FALTER Bücherherbst 2008

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FALTER

B端cher-Herbst 08 84 B端cher auf 56 Seiten

Nr. 42a/08

Schwerpunkt T端rkei. Interviews mit: Barbara

Erscheinungsort: Wien P.b.b. 02Z033405 W Verlagspostamt: 1010 Wien laufende Nummer 2170/2008

Frischmuth, Oya Baydar, Sadie Jones und Orlando Figes. Mathe, Physik und Bio

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VORWORT

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F A L T E R 42 /0 8 Die Falter-Buchbeilage erhalten Sie auch gratis in folgenden Buchhandlungen

Foto aus der Serie „Türkisches Wien“ von Katharina Gossow

Liebe Leserin, lieber Leser n dieser Stelle wurde in der letzten Falter -BuchA beilage, die im März erschienen war, Wendelin Schmidt-Dengler zitiert. Tragischerweise ist Öster-

reichs so unpäpstlicher „Literaturpapst“ vor wenigen Wochen völlig unerwartet verstorben. Für die Buchbeilage hätte er, der nachgerade ein Faible für die Langstreckenlektüre hatte, Uwe Tellkamps 1000-Seiten-Wälzer „Der Turm“ besprechen sollen. Dazu ist er nicht mehr gekommen. Eine Rezensentin ließ sich fi nden, Ersatz für Schmidt-Dengler wird es keinen geben. Der Länderschwerpunkt der heurigen Frankfurter Buchmesse ist der Türkei gewidmet, und die Chancen, dass davon auch etwas hängen bleibt, stehen nicht schlecht. Die Verlage waren jedenfalls fleißig, und die Beilage spiegelt das dichte Angebot mit neun Seiten Türkei-Schwerpunkt wider. Dass auch Bücher, die ein Dreivierteljahrhundert alt sind, noch unglaublich aktuell sein können, beweist Yakup Kadris Roman „Der Fremdling“, den KarlMarkus Gauß für uns besprochen hat. Um Politik geht es auch in den Interviews, die Julia Kospach mit der studierten Turkologin Barbara Frischmuth bzw. Jörg Magenau mit der Schriftstellerin und Politikerin Oya Baydar geführt hat. Und schließlich schlägt sich das Thema Türkei auch bildlich nieder: Die Fotoserie von Katharina Gossow zeigt Wiener mit türkischen Wurzeln. Dass der Österreichanteil diesmal vielleicht nicht ganz so üppig ausfällt wie gewohnt – sechs Seiten sind’s dann aber doch geworden –, liegt daran, dass viele der starkbeachteten Neuerscheinungen (etwa von Norbert Gstrein, André Heller, Michael Köhlmeier oder Marlene Streeruwitz) schon vor Wochen besprochen wur-

den. Auch die jüngsten Bücher von Olga Flor und Angelika Reitzer waren darunter. Nichtsdestotrotz wollen wir Ihnen die beiden hochgelobten Autorinnen hier noch einmal in Porträtform vorstellen. Auch der Aufmacher des Sachbuchteils widmet sich der Türkei. Veronika Seyr hat fünf Neuerscheinungen zu dem Land im Zwiespalt zwischen Religion und Säkularismus vor den Toren Europas gelesen. Vor 55 Jahren starb Josef Stalin – zwei Monumentalwerke von Orlando Figes und Karl Schlögl widmen sich den Folgen seiner Terrorherrschaft für die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Stadt Moskau zwischen Utopie und Verbrechen, Aufbruch und Paranoia. Mit Orlando Figes, der mit „Die Flüsterer“ schon den dritten Russland-Wälzer vorlegt, sprach Erich Klein. Weitere Themenschwerpunkte sind Jugendkultur und Punk, die Männer und was von ihnen übrig blieb, Armut und soziale Gerechtigkeit oder das Darwin-Jahr 2009 – von den dutzenden Publikationen dazu sind einige schon jetzt erschienen, besprochen werden sie von Oliver Hochadel. Die Grenzen zwischen Sachbuch und Belletristik lotet Martina Gröschls Besprechung eines informativen Mathematik-Romans und eines meinungsstarken, kreativen Mathematik-Essays aus. Den Abschluss machen wie bewährt Kochbücher, auf ihre Anwendungstauglichkeit überprüft von Armin Thurnher. Viel Lesehunger wünschen K L AUS NÜCHTERN K IR STIN BR EITENFELLNER MAT THIAS DUSINI

Impressum Impressum: Falter, Zeitschrift für Kultur und Politik. 31. Jahrgang. 1011 Wien, Marc-Aurel-Str. 9, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at Herausgeber: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H. Medieninhaber: Falter Zeitschrift en Ges.m.b.H. Redaktion: Klaus Nüchtern und Matthias Dusini Layout: Raphael Moser, Christian Sulzenbacher Korrektur: Helmut Gutbrunner, Ulrike Hirhager, Patrick Sabbagh, Rainer Sigl, Marie Yazdanpanah Druck: Goldmann Druck AG, 3430 Tulln, DVR-Nr. 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten.

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A. Punkt, Fischerstiege 1–7, 1010 Wien Aichinger Bernhard, Weihburggasse 16, 1010 Wien Berger, Kohlmarkt 3, 1010 Wien Freytag & Berndt, Kohlmarkt 9, 1010 Wien Frick, Kärtner Straße 30, 1010 Wien Herder, Wollzeile 33, 1010 Wien Kuppitsch, Schottengasse 4, 1010 Wien Leo & Co., Lichtensteg 1, 1010 Wien Lia Wolf, Bäckerstraße 2, 1010 Wien Löwelstraße, Löwelstraße 18, 1010 Wien Morawa & Styria, Wollzeile 9, 1010 Wien Morawa & Styria, Rotenturmstraße 16–18, 1010 Wien ÖBV, Schwarzenbergstraße 5, 1010 Wien Schottentor, Schottengasse 9, 1010 Wien tiempo, Johannesgasse 16, 1010 Wien Facultas im NIG, Universitätsstraße 7, 1010 Wien Winter, Landesgerichtsstraße 20, 1010 Wien Frick International, Schulerstraße 1–3, 1010 Wien tiempo nuevo, Taborstraße 17a, 1020 Wien Thalia, Landstraßer Hauptstraße 2a/2b, 1030 Wien Ebbe und Flut, Radetzkystraße 11, 1030 Wien Laaber, Landstraßer Hauptstraße 33, 1030 Wien Jeller, Margaretenstraße 35, 1040 Wien Malota, Wiedner Hauptstraße 22, 1040 Wien Lehrmittelzentrum Technik, Wiedner Hauptstraße 6, 1040 Wien Thalia, Mariahilfer Straße 99, 1060 Wien BVG-Bücherzentrum, Mariahilfer Straße 1c, 1060 Wien Hintermayer, Neubaugasse 27, 1070 Wien Krammer, Kaiserstraße 13, 1070 Wien Posch, Lerchenfelder Straße 91, 1070 Wien Bernhard Riedl, Alser Straße 39, 1080 Wien Eckart, Josefstädter Straße 34, 1080 Wien Lerchenfeld, Lerchenfelder Straße 50, 1080 Wien Buch-Aktuell, Spitalgasse 31, 1090 Wien Kuppitsch am Campus, Alser Straße 4, 1090 Wien Leporello, Liechtensteinstraße 17, 1090 Wien Löwenherz, Berggasse 8, 1090 Wien Management Bookservice, Augasse 5–7, 1090 Wien Reisebuchladen, Kolingasse 6, 1090 Wien Yellow, Garnisongasse 7, 1090 Wien LeseZeit, Stockholmer Platz 4, 1100 Wien BVG-Bücherzentrum, Schönbrunner Straße 261, 1120 Wien Bestseller, Hietzinger Hauptstraße 22, 1130 Wien Hartleben, Hütteldorfer Straße 114, 1140 Wien Morawa V.I.C., Hackinger Straße 52, 1140 Wien Book Point 17, Kalvarienberggasse 30, 1170 Wien Hartliebs Bücher, Währinger Straße 122, 1180 Wien Baumann, Gymnasiumstraße 58, 1190 Wien Fritsch Georg, Döblinger Hauptstraße 61, 1190 Wien Stöger, Obkirchergasse 43, 1190 Wien Thalia, Q19, Kreilplatz 1, 1190 Wien Thalia, SCN, Ignaz-Köck-Straße 1, 1210 Wien Bücher Am Spitz, Am Spitz 1, 1210 Wien BVG-Bücherzentrum, SCS, Top 155, 2331 Vösendorf Morawa & Styria, SCS, Top 49A, 2331 Vösendorf Berthold, Hauptstraße 51, 2340 Mödling Dietz GmbH, Bahnstraße 1, 2351 Wiener Neudorf Valthe, Wiener Gasse 3, 2380 Perchtoldsdorf Hikade, Schulgasse 2a, 2700 Wiener Neustadt Mitterbauer, Wiener Straße 10, 3002 Purkersdorf Sydy’s, Wiener Straße 19, 3100 St. Pölten Schmidl, Obere Landstraße 5, 3500 Krems/Donau Alex, Hauptplatz 17, 4020 Linz Thalia, Landstraße 41, 4020 Linz Thalia, Schmidtgasse 27, 4600 Wels Thalia, Pfarrgasse 11, 4820 Bad Ischl Michael Neudorfer, Hinterstadt 21, 4840 Vöcklabruck Thalia, Wohlmeyrgasse 4, 4910 Ried/Innkreis Motzko, Rainerstraße 24, 5017 Salzburg Höllrigl, Sigmund-Haff ner-Gasse 10, 5020 Salzburg Morawa & Styria – Europark, Europastraße 1, 5020 Salzburg Morawa & Styria SCA, Alpenstraße 107, 5020 Salzburg Rupertusbuchhandlung, Dreifaltigkeitsgasse 12, 5020 Salzburg Facultas NAWI-Shop, Hellbrunner Straße 34, 5020 Salzburg Engelhard Brandstätter, Marktplatz 15, 5310 Mondsee Morawa & Styria Sillpark, Museumstraße 38, 6020 Innsbruck Tyrolia, Maria-Theresien-Straße 15, 6020 Innsbruck Wagner!sche, Museumstraße 4, 6020 Innsbruck Jöchler, Malserstraße 16, 6500 Landeck Eulenspiegel, Marktstraße 42, 6845 Hohenems Ananas, Marktplatz 10, 6850 Dornbirn Brunner, Montfortstraße 12, 6900 Bregenz Brunner, Dr.-Schneider-Straße 22, 6973 Höchst Dradiwaberl Uni-Shop, Zinzendorfgasse 25, 8010 Graz Pock, Hauptplatz 1, 8010 Graz Leykam, Europaplatz 4, 8010 Graz Leykam, Stempfergasse 3, 8010 Graz Moser Ulrich, Herrengasse 23, 8010 Graz Leykam, Grazerstraße 9, 8330 Feldbach Heyn Johannes, Kramergasse 2, 9020, Klagenfurt

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In halt

Literatur

6 Türkei Sebnem Isigüzel findet ein ganzes Ensemble außergewöhnlicher  6 Menschen in ihrem Roman „Am Rand“, der auf den Müllhalden Istanbuls spielt Türkei Warum die Türkei nicht wurde, was sie der Ideen von Kemal Atatürk nach  7 hätte werden sollen, kann man in Yakup Kadris „Der Fremdling“ nachlesen Türkei Barbara Frischmuth spricht über ihre jahrzehntelange Erfahrung  8 mit der Türkei und die Vorurteile ihrer Landsleute Türkei Ob man’s glaubt oder nicht, auch unter Muslimas gibt es eine Art Charlotte  9 Roche: Deniz Goran hat „Die Tochter des türkischen Diplomaten“ geschrieben Türkei „Tschador“ von Murathan Mungan handelt von einem Mann, der nach  10 Afghanistan zurückkehrt und seine Heimat nicht wiedererkennt Türkei Elif Shafak hat in „Der Bonbonpalast“ unterhaltsame Geschichten  10 aus dem bunten Leben Istanbuls zu einem Roman verknüpft Türkei Eine Entdeckung für die europäische Literatur: Ahmet Hamdi Tanpinars  11 hochkomischer und skurriler Roman „Das Uhrenstellinstitut“ Türkei Und noch einmal die 10-Millionen-Stadt: „Istanbul war ein Märchen“ von Mario Levi feiert das multikulturelle Leben abseits der Islamisierungsklischees  12 Türkei „Ich hatte Angst, unter Folter zu sterben“, sagt die Schriftstellerin  13 Oya Baydar, die nach 30 Jahren wieder einen Roman geschrieben hat Türkei Die Gedichte von Nazim Hikmet haben nichts von ihrer Schönheit und  14 Modernität verloren. Nun liegen sie in einer zweisprachigen Auswahl vor Der ziemlich nahe Osten Die slowakisch-schweizerische Schriftstellerin  14 Irena Brezna erzählt vom realen Sozialismus als wär’s ein Märchen Der ziemlich nahe Osten Dragan Velikic ist Botschafter Serbiens in Wien  15 und hat einen neuen Roman geschrieben: „Das russische Fenster“ Der ziemlich nahe Osten Das Literaturland Rumänien ist im Kommen:  16 Als jüngste Entdeckung muss Filip Florian gelten Indien Mit „Der weiße Tiger“ tarnt Aravinda Adiga einen neokolonialen  17 Gesellschaftsentwurf als Bildungsroman Gut gemeint Dave Eggers erzählt in „Weit gegangen“ das Schicksal des  18 sudanesischen Exilanten Valentino Achak Deng nach Türkei Züfü Livaneli konfrontiert in den wilden Osten Anatoliens mit der großen Stadt, wo die „Glückseligkeit“ eines jungen Mädchens bessere Chancen hat

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Interview Die Schriftstellerin Sadie Jones spricht über ihr Debüt „Der Außenseiter“,   der in den 50ern spielt und in Großbritannien zum Bestseller avancierte 2 x Vladimir Nabokov Über das Romanmonster „Fahles Feuer“ und Michael Maars einlässliche Studie „Solus Rex“ Scherzkeks David Sedaris beutet einmal mehr sein Leben und seine Umgebung aus, um Funken des Frohmuts daraus zu schlagen DDR SCHWER Uwe Tellkamp hat mit „Der Turm“ einen voluminösen Familienroman über ein dem Untergang zutreibendes Land geschrieben DDR LIGHT Endlich: Mit „Adam und Evelyn“ hat Ingo Schulze die Erzählung über den Sommer 1989 geschrieben, die wir längst schon lesen wollten Debüt Die aus Russland stammende Alina Bronsky hat mit „Scherbenpark“ einen rasanten Roman über ein hinreißende Heldin geschrieben Wahnsinn Markus Erdmann ist fett, schwitzt wie blöd und muss Gags für einen Uhu schreiben. So will es Heinz Strunk in „Die Zunge Europas“ Werkporträt Jean-Philippe Toussaint bevorzugt Virtuosen des Scheiterns als Helden und ist ein Meister des sanften Spottes und der federleichten Sätze Österreich Porträt Olga Flor: Die in Graz lebende Wienerin macht die Räume eng. Ihre Figuren haben Stress, der Leser hat das Vergnügen Österreich Porträt Angelika Reitzer: Die in Wien lebende Grazerin schreibt über Streuobst und Prekariat und wird mit dem Priessnitz-Preis ausgezeichnet Österreich Elisabeth Reicharts Roman „Die unsichtbare Fotografin“ findet auf allen Kontinenten Schuld und Sühne Österreich Hanno Millesi bietet in „Der Nachzügler“ Berufsalternativen für einkommensschwache Schriftsteller an Österreich Immer dabei, wenn’s scheppert und kracht, ansonsten aber ein patenter Bursche: Der Teufel in Michael Stavaric’ Roman „Magma“ Österreich Anna Kim geht mit ihrem Roman „Die gefrorene Zeit“ an die Grenzen der Liebe und des Erzählens Österreich Gustav Ernst belauscht in „Helden der Kunst, Helden der Liebe“ das Geschwätz seiner Kollegenschaft Österreich Porträt: Johannes Gelich hat mit „Der afrikanische Freund“ den politischen Roman neu belebt

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Sachbuch

32 Stalinismus Der britische Historiker Orlando Figes schrieb ein Buch über die Privat­sphäre im Stalinismus. Im Interview erzählt er von seinen moralischen Skrupeln 34 Stalinismus Karl Schlögel schrieb einen historischen Reiseführer für eine 35 geteilte Stadt. 1937 war Moskau Kultur- und Terrorhauptstadt Hirnforschung Merlin Donald sezierte das menschliche Bewusstsein. 36 Sein beruhigendes Fazit: Der Mensch ist nicht nur eine neuronale Maschine Biologie In einem fröhlichen Tierbuch beschreibt Markus Bennemann den 36 spuckenden Schützenfisch und den heuchlerischen Schwertwal Philosophie Auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Wissenschaft 37 analysiert Christoph Türckes die (Alb-)Träume der Menschheit Lebensstil Linke Ideen haben es schwer in neubürgerlichen Zeiten. Drei 38 Bücher beschreiben den Spagat zwischen Biederkeit und Fortschritt Lebensstil Tipps für stilvolles Schwindeln: Adam Soboczynski schrieb die 39 Anleitung zu einem richtigen Leben durch Verstellung Klassiker Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich würde 100. Daher kam 39 seine Polemik „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ neu heraus. Eine Relektüre Männer In Dieter Thomäs historischem Vaterschaftstest stirbt das Patriarchat 40 einen langsamen Tod. Er plädiert für ein Vaterbild ohne Heldentum Migration Der niederländische Sozialdemokrat Paul Scheffer hält die 40 europäische Einwanderungspolitik für gescheitert Kriminalität Loïc Wacquant schrieb eine wütende Studie über die brutale 41 Kriminalisierung von Armut Mathematik Müssen Romane immer fantastisch und Sachbücher staubtrocken 42 sein? Zwei Bücher über mathematische Aufgaben machen es anders Physik Jeder kann Physik verstehen ist die Botschaft Hans Graßmanns. 43 Ein Plädoyer gegen falsch verstandenes Expertentum Philosophie Wie frei ist der Wille? Michael Pauen und Gerhard Roth geben 44 den Erkenntnissen der Hirnforschung eine solide begriffliche Basis Popkultur Zwei Bücher dokumentieren die Widersprüchlichkeit von Punk. 46 Aus einer Eintagsfliege wurde der Motor kultureller Erneuerung Türkei Fünf Bücher beleuchten das Verhältnis zwischen Europa und der Türkei, die zwischen Wirtschaftsboom und Traditionalismus schwankt

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47 Internet Der Journalist Michael Maier möchte die Welt durch das Internet retten, 48 die Philosophin Christine Kolbe sieht Medien bereits in der Antike am Werk Medien Oscar Bronner ist der schillernde Erneuerer der österreichischen 49 Publizistik. Nun ist eine Biografie über ihn erschienen Film Der Werwolf ist wieder da. Ein Sammelband erklärt die Faszination für 49 das Genre Horrorfilm. NS-Zeit Hubert Wolf versuchte, das Verhältnis des Papstes zu Hitler 50 aufzuarbeiten. Der Vatikan machte ihm die Arbeit nicht leicht Fotogeschichte Anton Holzer arbeitete die Kriegsverbrechen der k.u.k. Armee 50 auf und beschreibt die ekelhafte Symbiose zwischen Gewalt und Fotografie Kochbücher Biblisch, asiatisch, physikalisch: Armin Thurnher ordnet 52 die Flut neuer Kochbücher nach großen Trends Evolution Oliver Hochadel sichtet die Lektüre, die zum 200. Geburtstag 54 von Charles Darwin erschienen ist Jugendkultur Jon Savage beschreibt die romantischste Hervorbringung ,der Moderne – den Teenager.

Der Türkei ist der Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse gewidmet. Dem türkischen Wien widmen sich die Fotos von Katharina Gossow, die hier und in der ganzen Buchbeilage zu sehen sind.

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Liter atur

Zwischen Istanbul und Anatolien liegen Welten

Der Sternenhimmel über den Müllbergen

In seinem Roman „Glückseligkeit“ beschreibt das Multitalent Züfü Livaneli die Zerrissenheit der türkischen Gesellschaft

Im Dreck der Großstadt findet Sebnem Isigüzel außergewöhnliche Menschen – und die ganze Welt

Te x t: EDGAR SCHÜT Z

itunter ist es ebenso erstaunlich M wie bedrückend, welche gesellschaftlichen Unterschiede trotz allem Globalisierungseifer herrschen. Eine literarische Expertise darüber bereitet Züfü Livaneli in seinem Roman „Glückseligkeit“ im Fall der Türkei auf. Gleich zu Beginn taucht der Leser in ein – zumindest hierzulande – völlig unbegreifliches Schicksal ein.

Im wilden Osten Anatoliens wächst die 15-jährige Meryem auf. In ihrem Dorf feiern archaische Mythen und eine voraufklärerische Religionsauffassung sowie genuine Frauenfeindlichkeit fröhliche Urständ. Meryem wurde aus Sicht ihrer Umgebung im Grunde bereits „schuldig“ geboren, weil die Mutter bei ihrer Geburt verstarb. Zu einem jungen Mädchen heran­ gewachsen, wird sie in einem Gartenhaus von ihrem Onkel, dem Imam des Ortes, vergewaltigt. Aber nicht der ehrwürdige Scheich wird zur Rechenschaft gezogen, sondern Meryem, die bei ihrer Familie auf keinerlei Verständnis oder so etwas wie Rechtsempfinden rechnen kann, wird in ein Kellerloch gesperrt. Dort liegt unter einem Balken ein Strick – eine wortlose Aufforderung, die Konsequenzen aus „ihrer Schandtat“ zu ziehen, der Meryem freilich widersteht. Weswegen nun ihr Cousin Cemal, der Sohn des Scheichs, beauftragt wird, sie ins ferne Istanbul zu bringen, um sie dort – als Soldat im Kampf mit der PKK ans Töten gewöhnt – umzubringen. Aber obgleich Cemal vorerst keine Zweifel hegt, dass das Todesurteil der Familie zu Recht verhängt wurde, hat er innere Hemmungen, die kleine Spielgefährtin von früher um die Ecke zu bringen. Erste Zweifel kommen ihm später, als

er – und auch Meryem – nach einer ­t agelang dauernden Zugfahrt in Istanbul mit einer völlig anderen Welt konfrontiert werden. Die schrille Ge­gen­wart der ­modernen, weltoffenen, vom Westen geprägten Millio­ nenmetropole (an deren Rande ­ge­sc­heiterte Zuwanderer aus Anatolien dahin­dümpeln), trifft die beiden wie ein Faustschlag. Da Cemal natürlich nicht mit einer lebenden Meryem in sein Dorf zurückkehren kann, beginnt für beide eine kleine Odyssee, in deren Verlauf sie auf Irfan Kurudal treffen. Der Professor für Soziologie an der Univer­sität von Istanbul ist seinerseits mit einem Segelboot auf der Flucht vor seiner persönlichen Midlifecrisis und dem Leben der besseren Gesellschaft in Istanbul, zu der er als begabter Sohn minder begüterter Eltern aus der Küstenstadt Izmir durch Heirat mit einer

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Tochter aus reichem Haus Zugang gefunden hat. Der Professor heuert Meryem und Cemal als eine Art Crew auf seinem Segelschiff an. Die Begegnung zwischen dem Professor und den beiden führt nun auf zwei Ebenen zum Clash der Kulturen: Einerseits führt Irfan das junge Mädchen in eine Welt ein, in der es statt Demut, Kopftuch und Pluderhosen Badeanzüge, leichte Kleider, Sonnenbrillen und weibliches Selbstbewusstsein gibt; andererseits genießt er selbst auf der Fahrt durch die Ägais die Befreiung von den Zwängen und Intrigen seines Familien-, Gesellschafts- und Berufslebens am Bosporus. Bezeichnenderweise quartieren sich die drei Schicksalsgenossen auf einer fast gottverlassenen Insel bei einem etwas verschrobenen, pensionierten Botschafter ein. Auch er hat das Leben in einer Gesellschaft satt, in dem das Hauptinteresse von Medien und Menschen der Oberweitengröße irgendwelcher TV-Sternchen oder den Affären von Fußballstars und Filmgrößen gilt. Als kritischer Geist musste Livaneli, der sich auch als Filmregisseur und vor allem als Musiker einen Namen machte, in den 70er-Jahren ins Exil gehen. In seinem Roman verknüpft er Lebensläufe von Protagonisten aus unterschiedlichen Kultur- und Gesellschaftskreisen und beleuchtet damit die heutige Türkei aus verschiedenen Blickwinkeln. Die Einblicke in die ländlich-rückständige und geradezu borniert den alten Traditionen verhaftete Bevölkerung, aber auch in das von westlichen Einflüssen dominierte Leben der Menschen in Istanbul zeigt die Zerrissenheit und den Widerspruch, der die türkische Gesellschaft bis heute offenbar prägt. Der Professor ergeht sich an­gesichts dessen ausgiebig in Kulturpessimismus. Er sieht die alten Werte östlicher und islamischer Vergangenheit vergehen, ohne dass sie in westlich geprägten Kreisen durch neue Maßstäbe ersetzt würden. All das verpackt Livaneli in eine fast romantisierende Sprache, sodass die Geschichte abseits ihrer Gesellschaftskritik wie ein modernes, freilich nicht immer ganz kitschfreies Entwicklungsmärchen anmutet. F

Zülfü Livaneli: Glückseligkeit. Aus dem Türkischen von Wolfgang Riemann. Klett-Cotta, 313 S., € 23,60

Te x t: VERENA MAYER

ie Müllhalde von Istanbul, wie D sie die 1973 geborene Autorin Sebnem Isigüzel beschreibt, ist ein

Ort der Extreme. Schmutz findet sich neben Schmuck, Kaviar neben Kadavern. Und erst die Leute, die auf der Müllhalde ihr Dasein fristen: junge Frauen, Männer mit Säbeln, Verrückte und Verirrte, ein Arzt, der mit Organen handelt, ein verkanntes Genie. „Der Müllplatz war die eine Welt, die mit nichts in der normalen Welt vergleichbar war, aber dennoch war sie die Essenz des Lebens.“ ist Leyla. Einst war sie eine talentierte Schachspielerin, die Kasparow kannte und ihre Gegner mit einer Taktik bezwang, die man „Leylas Wind“ nannte. Nach dem Tod ihrer Eltern aber kommt sie zu Verwandten, Angehörigen der Istanbuler Oberschicht, die Schach für ein gefährliches, weil kommunistisches Spiel halten. Leyla muss es aufgeben und heiratet einen versoffenen Mann, der ebenso wenig Perspektiven hat wie sie. Sie landet auf der Straße und schließlich buchstäblich auf dem Müll. „Am Rand“ entwirft ein fantastisch-realistisches Gesellschaftspano­ rama der modernen Türkei. Es geht um autoritäre Großväter und nationalistische Politiker, selbstgerechte Künstler, Ausbeuter und Ausgebeutete. Freunde hat sich Isigüzel damit kaum gemacht. Ihr erster Roman, „Über deinem Haus wird der Mond aufgehen“, wurde mit Lob überhäuft, durfte dann aber wegen angeblich jugendgefährdender Tendenzen nur zensuriert erscheinen. Isigüzel schreibt darin über das Leben türkischer Frauen und greift Tabuthemen wie Inzest auf. Die Figuren ihres jüngsten Romans sind durchwegs gebrochene Menschen. Die zweite Hauptfigur ist eine Musikwissenschaftlerin namens Yildiz, die als Kind von ihrer Mutter gezwungen wurde, stundenlang auf einem Bein zu stehen, und nach deren Tod noch immer von einem „Muttergespenst“ heimgesucht wird. Ihre besten Jahre hat Yildiz als ­aufopferungsvolle Assistentin eines berühmten Dirigenten verbracht. Als sie eines Tages von einer Autorin aufgesucht wird, die die Biografie des ­Dirigenten schreiben will, verliert Yildiz auch noch das Letzte, die Deutungshoheit über ein Leben, an dem sie zumindest teilgenommen hat. Sie entführt das Kind der Biografin, und auch ihre Geschichte endet auf dem Müllberg. Ihr Schicksal wird abwechselnd mit dem Leylas erzählt: „(…) weiß und schwarz. Die beiden Geschich-

Die „Königin“ der Müllmenschen

ten rücken mit entsprechenden Zügen gegeneinander vor.“ Auch der Roman selbst gleicht einem Schachspiel: Von den zahlreichen Figuren, die Isigüzel aufstellt, bleiben am Ende nur einige wenige übrig. Immer wieder bringt sich die Ich-Erzählerin selbst ins Spiel, reflektiert über ihre Romanfiguren wie ein Schachspieler über die nächsten Züge. Im letzten Teil des Romans setzt sich die Erzählerin gewissermaßen selbst matt: Sie tritt unter dem Namen Sebnem Isigüzel auf und trifft die Menschen, die ihr als Vorbilder für ihre Romanfiguren gedient haben. Wenn etwa Kasparow beschrieben wird, wie er in Bermudashorts bei einer Gartenparty in Los Angeles sitzt und im Backgammon verliert, ist das ausgesprochen witzig. Darüber hinaus treten in diesen Interviews aber auch plötzlich Dinge zutage, die das Erzählte völlig über den Haufen werfen. Reale Personen bringen in einem fiktiven Text eine Wahrheit ans Licht, die nur im Roman existiert – solcherlei Paradoxien fließen bei Isigüzel ineinander wie die berühmten Wasserfälle in den Bildern von M.C. Escher. In letzter Konsequenz erzählt Isigüzel vom Erzählen in einem autoritär geführten Land: Es gibt keine ewige Wahrheit in der Kunst, auch wenn die Politik diese gerne verordnen würde. Das Schönste am Roman aber ist Isigü-

zels Sprache, diese ironische Poesie, in der sich Realismus und Metaphern, Handlung und Deutung vermischen, während sich die Erzählerin immer wieder selbst zur Räson ruft: „Mein Schwatz hat sich ausgedehnt wie das Telefonkabel.“ Bei Isigüzel sind die Dinge konkret, aber immer auch Metaphern: Eine Müllhalde ist eine Müllhalde, aber eben auch ein Sittenbild für einen autoritär geführten Staat. Und so wie sich auf Istanbuls Müllberg die wunderlichsten Dinge ansammeln, so ist Isigüzels Sprache eine Anhäufung von Bildern, literarischen Anspielungen, Zitiertem und Angelesenem. Zu großen Weisheiten ist es da oft nicht mehr weit: „Die Mehrheit ist oft eine Person. (…) Yildiz bestand eigentlich aus so vielen, wie es Sterne am Himmelszelt gab. So viele, und so nutzlos; F so viele und so rein dekorativ.“

Sebnem Isigüzel: Am Rand. Aus dem Türkischen von Christoph K. Neuman. Berlin Verlag, 416 S., € 22,70

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Geburt einer Nation, die keine sein wollte Der Kemalist Yakup Kadri (1889–1974) zeigt in „Der Fremdling“, woran die Türkei gescheitert ist te x t: K ARL MARKUS GAUSS

iner der interessantesten türkischen E Romane, die ich kenne, stammt von einem Funktionär der kemalistischen Staats-

partei und ist im Original schon vor 75 Jahren erschienen. Verfasst hat ihn der 1974 hochbetagt verstorbene Yakup Kadri. „Der Fremdling“, ein trotz seiner Handlungsarmut ungemein fesselnder Roman, der bald nach der Erstauflage von 1932 in viele Sprachen übersetzt wurde, war sein größter internationaler Erfolg. 1939, zu Zeiten nationalsozialistischer Bücherzensur, konnte der Roman sogar in Deutschland erscheinen, wo Kadri als „völkischer Autor“ galt und „Der Fremdling“ zum Dokument eines großen nationalen Ringens umgefälscht wurde. Wie gewaltsam diese Lesart war, kann man an

Es ist ein kluger Kunstgriff Kadris gewesen,

Den anatolischen Bauern ist der türkische

­ ffizier, der sie für den patriotischen „BeO freiungskrieg“ begeistern will, gerade so verdächtig wie der griechische Leutnant, der seine Truppen gegen ihr Dorf aufmarschieren lässt. Als „Türken“ wollen sie, die in einer in Jahrhunderten gehärteten Tradition leben, sich keineswegs fühlen, und wenn ihnen die Frage nach einer übergreifenden Identität überhaupt aufgeht, so ­beantworten sie sie damit, rechtgläubige Muslime zu sein.

Yakup Kadri: Der Fremdling. Aus dem Türkischen von Max SchultzBerlin. Bibliothek Suhrkamp, 246 S., € 16,30

den Roman in die Form eines Tagebuchs zu gießen, das der Offizier vom Tage seiner hochgemuten Ankunft bis zu seinem Untergang in Schrecken führt. Alles Geschehen ist so aus der Perspektive eines gleichermaßen verzweifelten wie bornierten Idealisten geschrieben, der mit dem untergeht, was er für seine Ideale hält. Das Tagebuch mit dem ihm eigenen Anspruch auf Authentizität und Unmittelbarkeit mag die Leser zunächst dazu verführen, sich mit dessen Verfasser zu identifizieren, seine politisch und persönlich verengte Sicht zwingt sie aber in zunehmende Distanz. So hat Kadri, der jahrzehntelang für Atatürks Partei im Parlament saß, die Deutung dessen, was im Tagebuch über die Geburt einer Nation berichtet wird, die keine sein möchte, den Lesern überlassen. Manchmal ist aus alten Büchern erstaunlich viel über F die Gegenwart zu erfahren.

