In der Stadt des Tötens“ lag bereits in einer deutschen Übersetzung aus dem Hebräischen vor. Alle anderen Texte Bialiks aber, die der vor kurzem erschienene Band „Wildwuchs. Erzählungen aus Wolhynien“ versammelt, sind erst jetzt ins Deutsche übertragen worden. Es handelt sich dabei um eine literarische Entdeckung, die in
dem Reigen saisonaler Veröffentlichungen ihresgleichen sucht. Diese Pioniertat muss man dem C.H. Beck Verlag hoch anrechnen, ebenso wie dessen Entscheidung, die Publikation mit gleich drei Nachworten, einem Glossar und einer Karte zu den ethnopolitischen Gegebenheiten um 1900 auszustatten und zu kontextualisieren.
In Israel genießt Bialik den Status eines Nationalhelden. Als Vertreter eines KulturZionismus habe er, wie es Gundar-Goshen formuliert, dem Hebräischen einen krä igen Klaps auf den Hintern gegeben und dieses für die säkulare Literatur dienstbar gemacht. Als Bialik 1934 mit 61 Jahren an den unerwarteten Folgen einer Routineoperation in Wien verstarb, wurde sein Leichnam nach Tel Aviv überstellt und mit großem zeremoniellen Aufwand bestattet: „Israel ist verwaist: Chaim Nachman Bialik ist von uns gegangen“, konnte man auf der Titelseite von Davar, dem führenden Blatt des jüdischen Palästina, lesen. 1873 in einem Dorf namens Radiwka im wolhynischen Teil des russischen Reichs (heute: Ukraine) geboren, wuchs Bialik nach dem frühen Tod seines Vaters in der Obhut des Großvaters, eines strenggläubigen Holzhändlers, auf, weil sich die Mutter außerstande sah, weiterhin für ihn und seine beiden Geschwister zu sorgen. Über Nacht de facto zum Vollwaisen geworden und darüber hinaus aus seinem Geburtsort nach Schytomyr verbracht, hat Bialik diesen Bruch sein Leben lang als Verstoßung aus dem Paradies empfunden. Seiner frühen Kindheit erinnert er sich in der hundertseitigen, unverstellt autobiografischen Erzählung „Wildwuchs“, an
ILLUSTRATION: GEORG FEIERFEIL
der er über ein Vierteljahrhundert lang gearbeitet hat, als eines einzigen ekstatischen Sommers, auf den Enttäuschung und Ernüchterung folgen – inklusive eines Watschenhagels, den der „Meisterohrfeiger“ von Vater über seinen Buben niedergehen lässt, den er ob dessen verträumten und wenig weltgewandten Wesens verachtet: „Ich will, dass du an dieser Scheibe Brot erstickst, die du mir stiehlst, du abtrünniger Bastard“, brüllt er ihn an, „dass du ein Jude wirst, wie ich. Ein Mensch wie alle anderen.“ Zuneigung und Zärtlichkeit seitens der Eltern und Großeltern erlebt Bialik kaum. Die, wie er selbst einräumt, möglicherweise nur imaginierten Erinnerungen an goldene Kindheitstage in einem „vergessenen Winkel Wolhyniens mit verschwiegenem Schilf und Sumpfland und endlosen Wäldern“ aber scheinen eine unversiegbare Quelle einer geradezu ozeanischen Verbundenheit mit der Schöpfung zu sein.
Grei arer noch als die von Lichtmetaphorik durchzuckte und mit Schauern von „Wie“Vergleichen garnierte Erzählung „Wildwuchs“ evoziert „Hinter dem Zaun“ Kindheit und Jugend Bialiks. Es ist eine Art Version von „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, die eher desillusionierend als tragisch endet und den antiken Mythos von Pyramus und Thisbe nach Wolhynien transferiert: Nicht ein Spalt in der Mauer, sondern ein Astloch im Zaun ist es, durch welches das zunächst noch kindliche, später im Sa der Spätpubertät siedende Liebespaar kommuniziert: Er, der resolute und raufselige Noah aus der Siedlung der jüdischen Mehrheit; sie, das Findelkind Marinka, das im Hof einer verbiesterten alten Goj namens
Schakoripinschchika wie ein Tier gehalten und misshandelt wird.
