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anzeiger 5/23 – Das Magazin für die österreichische Buchbranche

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Kurz vor Schluss

Kurz vor Schluss

Auf schwierigem Pflaster

Robert Prossers Präsentation seines neuen Buches „Verschwinden in Lawinen“ mit dem Schlagzeuger Lan Sticker ist eine eindrucksvolle Performance. Seine Suche nach neuen Formen der Buchvermittlung bringt ihn ebenso wie seine Reisen in neue literarische Gefilde

Interview: Erich Klein, Fotos : Nini Tschavoll

Gleich zu Beginn des österreichischen Gastlandauftritts in Leipzig – am Vormittag des 27. April –trat Robert Prosser gemeinsam mit dem Musiker Lan Sticker auf der Österreich Bühne auf

Robert Prosser wurde 1983 im Tiroler Alpbach geboren Er studierte in Innsbruck und Wien Komparatistik sowie Kultur- und Sozialanthropologie. P rosser war in der Graffitiszene aktiv, seine Lesungen gestaltet er als Performances. Mitbegründer des Projektes „Babelsprech. International“ zur Förderung junger Poesie und bis 2018 dessen österreichischer Kurator. Mit dem Musiker Lan Sticker gründete er die Kombo Drumbadour, die in ihren Auftritten Spoken Word und Schlagzeugrhythmen vereint. Seit seinem Debüt „Strom: ausufernde P rosa“ (2009) veröffentlichte er sieben Bücher. Der Roman „Phantome“ (2017) war für den Deutschen Buchpreis nominiert, sein im Boxermilieu angesiedelter Roman „Gemma Habibi“ (2019) wurde zu seinem bisher größten Erfolg. Mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, erhielt er kürzlich das Große Literaturstipendium des Landes Tirol 2023/24. Sein jüngster Roman „Verschwinden in Lawinen“ (2023) erschien im Verlag Jung und Jung.

Herr Prosser, was sind Ihre ersten Leseerfahrungen?

Robert Prosser – Karl May und der „Steppenwolf“ von Hermann Hesse. Vermutlich war ich mit zehn oder elf für den „Steppenwolf“ zu jung, er hat mich allerdings ordentlich durchgerüttelt. Karl May war mein erster richtiger Bücherkauf. Ich erinnere mich noch an das Paket mit vierzig Bänden Karl May, das ich aus einem Versand-Katalog günstig erworben habe. In Karl May bin ich regelrecht versunken. Während des Studiums habe ich mich dann noch einmal mit Karl May beschäftigt. Erst da fiel mir das Katholische und Eurozentristische seiner Romane auf, dem Kind war es ja nur um die Abenteuer gegangen.

Der Autor Dzevad Karahasan sagte, Karl May sei der Einzige gewesen, der ihn als „Indianer“ richtig verstanden und diese positiv geschildert habe …

Robert Prosser – Ja, stimmt. Das zeigt, wie viele Lesarten es gibt. Und wie man sich selbst als Leser verändert.

Hesses „Steppenwolf“ irrt durch die Großstadt. Wann sind Sie diese Figur Harry Haller losgeworden?

Robert Prosser – „Steppenwolf“ habe ich zu Beginn der Pubertät gelesen. Mit Karl May kam ich in eine Fantasywelt – beim „Steppenwolf“ wurde mir klar, wie Lektüre auf das eigene Leben wirkt. Karl May versprach Abenteuer, Fremde und Neugier auf fremde Kulturen und andere Menschen. Harry Haller war eine Figur, die ins eigene Leben, ins eigene Empfinden eindrang. Aber am Ende bleibt, dass es sowohl bei Karl May wie bei Hermann Hesse eine irrlichternde Bewegung gibt. Dieses Irrlichtern findet sich auch in meinen ersten Büchern „Strom“ und „Feuerwerk“ wieder – in Form von Frühunterwegssein und Herumsuchen.

Ich kam dann auch von meinen Backpacker-Touren ins eigene Innere ab, es folgten Reisen mit einer Orientierung nach außen

Damit sind zwei Elemente Ihrer Literatur genannt. Ein drittes ist vermutlich Alpbach, das Tiroler Bergdorf, aus dem Sie kommen.