Olga Flor

Foto: ©

Marko

Lipuš

der Neuauflage der alten Übersetzung von Max Schultz-Berlin studieren. Anstelle von dessen Vorwort, das vom nazistischen Zeitgeist nicht eben unberührt war, weist sie eine sachkundige, allerdings auch schon wieder 20 Jahre alte Nachbemerkung von Erhard Stölting auf. Ein westlich gebildeter und leidenschaftlich den Zielen Mustafa Kemal Atatürks verpflichteter Offizier hat im Ersten Weltkrieg einen Arm und damit seine Diensttauglichkeit verloren. Des oberflächlichen Lebens in Istanbul überdrüssig, folgt er nach Kriegsende seinem Burschen, um in dessen anatolischem Dorf wieder zur Ruhe zu kommen und aus der Begegnung mit dem „türkischen Volk“, den analphabetischen Bauern, neue Kraft und Zuversicht zu schöpfen. Doch das Volk hält nicht, was sich der glühende Nationalist von ihm versprach: Durch keine Belehrung und keinen flammenden Appell ist es für die große nationale Sache, für den türkischen Staat, für das Werk Atatürks zu interessieren, und noch die heiligsten Ideale des Nationalismus

Kadris Roman seziert mit unerbittlicher Präzision jenen Widerspruch, der an der Wiege des modernen türkischen Staates stand – und bis heute manch verheerende Folgen zeitigt: Da steht eine dünne Schicht von gebildeten Offizieren und Intellektuellen gegen das Volk, in dessen Namen sie die Bildung einer Nation proklamiert und die Reform des Staates mit autoritären Mitteln von oben durchsetzt. Die Türkei ist nicht entstanden, weil die unterdrückten Massen den feudalen Staat der Osmanen hinwegfegten, sondern weil sich eine Elite, die ihre Ideen aus dem Westen bezog, in den Besitz der Staatsgewalt setzte. Die Ungleichzeitigkeit ist ein Merkmal des türkischen Staates geblieben, und was Kadri 1932 schrieb, gilt heute nicht minder: „Der Unterschied zwischen einem gebürtigen Istanbuler, der die Schule besucht hat, und einem anatolischen Bauern ist gewaltiger als der Unterschied zwischen einem Engländer aus London und ­einem Inder aus dem Pandschab.“

sind ihm gänzlich fremd. Der Offizier, so verzweifelt er sich bemüht, findet im Dorf keinen Freund, keinen Zuhörer, er steht vor schweigenden Menschen, denen sein Bemühen völlig unbegreiflich ist und die ihn daher als verrückten Fremdling zu verachten beginnen: „Die Seele des türkischen Bauern ist ein stehendes und tiefes Gewässer. Was es auf seinem Grunde gibt – einen schroffen Felsen, einen Lehmhügel, eine lockere Sandschicht – das herauszufinden ist unmöglich. Rede ich sie an, so blicken sie mir einfältig ins Gesicht, als verstünden sie kein Wort. Dann murmeln sie irgendetwas untereinander. Und ich fühle, dass sie meine Worte wohl verstanden haben, aber sie nicht billigen. Mitunter merke ich auch, dass sie heimlich über mich lachen.“ Während in den großen Städten der aus türkischer Sicht so bezeichnete „nationale Befreiungskrieg“ beginnt, der mit dem Sieg über die griechischen Truppen, der Austreibung der seit Jahrhunderten im Westen des Landes lebenden griechischen Bevölkerung und dem Aufbau eines modernen Staatswesens endet, erlebt der Offizier den Zusammenbruch seines Weltbilds. Was er liebt, ist eine Abstraktion, die reine Idee der türkischen Nation – was er findet, sind Menschen, die ihn in ihrer dumpfen Rohheit, in ihrer Unwissenheit, aus der sie nicht zu entrinnen versuchen, abstoßen; und doch sind sie es, die den Baustoff der Nation abgeben müssten, die er sich groß und aufgeklärt und mächtig erträumt.

»Olga Flor schreibt sich mit großem Können in die erste Reihe der österreichischen Literatur.« Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung

208 Seiten. Gebunden. � 18,40 [A] www.zsolnay.at

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„Ich hätte es mir üppiger vorgestellt“ Barbara Frischmuth über das von Ängsten und Arroganz geprägte Türkei-Bild ihrer Landsleute gespr äch: J U L I A K O SP A CH

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s gebe, sagt Barbara Frischmuth, in ihrem Leben zwei große Leidenschaften: Garten und Orient. Um Letzteren geht es in den jüngsten Büchern der österreichischen Autorin. In ihrem Roman „Vergiss Ägypten“, der im heurigen Frühjahr erschienen ist, setzt sich Barbara Frischmuth, 67, mit den Veränderungen der ägyptischen Gesellschaft und der Frage auseinander, wie und ob Liebesbeziehungen zwischen Orient und Okzident funktionieren können. Ihr Sammelband „Vom Fremdeln und vom Eigentümeln“ beschäftigt sich mit dem kulturellen Reichtum des Orients. Er analysiert das Wesen von Vor­urteilen und Ängsten gegenüber dem Fremden und beleuchtet das komplexe Verhältnis zwischen der Türkei und der EU ebenso wie die Lebenswirklichkeit islamischer Frauen abseits des Klischees. Im Interview, das in Frischmuths Altausseer Haus mit Blick über ihren mehrfach literarisch bearbeiteten Garten stattfand, spricht die österreichische Schriftstellerin von ihrem Türkischstudium, von türkischen Geschichtstraumata und freiwilligen Kopftuchträgerinnen, von der ­Suche nach Fremdheit im Vertrauten und darüber, warum es keinen Sinn hat, über den Koran zu streiten.

Falter: In Ihrem neuen Essayband schreiben Sie an einer Stelle zum empfohlenen Umgang zwischen Europa und Türkei: „Lasst uns zu streiten beginnen!“ Was ist damit gemeint? Barbara Frischmuth: Ehrliche Diskussio-

nen, nicht immer Stellvertreterkriege, in denen es um Islam und Christentum oder Ost und West geht: Welche Probleme gibt es mit Migranten, welche mit dem Rechtssystem der Türkei? Und bitte nicht die Attitüde „Wir, der wunderbare Westen“ und „Was habt ihr denn zu bieten?“. Diese Art von Kritik ist, wie der iranische Schriftsteller Navid Kermani sagt, immer affirmativ der ­eigenen Kultur und dem eigenen Stil ­gegenüber. Das muss man sich abgewöhnen. Zu einem Streit, wie ich ihn meine, gehören zwei informierte Partner. Was ist denn die beste Informationsquelle über die Türkei? Frischmuth: Sehr viel geht schon allein über

die Literatur. Sie ist am besten geeignet, dieses „Von gleich zu gleich“ herzustellen. Die Menschen sind nun einmal sehr ähnlich gemacht, und das, was uns unterscheidet, ist fast immer Kultur – und über die kann man reden. Da ist nichts Angeborenes dabei. Wie sind Sie denn Ende der 50er-Jahre aufs Türkischstudium gekommen? Frischmuth: Ich wollte mit meinem Studium

einfach so nahe wie möglich an der orientalischen Literatur bleiben. Ursprünglich dachte ich an Iranistik, Judaistik oder Arabistik, aber in Graz an der Universität haben sie dazu gesagt: „Hamma nicht, hamma nicht, hamma nicht, aber bei den Dolmetschern gibt’s Türkisch. Das ist ja auch eine Sprache von da unten.“ War Ihr erster Türkeiaufenthalt 1960 dann ernüchternd oder genau so, wie Sie sich das in Ihren Fantasien vorgestellt hatten?

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Frischmuth: Beides. Ich bin ja gleich nach Erzerum in Ostanatolien. Das war schon sehr anders. Von daher war ich nicht enttäuscht (lacht). Auf der anderen Seite war es halt nicht sehr prächtig. Ich hätte es mir orientalisch-üppiger und mit deutlich weniger Militär vorgestellt. Die städtische Kultur, die in den Märchen aus 1001 Nacht immer vorkommt, habe ich erst später kennengelernt. In Ihrem letzten Roman tauchen viele mit orientalischen Männern verheiratete Europäerinnen auf. Kennengelernt haben sie die in den 60er-Jahren, als die Männer in Europa zum Studium waren. Gab es für Sie damals auch eine solche Option? Frischmuth: Ja, ich war in der Türkei ver-

lobt, mit einem wunderbaren Menschen, doppelt so alt wie ich und Militärarzt. Nur war ich da noch so jung, 19 nämlich, dass mich sofort die Panik ergriffen hat, als ich wieder zu Hause war. Ich war noch nicht bereit zum Heiraten und Kinderkriegen, ich wollte vor allem schreiben. Ein echter Romanstoff! Was sind denn die großen Themen der türkischen Literatur? Frischmuth: Wie in allen Literaturen: Liebe,

men fühlen als von den eigenen Eliten. Der Islam ist da etwas Eigenes, aus dem sich Selbstbewusstsein schöpfen lässt. Was bedeutet das aus politischer Sicht? Frischmuth: Das ist schwer zu sagen. Gese-

hen hat man Folgendes: Viele Intellektuelle, die mit der in sich verknöcherten, kemalistischen Politik nicht mehr allzu viel am Hut hatten, haben Recep Erdogan von der islamistischen AKP gewählt. Interessanterweise hat die Intellektuellen an den Islamisten deren moderne, stadtplanerische Seite interessiert und vor allem die Tatsache, dass sie nicht so nationalistisch waren wie viele Kemalisten. „Die Intellektuellen hat an den Islamisten deren moderne, stadtplanerische Seite interessiert und vor allem die Tatsache, dass sie nicht so nationalistisch waren wie viele Kemalisten“ Barbara Frischmuth

Tod, Gesellschaft, Krieg. Und der Konflikt Stadt–Land spielt eine große Rolle. Wenn man so will, sind Yasar Kemal und Orhan Pamuk die zwei Pole: Kemal kommt vom Land und schreibt übers Land. Er gehört jener Generation an, die noch stark aus der Poesie der mündlichen Überlieferung geschöpft hat. Orhan Pamuks Literatur ist städtisch: Ursprünglich hat ihn nur das Leben in Istanbul interessiert. Weil er aber ein so guter Autor ist, kam er zur Einsicht, dass das nicht reicht, wenn er die Türkei in ihrer Gesamtheit erfassen will. Sein Roman „Schnee“ geht in diese Richtung.

nur beide Seiten zu sehen und nicht hereinzufallen auf „Kein Kopftuch ist gleich europäisch denken und Menschenrechte anerkennen“. Das stimmt so nicht. Die Anklage nach Paragraf 301 – Beleidigung des Türkentums – ist keine Erdogan-Erfindung. Steht die Türkei steht an einem Scheideweg? Frischmuth: Ich glaube, ja. Sie vergleichen den Zerfall des Habsburgerreichs mit dem Zerfall des Osmanischen Reichs. Frischmuth: Beide wurden ungefähr gleich

Studie sozialer Aufstiegsmöglichkeiten. Viele Dinge passieren gerade jetzt, vor allem das Erwachen Anatoliens zu einer eigenen Identität, die das Land fast sprengt. Bisher hat man sich in der Türkei damit nicht sehr viel beschäftigt. Die Anatolier waren die Bauern. Das Sagen hatten die Kemalisten, sprich die städtischen Eliten, die allerdings in den letzten Jahrzehnten ziemlich nachgelassen haben.

lang von jeweils einer Dynastie regiert. Sie gingen etwa zur selben Zeit zugrunde. Ich würde mir eine vergleichende wissenschaftliche Studie dazu wünschen, wie beide Reiche mit ihren Minderheitenproblemen umgegangen sind. Bei uns hat das zwei Weltkriege gebracht! Wenn man das berücksichtigt, sieht man die türkische Problematik vielleicht ein bisschen anders. Da geht es nicht um Entschuldungen …

Inwiefern? Frischmuth: Die mehr oder weniger bürger-

Sie schreiben, dass das Wiedererstarken des Islams eine tiefe Kluft quer durch die Türkei schlägt. Stehen diese beiden erwähnten Bevölkerungsgruppen einander da gegenüber? Frischmuth: Ja, auch wenn ich mir nicht so

sicher bin, ob die Anatolier alle so gläubig und fromm sind. Aber ihre Identität ist islamisch – in Abgrenzung vom Westen, von dem sie sich noch weniger wahrgenom-

dazu bewogen, den gemäßigten Islamisten Erdogan zu wählen. Natürlich immer mit der Auflage, dass er in dem Moment, in dem er einen Fehler macht, wieder abgewählt wird. Ich habe das Gefühl, dass Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül jetzt zu weit gegangen sind. Sie wollten ihre Macht zu schnell etablieren. Das macht böses Blut und lässt sie auch viele moderne, junge Leute, die keinem Dresscode gehorchen und sich um den Islam gar nicht kümmern, wieder verlieren.

Was wird denn aus diesem heiklen Gebräu? Frischmuth: Ich weiß es nicht. Ich versuche

Was macht die Türkei für Sie so reizvoll? Frischmuth: Die Vielfalt. Die Türkei ist eine

lichen Regierungen der letzten Jahrzehnte haben größtenteils für ihre eigenen Pfründe gearbeitet. Inzwischen haben sich Millionen von Menschen emanzipiert, sind in die Städte eingedrungen, arbeiten dort, führen Geschäfte und bilden plötzlich eine Art Mittelschicht, die anders ausschaut als die westlich orientierte kemalistische. Die neue Mittelschicht arbeitet aber genauso mit westlichen Mitteln. Computer machen ja nicht halt vor einem Kopftuch oder einem Bart.

Die Kemalisten sind nationalistischer als die Islamisten? Frischmuth: Oft genug. Das hat auch viele

… zum Beispiel für den Völkermord an wahrscheinlich über einer Million Armeniern in der Zeit des Ersten Weltkriegs? Frischmuth: Ich setze mich immer in die

Barbara Frischmuth: Vom Fremdeln und vom Eigentümeln. Essays, Reden und Aufsätze über das Erscheinungsbild des Orients. Droschl, 152 S., € 15,– Vergiss Ägypten. Ein Reiseroman. Aufbau, 220 S., € 19,30

Nesseln, weil ich davon auch in Diskussionen mit Türken nicht abgehe. Nein: Es geht darum, wissenschaftlich zu ermitteln, in welcher Weise zerfallende Imperien mit­ einander vergleichbar sind. In mancher Hinsicht sind natürlich auch der Nationalsozialismus und der türkische Nationalismus vergleichbar. Ging der mit ähnlichem Rassismus einher? Frischmuth: Nein, der mitteleuropäische

Rassismus war ein biologischer, während der türkische Nationalismus ein kultureller ist. In dem Moment, in dem sich jemand zur türkischen Sprache, Kultur und Politik bekannte, war es völlig egal, ob er Armenier, Grieche oder sonst etwas war. Das müsste man herausarbeiten, dann würde man auch sehen, um wie viel brutaler Deutsche

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L i t e r a t u r    und Österreicher mit den Schwierigkeiten ihrer Nationswerdung umgegangen sind. Sollten solche Vergleiche die Gespräche über Islam und Terrorgefahr ersetzen? Frischmuth: Was sollen denn all diese Islam-

debatten? In meinen Augen kann man das abhaken. Wozu sich über Bücher streiten, die tausende Jahre alt sind und deren Sprache missverständlich und dunkel ist? Aber es wird darüber gestritten. Frischmuth: Das ist müßig. Zu streiten ist

über die Gegenwart und ihre Geschichte, aber doch nicht über die Frage, was der Koran verbietet oder erlaubt. Da sind vor allem Historiker, Politikwissenschaftler, Sozial- und Kulturgeschichtler gefragt. Wenn ich nicht ständig mein Kopftuch, meine fünf Gebetszeiten oder mein Verbot von vorehelichem Sex verteidigen muss, sondern zum Beispiel einmal darüber diskutieren kann, wie schwer die Umstellung der Schrift und der Sprache waren, wäre viel gewonnen! Sprechen Sie von den Türken der ersten und zweiten Gastarbeitergeneration im Ausland? Frischmuth: Nein, vom Jahr 1928 in der Tür-

kei, als Kemal Atatürk von einem Tag auf den anderen die arabische Schrift abgeschafft hat. Alles musste plötzlich in Lateinschrift geschrieben werden. Das muss man sich einmal vorstellen: Eine ganze Generation wurde da von heute auf morgen von ihrer Tradition abgeschnitten und konnte die eigene Literatur nicht mehr lesen! 1932 wurde dann die türkische Sprachakademie gegründet, die damit beschäftigt war, die türkische Sprache zu retürkifizieren – und zwar in größtmöglichem Ausmaß. Das Osmanische, das bis dahin verwendet worden war, bestand ja zu zwei Dritteln aus arabisch-persischen Lehnwörtern. Für diese wurden jetzt neue, türkische Sprachformen gesucht. Wichtige Autoren haben damals ihre Romane auf Neutürkisch noch einmal geschrieben. Mit Erfolg? Frischmuth: Man hat versucht, alles neu zu

machen, aber die Literatur als solche war ziemlich hartnäckig. In den letzten 20 Jahren hat sie sich viel von dem alten osmanischen Sprachmaterial zurückgeholt, weil die neutürkischen Worte gar nicht den Bedeutungsradius der traditionellen, gewachsenen Begriffe haben. Finden Sie die mythologische Quelle, nach der Europa seinen Namen von einer ori-

Ist das mit Europa vereinbar? Frischmuth: Ich glaube schon, aber unpro-

entalischen, um genau zu sein, von einer phönizischen Prinzessin hat, besonders symbolkräftig? Frischmuth: Wenn wir nur ein bisschen an

blematisch ist es sicher nicht, denn es gibt schon auch diesen extrem islamistischen Bevölkerungsanteil in der Türkei, der bis zur Aggressivität hin konservativ ist.

unserer Kultur kratzen, stellen wir fest, wie viel wir übernommen haben. Mit den paar Pflanzen, die wirklich bei uns heimisch sind, könnten wir keinen Garten machen. Und so ist es in allem – bis zu Dante und zu unserem Sprachmaterial: von Pyjama, Buchteln und Khaki, die aus dem Persischen kommen, bis zu Alkohol und Zucker, die aus dem Arabischen stammen.

Sie schreiben, dass die Islamisierung für Frauen der zweiten Generation muslimischer Zuwanderer einerseits einen Rückschritt in Sachen Emanzipation bedeute, andererseits eine Chance darstelle, sich der Ethnisierung – sprich dem stigmatisierenden Gastarbeitermilieu – zu entziehen. Frischmuth: Ja. Das wird kaum wahr­

Wie sollten denn die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei am besten ablaufen? Frischmuth: Ohne dass schon vorher ge-

sagt wird, dass sie nie in eine Vollmitgliedschaft, sondern höchstens in eine privilegierte Partnerschaft münden sollen. Wenn es Punkte gibt, wo man zu keiner Einigung kommt, dann können die Türken eben nicht beitreten. Solange sie aber bereit sind, die Standards, die auch wir erfüllen mussten, zu akzeptieren, sollte ohne Einschränkungen verhandelt werden. Was meint man eigentlich, wenn man aus der Perspektive des Orients vom Okzident spricht? Europa oder nur mehr die USA? Frischmuth: Europa nicht mehr unbedingt.

Die USA führen zu viele Kriege in diesen Weltengegenden.

Das, glauben Sie, ist der Grund? Nicht die Durchdringung mit amerikanischer Alltagskultur? Frischmuth: Natürlich auch – aber von der

sind ja wir genauso durchdrungen. Auch wenn Europa draufsteht, ist ja sehr oft Amerika drin.

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Zur Person Barbara Frischmuth, geboren 1941 in Altaussee im steirischen Teil des Salzkammerguts, wo sie auch heute lebt und arbeitet, studierte Türkisch und Ungarisch und arbeitet seit 1967 als freie Schriftstellerin. Die vielfach preisgekrönte österreichische Autorin hat neben zahlreichen Romanen (u.a. „Der Sommer, in dem Anna verschwunden war“, 2004, „Die Entschlüsselung“, 2001) auch Kinderund Jugendbücher sowie Hörspiele geschrieben

Wie ist denn der türkische Blick auf Europa? Frischmuth: Den einen Blick gibt es nicht.

Es gibt verschiedene. Das Komische ist ja, dass die westlich orientierten Kemalisten gar nicht so scharf auf Europa sind, weil sie ein EU-Beitritt viele ihrer Privilegien kosten würde. Sie müssten viele Gesetze ändern, die sie nicht ändern wollen – zum Beispiel einige zum Schutz der Nation. Es war die islamistische Regierung in der Türkei, die zum ersten Mal Druck gemacht hat, nach Europa zu kommen, und in kürzester Zeit viele Änderungen – auch Gesetzesänderungen – durchgesetzt hat, die davor nicht möglich waren. Die Türkei ist auch nur bedingt ein muslimisches Land, weil sie ja laizistisch und säkularistisch ist. Damit steht sie sowieso schon ziemlich einzigartig da.

genommen: Durch ihre eigene radikale ­Islamisierung emanzipieren sich diese freiwilligen Kopftuchträgerinnen von ihren männlichen Familienmitgliedern. Das strengere Einhalten der islamischen Regeln ist quasi das Ticket zur Selbstständigkeit. In Deutschland und auch in Österreich gibt es dazu sehr interessante Studien, die nicht ins Schwarzweißschema passen. Ihre persönliche Initiierung in die Welt der Bücher als Kind fand über die „Märchen aus 1001 Nacht“ statt? Frischmuth: Als ich zehn Jahre alt war,

habe ich eine purgierte Ausgabe von „1001 Nacht“ bekommen – mit dem Zauberpferd vorne drauf. Ich war hin und weg und habe mir in die Bergwelt von Altaussee, wo ich aufgewachsen bin, orientalische Reiche hineinfantasiert. Es war das total Andere, das so ungeheuer auf mich gewirkt hat, der Kontrast zwischen Vertrautheit und Fremdheit. Es gibt heute noch Blickwinkel in Aussee, von denen ich das Gefühl habe, dass sie ganz fremd sind. Hinten am See gibt es eine Uferstelle mit Kiefern, die fast mediterran wirkt. Ich habe immer danach gesucht, dass mir etwas Fremdes vertraut oder etwas Vertrautes fremd vorkommt. Altaussee und Istanbul: Das sind Ihre Kontraste. Frischmuth: Das ist für mich genau die rich-

tige Bandbreite, und ich komme auf sehr ­v iele Gemeinsamkeiten: Nehmen Sie nur einmal die Liebe zur Volksmusik, die in Aussee genauso stark ausgeprägt ist wie in der Türkei. Es ist wichtig, dass man so unterschiedliche Ausgangspunkte hat, um überhaupt einen Blick auf die Welt zu bekommen. Ich hab nie das Gefühl, dass mir in diesem Gemisch irgendetwas völlig fremd wäre. Und was mir fremd ist, ist oft schon eine Ästhetisierung und entspringt F dann dem Wunsch nach Fremdheit.

Eine Diplomatentochter begibt sich ins Feuchtgebiet Deniz Goran alias Selin Tamtekin zeichnet in ihrem Roman das erfrischende Porträt einer Generation moderner Muslimas Te x t: JULIA ortner

Foto: Liter aturverl ag Droschl

as Mädchen macht sich Sorgen um seiD ne Muschi. Es geht das erste Mal zur Gynäkologin und analysiert gleich deren sexuelle Präferenzen. „Die ist sicher lesbisch. Und selbst wenn nicht, irgendwas stimmt doch bei der garantiert nicht. Warum würde sie sonst den Rest ihres Lebens in Muschis starren wollen?“ Die Ich-Erzählerin spricht explizit über Sex und treibt es gerne mit Seemännern, Regisseuren oder Prinzen. „Die Tochter des türkischen Diplomaten“ ist ein typisches Buch aus dem beliebten Genre Frauen-auf-der-Suche-nach-ihrer-Sexualität – mit einer interessanten Facette: Die Heldin ist eine junge Muslima.

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Die Eskapaden der Türkin ordnen sich in die Reihe von Büchern selbstbewusster Autorinnen ein, die weibliche Erotik offen beschreiben, wie es zuletzt Charlotte Roche witzig-spekulativ mit „Feuchtgebiete“ getan hat. Deniz Goran, 33, bekommt alleine durch ihre Herkunft die Aufmerksamkeit von Boulevard und Feuilleton. Eine freizügige, säkulare Türkin, die wechselnde Partner hat, wie unerhört! Geld, Gier, Macht, Freiheit – nach diesem Motto lebt sie in Rom, Istanbul, London. Ihr erstes Buch sei keine Autobiografie, erklärt die Autorin, sondern nur vom realen Leben „inspiriert“ worden. Die launige Geschichte hat sie sicherheitshalber unter Pseudonym geschrieben, doch seit die großen türkischen Zeitungen ihr auf die Spur kamen, steht sie zu ihrer Identität: Selin Tamtekin

Deniz Goran: Die Tochter des türkischen Diplomaten. Aus dem Englischen von Friedrich Mader. Heyne, 349 S., € 9,20

ist die Tochter eines bekannten türkischen Diplomaten, lebt in London und arbeitet in einer Galerie. In der Türkei gibt es ein Riesentheater um das gewagte Buch. Für mitteleuropäische Leser ist der Roman spannend, weil er ein ungewohntes Bild abseits des Klischees von der türkischen Frau zeigt: eine, die kein Kopftuch trägt, die nicht unterdrückt und zwangsverheiratet wird. Das Buch beschreibt stattdessen die Abgründe der türkischen Oberschicht, ihre Dekadenz und Scheinheiligkeit – alles, um einen offenen Umgang mit Sexualität in der Gesellschaft zu unterdrücken. Tamtekin deckt diese Verlogenheit auf. „Der weibliche Salman Rushdi“, wie sie manche jetzt nennen, ist sie allerdings nicht. Eher die F Charlotte Roche für Türken.

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Mit den Frauen geht Im Bonbonpalast riecht auch die Seele des Landes es nicht sehr gut Der Literatur-Popstar Murathan Mungan hat über 30 Bücher veröffentlicht. Eins davon gibt es nun auch auf deutsch Te x t: GEORG RENÖCKL

ie Augen eines geliebten MenD schen sehen bei ihm aus „wie frisch gemahlener Kaffee“, Stimmen klingen „würzig“, Freude fühlt sich an „wie aufflatternde weiße Tauben“. Der Vergleich mit den Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ und ihrer heiteren Erotik mag sich aufdrängen, doch erzählt Murathan Mungan in „Tschador“ vom genauen Gegenteil: In dem kurzen Roman geht es nicht um Lebenslust, sondern um deren brutale Unterdrückung. Sinnlich, üppig und poetisch ist nur die Sprache, in der der 53-Jährige vom Schicksal eines jungen Mannes namens Akhbar erzählt. Dieser kehrt nach langen Jahren im Ausland in sein vom Krieg zerstörtes Heimatland zurück, das unschwer als das Afghanistan zu Zeiten des Taliban-Regimes zu erkennen ist. Akhbar findet seine Heimat nicht wie-

der. Im Elternhaus wohnen abweisende Fremde, Nachbarn und Bekannte sind weggezogen oder tot, ihre Häuser und Läden wurden von frühzeitig gealterten jungen Männern übernommen. Die Gerüche der Kindheit sind ebenso verschwunden wie die Freude aus den Gesichtern der Menschen. Die Stadt hat ihre Seele verloren, der Bürgerkrieg unüberwindliche „Grenzen aus Toten“ errichtet. Im Legendenton schildert Mungan Hoffnung und Vorfreude des Heimkehrers, seine Enttäuschung und die immer verzweifelteren Versuche, in den fremd gewordenen oder zerstörten Stadtvierteln und den alles überwuchernden Friedhöfen Spuren seiner Familie zu finden. Das Misstrauen seiner Landsleute macht ihm zu schaffen, noch mehr aber die Tatsache, dass die Frauen völlig aus dem öffentlichen Leben verbannt sind. Schon bald wird die Suche nach Mutter und

Schwestern zu einer Suche nach dem Weiblichen an sich. Schließlich streift sich Akhbar, der immer häufiger von Trugbildern heimgesucht wird und den Frauen in ihre Verbannung folgen möchte, selbst eine Burka über. Er macht sich auf den Weg nach Norden, wo er die Mutter vermutet. Dabei wird er selbst zu einer der zahlreichen tragischen, an der Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit lebenden Figuren, die durch das Land irren und an deren Existenz er noch kurze Zeit zuvor nicht so recht glauben wollte. Auf den knappen 126 Seiten seines im

türkischen Original bereits 2004 erschienenen Romans bringt Murathan Mungan erstaunlich viel unter: Er macht die Verzweiflung eines Menschen spürbar, der seine völlige Entwurzelung und Isolation erlebt und dem die Heimkehr zum endgültigen Exil wird. Darüber hinaus zeigt er die immergleichen Mechanismen der Unterdrückung – polizeiliche Willkür, ein stetig geschürtes kollektives Misstrauen und ein gut funktionierendes Spitzelwesen – und vermittelt so eine Ahnung vom Leben unter einem fundamentalistischen Terrorregime. Vor allem aber ist der schmale Band des bekennenden schwulen Autors eine beklemmend schöne Hommage an die Weiblichkeit, deren Fehlen das Leben schlicht unerträglich macht: „Wenn man vergaß, wie das Lächeln einer Frau aussah, dann war das, als F verwelke die Sonne.“

Murathan Mungan: Tschador. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Blumenbar, 126 S., € 16,40

Benedict Wells liest aus

„Becks letzter Sommer“ Diogenes Verlag

Freitag, 24. Oktober 2008, 19 Uhr 6., Mariahilfer Straße 99, 01/595 45 50, Eintritt frei

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Mit ihrem letzten Roman hat sich Elif Shafak Schwierigkeiten eingehandelt. Nun ist sie vorsichtig geworden. te x t: JÖRG MAGENAU

inen Roman von hinten zu beginE nen ist normalerweise keine gute Idee. Elif Shafaks „Der Bonbonpalast“

ist aber so angelegt, dass man das tun kann, ohne allzu viel vorwegzunehmen. Denn die Geschichte verläuft kreisförmig. Man kommt, wie der namenlose Ich-Erzähler behauptet, „von jedem beliebigen Punkt hinein, denn einen verbindlichen Start gibt es nicht“. Ganz am Ende aber verrät er, dass er in einem türkischen Gefängnis sitzt, nachdem er bei einer politischen Demonstration am 1. Mai 2002 in Istanbul verhaftet wurde. Mehr als ein Jahr hat er abzubrummen, und so beginnt er zu erzählen, um sich die Zeit zu vertreiben. Lüge, Wahrheit, Fantasie und Erzählkunst sind dabei untrennbar miteinander verbunden. Die Geschichte eines Hauses und seiner Bewohner könnte bloße Erfindung sein. Auch am kultivierten Selbstbild des Erzählers als gutaussehender, geschiedener Philosophieprofessor, dem die Frauen reihenweise erliegen, darf man zweifeln. Zehn Zellen gibt es im Flur der Haftanstalt. Da ist es nicht verwunderlich, dass auch der „Bonbonpalast“ aus zehn nummerierten Wohnungen besteht. Und weil es im Gefängnis wohl nicht besonders angenehm riecht, liegt in diesem Wohnhaus ein süßlich-fauler Müllgeruch in der Luft. Der „Bonbonpalast“ steht im Zentrum

Istanbuls, an einem Ort, wo zuvor einmal ein muslimischer und ein armenischer Friedhof gewesen waren und ein seltsamer Heiliger gleich zwei Gräber belegte. Das Gebäude wurde in den 60er-Jahren von einem alten russischen Immigranten für seine Frau gebaut. Das neue, pulsierende Leben der Stadt entsteht aus dem Vergangenen und dem Vergessen, als handle es sich dabei um eine Humusschicht. Doch die besseren Tage des Hauses liegen lange zurück. An der Gartenmauer zur Straße pflegen die Bewohner des Stadtviertels ihren Müll abzulegen, und sie finden das so normal, dass sie den Ärger des im Parterre des Bonbonpalastes angesiedelten Friseurs überhaupt nicht begreifen können. Der Müll fault und stinkt vor sich hin. Kein Wunder, dass Kakerlaken und anderes Ungeziefer sich pestilenzartig vermehren. Im Haus wohnen seltsame Menschen, die zunächst nicht viel verbindet: Da ist eine russische Emigrantin und Biologin, die jetzt aber in ihrer Ehe versauert und von ihrem Mann mit einer Synchronsprecherin betrogen wird, deren Stimme in einer abenteuerlich schlechten TV-Serie zu hören ist. Da ist der Hausmeister Had-

schi Hadschi, der seinen Enkeln zum Ärger der Schwiegertochter andauernd Märchen erzählt. Es gibt einen dauerkiffenden Studenten mit riesigem Bernhardiner, eine putzsüchtige Hygienikerin mit kleiner Tochter und eine schöne junge Frau, die „blaue Mätresse“, die von einem Olivenölhändler ausgehalten wird. Treffpunkt des Hauses ist der Friseursalon der Zwillinge Cemal und Celal, wo die, die sich kaum kennen, wenigstens übereinander tratschen. Als Stadt der Zuzügler ist Istanbul auch

eine Stadt ohne Gedächtnis. Als der Ich-Erzähler, um das Müllproblem zu lösen, ein Graffito an der Gartenmauer anbringt und behauptet, hier sei ein Heiliger begraben, macht er sich eigentlich nur den Aberglauben seiner Landsleute zunutze. Dass er damit religiöse Gefühle verletzt, merkt er zu spät. Von der Legende um den Heiligen mit den zwei Gräbern und dem Friedhof, der hier einmal war, weiß er nichts. Istanbul ist für Shafak eine Stadt, die im Müll und in der Geschichtslosigkeit versinkt. Dass es für den Gestank im „Bonbonpalast“ schließlich eine ganz andere Ursache gibt, ändert daran nichts. Elif Shafak kehrte erst zum Studium in die Türkei zurück. Aufgewachsen ist sie, Jahrgang 1971, in einer ­Diplomatenfamilie in Straßburg und Spanien. Insofern ist es wohl auch kein Zufall, dass viele der Bewohner ihres Bonbonpalastes Migranten oder aus dem Ausland zurückgekehrte Türken sind. Shafaks vorangegangenes Buch, „Der Bastard von Istanbul“, handelte von der blutigen und heiklen türkischarmenischen Geschichte und hat der Autorin enorme Schwierigkeiten, sogar eine Anklage wegen „Beleidigung des Türkentums“ eingebracht. Es ist deutlich zu merken, dass sie eine erneute Konfrontation vermeiden wollte. In ihrem jüngsten Roman geht sie kein Risiko ein und beschränkt sich auf unterhaltsame Geschichten, die sie behutsam miteinander verknüpft. So widersteht sie auch der Versuchung, die Stadt Istanbul allzu symbolistisch darzustellen. „Der Bonbonpalast“ ist ein Standbild des Lebens in all seiner Buntheit und Vielfalt: ein schön zu lesender, aber auch recht F harmloser Roman.