Das Leben in der Kleinstadt, wie es Bialik beschreibt, stellt so etwas wie den Gegenentwurf zu den idyllisch-poetischen Szenen orthodoxen Lebens dar, wie sie dessen um einiges jüngerer Zeitgenosse, der Maler Marc Chagall, für das heute belarussische Witebsk ausgepinselt hat. Zwischen den aneinandergrenzenden Häusern der beiden juvenilen Protagonisten bekämpfen die äußerst fragwürdig agierenden Erziehungsberechtigten einander im Stile brutalsten Slapsticks: „Durch die Lu , von Dach zu Dach, fliegen – zum Entsetzen der Vögel droben und zum Jubel der Kutscher drunten – Hacken und Rechen, Krüge und Kanister, Nudelhölzer und Holzscheite. Schakoripinschchikas Hof füllt sich mit Hundejaulen und Kläffen und Hahnenkrähen. […] Die Jungkutscher auf der Straße rufen ,Hurra!‘ – und das ganze jüdische Viertel lebt noch tagelang in Angst und Schrecken …“
Bialik ist ein Meister der Mise en Scène, der seine Geschichten ganz in der konkreten Örtlichkeit zu verankern und aufs Üppigste auszustatten weiß; wobei Idylle und Entsetzen, Geborgenheit und Entfremdung o Tür an Tür wohnen. „Die beschämte Trompete“, mit knapp 50 Seiten das kürzeste Stück des Bandes, ist eine aus der Distanz von drei Jahrzehnten referierte Rahmenerzählung über eine jüdische Familie, die sich leider genau einen Tag nachdem ein Ansiedlungsverbot für Juden verhängt wurde, in einem Dorf nahe einer Kleinstadt niederlässt – und sich den Schutzgeldforderungen der örtlichen Polizisten sowie den Unver-
Chaim Nachman
Bialik wurde 1873 in einem Dorf in der heutigen Ukraine geboren. Als Lyriker, Erzähler und Kinderliedtexter, der das Hebräische für die säkulare Literatur erschloss, erwarb er sich den Ruf eines israelischen Nationaldichters. Er wanderte 1924 nach Palästina aus und verstarb zehn Jahre später in Wien
schämtheiten der nicht-jüdischen Bevölkerung ausgesetzt sieht.
Wie der Vater des jugendlichen Protagonisten in die Fänge der Behörden gerät und versucht, über zwielichtige Mittelsmänner selbige günstig zu stimmen, erinnert an Ka as „Prozess“, der legendenha e Gestus indes eher an Joseph Roth. Es ist ein Ton, der dem Entsetzen ein wenig die Kanten abschlei , ohne deswegen an Eindringlichkeit einzubüßen. Und so kommt es, dass am Ende selbst die Trompete des großen Bruders, die dem Pessach-Fest zusätzliche Strahlkra hätte verleihen sollen, im Futteral verbleibt und beschämt schweigt.
Apropos Sound. Bialiks Prosa ist erstaunlich disparat – o innerhalb einer einzigen Erzählung. „Hinterm Zaun“ etwa scheut bei aller Komik auch nicht das expressionistische und – wenn das Blut aus dem Fleisch schreit und unsichtbare Glocken schwer und rötlich hallen – einigermaßen übersteuerte Pathos nicht.
Gelegentliche Stilbrüche dür en freilich auch aufs Konto der Übersetzung von Ruth Achlama gehen. Ein flapsiges „Bist du irre?“ kontrastiert mit einem gestelzten „Hohl ihn mir aus der Sicht!“; ein gejubeltes „Hach!“ passt in Erika Fuchs’ Entenhausen, aber nicht in ein wolhynisches Dorf des Fin de Siècle. Und was ein Satz wie der folgende überhaupt besagen will, bleibt unklar: „Zuerst zieht es mich auch zu einer dieser Gruppen und ihren Aktivitäten, aber fixgeschwind, ehe ich noch weiß, wie mir geschieht, bin ich außen vor …“. Dergleichen Irritationen ändern freilich nichts daran, dass „Wildwuchs“ eine, wenn nicht die literarische Entdeckung der Saison ist.