Robert Prosser – Mit dem Tourismus hat sich dort sehr viel verändert. Mein Großvater war Handwerker, davor gab es dort Bauern. In der Generation meiner Eltern wurden Tourismus und Gastgewerbe maßgeblich. Als ich dort aufwuchs, hatte man mit Tradition nicht mehr viel zu tun. Mittlerweile ist mir das Dorf schon ein bisschen fremd. Es gibt da Bauern, die immer nur Bauern sind, dann das Gastgewerbe, das vom Tourismus lebt, und die Expats. Für das Schreiben gibt das schon einiges her.

Robert Prosser
„Mir wurde klar, wie wenig man als Österreicher über diesen Krieg, den Krieg in Bosnien und die Kriege in Jugoslawien in den 1990er-Jahren, weiß“

Wie haben Sie das Forum Alpbach in Erinnerung, die große weite Welt im Dorf?

Robert Prosser – Es gab Gäste wie Helmut Kohl. Für mich als Kind war es aufregend, dass die Cobra und Personenschützer auftauchten und Hubschrauber durch die Luft flogen. Das Forum war auch spannender als das übliche Feuerwehrfest. Ich würde aber auch sagen, dass es für das das Dorf nicht so wichtig ist, wie man glauben könnte. Es wird nicht nur touristisch wahrgenommen, aber es kommen halt noch viel mehr Menschen, und die Zimmer sind voll. Nach zwei Wochen zieht der Zirkus ab, dann ist es bis zum Winter ruhig, bis der Tourismus wieder losgeht. Man kann sich als Einheimischer alles anschauen, aber man lässt sich nicht besonders darauf ein.

Sie haben sich die große weite Welt selber erarbeitet – durch Studium und Reisen …

Robert Prosser – Die Karl-May-Lektüre hatte Raum für die Fantasie bedeutet, aber aus der einengenden Welt am Dorfbrunnen musste ich weg. Eine notwendige Flucht. Es kam eine lange Zeit, in der mir das Dorf ebenso wie Tirol ziemlich egal waren. Ich kenne in Wien etliche Tiroler, die nie wieder dorthin zurückgehen würden. Ich habe zuerst in Kufstein und dann in Innsbruck die Alternativszene kennengelernt. Es war sehr wichtig zu sehen, dass es Jugendliche gibt, die etwas anderes als die Landjugend machen. Der Alternativszene fühlte ich mich zugehörig. Zuerst kam das Interesse an Hip-Hop und Graffiti. Damals habe ich alles Mögliche gejobbt und wusste nicht, was ich machen sollte. Eine Exfreundin erzählte mir von Komparatistik, ihretwegen begann ich zu studieren. Dabei lernte ich interessante Leute kennen, durch die ich wieder zum Lesen kam. Diese Bekanntschaften bestehen immer noch. So begannen mein zweites Leserleben und das Interesse am Schreiben.

Was bedeutet zweites Leserleben?

Robert Prosser – Ich habe bis vierzehn, bis zur Pubertät, viel gelesen, aber dann damit aufgehört. Rap und Graffiti waren mir wichtiger – eine wichtige Zeit, in der ich viel über mich selbst gelernt habe. Als Hip-Hop und Graffiti erledigt waren, begann eine Suche nach Neuem. Mit dem Studium landete ich wieder bei den Büchern. Und ich begann zu reisen – zunächst nach China, dann in die Mongolei, nach Indien und Nepal. Das waren Backpacker-Reisen. Ich habe mich mit der Literatur der Beat-Generation beschäftigt, mit Jack Kerouac. Dann kamen die Avantgarden der Europäer und die Wiener Gruppe. Irgendwann bin ich auf Thomas Kling gestoßen – der Rhythmus seiner Gedichte, dieses Stakkato, hat mich beeindruckt.

Mittlerweile hat Prosa für Sie mehr Bedeutung. Schreiben und lesen Sie noch Gedichte?

Robert Prosser – Mittlerweile schreibe ich nur Prosa, aber ich lese ausländische Lyriker der jüngeren Vergangenheit. Lyrik ist noch immer ein wichtiger Referenzrahmen, etwas, das Impulse gibt, um etwas Größeres zu schreiben. Ich beziehe aus ihr Energiestöße für das Denken, und daraus komponiere ich den eigenen Text. Prosa zu schreiben ist keine bewusste Entscheidung, aber aktuell ist es so.