Elif Shafak: Der Bonbonpalast. Deutsch von Eric Czotscher. Eichborn, 470 S., € 20,60

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Gleichschritt zerstört Gleichgewicht Große europäische Literatur: „Das Uhrenstellinstitut“ von Ahmet Hamdi TanpInar (1901–1962) te x t: ULRICH RÜDENAUER

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deen muss man haben. Hayri Irdal hat meistens keine, gerät aber immer wie­ der in Situationen, die ihn aus Lebens­ verlegenheiten retten oder gar die Karriere­ leiter hinaufstolpern lassen. Er verbringt seine Zeit in Istanbuler Kaffeehäusern, mit Alchemisten, Mystikern, Weltverbesse­ rern und anderen schrägen Vögeln, wäh­ rend das alte Osmanische Reich untergeht und die Türkei neuen, kemalistischen Zei­ ten entgegensteuert. Hayri wundert sich zuweilen gehörig darü­

ber, dass er mehr Glück als Verstand hat. Über die Dreistigkeit seiner Mitmenschen rätselt er auch. Das hindert ihn allerdings nicht daran, an deren Fantasiegebilden mit­ zubauen. Hayri Irdal, geboren zum Tage­ dieb, wird langsam zum Pragmatiker und bleibt doch ein einfacher Mann ohne große Leidenschaften, ein im Grunde melancho­ lischer Typ, der immer auf dem ­schmalen Grat zwischen Tragik und Komik entlang­ balanciert und lange auf keinen grünen Zweig kommt – und als er es ­eines Tages doch schafft, bricht schließlich das Ästlein, auf dem er sitzt. In Ahmet Hamdi Tanpınars wunderbar satirischem und ausschweifend humorvol­ lem Roman „Das Uhrenstellinstitut“ läuft einiges gegen den Uhrzeigersinn – ­a llen voran das titelgebende Institut. Es ver­ dankt seine Existenz unter anderem Hay­

ri Irdals eher unglücklich verlaufener Leh­ re beim Uhrmachermeister Nuri Efendi, einem Mann, der sein Handwerk mit wei­ sen, unverständlichen Sprüchen schmück­ te: „Wer die Uhr richtig stellt, ist hinter je­ der Sekunde her“, lautet etwa einer seiner Leitsätze. Eines Tages macht Hayri die Be­ kanntschaft von Halit Ayarci. Eine folgen­ reiche Begegnung: Ayarci erweist sich als einnehmender, gewiefter Geschäftsmann und Manipulator, ein Organisationsgenie, das sofort das Potenzial in dem ehemaligen Uhrmachergesellen Hayri erkennt. Ein Gespräch über eine kaputte Uhr in­ spiriert Ayarci zur Idee eines Instituts, das es sich zur Aufgabe macht, alle Uhren im Land in Gleichklang zu bringen – samt aus­ geklügeltem Bußgeldsystem für jene, die der Zeit hinterher oder voraus sind. Ayarci wird zum Direktor des Uhrenstellinstituts, Hayri unversehens zu seinem Stellvertre­ ter – und zum Buchautor; er verfasst die Biografie des großen Ahmet Zamani Efen­ di, eines Uhrmachers und Philosophen aus der Zeit Sultan Mehmets IV., der freilich niemals existiert hat. Alles basiert hier auf Lüge; die Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft sind reine Erfindungen. Der Verwaltungsapparat nimmt unge­ heure Dimensionen an. Maßgebliche Stel­ len sind Feuer und Flamme für das Institut, die Presse ist – bis auf einige Spielverderber – ganz auf der Seite des Fortschritts. Und so gerät der Ich-Erzähler immer tiefer hinein in ein nutzloses System, das allen über den Kopf zu wachsen droht.

1962 in der Türkei erschienen wurde „Das Uhrenstellinstitut“ als Kritik an der Modernisierungseuphorie der jungen tür­ kischen Republik verstanden, wie aus Mark Kirchners erhellendem Nachwort zu erfah­ ren ist. Der Roman ist aber weit mehr als das: Das im Jahr seines Erscheinens post­ hum veröffentlichte Buch, sein Autor wur­ de nur 61, reiht sich ein in die großen Zeitro­ mane des Jahrhunderts. Im Geist ähnelt er Italo Svevos „Zeno Cosini“ und beschreibt ein europaweit spürbares Unbehagen über die Umbrüche des 20. Jahrhunderts. Gera­ de in einer heterogenen Gesellschaft wie der Türkei, in der die Uhren tatsächlich unterschiedlich gingen, konnte man die­ se Veränderungen genau beobachten. Dass es hier um Zeit in mehrfachem Sinne geht, die Struktur des Romans aus Rück- und Vor­ blenden besteht, macht „Das Uhrenstell­ institut“ auch in ästhetischer Hinsicht zu einer Entdeckung. Die Schraube des Grotesken dreht Tanpınar

Ahmet Hamdi Tanpınar: Das Uhrenstellinstitut. Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser, 427 S., € 20,60

mit faszinierendem feinmechanischem Gespür immer gerade so weit, dass die Re­ alität zwar aus dem Gleichgewicht gerät, aber nicht in sich zusammenstürzt. Es ist ein leichtes, humorvolles, plauderndes Er­ zählen, das uns in der brillanten Überset­ zung von Gerhard Meier die Zeit vergessen lässt. Tanpınars „Uhrenstellinstitut“ darf man mit Fug und Recht als große europäi­ sche Literatur bezeichnen – ein Buch, das nicht nur jedem Verwaltungsangestellten F wärmstens empfohlen sei.

„Der tut, als wäre ich eine Dichterin, als würde das was haben. Keine Ahnung, wovon der redet“ ANGELIK A REIT ZER: „ F rau e n in V A s e n “ SEITE 27

Foto aus der Serie „Türkisches Wien“ von Katharina Gossow

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Scheherazade erzählt auch auf Spanjolisch Mario Levi erzählt von einem multikulturellen Istanbul abseits der Islamisierungsklischees Te x t: LEOPOLD FEDER MAIR

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evi, das ist kein türkischer Name, sondern ein jüdischer, internationaler, nicht wenige seiner Träger haben Weltberühmtheit erlangt. Mario, auch nicht türkisch, sondern lateinisch, romanisch, spanjolisch – diese Sprache, das westliche Pendant zum östlichen Jiddisch, kommt in Mario Levis Istanbul-Roman ein paar Mal vor: Die Großmutter des Ich-Erzählers scheint außer Spanjolisch kaum andere Sprachen verstanden zu haben. Davon abgesehen ist dieser Roman auf Türkisch geschrieben, und es zeigt ­einen außerhalb der Türkei wenig beachteten, weil mit dem Stereotyp der „Islamisierung“ nicht vereinbaren Aspekt Istanbuls, das Miteinander zahlreicher Minderheiten, die Berührungen zwischen ihren Kulturen. Ein türkischer Multikultiroman? Könnte man sagen. Sogar ein versprengter Offizier der kaiserlich-königlichen Armee kommt darin vor. Multikulturalität nicht als Modeerscheinung, sondern mit weit zurückreichender geschichtlicher Tradition, Säuberungswellen und nationalistischen Ideologien zum Trotz. „Istanbul war ein Märchen“, dieser umfangreiche, in 100 miteinander verzahnten Geschichten dahinschwingende Roman hat kein Zentrum, er ist ein Flechtwerk, ein Rhizom. Ein Großteil seines Personals ist jüdischer Herkunft, es sind große Familien, Sippen, von denen es immer wieder einmal ein Mitglied in ein fernes Land – Ägypten, Mexiko, Argentinien, England – verschlägt, die aber letzten Endes doch irgendwie mit Istanbul verbunden bleiben. Andere Figuren sind multiethnisch, denn der Austausch gerade zwischen den Minderheiten ist rege, im Notfall schützen sie einander wechselseitig; zum Beispiel „Sedat, der Araber, dessen Vater ein Armenier aus Antalya und dessen Mutter eine ­Jüdin aus Antep war.“ Armenier, Araber, ­Juden, Griechen … Kurden kommen nur am Rande vor, durch den Zufall der Lebens­ geschichten – oder durch den Genozid am Beginn des 20. Jahrhunderts? Levi erzählt keine Idyllen, er berichtet von der Härte des Daseinskampfes zu einer Zeit, als das Land noch wenig entwickelt

war. Er skizziert die politischen Rahmenbedingungen dort, wo sie das Leben der Protagonisten unmittelbar betreffen. Etwa das „schreckliche Erwachen“ im September 1955, als es zu Pogromen kam, die sich vor allem gegen die griechische Minderheit richteten, in geringerem Maß gegen die jüdische. Oder die „Einberufung der 20 Jahrgänge“ zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, als die jungen Männer der nichtmuslimischen Minderheiten eingezogen wurden und Anlass zur Befürchtung bestand, dass sie auf die eine oder andere Weise ihrer Vernichtung entgegengingen. Der Erzähler greift weit aus. Seine Geschichten, Märchen, wie er sie zu nennen beliebt, umfassen mehr oder weniger das 20. Jahrhundert. Dabei geht er von seinen eigenen Kindheitserfahrungen aus, um sich dann immer tiefer in die Berichte und Fabeln seiner zahlreichen Verwandten und Bekannten einzulassen und zu verstricken. Er folgt den „kleinen Schritten“, mit denen diese Leben vorangehen, und erkennt darin die großen Aufbrüche, zu denen die Protagonisten immer wieder imstande sind, auch wenn es sich oft nur um Aufbrüche in illusionäre Traumwelten handelt. Viele von ihnen sind Handwerker, Ladenbesitzer, Hausfrauen, kleine Händler. Alle diese Geschichten zusammenzufassen, die oft unscheinbar sind oder nur in den Köpfen stattfinden, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Dem Erzähler geht es darum, Verbindungswege zwischen den Erzählungen aufzuspüren, Türen zu entdecken, die sich in neue Fiktionsräume öffnen, Seitenarme des epischen Flusses, neue Erzählkerne in einer sich langsam abnutzenden Geschichte. Dazu bedarf es ­einer unerschöpflichen Einfühlungskraft, die aus einer entschiedenen Menschenliebe kommt und in all dem Sinnen und Trachten, in den Versäumnissen und dem Un­ gesagten, ja, selbst in den Lebenslügen und Illusionen der Figuren die Form ausmacht, die sie ihrem Leben zu geben wussten. Die kleinen Unglücksfälle, Seitensprünge, Betrügereien – fast alle haben irgendeinen verborgenen Aspekt, der die jeweiligen Handlungen verständlich und nachvollziehbar macht. Das Erzählen der Geschichten der anderen ist per se ein Akt der Verzeihung. Dabei maßt sich der Erzähler nicht an, ihre „Wahrheit“ ans Tages-

Mario Levi ist im wesentlichen Zeuge, und seine Kunst ist zuerst und vor allem eine Kunst des Zuhörens

Gerald Gross präsentiert sein Buch

„Wir kommunizieren uns zu Tode. Überleben im digitalen Dschungel“ Dienstag, 28. Oktober 2008, 19 Uhr 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei

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Mario Levi: Istanbul war ein Märchen. Aus dem Türkischen von Barbara Yurtdas und Hüseyin Yurtdas. Suhrkamp, 845 S., € 25,50

licht zu bringen. Oft genug begleitet er seine Sätze mit einem vorsichtigen „soviel ich weiß“ oder „wie ich es verstehe“. Letzten Endes gibt er immer nur eine Version von 1000 möglichen Versionen, und diese Relativität geht in den Duktus, in die Atmosphäre des Romans ein. „Zu wissen, dass manche Erzählungen ebenso wie Beziehungen niemals aufhören können, ist der Grund für den Widerstand, den Widerstand bis zuletzt, oder wich­t iger noch, für die Bindung ans Leben.“ Widerstand wogegen? Wohl gegen die Gesellschaft in der Form, die Institutionen und Ideologien ihr zu verpassen trachten. Solange die Erzählungen zirkulieren, egal welcher Wahrheits- oder Märchengehalt ihnen eignet, solange besteht eine andere, zivile, tagtäglich aufs Neue sich konstituierende Gesellschaft. Darin liegt die vitale Kraft und die Notwendigkeit des Erzählens vor aller niedergeschriebenen Literatur. Ein Autor wie Mario Levi tut nichts anderes, als diesen mündlichen Erzählungen sein Ohr zu leihen. Er ist wesentlich Zeuge, und seine Kunst ist zuerst und vor allem eine Kunst des Zuhörens. Deshalb auch das lange Schlusswort, das eigentlich nur einen Ausgang aus einer narrativen Maschine markiert, die wie die Märchen der Scheherazade nicht zu funktionieren aufhören kann und soll. Die letzten Worte stehen im Imperativ: „Erzähl mir eine wahrere, realere, ‚ungeschützte‘ Geschichte … Erzähl … erzähl … erzähl …“ Die letzten Zeichen sind drei Punkte, Suspendierungszeichen; irgendwo anders, nicht in diesem Buch, geht die Erzählung im selben Augenblick weiter. In Levis Schlusswort , das zugleich den Ansatz zu einer neuen Erzählung enthält, begegnet der Ich-Erzähler einer Person, die ihm gleicht, aber älter ist als er, viel älter: ein Sprung durch die Zeit, aber nach vorne und nicht, wie üblich, nach hinten. Der andere ist eigentlich ich. Das altbekannte, märchenhafte Doppelgängermotiv, und eine Reminiszenz an Borges – „Borges und ich“ –, aber auch an Pirandello, den Autor, der einmal von seinen Figuren zur Rede gestellt wurde. Levi begegnet nicht nur sich selbst, sondern dem ganzen Personal seines Romans, das er allerdings nicht wiedererkennt, vielleicht deshalb, weil er sie nicht so beschreiben hat können, wie sie „wirklich“ – in einer geheimen, unzugänglichen Wirklichkeit – sind. Die „Person an sich“ sozusagen, an der sich der Autor abzuarbeiten hat, indem er eine Vielfalt von Personen gestaltet. Es ist letzten Endes das Problem jedes Erzählers, insofern dieser sich selbst aufzuspalten hat in verschiedene Figuren, oder indem er, andersherum betrachtet, die Figuren, die ihm aus der Fantasie (oder aus der Wirklichkeit) entgegenkommen, auf sich zu beziehen und nach seinem Maß darzustellen hat. Gibt es die Welt, gibt es die anderen? Können wir unser Ghetto überhaupt verlassen? Ist die Wirklichkeit nicht mein Märchen, meine Lüge? „Letztendlich war jeder zuerst sein eigener Gefangener, sein eigener Henker und sein eigenes Opfer.“ Auch Mario Levi ist, nach so vielen anderen Autoren, denen dasselbe widerfuhr, am Ende der verschlungenen Wege seines Romans F auf sich selbst gestoßen.

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„Ich hatte Angst, unter Folter zu sterben“ Oya Baydar war Sozialistin, hat Gefängnis und Asyl hinter sich. „Heute geht es uns viel besser“, sagt sie INTERVIE W: JÖRG MAGENAU

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ya Baydar begann früh zu schreiben, um sich dann für mehr als 30 Jahre ausschließlich der Soziologie und der Politik zu widmen, insbesondere der Geschichte der türkischen Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften. Ihr neuer Roman „Verlorene Worte“ – der erste überhaupt, der in deutscher Übersetzung erscheint – verteilt die ganze Spannweite ihrer Biografie auf verschiedene Figuren. Der Schriftsteller Ömer, einst sozial engagiert und immer noch berühmt, jetzt aber alt und müde geworden im Erfolg, reist ins östliche Anatolien, um bei den Kurden neue Kreativität und politische Bodenhaftung zu finden. Auf dem Busbahnhof in Ankara wird er Zeuge eines Attentats, bei dem eine schwangere Frau verletzt wird und ihr Kind verliert. Spontan beschließt er, ihr und ihrem Freund zu helfen, die auf der Flucht sind: er vor der PKK, weil er aus den Bergen desertierte; sie, weil sie Opfer eines Ehrenmordes zu werden drohte. Während Emer in die Geschichte des jungen Paares eintaucht, reist seine Ehefrau, die Wissenschaftlerin Elif, zu einem Kongress nach Dänemark und besucht den gemeinsamen Sohn. Der hat sich auf eine norwegische Insel zurückgezogen, weil er die Gewalt, die er als Kriegsfotograf im Irak erlebte, nicht ertragen konnte. Sie hat kein Verständnis für seinen Rückzug, den sie als Feigheit auslegt: Als „Lebensdeserteur“ bezeichnet sie den Sohn. Doch einfache Antworten und Meinungen erweisen sich als wenig haltbar: Alle müssen ihre Position verändern, um sich nicht ganz zu verlieren. „Verlorene Worte“ zeichnet das Bild eines Landes, das zerrissen ist zwischen West und Ost, politischem Fundamentalismus und künstlerischer Freiheit, Resignation und revolutionärem Getöse. Es ist ein Ehe- und Liebesroman, in dem die beiden Hauptfiguren sich kein einziges Mal begegnen und nur per Handy und SMS notdürftig miteinander kommunizieren. Es ist auch ein Roman über Istanbul, wobei die Stadt aber nur den Schnitt- und Ausgangspunkt der Reisen der Protagonisten darstellt.

Falter: Sie waren gerade einmal 18 Jahre alt, als Ihr erster Roman publiziert wurde – als Vorabdruck in der Tageszeitung „Hürriyet“. Dafür wurden Sie fast von der Schule verwiesen. Warum? Oya Baydar: Ich besuchte ein französisches,

katholisches Lyzeum in Istanbul. Für die Nonnen war das unglaublich, dass ein 17-jähriges Mädchen einen Liebesroman schreibt. Damals, Ende der 50er-Jahre, ist in der Türkei „Bonjour tristesse“ von Françoise Sagan erschienen. Hürriyet hat da wohl Parallelen gesehen und mich in dieser Sagan-Welle groß rausgebracht. Nach zwei weiteren Romanen haben Sie dann aber mit dem Schreiben aufgehört, um sich politisch zu betätigen. Hatten Sie das Gefühl, Literatur ist das falsche Mittel, um gesellschaftlich etwas zu bewegen? Baydar: Ich habe die Literatur immer ge-

liebt, aber ich habe meine ganze Kraft für die politische Bewegung gebraucht. Ich

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studierte Soziologie und war Sozialistin. Da gab es keinen Platz mehr für etwas anderes. Wer jung war und Ideale hatte, landete in der Linken – das war für die 68erGeneration der Türkei nicht anders als in westeuropäischen Ländern. Damals dachte ich, dass die Literatur vielleicht kein falsches, aber ein unzureichendes Mittel sei, um etwas in der Gesellschaft zu bewegen. Nach dem Militärputsch von 1971 wurden Sie verhaftet und von der Universität verwiesen. Sie arbeiteten dann aber weiter als Journalistin. Nach dem Putsch von 1980 gingen Sie ins Exil. Was war nun anders geworden? Baydar: Nach den Erfahrungen von 1971

hatte ich mir geschworen, dass ich mich nie mehr einsperren lassen würde. 1980 wurde ich schon während des Putsches und unmittelbar danach mit Fahndungsplakaten gesucht. Ich gehörte zur illegalen kommunistischen Partei, und es drohte eine sehr hohe Haftstrafe. Ich hatte Angst, unter Folter zu sterben, wenn sie mich kriegen. Der Putsch von 1980 war wesentlich härter und faschistoider als der davor. Es ist bestimmt nicht einfach, als politische Aktivistin im Exil leben zu müs­sen, abgeschnitten von allen Wirkungsmöglichkeiten. Baydar: Das Exil hat etwas Zerstörerisches.

Man ist nicht mehr da, wo man eigentlich sein will. Man kann an dem Kampf, den man ausfechten will, nicht mehr Anteil nehmen. Aber ich und meine Familie – ich lebte mit Ehemann und Kind in Deutschland – wir haben die Leiden des Exils nicht so stark erlebt. Wir haben gearbeitet, ich als Beraterin für Türken, mein Mann als Taxifahrer. Früher war er Chefredakteur der Tageszeitung Politika. Wir hatten viele Freunde. Ich war immer an Politik interessiert, unternahm Reisen, auch nach Moskau. Das Ende dieser Zeit kam abrupt mit der Implosion des Sozialismus und dem Zusammenbruch der Mauer. Ohne diesen Epochenbruch hätte ich den Weg zur Literatur vielleicht nie wieder gefunden. Das Exilleben hat mir viele Gefühle und Ansichten vermittelt, die ich später literarisch umsetzen konnte. So gesehen war die Exilzeit für mich sogar ein Gewinn.

Griechinnen und so fort. Neulich, bei einem Klassentreffen, hat eine von uns gesagt: „Was ist bloß aus der Türkei geworden! Früher wussten wir gar nicht, zu welcher ethnischen Gruppe jemand gehört, wer Armenier und wer Grieche ist.“ Darauf hat eine armenische Freundin erwidert: „Ihr Türken wusstet das nicht. Wir schon.“ Da habe ich mich schuldig gefühlt.

Zur Person Oya Baydar ist 1940 in Istanbul geboren. Sie studierte Soziologie und zählte zu den Gründungsmitgliedern der Sozialistischen Arbeiterpartei. Nach dem Militärputsch von 1971 wurde sie verhaftet, 1980 ging sie ins Exil nach Deutschland. Nach ihrer Rückkehr in die Türkei wandte sie sich wieder der Literatur zu. „Verlorene Worte“ ist ihr erster Roman, der in deutscher Übersetzung erscheint.

„Ein Schriftsteller darf sich in seinem Schreiben nicht unter Druck setzen lassen. Wenn man nicht zu schreiben wagt, was man schreiben will, soll man es besser lassen“ Oya Baydar

Ist Ihre Sensibilität für ethnische Probleme auch eine Folge der Exilerfahrung? Baydar: Es gibt eine Szene in dem Roman,

wo Elif an einem Kongress in Dänemark teilnimmt. Die anderen Tagungsteilnehmer sind erstaunt darüber, dass jemand aus der Türkei eine so gute Wissenschaftlerin sein kann. Mich hat immer geärgert, wenn man mir sagte, wie gut ich Deutsch spreche. Ich wusste, dass das nicht stimmt und kam mir vor wie ein Affe, der im Zirkus Klavier spielt. Ich wurde gelobt dafür, dass ich etwas ganz Normales machte – und das auch noch schlecht. Daran merkt man, dass man Ausländer ist. Aber: Wenn wir Türken aus dem westlichen Teil des Landes in den Südosten kommen, dann nehmen wir dieselben Verhaltensweisen an. Wir glauben, dort etwas ganz Schlimmes vorzufinden und sind gegenüber den Kurden ebenso herablassend. Ein anderes Beispiel: In meiner Schulklasse im Lyzeum gab es Armenierinnen,

Wie ist der Roman in der Türkei aufgenommen worden? Sie haben ja viel Sympathie für die Kurden in ihrem Kampf für kulturelle Selbstbestimmung, aber auch eine große Distanz zu den Rekrutierungsmethoden der PKK und einer Moral, die Ehrenmorde legitimiert. Baydar: Das Buch wurde sehr gut aufgenom-

men und hat sich gut verkauft. Es hat viele Leser auch in Anatolien und auf dem Land gefunden. Vom Staat gab es keine Reaktion. Wahrscheinlich wollten die nicht wieder ähnliche Probleme schaffen wie mit Orhan Pamuk und Elif Shafak. Ein Teil der Kurden hat das Buch sehr gerne gelesen. Der PKK-Flügel hat sich allerdings vorsichtig distanziert und gesagt, man solle es lieber nicht beachten. Für mein voriges Buch („Das Judasbaumtor“) habe ich deutlich heftigere Reaktionen erfahren. Da drohte eine linke Fraktion damit, mir eine Kugel ins Knie zu schießen, wenn ich so weitermache. Beeindruckt Sie das? Baydar: Nein. Ich habe keine Angst. Sicher

gibt es in der Türkei immer wieder Gewalt, und es wurden ja auch schon Intellektuelle ermordet. Man kann auch juristische Probleme kriegen, verfolgt und bestraft werden. Früher was das schlimmer. Fast alle linken Schriftsteller meiner Generation kennen solche Schwierigkeiten. Sie waren im Gefängnis, ich selber auch. Heute geht es uns viel besser. Der EUBeitrittsprozess hat im Bereich Meinungsund Redefreiheit zu bedeutenden Verbesserungen geführt. Den berüchtigten Paragraf 301 (Beleidigung des Türkentums, Red.) gibt es zwar noch immer. Er wird aber nicht mehr so stark und so oft angewendet. Man sollte diese Bedrohung nicht übertreiben. Ein Schriftsteller darf sich in seinem Schreiben nicht unter Druck setzen lassen. Das ist schriftstellerische Ethik: Wenn man nicht das zu schreiben wagt, was man schreiben will, soll man es besser lassen. Man wäre dann kein Schriftsteller mehr. Und wie mutig sind die türkischen Verleger nun wirklich? Baydar: Es gibt Verlagshäuser, die das Risi-

Oya Baydar: Verlorene Worte. Aus dem Türkischen von Monika Demirel. Claassen, 455 S., € 23,60

ko nicht scheuen und die eine gewisse Achtung gegenüber ihren Autorinnen und Autoren haben und aufrecht deren Meinungen unterstützen. Mein Verlag hat nie Druck auf mich ausgeübt, dass ich auf bestimmte Meinungen verzichten solle. Die guten Verlage haben vor allem das Problem, dass die Literatur sich versachlicht hat und zu einer Ware auf dem Markt geworden ist. In der heutigen Türkei will jeder Romane schreiben, weil die sich gut verkaufen. Letztes Jahr sind über 600 Romane von türkischen Autoren veröffentlicht worden. Davon stammten 60 von alteingesessenen Autoren, alle anderen sind F Erstlingsromane.

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Gelsene dedi bana Kalsana dedi bana

Jetzt müssen wir nur noch glücklich sein

Eine zweisprachige Ausgabe beweist, dass die Gedichte von Nazim Hikmet (1902–1963) ihre Gültigkeit bewahrt haben

Irena Brežná setzt den Realsozialismus der 60er-Jahre dem entlarvenden Blick einer Elfjährigen aus

Te x t: ERICH KLEIN

azim Hikmet, 1902 in Saloniki N als Sohn eines osmanischen Be­ amten geboren, gilt als größter Dich­

ter der Türkei – den Großteil seines Schriftstellerlebens verbrachte der „kommunistische Aufwiegler“ aller­ dings in Gefängnis und Emigration. Nach 13 Jahren Haft in der Türkei emigrierte Hikmet 1951 nach Mos­ kau, wo er 1963 starb. Klagen über die Heimat, verspiel­ te Reime an eine Katze, ein Zypres­ senhain, der Tod des Vaters – mehr ist über die Jugendgedichte nicht zu sa­ gen. Die Begeisterung des Offiziers­ anwärters für arabische Mystik und Lyrik der französischen Romantik ist rasch überwunden. Als Kemal Ata­ türk – nebenbei lebenslanger Bewun­ derer des Dichters – 1923 die Repu­ blik ausruft, hat sich Hikmet schon zu den Bolschewiki nach Russland durchgeschlagen. Als Student der „Moskauer Univer­ sität der Werktätigen des Orients“ ver­ kehrt er in der künstlerischen Schi­ ckeria des jungen Sowjetstaats: Sergej Jessenin, vor allem aber der Regisseur Wsewolod Meyerhold bleiben Bezugs­ punkt für das spätere dichterische Schaffen: „Wir haben schon in den vierten Gang der ­neuen Kunst geschal­ tet“, notiert Hikmet programmatisch. Nach dem futuristischen Modell von

­ ajakowskis Treppengedichten arti­ M kuliert er sein Entsetzen über Bürger­ krieg und Hungersnot im Russland der 20er-Jahre und ist damit allemal hellsichtiger und ehrlicher als der Großteil der europäischen fellow travellers des Kommunismus, indem er bald eine eigene Form engagierter Literatur entwickelt. Pathos der Er­ neuerung (der eigenen Sprache), So­ zialismus und Selbstironie werden im lyrischen „Selbstporträt“ klug in­ einander verschränkt: „Dichter bin ich / hab Gedichte geschrieben, / so viel wie die Regenmenge eines Jah­ res … // Aber um / mein eigentliches Hauptwerk zu beginnen, / müßte ich der Hafis des Kapitals werden.“ 1929, am Vorabend von Stalins Fünfjahresplan und dem heraufzie­ henden Terror kehrt Hikmet in die Türkei zurück – und wird verhaftet. Den Spanischen Bürgerkrieg der Re­ publikaner unterstützt er in einer kurzen Phase der Freiheit mit einem Komitee. Nach abermaliger Verhaftung ent­ steht im Gefängnis von Bursa das um­ fangreich opulente „Epos vom Scheich Bedreddin“. Der Aufstand der Ana­ tolier hebt mit einer konventionel­ len Beschreibung des Sultanspalas­ tes an. Das Ganze wird angereichert mit antikisierender Schlachtenbe­ schreibung, unverhohlenem Agit­

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prop, Menschheitsverbrüderung und zeittypischem Verfremdungsverfah­ ren. Während der über den Zweiten Weltkrieg hinaus reichenden Haftzeit – das Urteil lautete auf 28 Jahre! – ent­ steht neben weiteren Epen auch eine Übersetzung von Tolstois „Krieg und Frieden“. In den Gedichten bleibt das eigene Schicksal immer an jenes des Landes gekettet, das er halb mytho­ logisch wie folgt charakterisiert: „Es jagt im Galopp aus Mittelasien daher / und streckt seinen Stutenkopf ins Mit­ telmeer / unser Land.“ Aufgrund internationaler Protes­ te von Sartre bis Picasso und Brecht wird Nazim Hikmet vorzeitig aus der Haft entlassen – dem drohenden Mili­ tärdienst entzieht er sich 1951 durch eine abenteuerliche Flucht in die Sow­jetunion. Als „Gast der Tschekis­ ten“, wie sich Hikmet einmal sarkas­ tisch-kokett selbst tituliert, reist er – aus­gestattet mit allen Privilegien der sow­jetischen Schrifstellernomenkla­ tur – von einem Friedenskongress zum nächsten – insgesamt durch gut zwei Dutzend Länder. Bemerkens­ wert ist dabei, dass Hikmets Dichtung in dieser Zeit nicht in den sozialisti­ schen Folklorekitsch von Garcia Lor­ ca bis Neruda verfällt, ganz im Gegen­ teil: Seine Städtebilder aus dem ba­ rocken Prag, von Leipzig, Leningrad oder Varna sind in jener Sprache mo­ derner Poesie geschrieben, die bis heute Gültigkeit besitzt. Der freie Vers erlaubt noch immer ge­ nügend Klage über die verlorene Hei­ mat Anatolien und Istanbul, mitunter schreibt Hikmet fast schon beat poe­ try – etwa in „willkommen baby“. In den letzten Texten spricht er den ei­ genen Tod an: „Sie sagte komm doch / Sie sagte bleib doch / Sie sagte lach doch / Sie sagte stirb doch // Ich kam / blieb / lachte / und starb.“ Das Ge­ dicht an seine russische Frau Vera kann man auch auf Türkisch lesen: „Gelsene dedi bana / Kalsana dedi bana / Gülsene dedi bana / Ölsene dedi bana // Geldim / Kaldim / Gül­ düm / Öldüm“. Nazim Hikmet ist mit „Die Namen der Sehnsucht“ neu zu entdecken – al­ lerdings ist das Nachwort von Gisela Kraft, die als Übersetzerin höchst ge­ wandt und elegant agiert, ob seiner sa­ lonbolschewistischen Verschmockt­ F heit mehr als entbehrlich. Nazim Hikmet: Die Namen der Sehnsucht. Gedichte – türkisch und deutsch. Ausgewählt und nachgedichtet und von Gisela Kraft. Ammann Verlag, 355 S., € 30,80

Te x t: A L EX A N D R A M I L L N E R

ie hat man sich die „beste aller W Welten“ vorzustellen? Wohl kaum so, wie es im Roman der slowa­

kisch-schweizerischen Schriftstelle­ rin Irena Brežná vorkommt: nämlich als arbeits- und entbehrungsreiches Leben im (tschecho-)slowakischen Realsozialismus der 60er-Jahre. Den­ noch glaubt die Protagonistin fest an diesen: an die treue Freundschaft des kleinen Landes zum großen, beschüt­ zenden Bruder, an den gemeinsamen Feind jenseits des Ozeans und an die Solidarität der Proletarier. Immerhin, so muss relativierend angemerkt werden, ist die Ich-Erzäh­ lerin Jana erst elf Jahre alt. Dement­ sprechend naiv und einfach sind ihre Perspektive und Sprache: „Schade, der Krieg ist vorbei, auch die Große Revolution ist vorbei, und unsere Pro­ letarier sind schon frei. Alles Wich­ tige ist getan, wir müssen nur noch glücklich sein, und das ist furchtbar schwierig.“ Die gesellschaftspolitischen Bezü­ ge bleiben in den propagandistischen Metaphern stecken, wie sie das Mäd­ chen von der „Kollegin Lehrerin“ tag­ täglich vorgesetzt bekommt. Jana hält sich daran fest „wie am letzten Stroh­ halm“, wird sie doch ständig von der subversiv agierenden Mutter und dem bürgerlichen Vater sowie der an der al­ ten Gesellschaftsordnung festhalten­ den Großmutter in ihrer vorbildlich proletarischen Haltung erschüttert. Als die Mutter aufgrund ihrer Flucht­ pläne inhaftiert wird, setzt in Jana ein Bewusstwerdungsprozess ein, der sie zwischen die Weltbilder geraten lässt. Dies findet seinen Ausdruck in sprach­ lichen Kippbildern, die mit der Mehr­ deutigkeit der Worte spielen, wörtlich nehmen, wo allegorisch gesprochen wird, und allegorisch sprechen, wo die Wahrheit tabu ist.