„Perspektiven“ von Laurent Binet ist ein virtuoses Spiel mit Fakten und Fiktionen im Florenz der Renaissance
Am 1. Jänner 1557 wurde Jacopo da Pontormo tot aufgefunden. Der Maler lag erstochen unter dem Freskenzyklus im Chor der Basilika von San Lorenzo in Florenz. Der von Kunsthistorikern als der „gespreizteste der Manieristen“ Bezeichnete arbeitete seit elf Jahren an diesem Werk, wollte es hier mit Michelangelos „Jüngstem Gericht“ aufnehmen. Das erfährt der Leser aus dem ersten von 176 Briefen, erstanden von einem Reisenden als antiquarisches Konvolut in Arezzo, der Mordfall in der Künstlerszene wird in ihnen aufgerollt werden.
Laurent Binet, Jahrgang 1972, bedient sich also der klassischen Herausgeberfiktion – der belehrende Ton des „Übersetzers“ im Vorwort lässt unschwer Stendhal und dessen „Italienische Chroniken“ als Vorbild erkennen.
In seinem historischen Kriminal- und Briefroman „Perspektiven“ bleibt Binet bei seinem angestammten Thema; die Spannung zwischen Wirklichkeit und literarischer Erfindung beschä igt ihn seit dem ersten literarischen Erfolg „HHhH“ (für: „Himmlers Hirn heißt Heydrich“). Dort behandelte er noch vorsichtig reflektierend das Recht des Autors, fiktional einzugreifen – wohl auch, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, mit Nazigräueln Effekte zu produzieren.
Im Linguistenroman „Die siebente Sprachfunktion“ wurde er schon schneidiger und ließ den poststrukturalistischen Intellektuellen Roland Barthes brutal meucheln, und in „Eroberung“ schließlich, Vorgänger des aktuellen Buchs, seine Fantasie frei schweifen: Kolumbus kommt nicht bis Amerika, dafür erobern die Inkas das Reich Karls V., Atahualpa setzt den Kaiser gefangen.
Auch in „Perspektiven“ bildet die Geopolitik des 16. Jahrhunderts den Rahmen: Frankreichs und Habsburgs Kampf um Italien machen urbane Zentren wie Florenz zum Spielball der Großmächte, der neue toskanische Herrscher Cosimo versucht mitzumischen, getrieben vom ehrgeizigen Ziel, selbst eine Königskrone zu erlangen. Der alte Hegemonialstreit zwischen Kaiser und Kirche schwelt weiter, und Paul IV. ist als Papst ein besonders liebenswertes Exempel: Kunstfeind, Antisemit und Initiator des Index verbotener Bücher.
Doch nicht nur pontifikaler Absolutismus bedroht die profane Kultur, im Untergrund, vor allem in den Klöstern, wirkt das fanatische Erbe des Dominikaners und Kirchenreformators Girolamo Savonarolas fort. Dies alles kommt im ausgebreiteten Briefverkehr detailreich und leben-
dig zum Ausdruck, an dem Angehörige aller Gesellscha sschichten beteiligt sind.
Das reicht vom zun losen, klassenkämpferischen Farbenmischer (dessen pseudomarxistischer Jargon allerdings doch zu anachronistisch scheint) bis zu den Spitzen der Gesellscha , also Cosimo selbst und seiner verfeindeten Cousine Catherine de Médicis, Königin von Frankreich. Ein amouröser Nebenstrang wird im Stil von Choderlos de Laclos’ „Gefährlichen Liebscha en“ abgehandelt.
Binet beleuchtet die Konkurrenz und Intrigen unter Künstlern: Der Herzog beau ragt Giorgio Vasari mit der Aufklärung des Mordes, dem ein Gegenspieler in der Person Benvenuto Cellinis erwächst. Für unterschiedliche Perspektiven ist also gesorgt. Zwar gilt der eine als Begründer der Kunstgeschichtsschreibung, ist aber wegen seiner einseitigen Wertungen umstritten. Cellini hingegen war ein großer Bildhauer, Kupferschmied und Literat, als Mensch aber wohl ein dubioser Zeitgenosse.