Die Frage nach den Reisen ist noch offen …

Robert Prosser – Ich wollte damals nicht vor etwas davonlaufen, sondern irgendwo hinkommen, und musste erst herausfinden, wohin. Ich habe die Bewegung gebraucht, es war damals nur ein Kilometer-Machen. Ich bin in China in die abgelegenste Provinz an der Grenze zu Pakistan gefahren oder mit dem Bus in ein verlassenes Bergdorf im Karakorum-Gebirge. Ich habe darauf geachtet, möglichst dorthin zu kommen, wo es nicht touristisch ist, vermutlich weil ich selbst an einem touristischen Ort aufgewachsen bin. Trotzdem bewegt man sich immer im Raum des Tourismus. Im Nachhinein ist mir klar, dass ich damals vor allem mit meinem Inneren beschäftigt war. Ich begann zu schreiben, habe sehr viel notiert. In dieser Zeit sind viele Gedichte entstanden. Dabei ging es hauptsächlich um die Frage, was eine bestimmte Wahrnehmung in mir auslöst. Es war ein Ausprobieren der Sprache, das Entwickeln eines eigenen Stils. Etwas, das mir auch bei den Graffiti wichtig war – einen eigenen und erkennbaren Stil zu entwickeln.

Robert Prosser
Was für meinen Roman sehr wichtig ist: In den Familien, bei den Bauern und im Gastgewerbe wird sehr wenig erzählt. Es gibt viele Anekdoten, man erzählt aber nie zu viel

Irgendwann gab es die Entscheidung, weniger „experimentell“ zu schreiben und direktes Erzählen auszuprobieren.

Robert Prosser – Ja, das war auch eine Frage der Erfahrung. Wenn ich heute eigene frühere Texte anschaue, wundere ich mich auch manchmal. Vor zwei Jahren, während einer Residency in Sri Lanka, habe ich das gründlich überdacht. Mit Anfang zwanzig war ich für diese frühen Reisen viel zu jung und allzu sehr mit mir selbst beschäftigt. Mir war damals gar nicht klar, was es zum Beispiel in Indien alles an Geschichten gibt, die man erfahren könnte. Ich spürte, dass ich etwas abgeschlossen habe und woanders hinmuss. Durch das Reisen habe ich jedenfalls gelernt, dass es sehr viele Geschichten gibt.

Wie sehr interessiert Sie an all diesen Orten die Politik? Nach den ersten Büchern sind Sie nach Karabach gefahren und schrieben „Geister und Tattoos“.

Robert Prosser – Auf diese Geschichte bin ich in Armenien gestoßen. Ich hatte einen Deutschrussen kennengelernt, der für ein EU-Projekt in Armenien war, um den Kaukasus für bessere Landkarten zu vermessen, um Wanderwege anzulegen und den Tourismus anzukurbeln. So erfuhr ich von ehemaligen Soldaten, die im Karabach-Krieg gegen Aserbeidschan gekämpft und sich nach dem Krieg in einem menschenleeren Tal in einem Dorf angesiedelt hatten. Ihre Heimat war vermint, niemand wusste, wo sie herkamen, und offiziell gab es diese Siedlung gar nicht. Ich dachte, wenn ich diese Geschichte in einer Sprache, die ich bislang benutzt habe, erzählen will, stehe ich vollkommen an. In dieser sehr expressiven Sprache komme ich schnell an die Grenzen des Erzählbaren. „Geister und Tattoos“ war ein Übergang, ich begann klassischer zu erzählen. Ich kam dann auch von meinen Backpacker-Touren ins eigene Innere ab, es folgten Reisen mit einer Orientierung nach außen. Es war sehr blauäugig, als ich wieder nach Karabach fuhr und dachte, ich frage bei den Leuten noch einmal nach. Man bekam an der Grenze ein Dokument, das auswies, wohin man fahren durfte, und das wurde auch oft kontrolliert. Mir wurde klar, dass es mir gefällt, mehr zu erzählen. Das Außen bricht herein, man könnte doch recherchieren. Unterwegs sein ist schön und gut, aber welchen Sinn hat es, immer als Backpacker unterwegs zu sein?