Der Till-Eulenspiegel-Effekt ist dadurch

vorprogrammiert. Die Kluft zwi­ schen verkündeten Worten und un­ terlassenen Taten wächst in Janas Wahrnehmung wie ihre Kritik am ei­ genen Volk, das sie liebevoll „Täub­ chenvolk“ nennt. Wo sie seinen Fata­ lismus, die mangelnde Willenskraft, die Ziellosigkeit und Resignation an­ prangert, büßt die ansonsten erstaun­ lich konsequent durchgehaltene Per­ spektive einer Elfjährigen an Glaub­ würdigkeit ein. Jana muss an das totalitäre System glauben, denn sie weiß es nicht bes­ ser. Durch die Versuche, es mit der Logik eines Kindes zu begreifen, be­ kommt ihr proletarisches Bewusst­ sein Risse: „Wir sind ein kleines Land mit einem großen Freund. Ich kann es allerdings kaum glauben, dass ein Großer einen kleinen Freund nötig

hat. (…) Wir lernen in der Schule die große Sprache, denn Freunde soll man verstehen, umso mehr, wenn man ih­ nen nicht traut.“ Mit Logik ist gleich­ geschalteten Systemen nicht beizu­ kommen, mit einem gesunden Miss­ trauen gegenüber den Mitmenschen, hinter denen Denunzianten stecken könnten, schon eher. Ein Jahr sitzt Janas Mutter in Haft. Es ist

rührend, wie die Tochter mit der Ab­ wesenheit umgeht, wie sie die wider­ spenstige Mutter aus ideologischen Gründen erst skeptisch betrachtet, im Laufe dieses Jahres aber immer besser zu verstehen lernt – auch deshalb, weil Jana beginnt, zu einer Frau heranzu­ reifen. War ihr das kokette Verhalten ihrer schönen Mutter zuvor peinlich, erkennt sie nun, dass die „Waffen der Frau“ durchaus politischen Zwecken dienen und selbst fest verschlossene Gefängnistüren öffnen können. In einschlägig ideologisierter Wortwahl beginnt sie über das Ver­ hältnis der Geschlechter nachzuden­ ken: „Bei uns denken die Männer weiterhin wie ehemalige Grundbe­ sitzer, als gehörten ihnen die wich­ tigsten weiblichen Körperländerei­ en. Wenn ich groß bin, werde ich die Gutsbesitzer enteignen.“ Mit der Mär der Gleichstellung der Geschlechter im Realsozialismus wird hier gehörig aufgeräumt. Irena Brežná, die selbst 1968 aus der Slowakei in die Schweiz emigrier­ te und schriftstellerisch in der deut­ schen Sprache verankert ist, ist bisher vor allem durch Reportagen über Mit­ tel- und Osteuropa hervorgetreten. In ihrem ersten Roman „Die beste al­ ler Welten“ versteht sie es, eine naive Sichtweise ideologiekritisch zu nut­ zen, ohne dabei direkt anzugreifen. Das stellt sie in eine Reihe mit Imre Kertész und Herta Müller. Den Roman als „leichte Lektüre“ zu bezeichnen, wie dies der Verlag tut, wird dem Buch nicht gerecht. Mag die einfach gehaltene Sprache auf den ers­ ten Blick auch leicht wirken, so sind darin doch überaus komplexe Gedan­ kengänge verpackt, die ein Lesen auf mehreren Ebenen erfordert. Salopper formuliert: selten einen gedanklich so dichten Prosatext gelesen, der mit ei­ ner so einfachen und zugleich schö­ F nen Sprache daherkommt.

Irena Brežná: Die beste aller Welten. Edition Ebersbach, 164 S., € 18,50

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Rudi, Rudi, gib acht … Der serbische Botschafter in Wien, Dragan Velikić, schickt seinen Protagonisten auf einen Trip ins eigene Ich kerweise ausgerechnet in den USA genossen hatten. Auch Velikic´ war zu dieser Zeit in Budapest, womit „Das russische Fenster“ möglicherweise autobiografische Züge trägt. In der ungarischen Metropole tappen die Miloševic´-Flüchtlinge bar konkreter Perspektiven im Bewusstsein herum, einen historischen Moment zu erleben, ihn aber nicht nützen zu können. Während ihre Heimat bombardiert wird, dürfen sie gerade ein paar westlichen TV-Teams ihre Sicht der Dinge kundtun, die dann irgendwann fern der Hauptsendezeit als Minderheitenprogramm ausgestrahlt wird.

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ätte Dragan Velikic´ das 280 Seiten umfassende Romanfragment im versperrten Safe belassen, wir könnten seinen, im Vorjahr im serbischen Original erschienenen Roman „Das russische Fenster“ heute naturgemäß nicht lesen. Aber zunächst zur Vorgeschichte. Bereits 2005 hatte der damalige serbische Außenminister Vuk Draškovic´ die Idee, den 1953 in Belgrad geborenen Journalisten und Schriftsteller als Botschafter nach Wien zu entsenden. Eine mutige Entscheidung, schließlich ist Wien nicht Reykjavik – womit natürlich nichts gegen Island gesagt sein soll, dessen bilaterale Beziehungen zu Serbien sich aber vermutlich doch eher auf konsularisch-protokollarisch-höfliche Formalitäten beschränken. Einen Job in Reykjavik hätte Velikic´ jedenfalls als reine Sinekure betrachten können, um neben ein paar repräsentativen Verpflichtungen ein betuliches Leben zu führen und die Zeit im gediegenen Rahmen einer Botschafterresidenz zum Schreiben zu nützen.

Ein russisches Fenster ist ein kleines Fenster im Fenster und ermöglicht es, auch in Sibirien zu lüften

Wegen der EU-Ambitionen Serbiens und der langen diplomatischen Tradition Österreichs in Balkanfragen aber ist Wien einer der Schlüsselorte, die Belgrad in Sachen Außenpolitik zu vergeben hat. Daher hatte Velikic´ vor Amtsantritt angeblich angeboten, sein bis dahin 280 Seiten umfassendes Romanfragment im Safe zu versperren, um nicht in Verdacht zu geraten, auf Staatskosten der Schriftstellerei zu frönen. Dass er doch noch Zeit dafür fand, ist beachtlich, auch wenn die Kosovofrage erst vergangenes Jahr so richtig heiß wurde, als der Roman schon fertig war. Velikic´ musste den Spagat schaffen, einerseits mit allen Konsequenzen die unnachgiebige Haltung Belgrads zu verkörpern, andererseits aber klarzustellen, dass dies nichts mit verbohrtem ScheuklappenNationalismus zu tun hat, gegen den er schon seit jeher ankämpft: „Sogar in den finstersten Jahren des Regimes von Slobodan Miloševic´ hat es auch ein anderes Antlitz Serbiens gegeben, das lange Zeit hindurch keinen Zutritt zu europäischen und anderen internationalen Medien hatte“, erklärte er zum Amtsantritt in einem Interview mit der Apa. Dieses Sendungsbewusstsein schimmert zum Teil auch im Roman durch, nämlich ab jenem Zeitpunkt, an dem der Protagonist Rudi Stupar in den späten 90er-Jahren Serbien verlässt, um dem Wehrdienst zu entgehen. Die US-geführten Nato-Angriffe auf Belgrad im Kosovokrieg erlebt er in Budapest, wo Teile jenes anderen Serbiens Zuflucht suchten und die ungarische Hauptstadt in Anlehnung an den berühmten Anti-Nazi-Film mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergman zum „serbischen Casablanca“ machten.

Während westliche Medien damals von Serbien das Bild eines Landes zeichneten, „in dem zivilisierte Bürger etwa so häufig sind wie Einhörner“ (O-Ton Velikic´ ), versammelten sich rund 400 Kilometer donauaufwärts allerlei kluge Köpfe, die ihre universitäre Ausbildung zum Teil grotes-

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Die eigentliche Tiefenwirkung des Romans aber geht aus der individuellen Dimension des ebenso rat- wie rastlosen Rudi hervor. Eigentlich aus der Vojvodina stammend, scheitert er bei dem Versuch, Schauspieler zu werden. Nach einem Germanistikstudium macht er sich auf seinen Weg ins Exil, der ihn über Belgrad, Budapest und München nach Hamburg führt und zu einer Art Trip ins eigene Ich wird. Auf der Suche nach seiner Bestimmung verdingt sich Rudi unter anderem als professioneller Spaziergänger für einen invaliden Musiker und eine abgetakelte Theaterdiva, als Hilfskellner am Goethe-Institut oder als Leichenwäscher. Die meiste Zeit aber vertreibt er sich mit Nichtstun, dem Studium unterschiedlichster Lebensent-

würfe oder den Frauenbekanntschaften, an denen wahrlich kein Mangel herrscht. Ob er nun mit Irena, Edina, Sonja oder Alisa im Bett landet, eine jede kann ihm etwas an Lebenserfahrung mitgeben – was indes eher verwirrend denn unterstützend wirkt. Ein „russisches Fenster“ ist sozusagen ein kleines Fenster im Fenster und vor allem in Sibirien gebräuchlich. Damit kann selbst bei extremer Kälte gelüftet werden, ohne dass man Gefahr läuft, sich ernsthaft zu erkälten. Metaphorisch gesehen blickt Rudi also durch diese kleine Klappe auf die Welt hinaus und sieht den Menschen dabei zu, wie sie versuchen, die stürmischen Wogen des Daseins zu meistern. Da er auf eine mittlere Erbschaft zurückgreifen kann, die ihm zumindest vorübergehend ein materiell sorgenfreies Leben garantiert, holt er sich aber keine kalten Füße dabei. Die Moral von der Geschichte ist dann freilich eher so zwischendurch aufzuspüren, wenn sich Velikic´ in existenzialistisch-philosophischen Exkursen ergeht, die vom Leser hohe Konzentration erfordern. Der diplomatische Autor selbst nennt seine Schöpfung einen „Omnibus-Roman“; wohl auch eine Metapher für eine (meist mit Schicksalsgenossen geteilte) Fahrt über mehrere Stationen, die einen letztlich nur in die Nähe des Ziels, aber nie wirklich F dorthin bringt.

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10 good years

DAS

FEUILLETONMAGAZIN

h t t p : / / s c h r e i b k r a f t . a d m . a t /

Dragan Velikić: Das russische Fenster. Aus dem Serbischen von Bärbel Schulte. dtv, 400 S., € 15,40

Heftpräsentation „alles bestens“ und 10-Jahresfest, DO 27. November 2008, 20:00, Forum Stadtpark Graz Kontakt: Postfach 369, 8011 Graz, s c h r e i b k r a f t @ m u r . a t

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Der Albtraum des Postkommunismus Die jüngste Entdeckung aus dem aufstrebenden Literaturland Rumänien heißt Filip Florian tum brutum scheinbar unausweichlicher Offensichtlichkeit: Bei Ausgrabungen an einer spätrömischen Festung in einem Kurort in den rumänischen Karpaten wird ein Massengrab entdeckt. Für den Polizeichef, für den Vertreter der ehemaligen Lagerinsassen, für die Bevölkerung liegt der Fall klar: Die Gebeine können nur von den Opfern einer geheimen Massenerschießung in den 50er-Jahren stammen. Allerdings sprechen alle Indizien gegen die scheinbare Evidenz stalinistischen Terrors. Anstatt nun die Lösung eines kriminalistischen Rätsels zu beschreiben, verliert sich der Roman in scheinbaren Abschweifungen. Vor allem die Identität des Erzählers ist äußerst unsicher: Er tritt in der ersten Person in Erscheinung, verschwindet dann wieder hinter einem Er-Erzähler – Diese Unbestimmtheit ist kein literarischer Manierismus, der die Lektüre künstlich erschwert. Sie entspricht vielmehr jener „Zeit der Schatten“, die ungreifbar zwischen den Fingern zerrann. Für die bleiernen Jahrzehnte nach dem Krieg galt: „Die Menschen wiederum trugen zwar kaum noch Uniformen, doch verhielten sie sich, als seien ihnen die Messingknöpfe, Schulterstücke und Koppel in ihr Innerstes gedrungen, sie hatten sich daran gewöhnt, Kasernenluft zu atmen, aus Angst, aus Eigennutz, aus Schicksalsergebenheit, aus Gleichgültigkeit.“ Man wuss-

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as Leben in und nach den kommunistischen Diktaturen bilden ein ungeheuerliches Reservoir an Stoffen für die Literatur. In den letzten zwei Jahrzehnten ist eine ganze Reihe von Büchern osteuropäischer Autoren erschienen, die das Gesamtbild einer europäischen Gegenwartsliteratur ganz entscheidend prägen. Auch wenn sich nach einer kurzen Hochkonjunktur im deutschen Sprachraum nach 1989 die Buchmärkte wieder einzuigeln scheinen: Die Vitalität osteuropäischer Literatur ist ungebrochen.

Seit einiger Zeit gewinnt Rumänien an Kon-

turen auf der literarischen Landkarte. Der erste Band von Mircea Cartarescus Trilogie „Die Wissenden“ (2007) war ein fulminanter Auftakt; eine literarische Spurensuche nach den mentalen Auswirkungen der Diktatur, die mit Filip Florians Roman ihre weitere Ausgestaltung erfährt. Beide Autoren erzählen die Geschichte Rumäniens in den Jahrzehnten nach 1945, ohne auf die Sicherheiten eines konventionellen Realismus zu vertrauen. Sie verfügen über vielfach gebrochene Erzählweisen, sie arbeiten mit stilistischen Brüchen, das heißt, sie erschweren die Orientierung. Dabei ist der Ausgangspunkt des 1968 in Bukarest geborenen Filip Florian ein Fak-

„Die Menschen trugen zwar kaum noch Uniformen, doch verhielten sie sich, als seien ihnen die Messingknöpfe, Schulterstücke und Koppel in ihr Innerstes gedrungen, sie hatten sich daran gewöhnt, Kasernenluft zu atmen“ Filip Florian

manuskripte Z E I T S C H R I F T F Ü R L I T E R AT U R S E I T 1 9 6 0

Ausschließlich Erstveröffentlichungen „…seit Jahrzehnten eine literaturkritische Instanz ersten Ranges.“ (Hardy Ruoss)

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Herausgeber: Alfred Kolleritsch und Günter Waldorf Redaktion: Alfred Kolleritsch und Rainer Götz

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Filip Florian: Kleine Finger. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Suhrkamp, 269 S., € 23,50

te nie genau, woran man war, und wusste man es, dann verschwieg man es lieber. Diese Prägung verschwindet nicht einfach, sie transformiert sich. Der ausführlichste Erzählstrang berichtet in Anlehnung an mittelalterliche Heiligenlegenden vom Leben eines Findelkindes und späteren Mönches, der ein göttliches Zeichen trägt. Exakt alle vier Stunden muss sich Bruder Onufrie seinen ständig nachwachsenden Haarschopf abschneiden. Lange Jahre verbringt er als asketischer Einsiedler in den Bergen, verborgen vor Suchtrupps und damit beschäftigt, ein absurdes Lebenswerk anzufertigen: Auf Baumrinden rekonstruiert er die Heilige Schrift und schreibt sie dabei völlig neu. Dem großen ungarischen Autor Péter Nádas zufolge haben sich die Bürger der neuen Demokratien im Osten für den „totalen Gedächtnisverlust“ entschieden, wenn es um die Vergangenheit nach 1945 geht. Onufrie ist das Gegenbild zu dieser Verdrängung, sein scheinbar sinnloses Tun eine Metapher für die Literatur, wie sie Filip Florian versteht. Die Diktatur hat sich tief in ein kollektives Bewusstsein eingegraben, und der Schriftsteller legt die Schichten wieder frei. Was er bei dieser Spurensuche aufs Papier bringt, lässt sich keineswegs in die Ordnung einer chronologischen Erzählung packen. Wie bei der Datierung und Zuordnung der Knochen aus dem Massengrab kommt es zu einer Zerfransung der Fakten. Filip Florian selbst hat Geologie und Geophysik studiert und jahrelang als Journalist für eine Kulturzeitschrift und für das legendäre „Radio Freies Europa“ gearbeitet. Dann zog er sich zum Schreiben in den rumänischen Gebirgsort Sinaia zurück. Der Mönch Onufrie muss erkennen, dass seine Einsamkeit eine Chimäre ist. Über geheimnisvolle Zeichen gibt sich ihm ein Fremder zu erkennen, dem er in kurzen brieflichen Botschaften die Beichte abnimmt. Der Fremde ist ein Partisan, der im Gebirge Zuflucht gesucht hat und nun über den weltfremden Mönch wacht – die beiden bilden ein mythisches Zwillingspaar. Diese legendenhafte Erzählung wird konterkariert von anderen bizarren Figuren: Da gibt es einen Fotografen, der sich ein Dromedar hält, einen Oberstaatsanwalt, der sich die menschlichen Kleinfingerknochen als Fetische auserwählt hat, und vor allem Tante Paulina und ihre Freundinnen, die der Wahrsagerei frönen, dabei aber ganz genau wissen, was zum Beispiel der Erzähler-Archäologe mit der bildschönen jungen Jojo treibt. Wieder eine andere Sicht auf die Dinge bieten die Zeitungsberichte, die sensationslüstern und tendenziös das Massengrab und die Legende von Onufrie, dem Mönch mit dem göttlichen Zeichen, vermarkten. Gespiegelt wird das Geschehen außerdem in der episodenhaft erzählten Geschichte der argentinischen Diktatur mit ihren spurlos Verschwundenen. Filip Florians „Kleine Finger“ spinnt die Fäden, aus denen die Albträume der postkommunistischen Gesellschaften gewebt sind. Dieses intelligente und hoch ambitionierte Buch verdient die Aufmerksamkeit, F die es einfordert.

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Und Balram ging nach Bangalore Aravind Adiga liefert einen neokolonialen Gesellschaftsentwurf in der Maske des Bildungsromans fel in Gestalt seiner Großmutter zu einem Leben als „menschliche Spinne“ verdammen, wie Adiga die Gehilfen in Teehäusern nennt. Dann aber ermöglicht sie ihm die Ausbildung zum Fahrer und schießt ihm 300 Rupien für die Ausbildung vor, verlangt jedoch einen ruinösen Return on Investment, nämlich seinen gesamten Lohn. Balram, der diesen Namen von einem Lehrer erhalten hat, erweist sich als loyaler Familienmensch und folgt der großmütterlichen Vorgabe. Er findet Arbeit beim Sohn eines Kohlebarons, der in Delhi Politiker besticht, um der Einkommenssteuer zu entgehen. Balram dient diesem als Quasi-Familienmitglied aufopfernd, verlangt freilich auch von seinem Herrn und Vorbild einen ähnlich starken Familiensinn. Als dieser von seiner Frau Pinky Madam verlassen wird und sich nicht der Tradition gemäß verhalten kann, verliert Balram den Respekt vor seinem Herrn, bringt ihn um, flieht mit seinem Geld und lässt sich als Unternehmer in Bangalore nieder.

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chonungslos schildert der in Mumbai lebende Korrespondent der Financial Times Aravind Adiga in seinem ersten Roman „Der weiße Tiger“ das Indien der Gegenwart. Der Roman hat die Form einer Serie von Briefen an den chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao. Allerdings verliert der Autor bald das Interesse an dieser immer fadenscheiniger wirkenden Konstruktion. Der eigentliche Adressat, so scheint es, ist ein Publikum, das seine Vorstellungen von Indien aus AyurvedaTherapien bezieht und dem der Autor gern das „wahre Indien“ zeigen möchte. Erzählt wird die Geschichte eines armen Dorfjungen aus „der Finsternis“, wie der Autor die ländlichen Regionen Indiens nennt. Die Darstellung weckt Erinnerungen an Dante: Der erste Kreis der indischen Hölle umfasst die Küstengebiete, von dort geht es Ring für Ring landeinwärts bis in den neunten Kreis, dem Sitz der indischen Regierung, wo der Teufel, oder besser die schwarze Göttin Kali, die Schlimmsten aller „Schwesternficker“ verschlingt. Der Weg des Protagonisten zum Unternehmer im indischen Softwarezentrum Bangalore, ist eine Reise vom Inneren der Hölle an ihre Peripherie – und wird von dort aus rückblickend kommentiert. Den braven Dorfjungen aus der Kaste der Zuckerbäcker möchte ein Weibsteu-

Als zynischer Kommentator indischer VerAravind Adiga: Der weiße Tiger. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. C.H. Beck, 320 S., € 20,50

hältnisse erscheint Balram in seiner rückblickenden Brieferzählung. Er verurteilt die Gesellschaft als „Hühnerkäfig“, sieht aber auch die Möglichkeit, daraus persönlichen Vorteil zu ziehen. Andere Menschen behandelt er nur so lange anständig, bis sie seinen Ambitionen nicht im Wege stehen; überschreiten sie diesen Punkt,

wird er brutal. Seine Kritik gilt der Korruption, Ungerechtigkeit und Unfähigkeit politischer wie administrativer Organe und ihrem Ordnungsprinzip des Kastenwesens. Dieses möchte er durch ein freies, aus seiner Sicht menschenfreundlicheres Spiel ersetzt sehen: die Marktkräfte des Kapitalismus. Nun ist es durchaus legitim, die indische Gesellschaft von einem neokonservativen Standpunkt aus zu kritisieren. Wenn das allerdings unter dem Vorwand geschieht, die Geschichte eines Dorfjungen zu erzählen, verkommt Literatur zur Propaganda. Die Figur des Balram mag naiv, beschränkt und schließlich zynisch sein; die Kolonialisierung durch einen neokonservativen Intellektuellen hat sie sich dennoch nicht verdient. Dem weißen Neokolonialismus verleiht Ara-

vind Adiga ein buntes Lokalkolorit, er camoufliert sein politisches Pamphlet als indische Erzählung. Damit ergeht es ihm wie vielen, im Sinne der Aufklärung erzogenen indischen Intellektuellen: Er denkt für die Briten, Amerikaner, Europäer, kurz, für den Westen – und nimmt, nebstbei, die Chinesen nicht ganz Ernst. Hätte er den britischen Premier oder den US-amerikanischen Präsidenten als Adressaten seiner Romanbriefe gewählt, er hätte wohl das Gefühl gehabt, sich damit literarisch lächerlich zu machen. Dies ist die indische Seite von Kiplings „The F White Man’s Burden“.

„Bei uns denken die Männer weiterhin wie ehemalige Grundbesitzer, als gehörten ihnen die wichtigsten weiblichen Körperländereien. Wenn ich groß bin, werde ich die Gutsbesitzer enteignen“ IRENA BREZNA: „ D I E B E S TE A L L E R W E L TE N “ SEITE 14

Foto aus der Serie „Türkisches Wien“ von Katharina Gossow

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Weit gegangen, aber zu kurz gegriffen Dave Eggers versucht, das Schicksal eines sudanesischen Exilanten als Doku-Fiktion aufzuarbeiten te x t: S TE P H A N S TE I N E R

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eit gegangen“ beginnt mit einem geschickten erzählerischen Schachzug: Ein sudanesischer Flüchtling, der erst vor kurzem Aufnahme in den USA gefunden hat, wird ausgerechnet von Afroamerikanern in seiner Wohnung überfallen, misshandelt und seiner wenigen Habseligkeiten beraubt. Während er zusehen muss, wie ihm ein Stück nach dem anderen weggenommen wird, beginnt er zu assoziieren und erinnert sich seiner Lebensstationen, die von Vertreibungen, Massakern, Gewaltmärschen und Lagern bestimmt waren. Als „lost boy“, als Jugendlicher ohne elterliche Begleitung, hatte er sich in den 80er-Jahren vom Südsudan über Äthiopien nach Kenia durchgeschlagen, ehe er ab 2001 in den USA eine nicht immer verständnisvolle, jedoch grundsätzlich freundliche Aufnahme fand. Mit einem Schlag wird nun durch den Raub die gerade vage erfolgende Wiedereinübung in eine Normalität brüchig. Diesem klug gewählten Grundgerüst folgt allerdings ein schlecht gebauter Roman, der, ganz traditionellem Erzählen verpflichtet, nur wenig von dessen Prinzipien verinnerlicht hat. Beinahe 800 Seiten, die um Verfolgung, Verlust und Vereinsamung kreisen, entwickeln weder Wucht

noch Subtilität, sondern werden merkwürdig behäbig entlang einer Lebenschronologie heruntergespult. Nicht weniger als die ganze Biografie des Valentino Achak Deng soll in dieser Ich-Erzählung rekonstruiert werden, aber das benutzte Material bleibt weitgehend ungewichtet: Belangloses steht neben Unerhörtem, Redundantes neben Eindrücklichem. Selbst die Liebesgeschichte mit Tabitha, die den ganzen Roman durchzieht und von einem tragischen Verfehlen in schwerer Zeit berichtet, wird im Tonfall abgebrauchter Spruchweisheiten in eine Harmlosigkeit dirigiert, der die Abgründe, die auch in ihr enthalten wären, schnell wieder zuschüttet. Wenn etwa darüber berichtet wird, dass Tabitha die erste Gelegenheit ergreift, um das Flüchtlingslager Kakuma hinter sich zu lassen und dafür auch ihre Liebe zu Valentino zurückstellt, dann würde man darüber doch gerne Ausführlicheres erfahren als den lapidaren Satz: „Es ist nun mal eine Tatsache, dass die Liebe in Kakuma nicht mit der Aussicht, das Lager verlassen zu können, konkurrieren konnte.“ Am gelungensten erscheinen noch diejenigen Passagen, die vom langsamen Fußfassen in der amerikanischen Gesellschaft, von gegenseitigen Verständnisschwierigkeiten und Tabubrüchen, von der Selbstorganisation der sudanesischen Migranten-Community berichten. Hier blitzen öf-

Die in den „Roman“ eingeflossenen Gespräche mit Valentino Achak Denk wirken wie bloße Transkripte. Man fragt sich, ob ein streng konzipierter Interviewband nicht ehrlicher gewesen wäre

LESEHERBST Roman ELISABETH REICHART

DIE UNSICHTBARE FOTOGRAFIN 296 S., geb., � 22,– ISBN: 978-3-7013-1151-4 „Elisabeth Reichart gehört zur ersten Riege der österreichischen Gegenwartsliteratur.“ Nicole Streitler, Der Standard Storys ERWIN RIESS

HERR GROLL AUF REISEN 184 S., geb., � 18,– ISBN: 978-3-7013-1150-7 „Erwin Riess ist ein begnadeter Flunkerer.“ Ewald Schreiber, Der Standard

OTTO MÜ LLER VE RL A G

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Dave Eggers: Weit gegangen. Das Leben des Valentino Achak Deng. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, 764 S., € 25,70

ters Denkbilder auf, die über immer schon vage Gewusstes hinausführen. Etwa wenn die Ethnisierung nicht als ein Phänomen der Herkunft, sondern des Exils geschildert wird: „Es gibt 800 Sudanesen in Atlanta, aber keine Harmonie unter ihnen. Es gibt sieben sudanesische Kirchen, und sie bekämpfen einander unaufhörlich und mit zunehmender Erbitterung. Die Sudanesen hier sind in Stammesdenken zurückgefallen, sie vollziehen dieselbe ethnische Spaltung, die wir vor langer Zeit aufgaben. In Äthiopien gab es keine Nuer, keine Dinka, keine Fur, keine Nubier.“ „Weit gegangen“ basiert auf einer Serie von Zeitschriftenartikeln, und diese hätten in überarbeiteter Form zweifelsohne einen gelungenen Reportageband abgegeben. Nun hat sich Eggers aber gegen jede Notwendigkeit für die hybride Form einer Doku-Fiktion entschieden, und der Preis dafür ist hoch: Authentisches wird anzweifelbar, Erfundenes erscheint unnötig. Da die in den „Roman“ eingeflossenen ausführlichen Gespräche mit Valentino Achak Deng wirken über weite Passagen wie bloße Transkripte, und da die literarische Gestaltung keinerlei Mehrwert verspricht, fragt man sich, ob nicht ein streng konzipierter Interviewband ehrlicher und angemessener gewesen wäre. Ein wenig dürften dies auch Autor und Verleger geahnt haben, denn der Text ist mit einer merkwürdigen Beigabe in Form eines „Readers Guide“ kommentiert: Darin werden etwa „FAQ“ beantwortet, die über das gegenwärtige Leben Valentinos informieren; „Ten things you can do for Sudan“ werden dem Leser nahegelegt und die Ansichten einer euphorischen Rezensentin im Volltext wiedergegeben. Wäre Eggers Prosa tatsächlich ein Roman, er hätte all diesen gutgemeinten Aufwand nicht nötig. In den englischsprachigen Ländern wurde Eggers Buch durchaus kontrovers aufgenommen: Während ihm die New York Times ungewöhnliche erzählerische Kraft attestierte und ihn sowohl als Zeugnis wie als Kunstwerk begrüßte, wunderte sich die New Republic über die Anmaßung, die Lebensgeschichte eines Flüchtlings, der doch für sich selbst sprechen könnte, von einem Romancier präsentiert zu bekommen – und dies auch noch unter dem Label einer „Autobiografie“. Trotz des unangenehmen Beigeschmacks der Marketingstrategien, die das Erscheinen des Buchs begleiten, bleibt ein ehrenwertes und notwendiges Anliegen durchaus spürbar: Eine möglichst breite Leserschaft daran zu erinnern, dass die Krise im Sudan nicht mit Darfur ausgebrochen ist, sondern schon seit Jahrzehnten besteht und eine ganze Generation von schwer traumatisierten Menschen hervorgebracht hat, deren Aufnahme in den wohlhabenden Ländern des Nordens nicht von Gleichgültigkeit oder Ignoranz geprägt sein sollte. Menschen wie Valentino leben mitten unter uns und die Vorgeschichte ihrer „Asylanten“-Existenz sollte auch uns umtreiben. „Weit gegangen“ ist ein nicht menschlich, jedoch ästhetisch gescheiterter Versuch, ein neuerlicher möge unterF nommen werden und gelingen.

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„Ich fühle mich von den 50ern angezogen“ Sadie Jones spricht über ihr Romandebüt, die Abgründe der Kleinstadt und die Segnungen Sohos INTERVIE W: ROBERT ROTIFER

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it ihrem in der suburbanen Familienhölle der 50er-Jahre angesiedelten Erstling „Der Außen­ seiter“ (im Original „The Outcast“) hat Sadie Jones in Großbritannien auf Anhieb einen Bestseller gelandet. Der Falter traf sie im Soho Hotel in London, nahe einem der Hauptschauplätze der Geschichte.

Falter: Wir sitzen hier in Soho, wo Ihr Ro­ manheld Lewis den Sex und ein neues Ich entdeckt. Haben Sie eine spezielle Bezie­ hung zu diesem Stadtteil? Sadie Jones: Vermutlich ja. Soho ist einfach

der Ort, wo man als junger Mensch in London hingeht. Es ist anders als überall sonst. Es gibt zwar Leute, die hier leben, aber man trifft nie jemand, der sagt: Ich bin verheiratet, habe Kinder und wohne in der Wardour Street. Soho ist von dieser Welt des Wohnens getrennt, es hat Bars und Clubs, die Filmindustrie, Fotografen, all das, nur nicht die Art von Gesellschaft, aus der wir alle kommen. Für Lewis ist dieses Nirgendwo etwas Wundervolles. Ein Nirgendwo, das nur eine kurze Bahn­ fahrt von Lewis’ Wohnort im ländlichen Surrey entfernt ist, wo ja heute noch die von Ihnen beschriebene erstickende Atmo­ sphäre herrscht. Jones: Allerdings. Es ist erstaunlich, wie

viele Leute mir das gesagt haben: Es ist immer noch so! Ich versuchte ja auch nicht, eine Sozialgeschichte zu schreiben. Ich verwendete die 50er-Jahre nur, um meine Geschichte zu erzählen. Die Leute reden auch heute nicht miteinander, schlagen einander und trinken. Weil Sie gerade die Rolle des Alkohols er­ wähnt haben: Die britischen Medien haben ja unlängst mit großem Erstaunen reagiert, als eine aktuelle Studie den Alkoholismus des gehobenen Mittelstands aufdeckte. Jones: Ja, wer hätte das gedacht? (Lacht.)

Ich sehe den Alkohol als ein handelndes Element der Geschichte – genauso wie das Dorf und den Fluss. Manchmal hat er einen guten Einfluss, er hilft Lewis weiter. Er ist natürlich auch eine destruktive Kraft, aber ich wollte keinen Kommentar über den Mittelstand abgeben. Das war einfach das Milieu, in dem sich diese Geschichte ereignet. Mich hat bei der Lektüre überrascht, dass sich die Leute selbst in den Jahren der Le­ bensmittelrationierung ganz gutes Essen leisten konnten. Wie war das möglich? Jones: Was die Einkäufe für den eigenen

Haushalt anging, saßen tatsächlich alle im selben Boot. Essensmarken waren ein hervorragender Gleichmacher. Aber dann habe ich erfahren, dass Restaurants von der Rationierung ausgenommen waren. Wenn man genug Geld hatte, konnte man also jeden Abend Fleisch essen. Aber diese Recherchen hab ich erst im Nachhinein angestellt. Während ich schrieb, war ich mir sicher, dass ich die Welt kannte, in der ich mich bewegte. Im Moment schreibe ich dagegen ein Buch, wo ich alles im Vorhinein recherchieren musste und das im selben Jahr, während der damaligen Militärkrise in Zypern, spielt. Ich fühle mich sehr von den 50er-Jahren angezogen, aber falls ich

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musste ich einfach etwas machen, und irgendwann war mir klar, dass das Buch wesentlich bessere Chancen auf Erfolg hatte, also schob ich das Drehbuch schnell wieder zurück in die Schreibtischlade.

noch ein Buch schreibe, muss ich wohl das Jahrzehnt wechseln. In „Der Außenseiter“ gibt es Szenen der Selbstverletzung. Das ist etwas, was übli­ cherweise eher mit Mädchen in Verbindung gebracht wird. Jones: Ich hatte einfach ein instinktives Ge-

fühl, dass Lewis ein Selbstverletzer sein könnte. Und als ich auf Lesereise in Kanada war, erzählte mir ein Journalist, der lange in einem Jugendgefängnis gearbeitet hat, dass die Rate von Selbstverletzungen unter Burschen entgegen der allgemeinen Annahme sogar noch höher als bei den Mädchen war. In Wahrheit ist ja auch eine Gefängnistätowierung nur eine getarnte Selbstverletzung. Wir fürchten uns vor gewalttätigen jungen Männern. Und doch wissen wir, dass sie die Gruppe mit der höchsten Selbstmordrate sind. Wir haben keinen Platz für sie. Und darum sollte es auch gehen in meinem Buch. Die Fifties boten sich als eine gute Periode an, um solche Diskussionen anzureißen, denn damals begannen sich die Männer und Frauen neuzuerfinden. Lewis ist verloren in dieser Gesellschaft. Gott sei Dank werden ihm die 60er-Jahre zu Hilfe kommen. Wissen Sie denn, was mit ihm später pas­ sieren wird? Werden er und seine Partnerin dann ein befreites Leben führen? Jones: Ich weiß genau, was mit den beiden

Sie kommen ja aus einer künstlerischen Fa­ milie … Jones: Mein Vater war Dichter, Roman-

schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchschreiber, meine Mutter Schauspielerin. Ich wuchs also in einem sehr liberalen, kunstsinnigen London auf. Wir kannten keine Banker oder Anwälte, sondern lauter Leute, die immer hofften, dass alles gutgehen würde, aber auch damit leben mussten, wenn es nicht so war. Ich bin das Auf und Ab also gewohnt.