Ein zur Tatzeit in Florenz Anwesender muss es gewesen sein: einer der Manieristen! Die Vertreter dieser Stilrichtung, die der Trinität Leonardo/Raffael/Michelangelo nachfolgten, litten unter dem übermächtigen Erbe. Nur ein Bruch versprach Befreiung und Weiterentwicklung. Man versuchte es also mit artistischer Willkür und rätselha en Sujets in der Darstellung. Wie schon der austrobritische Kunsthistoriker Ernst Gombrich zieht auch Laurent Binet Parallelen zur Moderne. Sein Roman lässt aber auch die manieristische Wende nicht außer Acht, die Michelangelo selbst in seinem Spätwerk vollzogen hat, weswegen der greise Künstler im Romangeschehen auch eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.
Der Autor treibt ein elegantes Spiel auf vielerlei Ebenen. Er liefert eine geraffte Geschichte der Renaissance, die der Leser mit Gewinn als Führer durchs historische Florenz zur Hand nehmen kann. Einen zusätzlichen Reiz erfährt der Krimiplot durch den Umstand, dass es sich bei den Verfassern der Briefe, in denen er enthüllt wird, um mehr oder weniger unverlässliche Erzähler handelt.
THOMAS LEITNER
Laurent Binet: Perspektiven. Roman. Aus dem Französischen von Kristian Wachinger. Rowohlt, 304 S., € 26,80
In Dutzenden literarischen Vigne en swipt sich Yasmina Reza durch die „Rückseiten des Lebens“
Gibt es eine literarische Entsprechung zu dem, was Millionen von Menschen tun, anstatt Bücher zu lesen: das Swipen? Das schnelle Wischen von Szene zu Szene am Bildschirm kann süchtig machen, wenn man ins Leben von Unbekannten blickt, als Miniatur gefasst in nur wenige Sekunden Filmszenen. Mit ihrem aktuellen Buch „Die Rückseite des Lebens“ hat Yasmina Reza – gewollt oder nicht – eine Art literarisches Swipe-Werk verfasst. Die Autorin, weltberühmt durch Theaterstücke wie „Kunst“, „Drei Mal Leben“ oder „Der Gott des Gemetzels“, begleitete 2008 den damaligen französischen Präsidentscha skandidaten Nicolas Sarkozy ein Jahr lang im Wahlkampf und lieferte mit „Frühmorgens, abends oder nachts“ eine Art dokumentarischer Collage aus dem absurden Reich der Politik. Zuletzt hatte sie den eindrücklichen
Wir erleben die Autorin als Großmutter, die ihre Enkelin bändigt und sich an die Karawanen von Spieltieren erinnert, die ihre Kinder an allen möglichen und unmöglichen Orten der Wohnung aufstellten und die wegzuräumen sie nicht übers Herz brachte.
Das sind die rührenden Rückseiten des Lebens. Die schrecklichen spielen in den Gerichtssälen. Sie handeln von einer Mutter, die ihr Baby eiskalt ins Meer wir und auf Besessenheit plädiert, oder von einem Mann, der eine Vorzeigeehe führt, aber eines Tages seine Frau beim Joggen ermordet. „Sie verschanzen sich“, so der Kommentar der Autorin, „einvernehmlich hinter dem Bild, das sie abgeben wollen. Wie viele Paare verschwinden auf diese Weise in der Ehehölle?“
Mit feiner Ironie verwebt Reza Komisches und Schreckliches in Beobachtungen, die lebensweise anmuten, ohne je platt zu werden
jüdischen Familienroman „Serge“ (2022) vorgelegt.