Und die Politik …

Robert Prosser – Ich finde es immer sehr spannend zu schauen, wie etwas in das Leben einzelner Menschen einbricht und was es mit deren Leben macht. Bei „Phantome“ oder bei „Gemma Habibi“ gab es auch die Frage, was das mit unserer Gesellschaft macht – der Bosnienkrieg, der Krieg in Syrien sowie die Flüchtlingsbewegung. Der Krieg selbst war dabei gar nicht der Ausgangspunkt. Ich kannte viele aus Ex-Jugoslawien, mit einigen ging ich selbst zur Schule, andere kannte ich aus der Boxszene in Wien oder in Tirol. Als ich Mai 2013 zum ersten Mal in Bosnien war, fiel das zufällig mit dem achtzehnten Jahrestag des Massakers von Srebrenica zusammen. Die Stimmung dort war dementsprechend. Mir wurde klar, wie wenig man als Österreicher über diesen Krieg, den Krieg in Bosnien und die Kriege in Jugoslawien in den 1990er-Jahren, weiß. Ich konnte mich erinnern, dass ich als Kind oder Jugendlicher davon gehört hatte, und wie die Erwachsenen darüber sprachen. Nun wollte ich selbst wissen, was dahintersteckte. Als ich in Wien Interviews mit Personen der exjugoslawischen Diaspora machte, begriff ich, wie riesig dieses Thema ist und wie sehr es noch mit dem Alltag dieser Menschen zu tun hat. Sie waren in Wien oder in Tirol, weil sie in den 1990er-Jahren vertrieben worden waren. Danach nahm ich die Menschen in der Boxszene ganz anders wahr. Mit Interviews und zahlreichen Reisen nach Bosnien dauerte es vier Jahre, bis daraus ein Buch wurde.

Ihrer Website entnimmt man, dass Sie zwischen Kirgisien und New York unzählige Auftritte hatten. Wie entstand die Idee der freien Rezitation Ihrer Texte?

Robert Prosser – Das ist mit der Zeit entstanden, war mir aber schon immer wichtig und kommt aus dem Hip-Hop. Meine ersten Auftritte waren Poetry-Slams, wovon ich mich sehr schnell wieder verabschiedet habe. Ich habe lange herumgesucht und Verschiedenstes mit Musikern probiert. Das ging bis zum Roman „Phantome“, als mir klar wurde, dass mich die Geschichten, die ich in einem Café in Wien oder in Tuzla gehört habe, richtiggehend verschlucken. Als das Buch fertig war, fragte ich mich, ob es möglich wäre, aus dem Buch nicht einfach nur zu lesen, sondern die direkte Erfahrung, die sich in mir transferierte, wiederzugeben. Die Antwort war, ich muss den Text auswendig lernen, um dem Publikum direkt zu erzählen, mit dem Publikum direkt zu reden. Bei „Phantome“ habe ich probiert, die Erzählung so zu gestalten, dass sie als Erzählung für sich selbst stehen kann, um den entsprechenden Sog zu entwickeln. Es erwies sich als gar nicht einfach – sowohl das Auswendiglernen der Texte und die Sicherheit beim Rezitieren wie überhaupt die Rolle des Erzählers einzunehmen. Bei „Gemma Habibi“ erfolgte der nächste Schritt. Das Buch hat sehr viel mit Boxen zu tun, und dieser Kampfsport ist ja stark rhythmisiert, es liegen Takt und Melodie drinnen. All das sprachlich darzustellen, war eine ziemliche Herausforderung. Ich begann mit dem Schlagzeuger Lan Sticker zusammenzuarbeiten, und das stellt sich als sehr schöne und ergiebige Zusammenarbeit heraus. Daraus ist eine Performance mit Stimme und Schlagzeug geworden. Der Syrienkrieg hat nebenbei auch die Kampfsportszene stark verändert, plötzlich waren viele Leute aus dem arabischen Raum da. Es lässt sich diesbezüglich sehr viel über Integration erzählen: Wie sie funktioniert oder misslingt, auch über Feindbilder und Klischees. Man kann auch sehr viel über unsere Gegenwart erzählen.

Zu Ihrem neuen Roman „Verschwinden in Lawinen“. Ist die eigene Herkunftswelt am schwierigsten zu beschreiben?

Robert Prosser – Ich war sehr viel unterwegs, und irgendwie hatte das auch mit Tourismus zu tun. Wenn man etwa nach Asien fährt, muss man vom Abenteurerideal ein bisschen wegkommen, das ist dort ein Teil der Tourismusindustrie. Verfolgt man diesen Gedankengang weiter, wie verhält es sich dann mit einem Ort, der Freiheit, Natur, Ungebundenheit und Auszeit verspricht, speziell wenn man selbst aus so einem Ort kommt? Hier gibt es ja auch die Gefahr des Klischees. Sobald man sagt, man sei aus Tirol, löst das im Kopf vieler Gesprächspartner Bilder aus, die aus der Tirol-Werbung kommen: ein Adler im Himmel, man selbst hoch oben auf einem Felsen und dergleichen. Diese Klischees stellen auch in Tirol selbst ein P roblem dar, weil viele ihnen verfallen. Was die Identität betrifft, ist Tirol ein schwieriges Pflaster! (lacht)

Im Zentrum Ihres Romans steht eine ziemlich kaputte Familie. Und gleich am Anfang kommt eine drastische Szene mit der Schlachtung einer Ziege.