In einigen Rezensionen von „Der Außen­ seiter“ wurden Vergleiche mit Ian McEwan angestellt. Jones: Ich habe fast meine Zunge geschluckt,

Zur Person

als ich das las. Sehen Sie den Zusammenhang zwischen den zwei Büchern?

Sadie Jones ist in London geboren, wo sie auch heute mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern lebt. Bevor sie mit „Der Außenseiter“ ihr Debüt gab, arbeitete sie als Drehbuchautorin. Sie unternahm Reisen in die USA und in die Karibik und lebte eine Zeitlang in Paris

Ich kann mir schon vorstellen, wie man dar­ auf kommt. Es kommen Schwestern vor … Jones: … und der Wald … … und es gibt eine Schuldfrage. Jones: Allerdings. Aber lässt sich das nicht

passiert. Während des Schreibens hörte ich im Radio „Paint It Black“ – ein fantastischer Song. Und ich dachte: „Oh mein Gott, Lewis würde das lieben.“ Aber natürlich kann er das zu seiner Zeit noch nicht hören. Er weiß nicht einmal, dass er ein Am 21.10., 19 Uhr Teenager ist, er glaubt, er wäre ein versa- liest Sadie Jones in der Hauptbücherei gender Erwachsener. Ein anderes großes Thema in Ihrem Buch ist Gewalt in der Familie. Da ist ein Mann, der eine gewisse Scham dafür empfindet, dass er seine Frau schlägt. Seine Kinder zu schla­ gen findet er dagegen ganz in Ordnung. Jones: Es ist ihm wichtig, sein eigenes Be-

(7., Urban-Loritz-Platz 2a) aus ihrem hier vorgestellten Roman

nehmen zu sanktionieren. In dieser Gesellschaft gibt es das Gefühl, dass man unter dem Deckmantel der Disziplin alles rechtfertigen kann.

Immerhin gibt es im Gegensatz zu einigen von McEwans letzten Werken in Ihrem Buch angenehmerweise keine seitenlangen Pas­ sage, auf der Sie die Früchte Ihrer Recher­ chen ausbreiten. Jones: Ich hab das nicht so gerne. Entweder

eine Welt erwacht zum Leben oder nicht. Die Information, dass jemandes Schuhbänder zu 20 Prozent aus Nylon sind, nützt da nichts.

Glauben Sie, dass die Leser die Welt verste­ hen werden, die Sie beschreiben? Jones: Ich hoffe, dass es ihnen etwas über

ihre eigene Welt sagen wird und nicht bloß eine touristische Erfahrung bleibt.

Unterdrückte Sexualität? Jones: Genau. Bevor Sie dieses Buch geschrieben haben, arbeiteten Sie als Drehbuchautorin. Wie geht es eigentlich den Plänen zur Verfil­ mung von „Der Außenseiter“? Jones: Der Stoff war ja ursprünglich auch

Österreicher werden zumindest das Thema des geheimen Missbrauchs innerhalb der Familie wiedererkennen, der nach dem Fall F. ja weithin als österreichische Spezialität enthüllt wurde. Jones: Ich glaube, das gibt es überall auf der

ein Drehbuch. Aber nachdem ich ihn zu einem Buch gemacht habe, muss ich jetzt noch einmal von vorne anfangen. Ich sehe beim Schreiben immer alles dreidimensional und in Farbe vor mir, ich kann nicht anders.

Welt. Welche Familie würde Missbrauch schon öffentlich machen? Das ist doch per Definition eine geheime Sache. Es ist so ein schnell verfügbares Klischee: Was geht hinter der verschlossenen Tür vor, hinter den zuckenden Netzvorhängen der Vorstadt? In jeder Gesellschaft tun Menschen einander in ihren Häusern furchtbare Dinge an.

Was für Drehbücher haben Sie denn geschrieben? Jones: Nichts, was je produziert wurde –

bis auf einen Entwurf für einen Film mit ­Jacqueline Bisset, den ich nie gesehen habe. Ich weiß nicht einmal mehr, wie er geheißen hat. Ich habe allerhand Scripts geschrieben, die zum Teil angenommen, aber dann nie verwendet wurden – so wie das im Fernsehen ja zu 99 Prozent der Fall ist. Um ehrlich zu sein, bin ich auch nicht gut im Schreiben von Ärztedramen. Mir war einfach nie der Gedanke gekommen, ein Buch zu schreiben. Aber aus diesem Stoff

von der Hälfte aller Geschichten sagen? Es ist sehr schmeichelhaft, aber auch ärgerlich, wenn manche meinen, ich sei von Ian McEwan beeinflusst. Wenn dem so wäre, wäre ich eine viel bessere Schreiberin. Und ich hatte „Abbitte“ noch nicht einmal gelesen, als „Der Außenseiter“ schon fertig war.

Wird es eine Fortsetzung zu „Der Außen­ seiter“ geben? Die würde sich ja durchaus anbieten. Jones: Nein. Ich glaube nicht, dass Lewis

Sadie Jones: Der Außenseiter. Aus dem Englischen von Brigitte Wa­litzek. Schöffling, 410 S., € 23,60

noch eine Episode braucht, um mit sich ins Reine zu kommen. Er hat seine Krise hinter sich. Aber ich weiß, wie gesagt, genau, wie es mit ihm weitergegangen ist. Und ich verspüre immer den Drang, es den Leuten zu erzählen. Sie können’s ja mir sagen. Jones: Nein. Ich behalte das für mich.

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Die Schrecken des Eises und des Sternenhimmels

Der Affe weist den Weg zum Mädchen

Vladimir Nabokovs Romanmonstrum „Fahles Feuer“ führt in die Abgründe des vergangenen Jahrhunderts

Michael Maar blickt in „Solus Rex“ durch das Schlüsselloch des Werks auf die Person des Romanciers Vladimir Nabokov

Te x t: ERICH KLEIN

abokovs „Pale Fire“ – „Fahles N Feuer“ ist ein Monstrum: Das Buch nennt sich Roman und besteht

aus einem 40 Seiten langen Gedicht sowie einem Kommentar – inklusive Vorwort und Register mit 350 Seiten. Mit dem Bild eines Singvogels, der gegen ein das Blau des Himmels spiegelndes Fenster kracht, eröffnet der Dichter John Shade die Erzählung seines Lebens. 999 Jamben lang ziehen Kindheitserinnerungen, Tod der Eltern, die Jugendjahre bei Tante Maud bis zur ersten Begegnung mit Sally, der künftigen Ehefrau, sowie der gegenwärtige Alltag vorüber. Sarkasmus und Selbstironie sind kennzeichnend für den Bericht. Über sein pubertärphilosophisches Erschrecken bei der Betrachtung des nächtlichen Sternenhimmels schreibt Shade: „Der ganz normale Spießer, so behaupte ich, / Ist besser dran: Die Milchstraß’ sieht er nur, / Wenn er sein Wasser lässt.“

chen Rasur räsoniert Shade noch weiter: „Mich widern Dinge an wie Jazz“ (es folgt eine längere Aufzählung). Nicht nur hier teilt Shade, dem es um ein „reich gereimtes Leben“ geht, die Ansichten seines liberal-großbürgerlichen Erfinders Nabokov. Auch das Resümee von „Fahles Feuer“, dessen Autor vor der Niederschrift der letzten Zeile auf mysteriöse Weise erschossen wird, lässt sich mühelos zur Gebrochenheit von Nabokovs Biografie in Beziehung setzen: „Das Menschenleben als ein Kommentar zu wirrem Unfertigen Gedicht. Notiz für späteren Gebrauch.“ Der Lyriker Nabokov war nach der Oktoberrevolution gezwungen, seine Heimat zu verlassen, sein späteres Werk verfasste er auf Englisch und in Prosa. Der an Abstrusität und spiegelspielerischer Fantastik nicht zu überbietende Kommentar aus der Feder von Shades Freund und Herausgeber Kinbote, der daran anschließt, führt „Fahles Feuer“ Schritt für Schritt zu jener Frage, die den eigentlichen Gegenstand des Buchs darstellt: „Was bedeutet es, das 20. Jahrhundert mit all seinen Tragödien und Schrecken zu überleben und darüber ein Gedicht zu schreiben?“ Die Empfehlung des Autors, sich zwei Exemplare des Buchs zu kaufen, eines davon zu zerschneiden und als Kommentar in das Leseexemplar des Gedichts einzulegen – darf man beherzigen. Auf nach Zembla, in die HeiF mat von Kinbote!

Nach 40-jähriger Ehe mit Sybil wundert er sich noch immer dankbar, wie diese erdulden konnte, „dass dieser täppische, hysterische John Shade / Dir das Gesicht und Ohr und Schulterblatt abschleckte?“ Allerdings hat die Zweisamkeit in der amerikanischen Uni-Kleinstadt längst ihren idyllischen Charakter verloren – Tochter Hazel ist in einer Winternacht nach ihrem ersten Date beim Gang über einen zugefrorenen See ertrunken: Vermutlich war es Selbstmord. Stilistisch souverän verwebt der liest aus als Lyriker viel zu wenig bekannte Nabokov hier eine Paraphrase des ErlköVladimir Nabokov: nigs, den Alltag der 50er-Jahre (das Fahles Feuer. Aus Zappen durch sämtliche FernsehkaDiogenes Verlag dem Englischen näle erfolgte noch durch wildes Hervon Uwe Friesel umdrehen „am Karousell“ ) und ausund Dieter E. schweifende Kulturkritik ineinan24. Oktober 19 Uhr Zimmer. Rowohlt, der:Freitag, Hemingway bekommt2008, sein Fett 6., Mariahilfer Straße 99, 01/595 45 50, Eintritt frei 601 S., € 28,80 sowieso ab, während der morgendli-

Benedict Wells

„Becks letzter Sommer“

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„Architektur Wien – 700 Bauten“ Donnerstag, 30. Oktober 2008, 19 Uhr 6., Mariahilfer Straße 99, 01/595 45 50, Eintritt frei

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Te x t: FR ANZ KOGLMANN

er zum Teufel hat die Bücher W verfasst?“, heißt es im Vorwort von Michael Maars höchst anregendem und sehr empfehlenswertem Buch über den „Zauberer“ Vladimir Nabokov. Und tatsächlich ist es nicht ganz einfach zu konstatieren, wer eigentlich der Urheber von „Fahles Feuer“ ist und „ob es der Schriftsteller Sebastian Knight war, der seinen brüderlichen Biographen erfunden hat, oder umgekehrt“.

Der Rätselcharakter im Werk dieses genialen Einzelgängers der Weltliteratur ist es natürlich nicht allein, der dessen Überleben sichert. Neben dem unglaublichen Reichtum an glitzernden Details gilt es auch die Abgründe, die „kleinen harten Wahrheiten“ hinter den funkelnden Preziosen zu erforschen. Dies, also die Frage nach dem Ich des Dichters, welches sich über das Werk erschließen ließe, kann als das eigentliche Anliegen von Maars Untersuchung der „schönen bösen Welt des Vladimir Nabokov“ angesehen werden. Maar führt uns in einer Reihe von Werkanalysen in die inneren Befindlichkeiten Nabokovs. So wird etwa die Ermordung des Vaters durch einen zaristischen Offizier als „Urtragödie“ angesehen, die Nabokovs „sprudelnde Produktion“ ins Rollen brachte und die dem Gesamtwerk einen „Luftzug ins Jenseits“ verpasste. „Man übertreibt nur wenig, wenn man sagt, dass es in Nabokovs Werk spukt.“ Tatsächlich finden wir uns im Schaffen des großen Magiers in nicht geringem Maße mit weiterlebenden Verstorbenen, aus dem Jenseits gelenkten Geschicken, mitunter auch schwer fassbaren Geisterreichen konfrontiert – selbstverständlich ohne jemals an esoterisch-mystische Hirnverbranntheiten zu erinnern, davor bewahren uns schon Nabokovs Witz und Ironie. Anagramm-Aufdecker, literarische Spiritisten und sonstige Geheimnisentschlüssler spielen in der internationalen Gemeinde der Nabokovians dementsprechend eine nicht unwesentliche Rolle. Selbst Nabokovs Witwe Vera bemerkt in einer Ausgabe der russischen Gedichte ihres Mannes, jede seiner Seiten trage wie ein Wasserzeichen die Durchdringung mit dem „hereafter“, potustoronnost. (Nachzulesen in den Anmerkungen, die ein überaus reichhaltiges Buch im Buch bilden). Sehr konzentrierte Aussagen finden sich zu Nabokovs berüchtigten „Bannsprüchen über falsche Götter und überschätzte Zwerge wie Dostojewski, Stendhal, Balzac, T.S.

Eliot oder Thomas Mann“. Die Verachtung für Letzteren saß tief. „Wie konnte man diesen Quacksalber in einem Atemzug mit Proust und Joyce nennen?“ Und doch gibt es unübersehbare Gemeinsamkeiten, wie Maar in seinem brillanten Vergleich von Manns Erzählung „Der kleine Herr Friedemann“ mit Nabokovs Antwort darauf, der 1924 verfassten Geschichte „Der Kartoffelelf“, aufzeigt. „Langgehegte Feindschaft lässt auf Gemeinsamkeiten schließen“, konstatiert Maar. Und: „Wie Freud und Dostojewski besetzt auch Thomas Mann ein paar Posten auf dem Grenzgebiet, das Nabokov für sich allein reklamiert.“ Keinerlei Vorurteile hegte Nabokov – wie jeder Kenner seiner amerikanischen Vorlesungen „Die Kunst des Lesens“ weiß – gegenüber Marcel Proust. In seiner „Lolita“-Analyse bemerkt Maar denn auch: „Von Anfang an durchziehen den Roman Anspielungen auf die ,Suche nach der verlorenen Zeit‘. Humbert ist Proust-Kenner, er erklärt, seine Phantasie sei proustianisiert.“ In „Ada“ wird Proust dann allgegenwärtig, und Maar kommentiert den Satz „But you’ve had too much Marcel“, dies könne nur „darum nicht über Nabokovs Gesamtwerk stehen, weil man von Marcel gar nicht genug bekommen kann“. Bleibt mit „Lolita“ Nabokovs „rätsel-

haftester“ Roman als Instrument der Annäherung an die erotische Befindlichkeit des Autors. Die oft aufgeworfene Frage, ob Humberts glühendes Begehren auch das seines Autors hätte sein können, wird von Maar vorsichtig bejaht: „Die Fehlspuren, die Nabokov legt, sind beachtlich; am bekanntesten ist die Geschichte vom Affen im Jardin des Plantes, der seine Gitterstäbe gemalt und Nabokov dadurch zu ,Lolita‘ angeregt haben soll. Wie soll man aber vom Affen aufs unwiderstehliche Mädchen kommen, wenn man es nicht schon davor im Kopf hatte?“ F

Franz Koglmann ist Musiker und Komponist. Seine Nabokov-Hommage „Lo-lee-ta“ wird am 12.12. im Funkhaus aufgeführt.

Michael Maar: ­Solus Rex. Die schöne böse Welt des Vladimir Nabokov. Berlin Verlag, 204 S., € 22,70

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Diese Stories enthalten 97% Wahrheit David Sedaris hat sich einen Urinbeutel andrehen lassen und mit dem Rauchen aufgehört Te x t: K ARL A. DUFFEK

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ssays“ nennt David Sedaris seine stark autobiografisch getönten Kurzgeschichten, die ihn in den letzten zehn Jahren als erstklassigen Humoristen berühmt gemacht haben und von denen nun eine weitere Sammlung vorliegt. Zu 97 % seien die Stories wahr, behauptet der Autor in einem Interview. Das mag wohl ein bisschen hoch gegriffen sein. Denn wenn all das mehr oder weniger stimmt, was Sedaris in seinen Texten, Theaterstücken und Radiogeschichten über sich, seine Eltern und Geschwister oder seinen Lebensgefährten preisgibt, dann müsste er schon in einem außerordentlich seltsamen Umfeld leben.

Glaubt man eine Erzählung im neuen Band, so unterstützten Sedaris’ Eltern zunächst seine frühen Schreibversuche und ermunterten ihn geradezu, Selbsterlebtes als Material zu verwenden. Sie änderten ihre Haltung jedoch, als eine der ersten Veröffentlichungen beschrieb, wie der Vater einst in den Brunnen des Nachbarn geschissen hatte. Nach dem Beginn der Lektüre „standen sie auf und zogen die Vorhänge zu. Nach den nächsten 50 Seiten vernagelten sie die Haustür und überlegten, wie sie sich am besten verkleiden konnten. Anderen Leuten gefielen meine Geschichten, aber die beiden wussten partout nichts damit anzufangen.“ Das wird auch für jene feine Geschichte gelten, die vom Versuch der Eltern handelt,

sich als Kunstsammler zu geben. Schon bald stellt sich freilich heraus, dass die Heimat der Familie, das östliche North Carolina, „kein fruchtbarer Boden für künstlerische Genies“ ist. Das hindert aber nicht am eifrigen Erwerb von „der Art von Kunst, die zusammen mit Windspielen in Galerien ausgestellt wurden, die Namen wie ‚Kunst und Meer‘ oder ‚Sonnentanz‘ hatten und fast immer in Ferienorten lagen.“ Die Veralberung der engsten Umgebung verzeiht man Sedaris, weil er mit niemandem so hart ins Gericht geht wie mit sich selbst. Jede kleinste eigene Schwäche kann zum Thema eines Essays werden. Da ist etwa seine Vorliebe für Accessoires, die ihn einen „Stadium Pal“ kaufen lässt. Dieser Stadion-Freund ist ein an der Wade befestigtes Behältnis, das mittels eines Schlauchs mit dem Penis verbunden ist und eine beträchtliche Menge Harn aufnehmen kann – sehr nützlich nicht nur für Besucher von ausgedehnten Sportveranstaltungen, sondern auch für längere Lesungen oder überbuchte Flüge. Sollte man meinen. „Ich musste sehr bald feststellen, dass ein Katheter im Krankenhaus angebracht sein mag, im alltäglichen Gebrauch aber eher unpraktisch ist. In einem Freiluftstadion mag ein dampfend heißer 1-Liter-Beutel Urin unbemerkt bleiben, nicht aber in einem engen Flugzeug oder einem vollbesetzten Buchladen. Eine Stunde, nachdem ich ihn eingeweiht hatte, roch ich wie ein Pflegeheim.“ Auf ernstere Schwächen bezieht sich die mit Abstand längste Geschichte des

Bandes. Sedaris beschreibt das aufwendige Vorhaben, sich das Rauchen abzugewöhnen. Es gelingt letztlich, fällt aber deutlich schwerer, als sich vormals von Drogen und Alkohol zu verabschieden. Da waren die Ausfallserscheinungen nach kombiniertem Konsum freilich schon beträchtlich: „Rief mich jemand um elf Uhr abends an, hatte

David Sedaris: Schöner wird’s nicht. Aus dem Amerikanischen von Georg Deggerich. Blessing, 320 S., € 20,60

ich nach etwa einer Minute vergessen, wer am Apparat war. Dann fiel es mir wieder ein und aus lauter Freude darüber zog ich erst einmal kräftig an meinem Bong. Noch schlimmer war es, wenn ich der Anrufer war. ‚Ja‘, sagte ich. ‚Kann ich bitte mit … äh, na, du weißt schon. Der mit den braunen Haaren? Fährt einen Van mit seinem Namen drauf?‘ ‚Ist da David?’ ‚Ja.‘ ‚Und du möchtest deinen Bruder Paul haben?‘ ‚Genau.‘“ Auf dem Weg zum Nichtraucher hat Sedaris viele witzige Begegnungen, gleichzeitig ufert aber das Erzählen hier unnötig aus und stört jene Prägnanz, die sonst zu den großen Stärken des Autors gehört. Darüber hinaus zieht sich nicht nur durch diese Geschichte eine gewisse Midlife-Weinerlichkeit des Autors. Gerade in der Rückschau auf die eigene Kindheit entwickelt sich daraus eine verklärende, manchmal schwer erträgliche Sentimentalität. Das Lesevergnügen wird dadurch aber nur unwesentlich geschmälert. Sedaris gelingt einmal mehr ein gutes lustiges Buch. F Das ist keine kleine Leistung.

„Welcher Fernsehhitler ist nur auf die verfickte Nazi-Idee gekommen, den verschmitzten Inspector Columbo von einer Warsteiner-Sau synchronisieren zu lassen“ HEINZ STRUNK: „DIE ZUNGE EUROPAS“ SEITE 24

Foto aus der Serie „Türkisches Wien“ von Katharina Gossow

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Ein Märchen aus den uralten Zeiten In „Der Turm“ verlegt Uwe Tellkamp den klassischen bürgerlichen Familienroman in die versinkende DDR te x t: SABINE FR ANK

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n einer Zeit, in der der deutschen ­Gegenwartsliteratur oft vorgeworfen wird, zu wenig „welthaltig“ zu sein, handelt der neue, gewaltige Roman des 1968 geborenen Autors Uwe Tellkamp über fast 1000 Seiten von einer kleinen Insel. Man befindet sich in Dresden, es sind noch sieben Jahre bis zum Untergang der DDR, die Rede ist von einem Wohnviertel hoch über der Stadt mit malerischen Villen hinter verschnörkelten Jugendstilzäunen, eine verträumte Welt voller „SandsteinSchneckenwedel“, Tapetentüren und versteckten Wintergärten.

Bildungsbürger im Elfenbeinturm Die Gebäude tragen Namen wie „Delphinenort“ oder „Felsenburg“ und es sind die letzten Elfenbeintürme des Bildungsbürgertums, das in der DDR eigentlich ein Anachronismus sein sollte. Hier war man unter sich: Mediziner, Literaten, Physiker, Musiker, der VEB-Fabrikdirektor – abgeschottet, eingeengt, aber behaglich eingerichtet. Wie auf trutzigen alten Schiffen steuern die Bewohner in diesen Häusern dem drohenden Untergang ihrer Insel entgegen. Christian Hoffmann will Arzt werden wie sein Vater Richard, der als Unfallchirurg in einer Dresdner Klinik arbeitet. Es ist das Jahr 1982, und der aknegeplagte Schüler schäumt vor Ehrgeiz und Bildungseifer fast über. Nebenbei muss er üben, wie man „Rotfront argumentiert“, ohne seine wahre Gesinnung zu offenbaren – ein Erziehungsprogramm seines Vaters, dem dies selbst jedoch nicht immer besonders gut gelingt. Der Schwager Meno Rohde hingegen hat die Kunst der Unverbindlichkeit über die Jahre perfektioniert. Als junger Naturwissenschaftler noch für ideologisch ungeeignet befunden und aus der „sozialistischen Zoologie“ entlassen, ist er nun Lektor eines wichtigen Literaturverlags und in höchsten Zirkeln unterwegs. Vom Vater lernt Christian, dass man wendig sein muss, wenn man seinen Kopf retten will. Von Meno lernt er den genauen Blick und das leidenschaftliche Bemühen um präzisen sprachlichen Ausdruck. Denn Meno schreibt an einem wuchtigen Gesang der mythisch werdenden Erinnerung, einem tiefgängig verklausulierten, poetisch mäandernden Prosatext, wie er vielleicht typisch für eine Art inneren Emigrantentums der DDR erscheinen mag.

Selbstmord und Stromausfall Menos Aufzeichnungen stellen neben Christians und Richards Blickwinkel die dritte Perspektive in dem vielgestaltig aus Briefen, Träumen, Rückblenden, Fakten und konventionellen Erzählpassagen konzipierten Roman dar. Um diese drei zentralen Gestalten rankt sich ein weit verzweigtes Geflecht von Figuren – genannt seien ein hofierter, aus dem englischen Exil in die DDR zurückgekehrter jüdischer Autor, Arbeiter aus einer Karbidfabrik und zwei ehemalige Voltigierreiterinnen des Zirkus Sarrasani. Der Roman erschöpft sich jedoch nicht in Milieus und Weltanschauungen. Es geht auch um die Wahrnehmung der Zeit, die

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gebremst dahinzufließen scheint, selbst die Elbe, „graubraun geschuppt, glich einem Saurier, der träge vorwärtskroch“. Im Land mehren sich Versorgungsengpässe und Stromausfälle; man weiß von Ausreiseanträgen, erfährt von Selbstmorden, unter Freunden werden Witze über die alten Herren an der Regierungsspitze gerissen; Zeile für Zeile analysiert man Nachrichten aus Moskau in der Hoffnung auf Wandel, und doch verhält man sich abwartend und müht sich, mehr oder weniger resigniert, menschlich und beruflich redlich zu bleiben und das Beste zu geben. Man konzentriert sich auf das, was man hat, was vor allem heißt, aufs Detail zu achten: „Die Türmer hörten Tannhäuser in sieben verschiedenen Aufnahmen und verglichen sie miteinander.“ Literatur, Malerei, Theater, Musik, all das wird ausführlich zelebriert, manchmal so sehr, dass man, etwa beim ausufernden Gewese zum 50. Geburtstag von Vater Hoffmann, ungeduldig einwerfen möchte: Leute, das aufwendig beschriebene Essen wird kalt! Aber hier läuft eben niemandem die Zeit davon, alles wird bis in die letzte Nische auserzählt – typische Symptome des Inseldaseins.

Süße Krankheit Gestern Harmlos ist das längst nicht mehr, insbesondere Christian ist von der „süßen Krankheit Gestern“ befallen, wie eine Droge braucht er Bücher, Musik, das bürgerliche Idyll. Er denkt in den Schablonen, die ihm in Opern und Romanen vorgegeben wurden, und bringt, etwa als er sich das erste Mal verliebt, den Brückenschlag zum wahren Leben nicht zustande. Dabei wird der Raum für Eskapismus für alle zunehmend begrenzter. Wer fremdgeht, wird damit erpresst, wer sich im Schuppen ein Fluchtflugzeug zusammenbastelt, „ä rischtsches Fluchopp-jekt“, wird verhaftet. Auch Christian gerät, kaum dass ihm der begehrte Medizinstudienplatz zugeteilt ist, unter die Räder. Nach üblen Drangsalierungen bei der Armee landet er im berüchtigten Schwedt zum Strafarrest und als Arbeiter in einem chemischen Betrieb, wo er unter menschenunwürdigen Zuständen schuftet. Hier ist er fern von der vertrauten Welt, die träumerisch ein versunkenes Dresden heraufbeschwört und die auch für die real existierenden Orte der Gegenwart verwunschene Ortsbezeichnungen pflegt: „Laurasien“, „Westelbien“, „Ostrom“, „Kupferinsel“ und „Tausendaugenhaus“. Es wird mythisch gesprochen, um zu verschleiern, aber auch um dem Märchenhaften Geltung zu verschaffen, Stimmungen zu fixieren, die weichen, vagen Züge der Realität, die sich im im Bereich des Subjektiven und potenziell Unwirklichen bewegt.

Uwe Tellkamp zeigt ein Milieu, das es in der DDR eigentlich gar nicht geben hätte dürfen: Behaglich eingerichtet und Wagner hörend steuert es seinem Untergang zu

Die Schönheit der Braunkohle

Ohne Bitterkeit und Ressentiment Was nicht heißt, dass Tellkamp sich nicht an Faktisches halten würde. Geradezu lückenlos wirkt die Dokumentation des DDRLebens, nichts scheint zu fehlen, das Anstehen vor den Geschäften, die Urlaubsreise an die Ostsee mit FKK-Episode, der Behördentag. Alles wird derart vollständig abgehandelt, dass sogar Tellkamp selbst mit vorkommt, flüchtig in einer Nebenrolle als Krankenhausarzt. Und mehr noch:

Ähnlich wie Christians Lieblingslektüre ist auch Tellkamps Roman „ein Buch, das von einer lange versunkenen Zeit (…) erzählte. Es wimmelte darin von Namen, Anspielungen, Zitaten, (…) ein Wiedererkennungseffekt, der ihn begeisterte“. So ist „Der Turm“ nicht nur ein episch angelegter Familienroman, sondern auch ein fein gearbeiteter, genau erinnerter und recherchierter Geschichtsroman, der sich an der Wirklichkeit entlangarbeitet. Christians Biografie trägt Spuren von Tellkamps eigener, zudem hat „Der Turm“ Züge eines Schlüsselromans. Bis in scheinbar unbedeutende Nebensächlichkeiten ist er präzise nach realen Personen und Vorkommnissen modelliert, sodass sich ein Insiderpublikum auf Wiederbegegnungen mit alten Bekannten freuen kann. Doch nicht um Aufdeckung geht es, sondern darum, Geschichte mit den Mitteln des Romans anschaulich, erfahrbar und plausibel zu machen. Tellkamps Roman ist demnach nicht nur welthaltig, sondern auch aktuell, denn er betrachtet Geschichte und Mythos von innen und außen, zu einer Zeit, in der die Geschichte gerade erst zum Mythos wird. Es ist ein Buch für Insider, Erinnernde, die selbst dabei waren, wie es auch ein Buch für die Nach- und Nebenwelt ist, die Nacherlebenden, für die dieser Teil der Geschichte immer etwas Erzähltes ist, das nur von außen betrachtet werden kann. Tellkamp hat der deutschen Literatur frei von Bitterkeit und Ressentiments einen Erfahrungsschatz schriftlich gesichert, der unbedingt erzählenswert war, nicht zuletzt deshalb, weil er uns sonst möglicherweise unmerklich wieder entglitten wäre.

Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Suhrkamp, 976 S., € 25,50

Der Stil der Dresdner sei immer der Stil der Alten gewesen, sagt Baron Arbogast einmal, und so ist es nur konsequent, dass der Roman in der eleganten, gediegenen und eigentlich überkommenen Sprache des klassischen bürgerlichen Familienromans geschrieben ist. Bis ins Feinste ausziseliert, bisweilen assoziativ ins Lyrische ausufernd oder genüsslich ins Karikaturistische überdehnt, mit sächsischem Dialekt gewürzt und subversiven Witzen gespickt. Tellkamp zieht viele Register. Er schwelgt in beschaulichen Beschreibungen von Familienszenen, gewinnt aber auch der Braunkohle und chemischen Dämpfen Schönheit ab. Virtuos hat er den reichhaltigen Stoff kontrolliert bis zuletzt, wo im furiosen Gewirr der Stimmen, Rollen und Perspektiven eine Ära endet, im Chaos des Wendeherbstes, als jahrelang Aufgestautes sich Bahn bricht und dem Sozialismus seine letzte Utopie nimmt: den Stillstand. Christian ist zuletzt ein Mensch, der zwar Regungen verspürt, aber keine Richtung sieht. Fast unmerklich geraten er und die seinen aus dem Blick, während die Masse alles überrennt. Und doch wollen diese Figuren nicht verschwinden. Dringlich bleibt der Gedanke, wie es ihnen ergehen mag, wohin es sie treibt, welche Richtung sie einschlagen. Nicht von ungefähr endet dieser bedeutende Roman mit einem Doppelpunkt im Offenen. Gäbe es einen zweiten Band – man würde ihn sofort lesen. F

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Flucht aus dem Paradies der Werktätigen Mit „Adam und Evelyn“ erzählt Ingo Schulze das Ende der DDR nach bekanntem Schnittmuster neu TOBIAS HE YL

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Ingo Schulze lässt den Sommer 1989, als der Neuanfang in der Luft lag, noch einmal aufleben: präzise, leicht und selbstironisch

Benedict Wells

„Becks letzter Sommer“

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Das Paradiesmotiv greift Schulze für seinen

jüngsten Roman, im Verhältnis zu „Neue Leben“ ein schmales Scherzo, noch einmal auf und spinnt daraus eine Geschichte über den wundersamen ungarischen Sommer des Jahres 1989. Die Haupt- und Titelfiguren heißen Adam und Evelyn, beide wieder aus der thüringischen Provinz. Dort gab es vor 1989 noch Damenschneider und Adam war ein besonders begnadeter unter ihnen. Seine Kundinnen jedenfalls hatten nichts dagegen, wenn er sich auch nach der Anprobe und dem obligatorischen Foto des fertigen Modells um sie kümmerte – in einer Weise, die seine Frau Evelyn verständlicherweise in die Eifersucht trieb. Im Sommer 1989 erwischt sie ihn mal wieder in flagranti und verlässt das gemeinsame Häuschen, das man sich, umgeben von alten Bäumen, ein bisschen wie das Paradies vorstellen könnte – wären die Paradiese der Werktätigen nicht mit Plattenbauten vollgestellt gewesen. Evelyn zieht zu einer Freundin, die gerade einen Verwandten aus der Bundesrepublik zu Besuch hat; der heißt nicht zufällig Michael, wie der Erzengel. Sie bleibt dort nicht lange, denn die drei machen sich schon bald auf den Weg nach Ungarn, Ferien am Plattensee, Weiterreise in die Bundesrepublik nicht ausgeschlossen. Adam fährt ihnen hinterher, gabelt unterwegs noch eine junge Frau namens Katja auf, die bei einem Fluchtversuch alle Papiere verlo-

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präsentiert sein Buch

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„Architektur Wien – 700 Bauten“

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Donnerstag, 30. Oktober#" 2008, 19 Uhr 7[eW`efSVf :SkV`Y 6., Mariahilfer Straße 99, 01/595 45 50, Eintritt frei

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nd plötzlich, nach 40 Jahren des Wartens, waren die Tore zum Paradies weit geöffnet. Wochenlang hatten tausende Bürger der DDR im Sommer 1989 auf ungarischen Campingplätzen, in Pensionen und Privatquartieren ausgeharrt. Viele von ihnen waren eigentlich nur gekommen, um Urlaub zu machen. Der 19. August sollte ihr Tag werden: Ein großes Loch tat sich auf im Eisernen Vorhang, der schon seit dem Frühjahr porös geworden war. Hunderte krabbelten hindurch auf die burgenländische Seite, um von dort aus in die Bundesrepublik weiterzureisen, die ihnen jahrzehntelang als das Paradies auf Erden erschienen war. Dass das Loch im ungarischen Maschendraht den Zusammenbruch der Berliner Mauer vorwegnehmen sollte, hat damals glücklicherweise niemand so richtig geahnt: Sonst hätte man sich in Ostberlin und Moskau möglicherweise Gegenmaßnahmen ausgedacht. Dort interpretierte man die Ereignisse ja bekanntlich etwas anders: als eine Flucht aus dem Paradies (nämlich dem der Werktätigen). Bereits in seinem episch breiten Roman „Neue Leben“ von 2005 hat Ingo Schulze das Paradiesmotiv als eine ostdeutsche Obsession eingeführt. Wie ein Virus, so erzählte er damals, habe sich der Westen in den Köpfen östlich der innerdeutschen Grenze eingenistet. Im Westen gab es alles im Überfluss, niemand musste Mangel leiden, die Städte trugen so klangvolle Namen wie Karlsruhe und Garching (nicht etwa: Leipzig oder Borna) – und sogar das Benzin duftete dort, so wurde zuverlässig kolportiert, nach Veilchen.