In „Die Rückseite des Lebens“ nun verwebt die heute 65-jährige Schristellerin mit feiner Ironie Drama und Dramolette, Komisches und Schreckliches in Beobachtungen, die lebensweise anmuten, ohne in Plattitüden zu verfallen. Über fünfzig Texte finden sich in dem Band, manche nicht einmal zwei Seiten, andere deutlich länger. Thematisch zusammengehalten werden sie dadurch, dass sie Menschen an einem Kipppunkt zeigen. So swipt man sich durch diese Schicksale, ein Kaleidoskop des Allzumenschlichen.
Seit Jahren beobachtet Reza Gerichtsverhandlungen, die großen, glamourösen ebenso wie die kleinen, unspektakulären. Ihre Reportagen von diesen Prozessen bilden den roten Faden des Buches. Dazwischen erzählt sie von Begegnungen aus ihrem eigenem Leben, wobei Venedig, die Stadt, in der sie eine Wohnung hat, eine tragende Rolle spielt. Sie erinnert sich an Menschen kurz vor deren Ableben, etwa an den Regisseur Luc Bondy oder den Literaturnobelpreisträger Imre Kertész und dessen Frau Magda.
Des Weiteren treten auf: ein Erbschleicher, der hochbetage Frauen mit Atropin zu vergi en versucht, oder ein Mann, der sich im Netz um 30 Jahre jünger macht und die Frauen, die er in seine Wohnung lockt, vergewaltigt, und die weinen ihm dennoch nach – oder besser: dem eigenen Traum vom perfekten Prinzen.
Auch Nicolas Sarkozy begegnen wir hier wieder. Der ehemalige Präsident soll über seinen langjährigen Anwalt Thierry Herzog versucht haben, von dem Juristen Gilbert Azibert geheime Informationen aus Ermittlungen in einer anderen Aff äre zu erhalten. Im Gegenzug wurde Azibert Unterstützung bei der Bewerbung um einen Posten in Monaco angeboten. Yasmina Reza fasst es so zusammen: „Was mich betrifft, […] fällt es mir schwer, in den Herren Azibert, Herzog und Sarkozy während dieses achttägigen Berufungsprozesses etwas anderes zu sehen als einen Pfau, einen Dampfplauderer und einen massiv Angstgestörten. Der Erste bläst sich auf, der Zweite umschmeichelt den Dritten und lullt ihn ein, und dieser wiederum will keinen anderen Sound hören als den guter Nachrichten. Drei Figuren einer kleinen Fabel, in der jeder Wind um seine Wichtigkeit macht, dann auf sich selbst zurückgestutzt wird und am Ende genauso schlau ist wie zuvor.“
Poetischer und leichtfüßiger kann man über die Abgründe politischer Korruption nicht schreiben.
BARBARA TÓTH
200 S., € 25,50
Auf knapp 100 Seiten tobt Nicolas Mathieu wider die Ödnis des Alltags und die Impotenz der Literatur
Schaut man sich an, was sowohl Kritik als auch Leserscha von Nicolas Mathieus Büchern halten, stößt man schnell auf das Wort „intensiv“. Intensität wurde dem Roman „Wie später ihre Kinder“ bescheinigt, mit dem sich der Autor, Jahrgang 1978, in die oberste Literaturliga hinaufgeschrieben und 2018 den Prix Goncourt gewonnen hat. Und intensiv, gar „rückhaltlos intensiv“ (so der Verlag) gebärdet sich auch „Jede Sekunde“, Mathieus jüngstes Opus. Es hebt an mit einer wütenden Beschimpfung der Literatur, die „nichts ausrichten kann“, bloß ein „jahrhundertealter Wahn“ sei. Weder gewähre sie – désolé, Marcel! – „die wiedergefundene Zeit, diese fixe Idee aus Literaturseminaren noch die Wiederauferstehung. Alle Bücher sind Totenstädte.“
Der Zorn des Ich-Erzählers, der sich, wie wir später erfahren, kaum vom Autor selbst unterscheidet, entzündet sich daran, dass die Literatur versagt und versagen muss, will sie das Unwiederbringliche festhalten. Dieses Unwiederbringliche aber ist die Liebe, bei der sich die Franzosen gut auskennen, auch in deren exaltierteren Varianten: „Jede Liebe ist ein indigenes Volk mit seinen Riten, seiner Grammatik, seinen Feinden, seinen Opfern und der Aussaat, die einen neuen Frühling beschert.“