Robert Prosser – Mir ging es dabei nicht um den Effekt – ich wollte nur ungeschönt erzählen, was in einem Dorf passiert. Das gehört jenseits der Tourismusidylle mit Pistenzauber und Après-Ski dazu. Das ist nichts Besonderes. Auf den Bauernhöfen werden ständig irgendwelche Tiere geschlachtet. Das muss oft unter der Hand geschehen, weil es nach EU-Regeln gar nicht passieren darf, und man muss es auch vor den Urlaubern verstecken, weil die solche Dinge natürlich sehen wollen. Dann wird gleich ein Spektakel daraus. Es ist also eine Alltagssituation, die stark wirkt – auch im Kontext.

Bücherkasten

Robert Prosser: Verschwinden in Lawinen, Verlag Jung und Jung 2023, ISBN: 978-3-99027-273-2

Die Einwohnerschaft des heimatlichen Tiroler Alpendorfs kommentiert Xaver mit trockenem Sarkasmus: „Verlobt. Abgehauen. Ledig, mit zwei Kindern. Verheiratet.“ – „Hab gehört, dass die Scheidung ansteht.“ Der gelernte Koch, der Schauspieler sein möchte, arbeitet als Liftwart und erfährt, dass seine Nichte Tina und deren Freund Noah von einer Lawine verschüttet worden sind. „Das Knacken, als ob ein jagendes Wesen aus dem Gebüsch bricht, der Riss im Schnee, sekundenschnell wächst eine Gewalt, die abwärts stürzt und alles frisst, auch die Luft zum Atmen.“ Das Mädchen wird gerettet und ist außer Lebensgefahr, der Freund bleibt hingegen vermisst.

Vor dem Hintergrund der hektisch ablaufenden Rettungsaktion beschreibt Prosser eine alpine, vom Tourismus verseuchte Coming-of -AgeGeschichte in zerrissenen Familienverhältnissen. Die Beziehung zu seiner Schwester Marlen, einer Tierärztin, die das Elternhaus umgebaut hat, will geklärt sein. Mutter Anna, Ehe gescheitert, hat sich als Alkoholikerin auf den Berg in eine Hütte zurückgezogen und erklärt dem Sohn: „Irgendwann gehen dir die Möglichkeiten aus, glücklich zu werden, und bevor es so weit ist, versuch ich es lieber hier.“ Und schließlich ist da der geliebte Großvater Konrad, der vor Jahren in den Bergen verunglückte und mithilfe des Einsiedlers Mathoi, der über magische Kräfte verfügt, gefunden wurde. Xaver hatte damals bei der Suche versagt und will jetzt zum Helden werden. Der Heimatroman revisited – im besten Sinne!

Außerdem gibt es eine reichlich esoterische Figur, den sogenannten Anheber, einen Wunderheiler …

Robert Prosser – Diese Anheber gibt es in dieser Gegend zahlreich – für Einheimische ist das nichts Besonderes. Ich hätte selbst einige Telefonnummern, um dort anzurufen – vor allem das Zillertal ist eine wichtige Gegend dafür. Es handelt sich um eine Parallelwelt, die es in Tirol abseits des Tourismus gibt und die auch noch nicht ausgeschlachtet wird. Mir war schon bewusst, dass jemand, der nicht aus dieser Gegend kommt, das als Esoterik wahrnimmt. Doch der Anheber ist dort eine ganz normale Sache. Wenn das Wartezimmer beim Doktor voll ist, rufst du halt den Anheber an – nicht bei schweren Krankheiten, aber bei allen möglichen Wehwehchen oder wenn du mit dem Rauchen aufhören willst.

Gibt es den Anheber wirklich?

Robert Prosser – Ja, und nicht nur einen, vor allem im Unterland. Im Oberland gibt es sie interessanterweise weniger. Im Unterland ist das eine normale Sache, und manche sind auch wirklich gut, bei denen ist ziemlich viel los. Aber mir ist schon klar, dass so eine Figur in einem Roman ein gewisses Risiko darstellt.