Europas und seiner Bewohner aus einer Unzahl chaotisch untereinander kommunizierender Episoden hochschaukelte. Kaum einer denkt heute mehr an die Zwei Männer und drei Frauen, das kann nicht ­damaligen Sorgen, welche politischen Konnur in erotischer Hinsicht kompliziert sequenzen die wilde, massenhafte Flucht werden. Um es kurz zu machen: Am Ende der Ostdeutschen nach sich ziehen könnkommt es zur Wiedervereinigung von te. Viel stärker im Gedächtnis geblieben ist Adam und Evelyn, und Katja reist mit Mi- die euphorische, übermütige Stimmung, chael ins Paradies. Und während sich die die von den Campingplätzen via Fernseher beiden Frauen dort sehr schnell mit gerade- auf den Westen übergriff. zu blinder Sicherheit zurechtfinden, bleibt Nicht alle Sachsen in Badehose und BiAdam für immer der stille Verlierer: Denn kini konnten es mit Adam und Eva aufnehauf Damenschneider glaubt man im Wes- men. Aber ohne dass man sich dessen daten schon lange verzichten zu können. mals richtig bewusst war, lag ein großer, Zugegeben: Auf den ersten Blick wirkt elementarer Neuanfang in der Luft. Wie es vielleicht etwas gesucht, wie Schulze er fast 20 Jahre später diesen euphorischen die Geschichte der deutschen Vereinigung Moment so präzise, leicht und selbstiroals die umgekehrte Geschichte vom Sün- nisch noch einmal aufleben lässt, bestätigt denfall erzählt. Noch in den kleinsten De- einmal mehr die Ausnahmestellung des tails platziert er Anspielungen auf den bi- Schriftstellers Ingo Schulze. blischen Stoff. Nun erschafft aber Schulze Wie sein Held Adam ist Schulze ein virsein literarisches Paradies mit einer Leich- tuoser Handwerker. Und er ist ein großer tigkeit und Eleganz, die alle Befürchtun- Einzelgänger, der sich mit gespielter Naliest aus gen aufgesetzter Bedeutungsschwere nach ivität dem deutschen Hang zum Großen wenigen Seiten widerlegt. und Grundsätzlichen entzieht. Wie er PoDie Handlung entwickelt sich zum größ- litisches und Privates, die Ökonomie und ten Teil aus Dialogen: Und wie Schulze Di- die Erotik, den VW Passat und den WartDiogenes Verlag aloge schreibt, das macht ihm unter seinen burg miteinander verwurstelt zu einer GeKollegen im Moment keiner nach. Wir lesen schichte, die am Ende so einfach und komnicht die gravitätische Nacherzählung ei- pliziert zugleich ist wie die umgekehrte Freitag, 24. Oktober 2008, 19 Uhr nes – eben doch – welthistorischen Augen- Geschichte vom Paradies: Das ist die gro6., Mariahilfer Straße 99, 01/595 45 50, Eintritt frei von 1989, auf blicks, wir erleben vielmehr noch einmal, ße, vielstimmige Erzählung wie sich die grundlegende Verwandlung die wir viel zu lange warten mussten. F

ren hat und nun in seinem Kofferraum erstaunlich unbehelligt von der Tschechoslowakei nach Ungarn reisen kann.

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06.10.2008 15:34:31 Uhr

Hallwag Weinseminar

Alles rund um den Wein inkl. Weinverkostung Ingo Schulze: Adam und Evelyn. Berlin Verlag, 314 S., € 18,50

Mittwoch, 5. November 2008, 19 Uhr 6., Mariahilfer Straße 99, 01/595 45 50, Eintritt frei

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Liter atur

Die kluge Tochter einer hirnlosen Frau

Nichts schmeckt so gut, wie Dünnheit sich anfühlt

Mit „Scherbenpark“ legt die 30-jährige Alina Bronsky ein hinreißendes Debüt mit ebensolcher Heldin vor

Der fulminante Heinz Strunk folgt einem hitzegeplagten fettleibigen Gagschreiber bis in den Pensionistenpark Weg.

Te x t: K I R S T I N B R E I TE N F E L L N E R

anchmal denke ich, ich bin die M Einzige in unserem Viertel, die noch vernünftige Träume hat. Ich habe zwei, und für keinen brauche ich mich zu schämen. Ich will Vadim töten. Und ich will ein Buch über meine Mutter schreiben. Ich habe auch schon einen Titel: ,Die Geschichte einer hirnlosen rothaarigen Frau, die noch leben würde, wenn sie auf ihre kluge älteste Tochter gehört hätte.‘“ „Scherbenpark“, das Debüt der erst 30-jährigen Alina Bronsky beginnt fulminant. Das Bemerkenswerte aber ist, dass das Buch, das es vom unverlangt eingesandten Manuskript gleich zum Spitzentitel brachte, dieses Tempo auch bis zum Ende durchhält.

Die Ich-Erzählerin Sascha Naimann,

Als Sascha in der Zeitung einen Artikel über Vadim liest, der die Perspektive des Täters einnimmt, und sie auch noch dahinterkommt, dass Maria einen Liebhaber hat, bekommt ihr Leben eine unvermutete Wendung – und Alina Bronsky erst so ­richtig Gelegenheit, ihre Erzählkunst zu beweisen. Neben der keineswegs selbstverständlichen Fähigkeit, das Lebensgefühl einer Pubertierenden in glaubwürdige Worte zu fassen, beweist die Autorin auch noch eine ­außergewöhnliche Treffsicherheit in den Dialogen und Milieuschilderungen sowie jenes Gespür für Abstand und Nähe zu den Figuren, das Literatur erst zum Schillern bringt. Sascha nimmt sich eine Auszeit von zuhause und quartiert sich beim verständnisvollen Redakteur ­Volker Trebur (der indirekt für den Artikel über Vadim verantwortlich zeichnet) und dessen 15-jährigem Sohn Felix ein; und macht eine Menge neuer Erfahrungen, die man ihr gar nicht so recht zugetraut hätte. Die beiden eingangs erwähnten Träume werden natürlich nicht verwirklicht – trotzdem oder gerade deswegen muss man diese ungewöhnliche Heldin kennenlernen, die einen oft mit ihrer Altklugheit rührt und immer wieder einfach nur klug ist: „Fürchte diejenigen, die sich schwach fühlen, denke ich einmal mehr. Denn es kann sein, dass sie sich eines Tages stark fühlen wollen und du dich nie F wieder davon erholen wirst.“

wie ihre Autorin Migrantenkind, ist im Hochhauskomplex mit dem absurden Namen Solitär als Musterschülerin eines Elitegymnasiums eine Außenseiterin und mit ihren 16 Jahren schon mordsmäßig abgebrüht. Mordsmäßig im wahrsten Sinne des Wortes, denn der erwähnte Vadim hat ihre Mutter und deren neuen Lebensgefährten umgebracht, was der Familie – Sascha und den zwei Halbgeschwistern Anton und Alissa – mittels Boulevardpresse zu trauriger Berühmtheit verhalf. Ihre eigene Gefährdung ignoriert Sascha mithilfe ihrer „Nerven aus Stahl“ (deren sie sich ständig rühmt) und dem immer wieder unvermittelt auftauchenden „grauen Nebel“ in ihpräsentiert Buch rem Kopf. Stolzsein darauf, niemals zu weinen und alle Männer (und womöglich auch Frauen) zu hassen, gibt sie den Kopf jener kleinen Rumpffamilie, Alina Bronsky: deren nominellen Vorstand, die aus Scherbenpark. Russland angereiste Maria, sie ebenRoman. Kiepenso wenig ernst nimmt wie die „DopDienstag, 28. Oktober 2008, 19 Uhr heuer & Witsch, pelnamen vom Jugendamt“, die stänHauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, 287 Eintritt frei S., € 17,50 dig3., vorLandstraßer der Tür stehen.

Gerald Gross

„Wir kommunizieren uns zu Tode. Überleben im digitalen Dschungel“

Michael Stavaric präsentiert sein Buch

„magma“ Freitag, 14. November 2008, 19 Uhr 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei

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te x t: TEX R U B I N O W I T Z

s ist heiß im neuen Buch von E Heinz Strunk, das war schon im Vorgänger „Fleisch ist mein Gemüse“

meistens so, um Beklemmungen haptisch zu machen, denn weder Herbsttristesse mit verfaultem Laub noch Schneematsch in früher Dunkelheit sind so menschenfeindlich wie bleierne Hitze in der Stadt. Markus Erdmann, der Protagonist in „Die Zunge Europas“, brütet dumpf in seiner Stube Gags aus für einen sogenannten Uhu, einen Comedian, der nur Säle unter 100 zu füllen imstande ist. Als Kind verfügte Erdmann noch über ein Enzym, das Hitze in Glück verwandeln konnte, jetzt ist sie ihm nur noch eine Last, in der der Hass keimt – vor allem auf Schönheit in Gestalt von unerreichbaren Frauen und Mädchen, die niemals schwitzen. Wenn sie an ihm vorübergehen, holt er tief Luft, als ob er seine Lungen mit ihrem Duft vollpumpen könnte. Er wünscht sich „Heilung durch Nichtbeachtung“. Erdmann wird fett – gleichzeitig faszi-

nieren ihn die komischen Aspekte der Adipositas, er schlingt sein Essen in sich hinein, denn „der schnelle Esser ist wie eine stolze Kerze, die an beiden Enden brennt, während der langsame Esser einem miesen Teelicht gleicht, das sinnlos vor sich hinglimmt, langsames Essen ist schlimmer als Gewalt gegen Sachen“. Und er durchforstet Zeitschriften nach Dickenmeldungen, um sie in seine Gags einzubauen; dass man beispielsweise 272 Kalorien verbrennt, wenn man nach Würmern gräbt, und 238, während man den Hund wäscht. Treppenkinn, Röllchenalarm. „Das aus dem Hosenbund quellende Fett heißt ab sofort nicht mehr ,Hüftgold‘ (das ist verbraucht), sondern ,Elchschaufeln‘ Anweisung von ganz oben – also von mir.“ Erstmal alles aufschreiben, sammeln, Halbsätze, Unzusammenhängendes, diffuse Bilder, inneres Gestammel … Daraus bastelt Erdmann seinem Uhu-Komiker die Gags. Überall kann er fündig werden, in Kontaktanzeigen – „Nur heute. Polin mit Hut“ – und im Fernsehen: „Ein Reiter ohne Pferd ist nur ein Mensch, aber ein Pferd ohne Reiter ist immer noch ein Pferd.“ Das Problem aber ist, dass diese Meldungen nur in einem bestimmten Kontext komisch sind, weshalb dem Uhu langsam das Publikum wegläuft. Doch Erdmann sammelt wie manisch Sätze und Meldungen und kombiniert sie. So entstehen eigene Kreationen, bei denen die Grenzen zwischen Meldung, Werbung und konkreter Poesie am Ende nur noch schwer auszumachen sind. „Nichts

schmeckt so gut, wie Dünnheit sich anfühlt“ könnte eine Halbfettmargarine bewerben, ein Kippenbergeroder Fassbinder-Zitat sein. „Die Wohnung bedarf kräftiger floraler Akzente.“ Erdmann/Strunk ist von solchen Formulierungen ebenso fasziniert, wie von lebensfeindlichen, unwirtlichen Orten, die eine schwer zu erklärende Magie ausstrahlen. In „Fleisch ist mein Gemüse“ waren das noch muffige Spielautomatenhallen im Zwielicht, hier sind es verwüstete Parkrudimente, in denen sich hoffnungslose, Desinfektionsmittel und Salben aussäuernde Rentner versammeln, „halb Mensch, halb Salbe“. Kurz bevor sein Gehirnwasser verdunstet, fallen Erdmann in solchem Ambiente die besten Sachen ein, z.B. ein neues Programm „Nährschlamm für Gehirnjogger“, das naturgemäß vom Abnehmer nicht verstanden wird. Also robbt Erdmann durch die Hitze des Sommers und stapelt Wahnsinn im Kopf, während der Hass auf den Irrsinn da draußen wächst, sich aber aufgrund zivilisatorischer Hemmnisse keine Bahn zu brechen vermag: „Ich bin so gottverdammt höflich, dass ich, wenn sich jemand neben mich auf eine Parkbank setzt, ich aber gerade gehen will, so lange, bis der andere nicht das Gefühl hat, ich ginge wegen ihm, sitzen bleibe.“ Erdmann wartet darauf, dass etwas passiert und behaucht in der Zwischenzeit aus Langeweile die Zugscheibe. „Wie lange man wohl an die Scheibe hauchen muss, um ein Schnapsglas zu füllen.“ Das ganze Buch ist von dieser schwindelerregenden fröhlichen Destruktivität. Doch dann geschieht etwas Eigenartiges, und kulminiert im traurigsten und hoffnungsvollsten Ende, das man in diesem Buch nicht erwartet hätte. Erdmann trifft auf eine ehemalige Schulkollegin, folgt dieser wie in Trance in eine Amüsiernacht, trinkt und tanzt „puddinghaft und hölzern zugleich“, in den Lokalen schreien sie wie „Angezündete“, ein religiöses Fieber ergreift alle, und vor allem Erdmann, Monsieur 100 Dezibel, gehen die Augen auf. Gott hat die Keksdose, in der er ihn gefangen gehalten hatte, ein paar Zentimeter gelüpft. Buch des Jahres, ach was, zumindest des Jahrfünfts.

Heinz Strunk: Die Zunge Europas. Rowohlt, 316 S., € 20,50

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Ein Scrabble-Weltmeister im Badezimmer Die Protagonisten in den Romanen von Jean-Philippe Toussaint sind Virtuosen des Scheiterns WERKPORTR ÄT: TABEA SOERGEL

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ean-Philippe Toussaint ist der Juniorweltmeister des Jahres 1973 im Scrab­ ble. Das ist nicht nur als sportliche Leistung bemerkenswert, das sollte man sich auch dringend vor Augen führen, bevor man eines seiner Bücher aufschlägt. Denn in ihnen wird der Leser mit allem konfrontiert, was einen verdienten Scrabble-Weltmeister ausmacht. Melancholie und Peinlichkeit, bizarre Komik und Akkuratesse, Analytik und zärtliche Hingabe. Mit seinen frühen Romanen hat Toussaint absurde, hochkomische Kleinode in der Tradition des Nouveau Roman vorgelegt, die von der Kritik völlig zu Recht irgendwo zwischen Kafka und Beckett eingeordnet werden. Das Ende dieser Frühphase markiert „Fernsehen“, das nun in der Frankfurter Verlagsanstalt wiederaufgelegt worden ist. Ein Kunsthistoriker mit Berlin-Stipendium und ernstem Motivationsproblem trifft eine folgenschwere Entscheidung: ein für allemal mit dem Fernsehen aufzuhören und sich endlich seinem geplanten Tizian-Aufsatz zu widmen, dem eigentlichen Grund seines Aufenthalts in der deutschen Hauptstadt.

Eine Orgie der Peinlichkeit Doch mit dem kalten Entzug beginnt erst das eigentliche Elend. Nunmehr völlig arbeitsunfähig, geplagt von einem unstillbaren, zermürbenden Verlangen, betreibt er Prokrastination aus Liebesschmerz. Es verschlägt ihn ans Seeufer, in schlecht sortierte Schreibwarenläden, ­Schwimmbäder und den Heizkeller einer Dahlemer Gemäldegalerie, ins legendäre Café Einstein, auf den Straßenstrich an der Kurfürstenstraße und ins Cockpit eines Segelflugzeugs. Ähnlich mäandernd wie sein Protagonist auf der trägen Flucht vor seiner Arbeit verhält sich der ganze Roman: Scheinbar unzusammenhängend und sprunghaft folgt er dem Helden durch den Berliner Sommer. Es gibt allerdings etwas, das all diese Episoden zusammenhält, ein filigranes, aber fest geknüpftes Netz aus wiederkehrenden Motiven, Gedanken und Figuren. Es geht um Wahrnehmung und Meta-Wahrnehmung in allen möglichen Facetten, freilich beiläufig, spielerisch und – zum Glück – unter Verzicht auf alles Diskursive. Es geht immer und immer wieder um Berlin. Und nicht zuletzt eint die einzelnen Teile, in die „Fernsehen“ zerfällt, ein sehr konkretes Gefühl: blutheiße Scham. Peinlichkeit in immer absurderen Wendungen. Nachdem sich etwa der Erzähler zu seinem eigenen grenzenlosen Erstaunen nackt ausgezogen hat, um an einem unerträglich schwülen Tag im Halensee Abkühlung zu finden,

Danach erschienen „Der Köder“, eine Art Kriminalgeschichte, in der ein Katzenkadaver im Hafenbecken eines fiktiven italienischen Dorfs beim Protagonisten handfeste Paranoia auslöst, „Fernsehen“ und ein Band mit kurzen, sarkastischen Reisetexten, „Selbstporträt in der Fremde“. Gemeinsam sind ihnen allen die aus heilloser Überforderung phlegmatischen, diffus liebestollen Protagonisten, allesamt nicht ganz dicht, die zu plötzlichen Reisen aufbrechen, sowie die lakonische, fragmentierte Erzählform.

trifft er auf dem Weg ins Wasser den Präsidenten der Stiftung, der er sein Stipendium verdankt. Angetan mit Schurwollpullover und Jacke, verwickelt der ihn sogleich in ein Gespräch über die Fortschritte seiner Tizian-Studien, während sein Begleiter, niemand Geringeres als Cees Nooteboom, pikiert die Enten betrachtet.

An den wuchernden Rändern Berlins Auch sonst benimmt sich der Protagonist ständig daneben – bis an die Grenze zur Unzurechnungsfähigkeit; lässt mutwillig die ihm anvertrauten Blumen seiner überkorrekten Nachbarn verdursten; springt mitten im Gespräch – übrigens erneut mit dem Stiftungspräsidenten, den er zufällig im Hallenbad wiedertrifft – und ohne Ankündigung ins Schwimmbecken; klettert aus dem Badezimmerfenster seiner Nachbarn und hangelt sich an der Hausfassade entlang in die Küche oder kleidet sich für einen Abend wie ein Deutscher („NaziSocken“). Andererseits wartet der Roman mit tiefsinnigen, genauen und poetischen Beschreibungen Berlins auf, gerade der ins Ländliche wuchernden Ränder der Stadt. Er zeigt die Trostlosigkeit der Wohnsilos an der Ostperipherie; die Spuren der Geschichte auf einem erst von den Nazis, dann von den sowjetischen Besatzern genutzten, jetzt verwahrlosten Militärflugplatz; die ausufernde Struktur der zweigeteilten und wiedervereinten Stadt, vom Himmel aus betrachtet. Die anrührendsten Passagen sind jedoch allein der Familie des Erzählers vorbehalten: seiner hochschwangeren Frau und seinem kleinen, rätselhaften Sohn, die im Spätsommer zu ihm nach Berlin kommen und für die er am Ende, streng nach den Regeln Toussaint’scher Logik, einen zweiten Fernseher anschafft.

Toussaint ist ein Meister im Vertuschen seiner Meisterschaft. Mit Selbstironie, sanftem Spott oder schlicht Irrsinn lässt er Leichtes schwer und Schweres leicht erscheinen. Er ist darüber hinaus auch ein makelloser Stilist

Sätze zum Niederknien Jean-Philippe Toussaint ist ein Meister im Vertuschen seiner Meisterschaft. Mit Selbstironie, sanftem bis garstigem Spott oder schlicht Irrsinn lässt er Leichtes schwer und Schweres leicht erscheinen. Er ist darüber hinaus auch ein makelloser Stilist. In ihrer präzisen und lebendigen Schönheit sind viele seiner Sätze schlicht zum Niederknien. In Toussaints Debüt aus dem Jahr 1985, „Das Badezimmer“, beschließt ein junger Mann, nie mehr das Badezimmer zu verlassen. In „Monsieur“ reagiert ein namenloser, willensschwacher Angestellter auf die Bitte seines Nachbarn, ein wissenschaftliches Manuskript für ihn zu transkribieren, kurzerhand mit einem Umzug. Und in „Der Photoapparat“ möchte ein Mann den Führerschein machen, scheitert aber an der dauerschläfrigen Fahrlehrerin ebenso wie am benötigten Passbild.

Jean-Philippe Toussaint: Fernsehen. Roman. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Frankfurter Verlagsanstalt, 243 S., € 20,40 Die wiederaufgelegten Romane „Das Badezimmer“ und „Der Photoapparat“ sind als Taschenbuch bei btb erschienen

Eine Frau namens Schweinfurth Anlässlich der Neuauflage der frühen Romane (bis dato wiedererschienen: „Das Badezimmer“ und „Der Photoapparat“) beschleicht den Toussaint-Aficionado aber womöglich leise Wehmut. Seine beiden letzten Romane, „Sich lieben“ und „Fliehen“, Teil eins und zwei einer in China und Japan spielenden Romantrilogie, waren zwar veritable Kritiker- und Publikumserfolge. Kennt man allerdings die Vorgänger wie „Fernsehen“, vermisst man etwas. Natürlich sind auch die bislang erschienenen zwei Drittel der Trilogie sprachlich brillant, turbulent, witzig und sophisticated. Allein, ihnen fehlt das Anarchische, das die ersten Bücher auszeichnet. Toussaint, Jahrgang 1957, ist auf seine alten Tage elegischer und, damit einhergehend, sentimental geworden. Während er in seinen frühen Romanen aus, wie’s scheint, reinem Übermut erotische Spannung aufbaut, um sie dann mir nichts, dir nichts verpuffen zu lassen, findet Sex nun sehr explizit statt. Abgesehen davon benimmt sich sein jüngster Held fast schon enttäuschend gesellschaftsfähig. Weit mehr als die banale Umwelt, mit der alle früheren Hauptfiguren rangen, setzt ihm nun eine Frau zu, genauer: seine angehende Exfrau. Früher hießen Frauen bei Toussaint Edmondsson, Delon oder, waren sie deutsch, Ursula Schweinfurth. Nun heißt sie Marie. Um es auf eine Formel zu bringen: Toussaint, das ist neuerdings „Lost in Translation“ statt Kafka. Nach seinem jugendlichen ScrabbleTriumph hat Jean-Philippe Toussaint Politik und Neuere Geschichte studiert und ein paar seiner Bücher verfilmt. In den letzten Jahren ist er, wie man hört, zum erfolgreichsten französischsprachigen Autor in Japan avanciert; nebenher hat er sein fotografisches Werk erfolgreich in Europa und Asien ausgestellt. Ein Band der fernöstlichen Romantrilogie steht noch aus. Auch er wird mit Sicherheit virtuos geschrieben und mitreißend erzählt sein. Bleibt trotzdem zu hoffen, dass nach dieser Veröffentlichung der Scrabble-Weltmeister von Cannes 73 den Kunstfotografen im BadeF zimmer einsperrt.

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Seuche, Spätstart, Supermarkt Olga Flor gelingt es, sozialanalytisch und spannend zu erzählen, indem sie ihre Figuren in die Enge treibt PORTR ÄT: KLAUS NÜCHTERN

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nlängst war Olga Flor in Wien, um aus ihrem neuen Roman zu lesen – im Meinl am Graben. Das ist zwar nicht ganz das Ambiente ihres Romans „Kollateralschaden“, der in einem stinknormalen Supermarkt spielt, aber immerhin sollen sich hinter dem Rücken der Autorin, die mit dem Rücken zur Straße in der Auslage saß, recht interessante Dinge abgespielt haben. Vom Blickwinkel der Inlandsmobilität aus betrachtet ist Flor ein Ausnahmefall in der heimischen Literatur: Sie ist in Wien geboren, lebt heute aber in Graz. Dort ist sie auch aufgewachsen – nach einem Zwischenstopp in Köln, wo der Vater an der Universität unterrichtete: „Ich bin von dort sehr ungern weggegangen. Es ist keine schöne, aber eine sehr lebendige Stadt.“ Literarisch ist Flor mit ihrem jüngsten Buch von der Abgeschiedenheit des Landes, der sie ihre Protagonisten in „Talschluss“ (2005) überantwortete, wieder in den urbanen Raum zurückgekehrt. Dramaturgisch ist der Unterschied freilich nicht so groß, denn beide Romane nutzen eine „Huis clos“-Situation, um den Alltag Richtung Katastrophe voranzutreiben. In einer Art Inversion der Rahmenhandlung von Boccaccios „Decamerone“ sind die Figuren in „Talschluss“ nicht vor der

der als Aufräumefrau jobbenden Logopädin just diese Sneakers, um einer Form urbanen Free-Style-Hindernislaufs zu frönen.

Pest geflohen, sondern quasi in Quarantäne geraten (eine Maul- und Klauenseuche bedroht den örtlichen Viehbestand). Und „Kollateralschaden“ ist noch rigider: Der Roman spielt zwischen 16.30 und 17.29 Uhr – so der präzise Zeittakt, den die einzelnen Kapitel vorgeben. „Ich möchte eine bestimmte Form ja nicht ohne Grund verwenden. Und in ,Kollateralschaden‘ wollte ich das Phänomen der ständig kleiner werdenden Aufmerksamkeitsspanne noch einmal auf die Spitze treiben“, erklärt Flor ihre Entscheidung, die – im Übrigen nicht dogmatisch eingehaltene – Einheit von Zeit, Ort und Handlung zum Konstitutionsprinzip eines sozialanalytischen Actiondramas zu machen. „Ich halte die politische Bedeutung, die der Konsum bekommen hat, für gefährlich. Einkaufen ist eine Form der Freizeitbeschäftigung geworden, die fast schon als Pflicht angesehen wird“, meint Flor – und zeigt in ihrem Roman, wie ihre verschiedenen Protagonisten dieser Pflicht nur auf sehr unterschiedliche Weise nachkommen können. Während die Endzwanzigerin Kalorien zählt, stellt der Obdachlose Überlegungen hinsichtlich der kulinarischen Differenz von Katzen- und Hundefutter an; während der Azubi von den wirklich coolen Sportschuhen nur träumen kann, nutzt der Sohn

Flor ist eine Spätstarterin – was ihre Schrift-

Zur Person Olga Flor ist 1968 in Wien geboren. Sie studierte Physik und Kunstgeschichte. Ihr Debüt „Erlkönig“ erschien 2002, drei Jahre später folgte „Talschluss.“ Flor erhielt das Österreichische Staatsstipendium für Literatur und wurde u.a. mit dem ReinhardPriessnitz-Preis (2003) ausgezeichnet. Sie lebt heute mit ihrem Mann und zwei Kindern in Graz

Olga Flor: Kollateralschaden. Roman. Zsolnay, 206 S., € 18,40

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stellerkarriere anbelangt. „Das erste Manuskript, das ich geschrieben habe, liegt heute noch in der Schublade, und dort soll es auch bleiben.“ Als 2002 ihr Debüt schlussendlich bei der Steirischen Verlagsgesellschaft erschien, war sie immerhin schon Mitte 30. Dass der Familienroman „Erlkönig“ zunächst von rund 60 Verlagen abgelehnt worden war, nach seiner Veröffentlichung aber sofort breit und wohlwollend besprochen wurde, versteht Flor bis heute nicht. Nach dem Physikstudium, Aufenthalten in Italien und den USA sowie einigen Jahren klassischen Prekariats hat die zweifache Mutter aber mittlerweile in der literarischen Welt Fuß gefasst. „Das Schreiben schien mir zunächst ein zu großes Projekt. Ich hatte den Eindruck, erst einmal die Welt sehen zu müssen“, erinnert sich Flor. Das Interesse an der Welt war relativ breitgefächert und umfasste sowohl die Kunst als auch die Physik – nicht ganz zufällig, denn beide Eltern sind Mathematiker, die Mutter sattelte schließlich auf Kunstgeschichte um.

„Ich mag abgeschlossene Welten – das funktioniert stark über Bilder“, kommentiert die Liebhaberin der Filme von Alfred Hitchcock und David Lynch ihre Neigung, die eigenen Protagonisten buchstäblich in die Enge zu treiben. Flor selbst fühlt sich an den Schauplätzen, die sie ihren Figuren zumutet, nicht unbedingt wohl: „Einkaufszentren erfüllen mich mit Schrecken. Ich werde dort innerhalb kürzester Zeit von einem Gefühl der Unwirklichkeit erfasst.“ Dieses Gefühl ist selbst jedoch durchaus „realistisch“. Denn auch die sozialen Wirklichkeiten, die an diesem Ort aufeinandertreffen, sind – abseits des „Durchgangsortes“ Supermarkt – relativ dicht voneinander abgeschottet. Die Einzige, die so etwas wie eine – freilich ideologisch verzerrte – gesellschaftliche Gesamtschau anbietet, ist Luise, bei der sich die Autorin offenbar von der ehemaligen FPÖ-Generalsekretärin Magda Bleckmann inspirieren ließ. Dass just eine rechtspopulistische Politikerin in Flors Ensembleroman als spannendste Figur gelten darf und keineswegs zum Klischee verkommt, ist ein weiterer Beleg für das literarische Vermögen der Autorin, die sich um ihre Geschöpfe auch emotional bemüht: „Bei einer Figur, die mir a priori unsympathisch ist, versuche ich besonders viel Empathie aufzubringen.“ Was die Dialektik weiblicher Selbstermächtigung anbelangt, um es einmal etwas diskursdiscomäßig zu formulieren, knüpft Flor hier an ihren Vorgängerroman an: „In ,Talschluss‘ ging es auch um den Selbstverlust einer Figur just in dem Moment, in dem sie glaubt zu wissen, was die anderen denken und tun werden.“ Systematisches Vorgehen überrascht bei einer studierten Physikerin nicht unbedingt. Dass dieses aber auch noch intelligente und lesenswerte Literatur generiert, F darf schon als Ausnahmefall gelten.

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Einweihung ins Mysterium des Obstbaus Angelika Reitzer steckt „Frauen in Vasen“ und ist eine der meistbeachteten jungen Autorinnen des Landes Vasen, in denen Reitzers Frauen stecken, sind kommunizierende GefäĂ&#x;e, kein Text steht ganz fĂźr sich. Was passiert? – „Nichts, was man erzählen kĂśnnte. Die Teile zusammenbringen; es sollte doch alles, denkt Mara, durchleuchtet werden, nicht hinterfragt.“ Gegen den Zug der Zeit und den Zwang der Kausalität hat die Autorin einige visuelle Satzzeichen gesetzt, ein magischer Doppelpunkt etwa stellt eine Balance her zwischen Direktem und Indirektem, Vor- und Nachgereihtem. Erzählt wird hier aber sehr wohl.

PORTR Ă„T: DANIELA STRIGL

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er tut, als wäre ich eine Dichterin, als wĂźrde das was haben. Keine Ahnung, wovon der redet.“ So heiĂ&#x;t es in der Erzählung „Sonnenschirme“ Ăźber einen Typen, „Journalist oder Philosoph oder was“. Darin, partout kein Aufhebens von ihrer Profession zu machen, ähnelt die Autorin ihrer Figur: UnprätentiĂśser geht’s nicht.