„Jede Sekunde“ entstand aus einer unglücklich verlaufenen Amour fou, die Mathieu vier Jahre lang mit kurzen Texten auf Facebook und Instagram begleitet hat. Im Bewusstsein des Autors entfalten sich Sekunden-
epiphanien der Geliebten – „Ich habe alles behalten, deine Hände, deinen Bauch, deinen Mund, das eine weiße Haar und das Schmollen nach dem Aufstehen“ –, ein paradiesischer Gegenwurf zur Ödnis des Alltags und des Lebens überhaupt; „Häuser, Kinderbücher, verregnete Sonntage, diese Millionen Stunden voll Zwänge“. Aussicht auf Erlösung verweigert der Autor: „Es gibt keinen Grund, glücklich zu sein, und es ist mir egal.“
Als Inspirationsquelle nennt Mathieu
Annie Ernaux und Louis-Ferdinand Céline. An den politischen Realismus von Ernaux erinnert die mäandernde Gedankenflut, die den Erzähler in seine proletarische Jugend zurückführt; an Céline das Rastlose der Syntax. Der Spagat zwischen dem Dithyrambischen und dem Deprimierenden gelingt dank einer Sprache, die unverbraucht, aber nie zwangha originell ist – dazu ist dieses bemerkenswerte Prosagedicht zu fest in der Lebenswirklichkeit verankert. Impotenz der Bücher hin oder her: Solange es Schreiber wie Nicolas Mathieu gibt, braucht man sich um die Zukun der Literatur keine Sorgen zu machen.
CHRISTOPH WINDER
Nicolas Mathieu: Jede Sekunde. Aus dem Französischen von André Hansen und Lena Müller. Hanser Berlin, 96 S., € 21,50
Die 32 Jahre alte Philip-K.-Dick-Biografie von Emmanuel Carrère ist nun auf Deutsch erschienen. Bloß warum?
Wenige Monate nachdem der bis dahin nur Science-FictionFans bekannte Philip K. Dick im Alter von 53 Jahren stirbt, kommt „Blade Runner“, die Verfilmung eines seiner insgesamt 43 Romane, ins Kino und sorgt für posthumen Ruhm, der seitdem durch Adaptionen für Kino und Fernsehen – „Total Recall“, „Minority Report“, „A Scanner Darkly“ et al. – prolongiert wurde.
Emmanuel Carrère, Jahrgang 1957, hält bereits als Teenager Dick für den „Dostojewski unserer Zeit“ – wie er in seinem bereits 1993 auf Französisch und nun in deutscher Übersetzung erschienenen Buch erzählt. Laut Verlag handelt es sich bei „Ich lebe und ihr seid tot“ um eine Biografie in Form eines „leichtfüßigen, hypnotischen Romans“, wie man ihn von dem schillernden Romancier, der zuletzt die Reportage „V 13“ über den Prozess zum IS-Anschlag aufs Bataclan vorgelegt hat, erwarten darf.
Möchte man meinen. Ist aber leider nicht der Fall. Der Autor verrät zwar, wie er vorgegangen wäre, wäre sein Buch tatsächlich ein Roman; warum er es aber überhaupt – nur vier Jahre nachdem Lawrence Sutins DickBiografie „Divine Invasions“ erschienen war – geschrieben hat, erschließt sich nicht. Es mangelt dieser Lebenserzählung nämlich schlicht an Perspektive. Anstatt eine These zu wagen und klar zu machen, was genau ihn an diesem Autor interessiert und fasziniert, breitet Carrère Dicks Traumata, Passionen und Visionen bis in nebensächliche Details aus und gleicht sie mit dessen Werk ab. Dar-
»Ein bitterkomischer Roman.«
Katharina Teutsch, Die Zeit
»Traurig, böse und vor allem menschlich.«
Bernd Noack, Nürnberger Nachrichten »Aufwühlend, entlarvend, abenteuerlich.«
Bernd Melichar, Kleine Zeitung
in lassen sich eine dominante Mutter und fünf immer jünger werdende, tunlichst schwarzhaarige und biegsame Ehefrauen als stereotype Frauenfiguren ebenso wiederfinden wie die Spuren der todlangweiligen theologischen Spekulationen, die den zum Katholizismus konvertierten, von einem gnostischen Weltbild geprägten Dick zeitlebens umtreiben.