Vor allem, wie er im Buch auftaucht. Der liegt da irgendwo in den Stauden …

Robert Prosser – Ja, genau. Man würde nicht glauben, welche Leute sich in den Bergen herumtreiben, wem man da begegnet. (lacht) Dass da einer halbnackt liegt, kommt schon vor. Es gibt auch eine Menge von Urlaubern, die wegen der „narrischen“ Schwammerl in den Bergen herumgeistern.

Wie oft gehen Sie selbst in die Berge?

Robert Prosser – Im Sommer recht häufig. Aber ich bin kein Kletterer, auch das Extrembergsteigen ist nicht mein Ding. Was für meinen Roman sehr wichtig ist: In den Familien, bei den Bauern und im Gastgewerbe wird sehr wenig erzählt. Es gibt viele Anekdoten, man erzählt aber nie zu viel. Ich habe zwei Kinder, zwei Buben, und ich hatte schon lange im Kopf, einmal über Tirol zu schreiben, über ein Dorf und den Tourismus. Die Geschichten aus der Familie wollte ich auch für sie erzählen. Das Schreiben hat ziemlich großen Spaß gemacht, weil ich dabei sehr viel umgedreht habe, sowohl was die eigene Familie betrifft als auch Alpbach. Ich dachte, wenn die Kinder einmal groß sind, würde ihnen das, wenn auch auf fiktionale Weise, sehr viel erzählen. Das Schlachten, der Anheber – mir ging es dabei um die Beschreibung von Tirol jenseits des Tourismus. Das ist auch eine Gratwanderung.

Zwei Menschen werden von einer Lawine verschüttet – eine Person wird schwer verletzt. Ohne zu viel zu verraten – überlebt der Verschüttete?

Robert Prosser – Das ist eine Entscheidung der Leser:innen. (lacht)

Sind Sie selber je in die Nähe einer Lawine geraten?

Robert Prosser – In die Nähe schon. Wenn man hier lebt, kennt man auch Menschen, die in eine Lawine geraten sind und es wieder herausgeschafft haben oder gestorben sind. Ich selber war einmal am Rand einer Lawine. Im Tourismus wird oft vergessen, dass Berge auch gefährliche Orte sind. Man muss abseits der Piste vorsichtig, zumindest respektvoll sein. Was die Berge so interessant macht – hier findet man das Abseits sehr schnell. Das Problem beim Tourismus sind die Massen, die da einfallen. Das Gute an den Bergen ist, dass es so viele davon gibt.

Wie geht es weiter?

Robert Prosser – Ich habe keinen Plan, aber ich merke, dass ich mich noch immer in einer Entwicklung befinde, dass ich auch im Schreiben noch immer sehr viel lerne. Jedenfalls spüre ich, dass ich noch Bücher in mir habe, und dass es einige Sachen gibt, über die ich schreiben will. Es ist nach wie vor eine Fahrt ins Ungewisse. Ich merke, wie sich das Erzählen verändert, und ich bin gespannt, was dabei noch herauskommt. Außerdem hoffe ich, dass die Zusammenarbeit mit dem Schlagzeuger weitergeht. Ich glaube, da kann man noch sehr viel herausholen. Es gibt viele Fragen, wie man ein Buch gut umsetzen kann, aber es handelt sich dabei um gute Fragen.

Was wird Ihre nächste Reise sein, was das nächste Buch?

Robert Prosser – Eine Reportage aus der Ukraine vom letzten Jahr ließe sich weiterführen. Was mich auch interessiert, ist die Grenzregion zwischen Polen und Weißrussland, in der viele Menschen feststecken. Was ich aktuell mit dem Tirol-Stipendium weiterverfolgen will, ist ein Roman aus der LibanonReportage „Beirut im Sommer“. Da kam mir Corona dazwischen, und in der Zeit entstand „Verschwinden in Lawinen“. Ich dachte, wenn ich die ganze Zeit schon in Tirol sitze, kann ich eine Idee aufgreifen, die ich schon lange im Kopf hatte – über Tirol und das Dorf zu schreiben. Seit drei, vier Jahren bin ich familienbedingt wieder in Alpbach, und wegen Corona war ich sehr lange durchgehend da. Aber jetzt kommt der Libanon.

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