Foto: Peter Koellerer

Angelika Reitzer ist diskret , was PersĂśnliches, was ihre Arbeit betrifft – und Ăźberhaupt. Dass aus dem Schreiben eine Profession geworden ist, hat sie nie zu erzwingen versucht. Geschrieben hat sie „schon sehr lang“, auch einiges verĂśffentlicht: „Ich hab aber auch andere Sachen gemacht, eine Zeitlang in einem Verlag gearbeitet.“ In diesem Sinn war die Publikation des Erstlings keine Existenzfrage – „obwohl es vom Selbstverständnis her schon schwierig ist, sich als Autorin zu bezeichnen, solange man auf kein Buch verweisen kann“. Das Buch, „Taghelle Gegend“, erschien glĂźcklich 2007, ein Roman oder eine Art Roman Ăźber eine junge Frau, die es aus der Provinz in eine richtige GroĂ&#x;stadt verschlagen hat und die sich dort in einem beinah frĂśhlichen Provisorium häuslich einrichtet. Wobei es irrefĂźhrend ist, das Buch Ăźber den Stoff zu charakterisieren, denn nicht das Berliner Milieu halbversorgter Taugenichtse, nicht das Auflodern und Verglimmen erotischer Neigungen macht seine Besonderheit aus, sondern seine Sprache, kristallin, fast beiläufig und doch voller Ăœberraschungen. „Taghelle Gegend“ wurde viel gelobt und mit Preisen belohnt. Angelika Reitzer weiĂ&#x;, dass sie GlĂźck gehabt hat. Die grĂśĂ&#x;te HĂźrde, einen Verlag zu finden, hat sie rasch genommen, dann war’s erstaunlich leicht: „Es gibt das BedĂźrfnis, jedes Jahr neue Namen zu entdecken.“ Schwierig wird es fĂźr die, denen der Status der „WeltberĂźhmtheit in der Steiermark“ nicht mehr genĂźgt. Als Frau sollte man „wenigstens vorteilhafte weibliche Kriterien erfĂźllen“, dem Stempel „Üsterreichische Literatur“ – also schwierige Literatur (Jelinek!) – entgeht man sowieso nicht, das „wird einem bei Veranstaltungen tatsächlich vorgehalten“. Ein deutscher Journalist fand, was sie macht, „wahnsinnig mutig“ – ein zweischneidiges Kompliment. So ähnlich war auch das Echo beim heurigen Bachmann-Wettbewerb. Reitzer las dort den Text „Super-8“, banal gesagt: eine Geschichte Ăźber die hoffnungslose Liebe einer (verheirateten) Frau zu einem gefährlich labilen Mann. Ăœber den Jury-Disput nach ihrer Lesung hat die Autorin sich gefreut, war sie angesichts der mangelnden Intensität mancher Diskussionen doch enttäuscht, „angenehm Ăźberrascht“ hingegen von der Atmosphäre beim Lesen: „Dieses extrem aufmerksame Publikum, das Geräusch des gemeinsamen Umblätterns, das ist groĂ&#x;artig, als wĂźrden die mithelfen.“ Als „Werbefläche“ hat Klagenfurt fĂźr Reitzer jedenfalls funktioniert, die Neugier auf den bald danach erschienenen Erzählband „Frauen in Vasen“ war geschĂźrt. Die

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„Streuobst“ zum Beispiel versammelt eine

Zur Person Angelika Reitzer wurde 1971 in Graz geboren. Sie studierte Germanistik in Salzburg und Berlin und schrieb ihre Diplomarbeit Ăźber Ernst Jandl. Ihr „Taghelle Gegend“ erschien 2007 und war fĂźr den aspekte-Literaturpreis fĂźr das beste deutschsprachige ProsadebĂźt nominiert. Sie lebt mit ihrer Familie in Wien

Familie, eine „Frauenfamilie“, quer durch die Jahre im Obstgarten der GroĂ&#x;mutter, die ihre Enkelin in die Geheimnisse des Obstbaus einweiht (die Autorin ist hier familiär belastet): „Du sollst ja durch die Krone eines Baumes einen Hut werfen kĂśnnen. Dann ist er gut ausgelichtet.“ Doch die besten Gärtnerregeln richten nichts aus gegen den Tod, gegen das Mahlwerk der Zeit ist kein Kraut gewachsen. Zum Schluss wird gerodet, mit dem Bagger. Dieser Text „ist so dicht, da kann man keinen Hut durchwerfen“, urteilte Wendelin Schmidt-Dengler, als Angelika Reitzer „Streuobst“ heuer passenderweise in der Schlossgärtnerei Wartholz las. Eine Streuobstwiese ist Ăźbrigens das Gegenteil von Monokultur. Da liegt es nahe, den Obstgarten als Bild fĂźr dieses Buch zu

Am 27.10., 20 Uhr erhält Reitzer im Wiener Literaturhaus den Reinhard-Priessnitz-Preis und liest aus ihrem jßngsten Buch

sehen, in dem immer wieder eine Gärtnerin auftaucht, die sich einer aussichtslosen Sache liebevoll annimmt. „Lineare Zeit ist eine Zeit der Sieger, während die von der Geschichte Besiegten in einer Zeit der Katastrophe leben.“ Weil die Autorin auch ihren eigenen Sätzen nicht zu nahe treten mĂśchte, verrät sie nur, dass dem Motto eine Bibelstelle zugrunde liegt. Meint das einen politischen Anspruch? „Das ist keine Frage der Poesie, sondern der Notwendigkeit. Ich glaube, dass Sprache ein sozialer Raum sein kann oder muss. FĂźr mich. Weil ich keine Zen-Meisterin bin.“ Auch kĂźnftig will Reitzer sich „mit der Zeit und der Wahrnehmung“ beschäftigen, die Protagonistinnen werden vielleicht doch erwachsen. Sie selbst ist froh, heute in Wien zu leben: „In dieser Berliner UngemĂźtlichkeit kann man sich extrem gemĂźtlich einrichten. Es gibt sehr viele FrĂźhstĂźcker dort, Menschen, die den ganzen Tag frĂźhstĂźcken.“ Auch Elternschaft bedeute nicht unbedingt einen Rollenwechsel: „Man trägt ja auch Kind.“ Auf der letzten Seite findet sich ein Verweis auf das Buch Kohelet. Welchen Satz kĂśnnte sie gemeint haben? Irgendwie passt alles: „Ich baute Häuser, pflanzte Weinberge, ich machte mir Gärten und Lustgärten und pflanzte allerlei fruchtbare Bäume darein (...). Als ich aber ansah alle meine Werke (...), siehe, da war es alles eitel und HaF schen nach dem Wind.“

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Liter atur

Schuld und Sühne in den Straßen von Shanghai

Berufsalternativen für finanzschwache Autoren

In „Die unsichtbare Fotografin“ überspannt Elisabeth Reichart den Bogen vom Nazi-Opa bis zum Genozid in Ruanda

Schriftsteller sind eigentlich Ermittler, meint Hanno Millesi, und versorgt seinen Helden mit einem dubiosen Aufrag

Te x t: GEORG RENÖCKL

lisabeth Reicharts Romane haE ben etwas Unerbittliches. Immer wieder zeigen sie, wie die Fas-

saden scheinbar mustergültiger oder zumindest unverdächtiger Existenzen zerbröckeln, wenn sich eine vergessen geglaubte Schuld ihre Bahn bricht. Ihr literarisches Debüt gab die promovierte Historikerin mit „Februarschatten“ (1984), einem Roman über die jahrzehntelang totgeschwiegene „Mühlviertler Hasenjagd“, und auch ihre jüngeren Werke drehen sich um verdrängte Täter- oder Mitwisserschaften. So weit aber will es Alice, die Hauptfigur von Reicharts neuem Roman, gar nicht kommen lassen. Die erfolgreiche Wiener Fotografin führt ein unstetes Leben zwischen Metropolen wie Shanghai, New York und Tokio und macht dabei einen großen Bogen um Krieg, Verbrechen und Leid. Ihr Ziel: „All das Schöne auf dieser herrlichen Erde festhalten.“ Doch der bedingungslose Dienst an der Schönheit beruht auf schlechtem Gewissen: Vom Großvater, der sich nie verzeihen konnte, Soldat in Hitlers Armee gewesen zu sein, hat Alice nicht nur die Fotoausrüstung, sondern auch ein diffuses Schuldgefühl geerbt. Eines Tages tauchen Fotos gequälter Gefangener auf, die Alices „Handschrift“ tragen. Obwohl sie überzeugt ist, die Szenen nie gesehen zu haben, kommen ihr heftige Zweifel: Einmal hat sie sich von ihrem chinesischen Dolmetsch und Liebhaber in Shanghai zu einem nächtlichen Foto­ spaziergang überreden lassen und dabei gequälte Hunde hinter einem Lattenzaun aufgenommen. Hat sie mehr fotografiert, als sie zu sehen glaubte? Und vor allem: Trägt sie das Leid dieser Gefangenen jetzt in sich? „Du wirst nie etwas fotografieren können, was du nicht in dir erkannt hast“, lautet nämlich eine der Weisheiten ihres ehemaligen Lehrers James, an die sie bedingungslos glaubt. In China ist Alice jedenfalls von nun an unerwünscht. Sie verliert wichtige Aufträge und entdeckt, wie fragil ihre vermeintlich gesicherte Existenz im Grunde ist. Bei ihrer Familie in Wien findet sie keine Unterstützung, ihre paranoid gewordene beste Freundin denunziert sie in den USA obendrein als Terrorverdächtige. Auf Einladung eines Freundes fliegt Alice nach Mexiko, wo sich die Ereignisse dramatisch zuspitzen: Ihr ehemaliges Modell Frida, eine Maya, wurde von Unbekannten verschleppt und gefoltert. Die Klinik, in die Alice die verstörte Frau bringt, entpuppt sich als Falle, doch es gelingt ihr, Frida mithilfe eines befreundeten Piloten außer Landes zu bringen.

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Allerdings ist zum Zeitpunkt der dramatischen Flucht aus Mexiko nicht nur das Selbstvertrauen der Fotografin verlorengegangen, die sich am Schicksal ihres Modells mitschuldig fühlt, sondern auch die Glaubwürdigkeit des Romans. Binnen weniger Seiten bringt Alice durch bloße Naivität das chinesische Regime, das FBI und mächtige Pharmakonzerne gegen sich auf. Die Thriller-Versatzstücke, die in den Roman eingearbeitet sind, wirken so kolportagehaft wie beliebig. Sie dienen dazu, Alices ständige Flucht und Selbstzweifel zu begründen, plausibel sind sie nicht. Schamanen, die sich auf Astralkörperwanderung verstehen, und Figuren wie der fliegende Tausendsassa Maximilian aus Syrien, der das Angebot, Pilot der Air Force One zu werden, zu langweilig findet, sorgen bestenfalls für unfreiwillige Komik. Noch ärgerlicher sind die Binsenweisheiten und scheinbar tiefschürfenden Ratschläge, die sich Alice zwischendurch bei ihren Mentoren James und Thomas holt: Sie solle doch einfach nach Ruanda gehen, weil es dort nach dem Genozid so eindrucksvolle Frauengesichter zu fotografieren gebe: „Der einzige Sinn, der in der Sache liegt, ist doch, dass du dich Afrika zuwendest. Vergiss China, Asien, Amerika, geh zurück zum Ursprung.“ Aber prompt entwickelt Alice auch gegenüber dem schwarzen Kontinet Schuldgefühle, weil sie sich 1994 nicht wirklich für den Völkermord in Ruanda interessierte. Dass sie Asien zugunsten dieses „Ursprungs“ vergessen soll, ist hingegen schade: Dort spielen nämlich die gelungensten Szenen des Romans. Die literarischen Schnappschüsse von chinesischen Dörflern, die sich vor den aufragenden Wolkenkratzern Shanghais auf der Straße die Haare waschen wie noch vor kurzem vor ihren Hütten, oder von Bauern, die zum Zeichen ihres Protests gegen Zwangsumsiedlungen Yaks öffentlich auspeitschen oder buntgeschmückte Schweine durch die Straßen treiben, sind nämlich lesenswerter als das weltumspannende, mit billiger Action und esoterisch raunenden Weisheiten verbrämte Schuld-und-Sühne-Psychodrama, das die Autorin im Rest des RoF mans vorführt.

Elisabeth Reichart: Die unsichtbare Fotografin. Roman. Otto Müller, 294 S., € 22,-

Te x t: ALFRED PFOSER

rüher drängte sich von Staats weF gen die Idee auf, die Schriftsteller Bibliothekare werden zu lassen.

Denn wer viel und gern liest, so die Überlegung, kann daraus gleich einen Beruf machen und die Leute überzeugen, dass sich Lesen lohnt. Dass die Realisierung nicht so ganz überzeugend war (bei Robert Musil etwa), weil sich die Bibliothekare mehr mit dem Ordnungmachen als mit dem Lesen beschäftigt, hat manche Schriftsteller, aber auch manche Arbeitgeber unglücklich gemacht.

Wegen seiner bizarren und trockenen

Beobachtungen des Familienlebens im Geschichtenzyklus „Wände aus Papier“ wurde der Wiener Schriftsteller Hanno Millesi, von der Kritik viel gelobt. In seinem jüngsten Buch „Der Nachzügler“ schlägt er für Autoren nun eine Berufsalternative vor, die ebenso unzuverlässig ist wie die Idee mit dem Bibliothekar. Sein Ich-Erzähler wird, mangels Aufträgen und Einkommen als Schriftsteller, im Auftrag einer Agentur ein professioneller Schnüffler: Er beobachtet Personen, spürt ihnen nach und schreibt Berichte. Schriftsteller sind nun mal Leute, die genau beobachten, leidenschaftlich nachspüren und kreativ protokollieren müssen. Sie sind Ermittler. Der Ich-Erzähler könnte sich auch Privatdetektiv nennen, aber das wäre zu großspurig. Ein Verbrechen oder ein krimineller Akt, den es aufzuklären gälte, liegt keiner vor, sondern es ist etwas anderes, von dem man freilich nichts Genaues weiß. Wahrscheinlich will die Firma, die Herrn X, beschäftigt, ihn einfach los werden. Es gibt jedenfalls einen Informanten dort, der dem Ermittler immer wieder mal auf die Sprünge hilft, wenn sich was Besonderes abspielt. Aber was gibt es schon Außergewöhnliches im Leben dieser „Zielperson“? Die streicht bloß durch die Stadt, vertrödelt Zeit, sucht eine Konditorei und Fast-Food-Lokale auf, fährt in fremde Städte und ans Meer, trifft gelegentlich einen anderen Herrn namens T. Eigentlich ist diese „Zielperson“, über dessen Vergangenheit wir so viel wie nichts erfahren, ein armer, einsamer Kerl, der im Alltags- und Berufsleben immer mehr entgleist, an Herzund Psychoproblemen leidet und selbst für seine Einweisung in die Psychiatrie sorgt. „Entscheidendes – das lernt jeder irgendwann –, Entscheidendes ereignet sich lediglich an vereinzelten Höhepunkten. Dazwischen liegen ausgedehnte Phasen, in denen gar nichts geschieht“, bilanziert der Ich-Erzähler staubtrocken, mit klini-

scher Präzision. Es ist den Lesern und Kritikern von Millesis früheren Büchern schon aufgefallen, dass dessen Sprache sich bizarr an den alltäglichen Gegenständen abmüht und an Robert Walser erinnert. So führt auch dieser Text seine Hauptperson immer an die Grenzen der Lächerlichkeit, lässt sie monströs und pedantisch erscheinen, als einen etwas unangenehmen Grantler mit hohem Reflexionsniveau. Immerhin haben wir es im vorliegenden Fall mit einem „experimentellen Autor“ zu tun, der seinen ganzen literarischen Existenzschmerz in Klagen, Unmut, Zorn und Verschwörungspläne verpackt und der sich in seiner Suada ausführlich über viele Facetten des Schreibens und des Literaturbetriebs auslässt. Als ob er auf der Couch läge, dreht er wortreich und selbstzweiflerisch an seinen literarischen Befindlichkeiten, an seinen Selbst- und Fremdbezichtigungen. Das wirkt ziemlich selbstverliebt rhapsodisch, über Strecken frappant komisch. So träumt der Ich-Erzähler davon, eine „verbitterte Vereinigung“, eine „literarische Guerillatruppe“ zu gründen, die „Podiumsdiskussionen, Preisverleihungen, Langweilerinnen- und Mistkerllesungen“ stürmt und Teilnehmer demütigt, „es sei denn sie schlagen sich rechtzeitig auf die Seite der Guerilleros“. Da treibt im Kopf des Autors der Aufruhr sein Unwesen, um dann wieder an der jämmerlichen Realität zu zerschellen. „Ein Bittgesuch zu entwerfen, diesen Entwurf in der Folge an einen der zuständigen Beamten zu richten und abzuschicken, stellt bisweilen eine größere Herausförderung dar, als ein Kunstwerk, das der Künstler als Idee ab einem bestimmten Moment mit sich herumträgt, in die ihm adäquate Form zu bringen.“ Nach allen trügerischen und fatalen Seiten hin vermisst der „experimentelle Schriftsteller“ den Literaturbetrieb und entdeckt viel Trostlosigkeit. Ist der Schriftsteller in seinem Frust eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit? Der verfolgte Herr X macht es vor, wie sich die Sache lösen ließe. Er leiht sich ein Rad und fährt einfach auf und davon. Der Verfolger F hat das Nachsehen.

Hanno Millesi: Der Nachzügler. Luftschacht, 203 S., € 19,90.

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Der Teufel ist auch nur ein Mensch Michael Stavaric lässt in seinem Roman „Magma“ den Leibhaftigen aus der Weltgeschichte erzählen Te x T: SEBASTIAN FASTHUBER

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n seinen Romanen „stillborn“ und „Terminifera“ konzentrierte sich Michael Stavaric auf die Form des Monologs und das Innenleben seiner Figuren. Mit „Magma“ bricht er diese Perspektive ein wenig auf und unternimmt eine geführte Reise durch die Geschichte der Welt. Geschildert wird sie dem Leser durch die Brille einer ziemlich allmächtig und allwissend auftretenden Figur. Die wirkt zunächst rätselhaft, wobei man sich dann schnell denken kann, dass es sich eher nicht um Gott handelt, sehr viel wahrscheinlicher um den Beelzebuben höchstpersönlich. Gewiss, wenn ein Schiff sinkt oder ein Vulkan ausbricht, ist der Mann immer mit von der Partie. Dennoch kommt er bei Stavaric nicht als der Allerunsympathischste rüber. Manches scheint ihm mehr zu unterlaufen, als dass böser Wille dahinterstecken würde: „Wenn man nur kurz nachdenkt, wird einem klar, dass nichts zufällig passiert, aber es geht dann doch alles in die Hose.“ Ansonsten führt der Teufel ein bürgerliches

Leben als Besitzer einer Zoohandlung („Tiere füttern und hegen, striegeln und kraulen, (…) tatsächlich ein Full-Time-Job.“), philosophiert gern vor sich hin und hat zur Not auch zwei, drei Seelenverwandte, mit denen er reden kann, wenn ihm danach ist. Michael Stavaric: Als einer davon stirbt und ihm sein Haus Magma. Residenz, vererbt, sucht er dieses sogar ein paar Mal 244 S., € 19,90

auf, um sich um die Pflanzen zu kümmern. Dieser Teufel hat etwas Rührendes. Wahnsinnig eitel ist er auch nicht, denn mitunter tritt er über mehrere Seiten ganz hinter seine Schilderungen geschichtlicher Ereignisse und Personen zurück. Er verfügt allerdings über einen gewissen Hang zum Schwadronieren und beginnt seine Erzählung wirklich ganz am Anfang: „Irgendwann versicherte man einander, die Welt bestünde aus unzähligen Schichten Schlick und Schlamm, Jahrtausende hätten sie zu Grundfesten verschweißt, den Molekülen jede Flüssigkeit entzogen und später türmten sich Magma und Eisenoxide auf, aus unzähligen Schloten quoll Lava und kroch unter das Meer, bis endlich eine Landmasse aus dem Wasser ragte, nahezu vollkommen lag sie unter der gleißenden Sonne. Noch später sprach man von einem Herz vor der Küste oder Gott nur sich selbst, mitunter sagten sie auch bloß verdoppeltes Wasser, aber ich nannte es eine Insel.“ Vom Sprachstakkato seiner vorangegangenen Bücher verlegt sich Stavaric in „Magma“ auf einen etwas altertümlichen Tonfall, der den historischen Stoffen (u.a. wird der Untergang der Titanic oder das Leben des deutschen Jesuiten und Universalgelehrten Athanasius Kircher rekonstruiert) geschuldet sein dürfte. Vom Aufbau her funktioniert das Buch im Prinzip wie eine Anekdotensammlung. Man merkt ihm an, dass der Autor einige Lexika gewälzt hat. Er macht sich jedoch we-

der der Sünde der Beliebigkeit noch jener der Papiervergeudung schuldig und hat seine Recherchen sinnvoll zu verhältnismäßig übersichtlichen Texteinheiten gebündelt und gruppiert. Sicher: Es braucht ein wenig, bis man sich in dem Roman zurechtfindet. Wenn man einmal drin ist, liest man ihn aber mit Gewinn und durchaus auch Amüsement über die menschlichen Seiten des Teufels. So ist dieser bei Stavaric mit einer ausgeprägten Schwäche für Schokolade und Rotwein ausgestattet und neigt außerdem dazu, mit seinem Haustier zu kommunizieren: „Manchmal frage ich mich, ob mir Bruno überhaupt folgen kann, gewiss, er ist der klügste Hamster der Welt, aber ob das reicht?“ Manchmal wirkt er aber auch nur überfordert und müde, er ist schließlich nicht mehr der Jüngste. Eine Schlusspointe oder Entwicklung verweigert der Autor allerdings, dem Leser wie dem Helden. Er hält die Dinge in der Schwebe, mitunter so sehr, dass man sich etwas mehr Griffigkeit wünschen würde. Mitarbeit ist bei Stavaric auf jeden Fall gefragt und spannend bleibt es dadurch allemal. Mal sehen, wie’s weitergeht. Mit kommendem Frühjahr wechselt der gebürtige Tscheche mit seinen größeren Erzählwerken vom heimischen Residenz Verlag zu C.H. Beck und veröffentlicht dort gleich seinen nächsten Roman „Böse Spiele“, der parallel zu „Magma“ entstanden ist. Der F Teufel schläft nicht.

„Ich will Vadim töten. Und ich will ein Buch über meine Mutter schreiben. Ich habe auch schon einen Titel: ,Die Geschichte einer hirnlosen rothaarigen Frau, die noch leben würde, wenn sie auf ihre kluge älteste Tochter gehört hätte.‘“ ALINA BRONSK Y: „ SCHERBENPARK“ S e i te 2 4

Foto aus der Serie „Türkisches Wien“ von Katharina Gossow

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Liter atur

Ein Leben in der Endlosschleife Die Liebe in Zeiten des „Office on Missing Persons and Forensics“: Anna Kims Roman „Die gefrorene Zeit“ Te x t: NICOLE STREITLER

er Titel des zweiten Romans der 1977 D in Südkorea geborenen und in Wien le­ benden Anna Kim bringt eine Erfahrung

auf den Punkt, die jeder kennt, der liebt: Die Zeit, die wir vom Geliebten getrennt sind, erscheint uns als fahl und leer, ja sie scheint mitunter überhaupt stillzustehen. Erst in der neuerlichen Begegnung mit dem Geliebten tauchen wir wieder ein in den Fluss der Zeit (und der Erzählung). Kim überträgt diese existenzielle und fast alltägliche Erfahrung auf eine Extrem­ situation: Luans Frau Fahrie ist während des Kosovokriegs verschwunden. Seither gilt sie als vermisst. In der Perspektive der Erzählung heißt das: seit sieben Jahren. „Gegenwart und Zukunft sind aus dir amputiert, Reste sind noch da, Phantom­ existenzen, sie beschweren sich, wann immer du, und sei es nur für einen Augen­ blick, auf den Schmerz vergisst, dein Leben eingefroren in dem Moment, als du Fahries Verschwinden entdecktest, ach nein, es ist nicht dein Leben, das eingefroren ist, son­ dern deine Zeit, gefrorene Zeit, die nicht zählt, von der du dir wünschst, sie würde endlich vergehen, dabei vergeht sie, da ge­ froren, unendlich langsam.“ Seit dem Verschwinden Fahries bewegt sich Luans Leben in einer „Endlosschlei­ fe“. Leben heißt für ihn warten. Fahrie, die vermisst ist, wird auch vermisst, und zwar

die „ante mortem data“ (AMD) einer ver­ schwundenen Person zu eruieren, bleibt wenig Platz für Empathie. Die Person wird zur Persona degradiert. In den Fragen der Interviewer zerfällt die Identität eher, als dass sie sich durch diese aufspüren ließe. So läuft die Suche nach Fahrie im Lau­ fe der Erzählung immer mehr auf eine Su­ che nach den (Un-)Möglichkeiten des Er­ zählens hinaus. So wie dem Protagonisten allmählich die Erinnerung an seine Gelieb­ te entgleitet, entgleitet der Erzählerin zuse­ hends die Geschichte.

von ihm. Das Vermissen, das jede Liebe kennt, ist Luan jedoch inzwischen zu einer Gewohnheitshaltung geworden, die das ei­ gentliche Gefühl für den geliebten Men­ schen allmählich ersetzt. Das Vermissen wird zu einer Art „mutiertem Lieben“. Denn es ist schwierig, eine dau­ ernd Abwesende zu lieben. Mit der Abwe­ senheit zerfällt das Bild der Geliebten im­ mer mehr, zuerst vergisst man das Ausse­ hen, dann die Stimme. Was bleibt, ist ein diffuser Rest von Identität, die höchstens noch als schemenhaft zu bezeichnen ist. Und doch ist das „Vermissen eine Form des Erinnerns“. Dass Ingeborg Bachmanns erster Lyrik­ band, „Die gestundete Zeit“ (1953), im Ti­ tel anklingt, wird der Autorin kaum zufäl­ lig unterlaufen sein. Die Themen Liebe, Sehnsucht und Identität, um die Kims Buch kreist, gehören zum Stammrepertoire der Klagenfurter Lyrikerin. Auch ein dezidier­ ter Hang zur Poetisierung der Sprache ver­ bindet Kim mit Bachmann. Worin sie sich freilich von ihr absetzt, ist in der Anreiche­ rung ihres Textes mit Realien, die Kim vor allem im ersten Teil des Buches konsequent betreibt. Vermissen und Vermisstsein sind nämlich in ihrem Buch keine poetischen Posen mehr, auch wenn sie von deren Poe­ sie zehren, sondern eine Tatsache. In einer Zeit, in der es ein „Office on Missing Persons and Forensics“ (OMPF) gibt und standardisierte Fragebögen, um

Anna Kim: Die gefrorene Zeit. Roman. Droschl, 147 S., € 18,50

Erinnerung erweist sich als vornehmlich emotiver Akt, der nur schwer zu versprach­ lichen ist. Die Beschreibung einer Person, der Entwurf einer Figur scheint schwierig bis unmöglich, unser Wissen vom ande­ ren (und sei er der Geliebte), ja die schie­ re Möglichkeit, etwas vom anderen zu wis­ sen, als gering bis nichtig. Damit stellt der Text seine eigenen Voraussetzungen infra­ ge und wird zu einem metafiktionalen Dis­ kurs, der sich immer stärker in der Refle­ xion über das Erzählen denn im Erzählen selbst bewegt. Dass der Text im letzten Teil, wenn Luan mit der eigentlichen Erzählerin, der Inter­ viewerin des OMPF, in den Kosovo fährt, dann doch plötzlich erzählerisch wird, be­ stätigt diese Einsicht nur. Ein ungebroche­ nes Erzählen scheint hier höchstens durch die Rückkehr in den Mythos oder zur Volks­ F erzählung möglich.

Luc und Gerry quatschen über Geld und Weiber Gustav Ernst belauscht in „Helden der Kunst, Helden der Liebe“ das ziemlich desillusionierende Geschwätz der Branche Te x t: HELMUT GOLLNER

s ist von Vorteil, wenn der Leser des E Buchs etwa das Alter des Autors und seiner Helden hat (60+); dann sind ihm die Themen geläufig, die Männer abhandeln, auch wenn sie Dichter sind: Prostata, Ko­ loskopie, PSA-Test. Es ist auch gut, wenn der Leser Literaturkritiker ist; dann kennt er die Branchenegozentrik der Dichter, ihre Klagen und Ausfälle. Das Vertrauen in Humanität , Idealismus und

Abendland verabschiedet zu haben so­ wie des zugehörigen literarischen Zungen­ schlags überdrüssig zu sein, ist bei der Lek­ türe von Gustav Ernst ebenfalls hilfreich. Es hilft des Weiteren, von der Wahrheit des Banalen überzeugt zu sein: in der Liebe das Interesse am Ficken, in der Kunst das Inte­ resse an den Verkaufszahlen. Es hilft zwei­ fellos, Materialist zu sein, wenn man Gus­ tav Ernst liest. Ernst hat in seinem neuen Buch Dichter­ stimmen gesammelt. Er besucht die Helden der Kunst und der Liebe in ihrem Alltag, und das genügt, die Denkmäler zu Garten­ zwergen schrumpfen zu lassen. Aber es ist eines der dezenten Bücher Gustav Ernsts: Der Alltag braucht satirisch kaum bearbei­ tet zu werden, um zur Satire zu taugen. Die Dichterfreunde Luc und Ger­ ry (60+), fahren auf der Autobahn nach Deutschland zu einer Lesung (900 Euro

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kriegt jeder dafür). Ernst belauscht kom­ mentarlos ihre Gespräche: über die Unver­ lässlichkeit des Körpers, die Unumgäng­ lichkeit und Beschwerlichkeit des Geldver­ dienens, über Frauen, Frauen, Frauen, die Unumgänglichkeit und Beschwerlichkeit des Geschlechtsverkehrs. Gelegentlich hat man Hunger oder Harndrang; dann hält man an einer Raststätte. Gegen Ende der Fahrt kommt es unver­ mutet zu einem schrecklichen Unfall: blu­ tende schreiende, leblose Körper auf der Fahrbahn; ein Flash, der die ganze Flach­ heit des Dichtergesprächs augenblicklich klar macht, ein dringender Hinweis darauf, dass die Welt und ihre Zumutungen noch existieren. Das ganze Dichterhandwerk wird verdächtig, zumal die Dichter unbe­ eindruckt fortfahren in ihrem Tratsch. Das muss man mal können: Zwei ein­ fach reden lassen, stundenlang (aber in „O-Tönen“ war Ernst immer gut). Das hat auch eine gewisse themenunabhängi­ ge Spannung, zuzuschauen nämlich, wie und wieso die Rede voranschreitet, wie sie sich staut an kleinen Begriffsstutzigkei­ ten und Rechthabereien, wie sie die Reden­ den ungewollt bloßstellt. Man braucht nur für möglich zu halten, dass die von Geis­ tesmenschen abgesonderten Banalitäten mehr über diese aussagen, als was sie an Geist absondern. Kleinlich sind Geistes­ größen allemal genauso wie Geisteskleine. Gelegentlich entsteht durch Themenpene­ tranz bernhardesker Humor.

Der zweite Teil des Buches besteht – alternie­ rend verzahnt mit den Autoautorengesprä­ chen – aus einer Stimmensammlung aus dem Fundus literarischer Gesellschaften in den Wiener Kaffeehäusern Prückel, Hum­ mel, Ritter, Bräunerhof, Museum, Alt Wien und Engländer. Es geht um Literatur, um Poetologi­ en, ums Leiden am Geld, an der Familie, an der Konkurrenz; man spricht über nie­ derschmetternde Schreibkrisen, betreibt Selbsterhöhung und Selbsterniedrigung, bricht aus in Aggression.

Gustav Ernst: Helden der Kunst, Helden der Liebe. Roman. Sonderzahl, 166 S., € 16,–

Alles wirkt authentisch, regt einen zumin­ dest zum Mitgrinsen, vielleicht auch zum Mitgefühl oder zum Verständnis an. Denn das Elend des Dichterberufs besteht nicht zuletzt darin, dass Erfolg und Misserfolg viel existenziellere Bedeutung haben als in anderen Berufen. Und zwar nicht nur hinsichtlich der materiellen Belange, son­ dern vor allem, was die Psyche betrifft: Der Dichter produziert und verkauft nicht ir­ gendeine Ware, er produziert und verkauft sich. Entsprechend schlimmer ist die Kri­ se oder die vermutete Benachteiligung, entsprechend größer sind Neid, Wut und Befriedigung. Gustav Ernsts Buch ist zumindest amü­ sant, sorgt darüber hinaus eventuell für Aufklärung und Anteilnahme und ist also nicht nur für 60+, Literaturkritiker und Materialisten lesenswert, sondern für alle, F die sich für Literatur interessieren.

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Auf Verweigerung folgt Konformismus Johannes Gelich belebt den politischen Roman und verpasst der Hoch- und Fresskultur einen heftigen Tritt PORTR ÄT: WERNER SCHANDOR

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alzburg, eine Woche vor Eröffnung der Festspiele: Burgherr Max und seine Freunde aus der Salzburger High Society geben sich ihr jährliches „Weekend“ mit Völlern, Saufen und Vögeln. Starkoch Hugo kredenzt ein Mittelaltermenü, das er mit seinem Sperma würzt, Mädchen aus dem Ostblock versorgen die Herren sexuell. So weit, so „Großes Fressen“. Doch dann klopft ein afrikanischer Hausierer an die Tür, verwickelt den Hausherrn in eine moralische Diskussion und fällt bei der anschließenden Rauferei so unglücklich, dass alle schon die Totenglocken läuten hören. Was tun mit dem Schwerverletzten, ohne Aufsehen zu erregen? In seinem strengen literarischen Kammerspiel „Der afrikanische Freund“ schildert Gelich, wie Menschen aus Feigheit und Indifferenz verhindern, dass einem anderen geholfen wird. Starker Tobak, der beim Lesen ordentlich Unbehagen verbreitet, gerade weil die beschriebene Situation so abwegig nicht ist.

Anklänge an Albert Camus Seine ersten beiden Bücher – „Die Spur des Bibliothekars“ (2003) und „Chlor“ (2006) – handeln noch von zwei Leistungsverweigerern, die sich mehr oder weniger lustvoll der Turbogesellschaft versagen. Sein jüngster Roman hingegen bezieht seine bittere Moral aus dem Umstand, dass Durchschnittskonformisten einen Menschen vor die Hunde gehen lassen, weil sie um ihr eigenes Ansehen fürchten bzw. weil sie sich nicht zuständig fühlen. Gelich schildert das quälende Hin und Her, mit dem die Freunde der Lage Herr werden wollen, aus der Perspektive eines involvierten, aber völlig distanzierten Icherzählers – einem literarischen Wiedergänger des Mersault aus Albert Camus’ „Der Fremde“ . Dadurch konfrontiert er die Leser erste Reihe fußfrei mit den Abgrün-

den einer Gesellschaft, die zwar stets den Lustgewinn sucht, aber keine Bereitschaft zeigt, Verantwortung zu übernehmen. Ein politischer Schriftsteller, der seinen Lesern eine Botschaft aufs Auge drückt, möchte Johannes Gelich auf keinen Fall sein. „Gute Literatur war schon immer unpolitisch am politischsten“, meint er im Gespräch. Andererseits wirken die Texte des 1969 geborenen Autors dadurch, dass er seine Figuren immer dezidiert in ein soziales Umfeld einbettet, um Hausecken politischer als jene der meisten seiner Alterskollegen. Gelich beneidet die Autorenschaft der Generation Pop um ihren unvermittelten Zugang zur Literatur, andererseits verblüfft ihn an deren Büchern die „Unverwurzeltheit der Stoffe und Figuren in einer zeitgemäßen Gesellschaft“.