Alles andere als leichtfüßig kommen auch die seitenlangen Inhaltsangaben daher, die auch noch mit ausgiebigen Zitaten garniert sind, allerdings keinen wörtlichen, sondern „freien“, wie es in einer Fußnote heißt. Carrère hat Dick, den er (nicht zu Unrecht) für einen „armseligen Stilisten“ hält, nach Gutdünken nachgedichtet, und die Übersetzerin ist ihm darin gefolgt. Sie wurde übrigens, wie sie versichert, von keiner KI unterstützt. Was vielleicht keine schlechte Idee gewesen wäre, so ungelenk und nicht immer Deutsch, wie sie ausgefallen ist. Ob die Verschwurbeltheit der Prosa, durch die schon mal ein „vom eigenen Deckmantel verzehrter Polizist“ geistert, auf den Autor oder dessen Übersetzerin zurückgehen, bleibt unklar. KLAUS NÜCHTERN
Emmanuel Carrère: Ich lebe und ihr seid tot. Die Parallelwelten des Philip K. Dick. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Ma hes & Seitz, 364 S., € 24,70
In ihrem Mystery-Thriller „Der Go des Waldes“ betreibt Bestsellerautorin Liz Moore ein Spiel mit Perspektiven und Zeitebenen
Dass das Wort „Panik“ von Pan kommt, dem Gott des Waldes, lernen die Kinder im Camp Emerson, Upstate New York, an Tag eins. Pan habe es geliebt, die Menschen zu täuschen und zu verwirren, sodass diese die Orientierung verloren. „Wer in Panik gerät“, erklärt die Leiterin des Sommerlagers, „macht sich den Wald zum Feind. Wer ruhig bleibt, ist sein Freund.“ Ganz
»,Der Gott des Waldes‘ ist ein Pageturner, der Barack Obama letzten Sommer garantiert ein paar schlaflose Nächte bereitet hat
wichtig: Wer feststellt, sich verlaufen zu haben, solle sich auf den Boden setzen und laut rufen.
Diese kleine Einführung erfolgt im Juni 1975, einer von sechs Zeitebenen, zwischen denen die einzelnen Kapitel von Liz Moores neuem Roman „Der Gott des Waldes“ wechseln. Zurück bis in die 1950er reicht die Vorgeschichte, danach folgt das schicksalha e Jahr 1961, in dem der achtjährige Sohn der einflussreichen CampbetreiberFamilie Van Laar, genannt Bear, spurlos verschwand.
Weitere Kapitel spielen im Winter 1973, im Juni, Juli und schließlich im August 1975, der – zur leichteren Orientierung im Präsens geschilderten – Gegenwart des Romans, in der sich die Geschichte zu wiederholen scheint: Barbara, Bears erst nach dessen Verschwinden gezeugte Schwester, nimmt nun selbst am Lager teil – und liegt eines Morgens nicht in ihrem Stockbett.
Was ist passiert? Was hat das mit dem Fall vor 14 Jahren zu tun, der nie zur Zufriedenheit aller gelöst wurde? Und was hat ein allem Anschein nach konventionell erzählter Mystery-Thriller in der Falter-Buchbeilage verloren? Nun, die 1983 geborene US-Amerikanerin Liz Moore genießt in der Literatur einen Sonderstatus. Ursprünglich Musikerin, wandte sie sich vor knapp 20 Jahren dem Schreiben zu: Ihr Debüt „The Words of Every Song“ verknüp e lose 14 Episoden über Menschen aus der Musikbranche.
Erst im Laufe ihrer literarischen Karriere näherten sich Moores Bücher über das Motiv weit zurückreichender Familiengeheimnisse dem Spannungsgenre an. Erst dieser Tage ist die TV-Serie „Long Bright River“ mit Amanda Seyfried angelaufen, die auf Moores gleichnamigem Bestseller basiert. Verbrechen und geheimnisvolle Abgänge spielen darin ebenso eine Rolle wie in „Gott des Waldes“, der wohl auch demnächst verfilmt werden wird. Den entscheidenden Boost für den Roman lieferte allerdings Barack Obama, der den im Original im Juli 2024 erschienenen Titel auf seine kultisch erwartete Sommerleseliste setzte.
Bei einem Thriller verbietet es sich, diesen durch exzessive Inhaltsangaben zu spoilern. Ein wenig darf dennoch verraten werden, zumal der Roman auch abseits des Mystery-Plots durchaus Interessantes zu bieten hat, etwa Frauen in sehr unterschiedlichen Stadien der Emanzipation. Da ist einmal die Ermittlerin Judyta „Judy“ Luptack, die im August 1975 die Suche nach Barbara Van Laar aufnimmt. Schon 26 Jahre alt, wohnt sie noch bei ihren Eltern, die sich weigern zu akzeptieren, dass Judy nicht jeden Tag nach der Arbeit zu ihnen ins zwei Stunden entfernte Schenectady fährt, sondern ein Motelzimmer in Campnähe nimmt. Als einzige Frau im Team mit den typischen Vorurteilen konfrontiert, überzeugt sie mit Kompetenz, entscheidet sich aber gegen „männlich“ brachiales Karrierestreben.
Liz Moore: Der Go des Waldes. Roman. Deutsch von Cornelius Hartz. C. H. Beck, 590 S., € 26,80
Auf der anderen Seite steht Alice, die Mutter von Barbara und Bear. Sie hat jung und ahnungslos in die elitäre Familie Van Laar eingeheiratet. Dass man sie dort für dumm hält, hat sie stets hingenommen. Seit dem Verschwinden ihres innig geliebten Sohnes ist sie auf ein Medikament eingestellt, das äußerst lebha e Visionen verursacht. Louise wiederum arbeitet als Betreuerin im Camp. Ihr gewalttätiger Verlobter hat ihr lange verschwiegen, dass sein Vater Anwalt der Van Laars und Gast auf deren Anwesen unweit des Ferienlagers ist. Und schließlich gibt es auch noch die freundliche, aber wenig selbstbewusste Tracy, die sich mit Barbara angefreundet hat und diese nun auf eigene Faust zu suchen beginnt – dabei aber feststellen muss, dass das mit dem Hinsetzen und Rufen leider gar nichts bringt.
Der Roman ist sorgfältig so konstruiert, dass die einzelnen Figuren ihre Geheimnisse möglichst lange für sich behalten. Damit das funktioniert, wechselt Moore Zeitebenen und Erzählperspektiven. Ohne in die Ich-Form zu kippen, bleibt die Narration sehr nah an der jeweiligen der rund zehn Figuren, die in der Kapitelüberschri genannt wird: Auf „Louise“ im „August 1975“ folgt dann etwa „Alice“ im „Juni 1975“. Eine solche Anlage des Spannungsaufbaus findet man in jüngeren Thrillern etwa der Bestsellerautorin Lucy Foley immer wieder, und auch Moore weiß diese souverän und effektvoll einzusetzen. Keine Frage, „Der Gott des Waldes“ ist ein Pageturner, der Barack Obama letzten Sommer garantiert ein paar schlaflose Nächte bereitet hat. Betrachtet man den Roman von einem literarischen Standpunkt aus, könnte man freilich bemängeln, dass er sein Ziel mit einer geringeren Vielfalt an Perspektiven und komplizierten Verbandelungen sowie falschen Fährten genauso gut und noch etwas eleganter erreichen hätte können. Anders gesagt: Der Gott Pan hat hier erkennbar seine Finger im Spiel.
MARTIN PESL
30 Forscheri en aus a en Regionen und Zeiten
Expedition in die Welt der MINT-Fächer
Mit Fantasiereisen: Kinder ermutigen, selbst zu forschen und zu erfinden