Wieser-Verlag versammelte er Texte österreichischer Autoren, die ins Rumänische übersetzt wurden. Dabei habe er „viel gelernt – über Literatur, Texte machen, Lektorieren, Gespräche führen und so weiter“. Zurzeit weilt der Autor wieder in Rumänien: Er ist bis Ende Februar 2009 Stadtschreiber in Hermannstadt/Sibiu im Herzen Siebenbürgens und berichtet auf seinem Blog (www.johannesgelich.com) über seine aktuellen Beobachtungen und Erlebnisse im jungen EU-Land.

Einmal Dampf ablassen

Zwischen Salzburg und Sibiu Das Umfeld seines jüngsten Romans, die „zum Event entwickelte Hoch-, Fress- und Repräsentanzkultur“, die er hier aufs Korn nimmt, kennt Johannes Gelich aus eigener Anschauung. Aufgewachsen in einer Salzburger Villengegend, geprägt von einem autoritären Elternhaus mit braunen Schatten, von seiner popkulturfreien Jugend und später, als Student, von den Wiener Opernballdemos der späten 80er-Jahre, musste das Kind aus gutem Hause an den Rand Mitteleuropas reisen, um sein literarisches Coming-out zu erleben. Von 1999 bis 2001 arbeitete der Germanist als Universitätslektor in Ias¸i, der zweitgrößten Stadt Rumäniens, unweit der moldawischen Grenze. Hier entstand sein schwebend schöner Prosaerstling, die Novelle „Die Spur des Bibliothekars“, bei deren Erwähnung es dem Autor heute „kalte Schauer über den Rücken jagt“. Hier kommt Gelich in Kontakt mit einer Gruppe von Autoren, „die sich gegen das verkommene postkommunistische Schriftstellerestablishment stellten“. Für die Zeitschrift Wienzeile arbeitete er an einer Anthologie rumänischer Autoren, für den

Johannes Gelich: Der afrikanische Freund. Roman. Wallstein Verlag, 174 S., € 16,50

Mit „Der afrikanische Freund“ hat Gelich, der zu den interessantesten Autoren seiner Generation zählt, ein kräftiges Zeichen gesetzt. Aus ästhetischer Sicht scheint das mit Zitaten und Anspielungen gespickte Buch dennoch nicht rundum geglückt. Neben Camus, Marco Ferreris Film „Das große Fressen“ und Elfriede Jelineks „Kaprun“-Stück schwingt auch der Jedermann seine postmoderne Sense. Vor allem aber wirkt der Icherzähler, der sich hartnäckig einer Weiterentwicklung verweigert und wie blöd auf seinem „Was hat das mit mir zu tun?“-Standpunkt beharrt, auf die Dauer etwas monoton. Der stets selbstkritische Autor kann solche Vorbehalte verstehen: „Ich denke, die Gefahr, ins Fahrwasser schlechter, moralischer Literatur zu kommen, ist bei mir gegeben, und ich ahne auch, dass ich erst einmal drei, vier Romane rauslassen muss, Dampf ablassen, bis ich einmal etwas lockerer arbeiten kann.“ Die Voraussetzungen dafür sind sehr gut. „Der afrikanische Freund“ ist im Göttinger Wallstein Verlag erschienen, ein Vorabdruck des Romans in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Sommer brachte dem Autor in Deutschland Aufmerksamkeit und verlagsintern ein gutes Standing. Und die nötige Power, wieder ein gesellschaftlich relevantes Thema aufzugreifen und literarisch ergiebig auszuformen, bringt GeF lich von alleine mit.

Foto: © Jürgen Bauer

Michael Köhlmeier »Ein zartes Buch, das von der Zerbrechlichkeit des Lebens erzählt.« Jenny Hoch, Spiegel

112 Seiten. Gebunden. � 13,30 [A] www.deuticke.at

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Sachbuch

Boom und Blues am Bosporus Seit 45 Jahren knistert es zwischen Europa und der Türkei. Fünf Bücher durchleuchten das Land am Bosporus Essay: VERONIK A SE YR

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n der Debatte um den Beitritt der Türkei stellt Europa die entscheidende Frage über sich selbst: Ist Europa ein geografisches Gebilde oder eine Idee? 1999 erhielt die Türkei Kandidatenstatus. Seit 9/11 betrachten die USA und Teile der EU die Türkei als das Modell für die Versöhnung von Islam, Moderne und Demokratie. 2005 nahmen Brüssel und Ankara schließlich Beitrittsverhandlungen auf. Ein Blick in die Geschichte der Türkei und ihrer Beziehung zum Westen lohnt, um die seither lodernde Debatte zu verstehen. Seit die Türken zweimal vor den Toren Wiens standen, verbanden die Europäer mit der Türkei primär Negatives. Die „orientalische Frage“ formulierte im 19. Jahrhundert den Kern des Problems – und handelte davon, wie der „kranke Mann am Bosporus“ am Leben erhalten werden könne, damit Russland der Weg zum Mittelmeer versperrt und das europäische Gleichgewicht erhalten bleiben könnte. Seit 45 Jahren klopft die Türkei nun schon an

die Tore Europas, mal optimistisch, mal zornig, mal fordernd, mal schmollend, mal offensiv und dann wieder distanziert. „Die Türkei gehört zu Europa“, sagte am 12. September 1963 Walter Hallstein, damals Präsident der EWG-Kommission zum Assoziierungsabkommen EWG–Türkei. Diese ursprüngliche Euphorie ist mittlerweile einer breiten, gesamteuropäischen Skepsis gewichen. Wilfried Martens etwa, der Vorsitzende der konservativen europäischen Volksparteien, machte 1997 in den Türken eine Bedrohung der „zivilisatorischen Bedeutung Europas“ aus. „Die Dichte und Widersprüchlichkeit der Assoziationen zur Türkei haben freilich auch viel mit dem Land selbst zu tun“, stellen Günter Seufert und Christopher Kubaseck in ihrem Grundlagenbuch „Die Türkei: Politik, Geschichte, Kultur“ fest. Mangelnde Wirtschaftlichkeit, die Heere von Arbeitsmigranten nach Europa fließen ließen, Verschuldung, Inflation sowie drei Militärputschs verliehen der Türkei den Ruf von politischer Instabilität. Wegen der Unterdrückung der Kurden gewann sie endgültig das Image eines Polizei- und Folterstaates. Auch mit dem Islam tat sich der nur oberflächlich verwestlichte Staat schwer, die Diskriminierung der nicht-muslimischen Minderheiten blieb eine Konstante.

Seit dem Machtantritt der islamisch-konservativen AKP im Jahr 2002 kann die Türkei aber mit einer Positivbilanz aufwarten. In Europa sind diese jüngsten Erfolgsgeschichten bloß weitgehend unerzählt. Gerne wird die heutige Türkei noch an ihrer Diaspora in Deutschland und Österreich gemessen, an Immigranten, die ihren traditionellen Konservativismus der 60er- und 70er-Jahre pflegen, und die sich in der modernen Türkei des 21. Jahrhunderts wohl nicht mehr zurechtfinden würden. Die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft hat den Reformeifer in den vergangenen Jahren beflügelt und Teile der Elite für eine

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liberale Politik gewonnen. Politische Freiheiten und Minderheitenrechte wurden ausgeweitet, die Todesstrafe abgeschafft, ein neues Eherecht stärkt die Rechte der Frauen, kurdische Identität und Sprache werden schrittweise anerkannt, kulturelle Rechte – wenn auch noch zaghaft – gewährt. Währenddessen boomt die Wirtschaft, die Wachstumsraten liegen weit über dem EU-Niveau, die Inflation ist die niedrigste seit 50 Jahren. Ist dies alles nur Camouflage? Was ist mit der Türkei passiert in den letzten 45 Jahren? Und was mit Europa? Aus Anlass der Frankfurter Buchmesse 2008, bei der die Türkei als Gastland fungiert, soll hier eine Auswahl der Neuerscheinungen vorgestellt werden, die sich mit dem prekären Verhältnis EU–Türkei und der gesellschaftlichen Zerrissenheit jenseits des Bosporus beschäftigen.

Wohin geht die türkische Gesellschaft? Rainer Hermann, Islamwissenschaftler und seit 17 Jahren Korrespondent für die FAZ, nennt seine umfangreiche Analyse im Untertitel „Kulturkampf in der Türkei“. Der Impuls zu den tiefgreifenden Veränderungen in diesem Land gehe von der Gesellschaft selbst aus, die ihre Vielfalt entdeckt und den lange allmächtigen Staat zurückgedrängt habe, meint Hermann. Er stellt die Grundordnung der Republik Türkei dar, beschreibt die urbane Elite und ihre kemalistischen Dogmen, die der neuen Türkei zu eng geworden sind. Er zeichnet nach, wie aus anatolischen (muslimischen) Außenseitern eine Gegenelite entstand, welcher Weg sie in die Regierung geführt hat, wie die wirtschaftliche Macht der „anatolischen Tiger“ angewachsen ist und welche Konflikte sie mit den alten Eliten austragen. Aus dem „kranken Mann am Bosporus“, so Hermann, sei ein potentes Wirtschaftsland geworden mit neuem Bewusstsein und Selbstvertrauen. Das Buch zeichnet den an Krisen und Konflikten reichen Reifeprozess nach und erschließt dem Leser dabei einen von persönlichen Erfahrungen geprägten Blick auf diese faszinierende Entwicklung: die europäisch orientierte Kultur der modernen Türkei, das Ende der ideologischen Monopolansprüche des Staates und die stetig erstarkende Zivilgesellschaft.

„Die ursprüngliche Türkei-Euphorie ist einer breiten Skepsis gewichen“ Veronika Seyr

Istanbul-Blues

Leben auf den Bruchlinien Wohin zieht es die Türkei? Diese Frage stellt sich Amalia van Gent, seit 20 Jahren Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung in Istanbul. Sie beobachtet die Türkei bei der Suche nach sich selbst, 85 Jahre nach der Revolution Kemal Atatürks. In arroganter Verkennung der Wirklichkeit außerhalb ihrer Trutzburg, so van Gent, hätten die kemalistischen Machthaber lange Zeit ignoriert, dass das Korsett seiner Staatsdoktrin nicht mehr passe. Sie hätten dabei nicht realisiert, dass die Türken schlicht ihre Religion leben wollten, dass die Kurden sich in erster Linie als Kurden definierten und nicht, wie vom Staat unter Strafandrohung verordnet, als „Bergtürken“ und dass die heterodoxen Aleviten sich nicht länger als „Ungläubige“ oder „Verräter des Islam“

verfolgt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt sehen wollten. „Leben auf Bruchlinien. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst“ zeichnet die tiefen und zum Teil noch verschwommenen Bruchlinien unter der aktuellen Entwicklung nach: Islamisten gegen Kemalisten, Kopftuch gegen Säkularismus, EU-Mitgliedschaft oder konservatives Golfstaatenmodell mit boomender Wirtschaft? Das Buch zeigt, wie die Kurden offenbar zu der Überzeugung gelangt sind, dass ihr Heil in einer EU-Mitgliedschaft und nicht in staatlicher Selbstständigkeit liegt. Es rollt das Tabu der „Ehrenmorde“ auf, die Staatsaffäre um ein Stück Textil am Kopf der Frauen und stellt immer wieder die bohrende Frage: Wer sind eigentlich „die Türken“? Spricht jemand diese Fragen an, heult die Türkei auf, als fürchte sie, ihre alte Weltordnung gehe unter. Vielleicht tut sie das auch wirklich. Doch wäre das so tragisch? Liberale Türken zumindest vertreten den Standpunkt, dass die Türkei mit ihrer Vergangenheit ins Reine kommen müsse, wenn sie sich zu einer ausgereiften Demokratie entwickeln wolle. Sprich: die nationalen Gründungsmythen auseinandernehmen und begraben, die Opfer trösten und Abbitte leisten, die Täter und Geschichtsfälscher benennen und sie zumindest moralisch zur Rechenschaft ziehen. Nichts bleibt ausgespart bei den scharfen Analysen der Autorin, die deutliche Sympathie für ihr Gastland und seine Menschen erkennen lässt. Van Gent ist überzeugt, dass der Grundkonflikt der Türkei zwischen Europa und Asien noch lange nicht entschieden sei und eine EU-Vollmitgliedschaft, wenn überhaupt, nicht in fünf oder zehn Jahren, sondern eher in 15 bis 20 Jahren spruchreif werden könnte.

Zur Person: Veronika Seyr war als Auslandskorrespondentin des ORF. Nun arbeitet sie als Organsiationsberaterin und freie Publizistin

Die Spiegel-Korrespondentin Annette Großbongardt betrachtet die Türkei in ihrem neuen Buch ebenfalls unter dem Gesichtspunkt des Kulturkampfes zwischen Tradition und Moderne. Sie untersucht den scheinbaren Widerspruch zwischen den EU-freundlichen Islamisten der AKPartei und der EU-kritischen säkularen kemalistischen Opposition, die ihre alte Vormachtstellung mit Zähnen und Klauen verteidigt und dabei auch nicht vor einem militärischen oder juristischen Putsch zurückschreckt. In „Istanbul Blues. Die Türkei zwischen Tradition und Moderne“ zeichnet sie das Bild eines Landes mit Widersprüchen, Defiziten und Komplexen, aber voller Dynamik, Vitalität und Entwicklungskraft. In Istanbul, wo die Autorin von 2005 bis 2007 lebte, traf sie „die Protagonisten des Wandels und seiner Konflikte: Religiöse und Ultrasäkulare, Kopftuchfrauen und Mädchen im Minirock, Pro-Europäer und Nationalisten, Reformer und Ewiggestrige, weibliche Topmanager und Habenichtse aus der Provinz, die in der modernen Goldgräberstadt ihr Glück versuchen“. Die Reformkräfte sind nicht unsichtbar. Anderthalb Millionen Menschen marschieren nach der Ermordung des armenisch-türkischen Publizisten Hrant Dink durch Istanbul und haben dabei Schilder

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s a c h b u c h    umgehängt mit Botschaften wie: „Wir sind alle Hrant Dink“. Die islamisch verwurzelte AKP-Regierung un-

ter ihrem charismatischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül hat Fortschritte gemacht – und das wird von einer Mehrheit befürwortet. Aus diesem Grund fuhr die Regierungspartei bei den Parlamentswahlen 2007 einen triumphalen Wahlerfolg von 47 Prozent ein und ließ die kemalistische Opposition atomisiert zurück. Seither trommelt diese ohne Unterbrechung gegen den „islamistischen Gottseibeiuns“, behauptet, dass der Islamismus an der Macht sei, und torpediert auf jede erdenkliche Art die Annäherung an die EU, wobei der obsessiv geführte Kopftuchstreit, die Verhinderung der Wahl des religiösen Außenministers Gül zum Staatspräsidenten und das Verbot der AKP durch einen Juristenputsch in diesem Juli nur die jüngsten Beispiele sind. Im Westen werden diese Fortschritte immer noch weniger zur Kenntnis genommen als die Defizite, bedauert die Autorin – und fühlt mit den Türken mit, die mitunter in der EU pauschal abgeurteilt werden. Großbongardt zeigt die türkische Realität an ihren neuralgischen Konfliktpunkten zwischen Islam, Nationalismus und Demokratie, eine Momentaufnahme der

Atatürk leitet eine Kulturrevolution ein: „Ihr sollt werden wie ich.“ Seine Frau Latife ist ausgebildete Pilotin und trägt modische Hüte statt Schleier Türkei an der Schwelle nach Europa. Vor allem in Istanbul, Stadtmoloch mit 16 Millionen Einwohnern und Zukunftswerkstatt des Landes, mischen sich wie bei einem Blues Melancholie und Lebenskraft, Aufbruchsstimmung, Skepsis und Schwermut mit einem hohen Risiko des Scheiterns. Eine verlässliche Vorhersage über die weitere Entwicklung traut sich keiner der in dem Buch Interviewten zu – das sagt einiges darüber aus, wie unberechenbar der politische Prozess ist. Die nächsten Jahre werden über die Zukunft der Türkei entscheiden, meint die Autorin, nicht nur über die Frage, ob sie EU-Mitglied wird oder nicht.

Rebellenland Christopher de Bellaigue, Türkei-Korrespondent des Economist, bereiste den Osten der Türkei, die Grenzgebiete zu Armenien, Georgien und dem Irak, die heute vor allem Kurdenland sind und wo der Konflikt zwischen dem Westen und der islamischen Welt seinen Austragungsort gefunden hat. An den Schauplätzen des Genozids an den Armeniern sucht er nach Überlebenden, rollt die Geschichte der Kurdenaufstände in den 20er-Jahren ebenso auf wie den Krieg zwischen PKK und türkischer Armee. De Bellaigue macht sich auf zu den vergessenen Minderheiten, den Aleviten und assyrischen Christen, zeigt die sozialen, religiösen und nationalen Spannungen auf, lässt Protagonisten zu Wort kommen und verwebt seine Aufzeichnungen zu intimen Familiengeschichten voll Blut und Hass,

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Rache und Leid. In der Überfülle von Details geht dem Leser dabei leider oft der Erzählfaden verloren und er bleibt am Ende ziemlich ratlos zurück.

Schöne Frauen und ein Oberlehrer Die neue Atatürk-Biografie des Bamberger Turkologen Klaus Kreiser entzaubert den Gründer der modernen Türkei gründlich. Sie zeigt Mehmet Kemal Pasa ohne Personenkult und Denkmalschutz und erklärt, warum die Türkei von ihrer Vergangenheit nicht loskommt, wo doch ihr Gründer nichts anderes wollte, als sie in die Zukunft zu führen. Diese bislang umfangreichste, penibel recherchierten Biografie ist eine Fundgrube für das Verständnis der frühen Republik und die Ausstrahlung Atatürks auf die heutige Türkei. Mehmet Kemal wird als Kleine-LeuteSohn 1881 im multiethnischen Thessaloniki geboren. Er erlebt aus nächster Nähe den Zerfall der Sultansherrschaft und beobachtet, woran die Hohe Pforte krankt, deren Macht sich noch immer über drei Kontinente erstreckt. 1908 schließt er sich als Oberst der Revolution der „Jungtürken“ an. Den Krieg verbringt er als Militärattaché in Sofia und als Brigadier in Nordafrika, Palästina und im Jemen. Der Sieg über die weit überlegenen Briten auf der Halbinsel Gallipoli verschafft ihm militärische Autorität und macht ihn populär, bis er sich 1919 an die Spitze von nationalistischen Militärs setzt, die sich gegen die Zerstückelung des untergegangenen Osmanischen Reichs durch die Westmächte stemmen. Mehmet Kemal, seit 1934 Atatürk, „Vater aller Türken“ genannt, sammelt den militärischen Widerstand, schlägt die griechischen Invasionstruppen bei Izmir, führt den Bevölkerungsaustausch von zwei Millionen Menschen zwischen Türkei und Griechenland durch und ruft 1923 die Republik aus, löst das Kalifat auf und lässt den Sultan und die Mitglieder der osmanischen Dynastie ausweisen. Als Alleinherrscher peitscht er in der Großen Nationalversammlung ein Gesetz nach dem anderen durch, aus dem christlichen Europa führt er das Schweizer Zivilrecht ein, das italienische Strafrecht und das deutsche Handelsrecht und leitet eine Kulturrevolution ein: „Ihr sollt werden wie ich.“ Er verordnet seinen Untertanen, sich zum Höheren, das heißt für Atatürk, zum westlichen Menschen mit Bildung zu entwickeln. Atatürk agiert in verschiedenen Rollen: zuerst als Soldat und Politiker, der sich für die Verkörperung des Willens der Nation hielt, dann als Kulturrevolutionär, der Religion und Nation, Geschichtsbild und Sprache, Kleidung, Literatur, Musik und sogar die bildende Kunst tiefgreifend verändern wollte und so zum Gestalter der türkischen Moderne wurde. Er verlegt die Hauptstadt von Istanbul nach Ankara, also vom fragilen Rand ins stabile Zentrum, und verbietet wie Joseph II. die unproduktiven Klöster, Derwisch­ orden und Muslimbruderschaften. Atatürk ist seit früher Jugend auf die europäische Kultur ausgerichtet und sieht die Entwicklung seiner republikanischen Türkei ausschließlich nach ihrem Vorbild. „Das Gesicht der Türkei schaut nach Westen“, lautet das Motto Atatürks und seiner Mitstreiter. Kreisers Biografie zeichnet die Einflüsse der europäischen Lektüre auf das Denken des bildungshungrigen Offiziers nach sowie seine Reisen nach Paris, Wien, Karlsbad, München, Straßburg und Berlin. Um

Amalia van Gent: Leben auf Bruchlinien. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst. Rotpunktverlag, 300 S., € 14,70

Annette Großbongardt: Istanbul Blues. Die Türkei zwischen Tradition und Moderne. rowohlt, 219 S., € 18,40

Christopher de Bellaigue: Rebellenland. Eine Reise an die Grenzen der Türkei. C.H. Beck, 343 S., € 20,50

Klaus Kreiser: Atatürk. Eine Biographie, C.H. Beck, 334 S., € 25,60

Rainer Hermann: Wohin geht die türkische Gesellschaft? Kulturkampf in der Türkei. dtv, 315 S., € 15,40

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selbst mit gutem Beispiel bei der Emanzipation der türkischen Frau voranzugehen, heiratet Atatürk die junge Millionenerbin Latife Usakligil, die vier europäische Sprachen spricht, an der Pariser Sorbonne Jura studierte, bei der Wiener Liszt-Schülerin Anna Grosser-Rilke das Klavierspiel so gut lernte, dass sie mit einer Romanze von Tschaikowski den sowjetischen Botschafter verzaubert und mit dem auswendig aufgesagten ersten Teil des „Faust“ den deutschen Botschafter verblüfft. Latife reitet Pferde, ist ausgebildete Pilotin, trägt demonstrativ keinen Schleier, sondern modische Topfhüte zu engen Schneiderkostümen und hohen Absätzen; sie begleitet den Präsidenten auf zahlreichen Reisen und vermittelt der Bevölkerung das Bild einer modernen türkischen Frau. Obwohl die Ehe nach nur 1000 Tagen geschieden wird, ist Latife das SuperRolemodel für Atatürks Reformvorhaben, die Frauen vom Schleier zu befreien und ihnen gleiche Rechte und Ausbildung zukommen zu lassen. Es bleibt die einzige Ehe des Egomanen, seine Revolution bietet keinen Platz für eine emanzipierte, ehrgeizige Ehefrau. Später schart er fünf Adoptivtöchter um sich, von denen man allerdings in keiner Atatürk-Biografie – auch nicht in dieser – viel erfährt. Den Männern verbot er das Tagen des traditionellen Fez und verordnete europäische Hüte. Atatürk trat als Oberlehrer der Nation in Anzug und Krawatte, mit Bowlerhut oder Kalabreser vor den Volksmassen auf, denen er die „neue zivilisierte und internationale Kleidung“ erklärte: „Als Fußbekleidung tragen wir Halbschuhe oder Halbstiefel, an Beinen Hosen, eine Weste, ein Hemd, ein Jackett und selbstverständlich auf dem Kopf einen Hut mit Sonnenkrempe.“ Der noch viel radikalere Angriff auf die alte Ordnung war Atatürks Verbot der islamischen Gesetzgebung, des Scherifats, der muslimischen Orden, der arabischen Sprache und Schrift, der Sprache des Korans. Unter allen Reformmaßnahmen nehmen die Schrift- und Sprachreform einen besonderen Platz ein, stellt Kreiser fest. Unermüdlich reiste Atatürk durch das Land und hielt Volksbelehrungen im großen Stil ab. Ab 1929 startete ein Alphabetisierungsprogramm für alle 16- bis 30-Jährigen, das nicht nur in die Schulen, sondern auch in die Moscheen, öffentlichen Gebäude, Fabriken, Hospitäler und Kaffeehäuser getragen wurde. Er erhielt nun auch offiziell den Titel Oberlehrer (basmuallim). Allein mit der Nacherzählung der Ehrentitel Atatürks, des „Vaters aller Türken“, kann Kreiser ein ganzes köstliches Kapitel füllen. Warum scheiterte die Revolution des „Demokraten, der am liebsten allein regierte“ letztlich? Es blieb eine Revolution „von oben“, die von Atatürk geschaffene Einparteienherrschaft seiner CHP (Cumhuriyet Halk Partisi) war eine moderne Autokratie, in der die Unterdrückung alles „Untürkischen“ eine Konstante blieb. Und die Nachkommen sind sich bis heute nicht im Klaren darüber, wie sie es mit dem Erbe des Gründers halten sollen: Kemalistischer als Atatürk meißeln die einen seine Dogmen in Stein, überziehen all jene mit Prozessen, die am Denkmal kratzen und suchen ihr Heil in nationalistischer Abschottung, die sich letztlich gegen die eigene Bevölkerung richtet. Die anderen wollen Religion, Tradition und Geschichte wieder jenen Raum geben, den Atatürk ihnen einst nahm. Der Ausgang F dieses Konflikts ist freilich noch offen.

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Sachbuch

„Hätte ich mich besser verhalten?“ Der britische Historiker Orlando Figes wagt sich in „Die Flüsterer“ hinab in die Abgründe des Stalinismus Intervie w: Erich Klein

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er britische Historiker Orlando Figes, Verfasser einer monumentalen Geschichte der Oktoberrevolution mit dem Titel „Tragödie eines Volkes“ (dt. 1998) und der nicht minder imposanten russischen Kulturgeschichte „Nataschas Tanz“ (dt. 2003) hat mit „Die Flüsterer“ eine Tiefenbohrung in das Innere des Stalinismus unternommen. Die Wahrheit über den Gulag und den Stalin’schen Terror mit seinen 25 Millionen Toten wurde jahrzehntelang nur im privaten Familienbereich erzählt – eben geflüstert. Anhand von Tagebüchern prominenter Autoren wie Kornej Tschukowskij oder Michail Prischwin, privater Familienarchive wie jenem von „Stalins Liebling“ Konstantin Simonow, vor allem aber von hunderten Interviews, die Mitarbeiter der Moskauer Menschenrechtsorganisation Memorial durchführten, entstand eine imposantes Panorama des Lebens in Stalins Russland mit seinen Auswirkungen bis in die Gegenwart. Ein Teil des historischen Ausgangsmaterials ist übrigens unter www.orlandofiges.com einsehbar.

Falter: In den letzten Jahren hat eine Reihe britischer Historiker umfangreiche Bücher über den Stalinismus verfasst – woher rührt das vehemente Interesse an Sowjetgeschichte? Orlando Figes: Man kann das allgemein mit

der Renaissance der Geschichtsschreibung in England erklären – britische Historiker haben über alle europäischen Länder sehr viel publiziert. Nehmen Sie etwa Ian Kershaw oder Richard Evans mit ihren Büchern über Deutschland. Was Russland betrifft, so begann ich mit meinen Recherchen in den 80er-Jahren, in den 90ern kam mir dabei natürlich die Öffnung der Archive zugute.

Kein Historiker etwa in Deutschland hat derart schonungslos die russische Erfahrung des Zweiten Weltkriegs als Freiheit vom Stalinismus beschrieben. Nach dem Historikerstreit der 80er Jahre schlug man sich dort lange mit mythologischen Vergleichen herum, in denen es darum ging, welches System schlimmer war. Figes: Da hatten wir Briten günstigere Vo-

raussetzungen. Bei den amerikanischen Sow­jethistorikern findet man oft die Spuren des Kalten Kriegs. Was meine eigene Einstellung zu diesem Projekt betrifft, so war das Ergebnis ohne Zweifel auch dadurch beeinflusst, dass ich aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden stamme. Ich hätte vermutlich keine vergleichbare deutsche Geschichte schreiben können, weil es meiner eigenen Familiengeschichte zu nahe gekommen wäre. Als wir in Russland begannen, die unterdrückten Erinnerungen an die Stalin-Zeit auszugraben, stellte ich fest, dass ich ähnliche Erfahrungen mit meinen Großeltern gemacht hatte. „Die Flüsterer“ ist im Grunde eine Geschichte der Sowjetunion von ihrem Anfang bis zum Ende. Was hat Sie nach der auf Dokumenten beruhenden „Tragödie eines Volkes“ dazu bewogen, diese Geschichte als Oral-History-Projekt mit allen damit verbundenen Problemen zu schreiben?

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Figes: Sie haben Recht – es ist eine Geschichte der Sowjetunion, aber deren innere Geschichte. Eine interne Geschichte im Sinn des Historikers Michail Gefter. Entscheidend war der Umstand, dass ich eine Menge russischer Familien kennengelernt hatte. Ich war plötzlich in eine Sphäre eingetreten, die sich ganz wesentlich von dem unterschied, was üblicherweise über die Sowjetunion geschrieben wurde. Gefter meinte, es gehe vor allem darum, jenen Stalinismus zu erforschen, „der uns ganz und gar erfüllte, der tief in uns eingedrungen war“. Ich versuchte, die Geschichte der Generation von 1917 zu beschreiben, von Menschen, die unter dem Kommunismus aufwuchsen und den ganzen Stalinismus durchlebten. Der Verlauf ihres Lebens folgte der politischen Geschichte des Landes, und mich interessierte, wie sie am Ende ihres Lebens versuchten, die Dinge zu reflektieren, welche Überlebensstrategien sie anwandten, wie die Beziehungen zu ihren Familien aussahen. Meines Wissens hat das niemand vor mir gemacht. Ich war 20 Jahre lang damit beschäftigt – es ist das Projekt meines Lebens.

joscha kannte ich schon länger. Aljoscha war, obwohl er ein kompliziertes Verhältnis zu seinem Vater hatte, wütend auf mich und fragte unumwunden: „Warum verurteilst du ihn? Machst du ihn für alles verantwortlich, weil du die Laskin-Familie so sehr magst?“ Simonow hatte seine erste Frau, eine Tochter der Laskins, aus Karrieregründen verlassen. Schließlich habe ich meine moralische und historische Position verändert, Simonows Geschichte attraktiver, aber auch komplexer dargestellt. Die englische Biografin Claire Tomlin meinte in einer Diskussion, sie schätze mein Buch, weil es ohne Moralisieren auskomme. Ich dachte: Gut, genau das wollte ich. Der Großteil an Geschichte der Stalin-Zeit ist moralisierend geschrieben – nehmen Sie Robert Conquest oder Solschenizyn, der ständig den Zeigefinger hebt. Solschenizyn schrieb aber unter ganz anderen Bedingungen! Figes: Natürlich hat man mit dem Bösen zu

tun, aber selbst bei Simonow, wo wirklich vieles scheiße ist, schaut man dieses Leben genauer an, muss man sich fragen: Hätte ich mich besser verhalten?

Welche Figur in Ihrem Buch verachten Sie am meisten? Figes: Stalin. Für die eigentlichen Helden „Ich versuchte,

meines Buchs kann ich das aber nicht beantworten. Das ganze Projekt hat mich und die Leute von Memorial von Grund auf verändert. Anfangs war ich mit meinen moralischen Urteilen rigoros, lässt man sich aber auf eine konkrete Geschichte ein, sieht alles anders aus. Schließlich weiß niemand, ob er sich in derart unmöglichen Situationen besser verhalten hätte. Nehmen Sie Walentina Kropotkina, eine meiner Figuren. Sie gab im Interview zu, dass sie eine Reihe von Menschen denunziert hat – wir wussten auch, dass sie daraus materiellen Vorteil zog. Später versuchte sie sich mit allen möglichen Ideologien und Irrtümern zu rechtfertigen. Es wäre leicht, sie zu verurteilen. Hört man aber die ganze Geschichte – die Armut, in der sie aufwuchs, den Umstand, dass ihre Mutter vermutlich Prostituierte war, dass die Familie obdachlos war, wie sehr sie sich für ihre Eltern schämte und dass sie im neuen System einen Ausweg aus dieser ganzen Erniedrigung sah –, wie soll man dann noch jemanden verurteilen?

die Geschichte der Generation von 1917 zu beschreiben, von Menschen, die den ganzen Stalinismus durchlebten. Es ist das Projekt meines Lebens“

Orlando Figes

genja Ginzburg hat ihr Narrativ heroisiert und die Bedeutung der individuellen Identität gegenüber dem System unterstrichen. Für viele Mitglieder der Intelligenzija und einige Dissidenten mag das wichtig sein. Jemand, der in diesem System als einfacher Kulakensohn aufwuchs, auch keinen besonderen intellektuellen Widerstand leisten konnte, oder jemand, der als Kind in der Verbannung aufwuchs und trotzdem an das System glaubte – diese Menschen sind für mich ein viel allgemeineres Phänomen. Genau diese Leute stellen aus westlicher Sicht ein absolutes Paradox dar.

urteilen nicht verloren, aber im Laufe der Arbeit stellte sich heraus, dass ich ein anderes Buch schreiben würde, als anfänglich geplant. Das wurde besonders deutlich im Fall der Geschichte des Schriftstellers Kons­t antin Simonow.

stellung. Als ich seine Welt kennenlernte, war alles schwarz-weiß. Wie alle Geschichten gab ich auch jene von Simonow dessen Familie zu lesen, seinen Sohn Al-

lebendiger Geschichte zu tun hat. Ich hatte in diesem Fall bemerkt, dass die Familie nicht alles wusste. Für mich ist Simonow die zentrale Geschichte des Buchs: Man sieht, wie moralisch kompromittiert das persönliche, ja sogar das intime Leben sein kann. Die Hauptfrage war für mich: Kann man im öffentlichen Leben ein Stalinist sein und dabei als Privatperson ein guter Mensch bleiben? Und – kann man? Figes: Ich glaube nein. Sie geben gebrochenen Figuren offenbar den Vorzug gegenüber Heldengeschichten wie jener der Schriftstellerin Nadeschda Mandelstam. Figes: Eine prominente Autorin wie Jew-

Was hat sich an Ihrer Einstellung genau geändert? Figes: Ich habe die Fähigkeit, moralisch zu

Es gäbe viele Gründe, Simonow zu verachten. Er war einer der Wortführer während Stalins antisemitischer „Antikosmopolitenkampagne“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit, trat noch 1979 als Altstalinist gegen junge Autoren auf und denunzierte sogar in den 1990er-Jahren immer noch Studienkollegen. Figes: Das war auch meine anfängliche Ein-

Am Ende Ihres Buchs erwähnen Sie, dass die Erben das Simonow-Archiv, das Sie für Ihre Arbeit benutzen konnten, für weitere 25 Jahre sperren ließen. Die Familie war schockiert und beleidigt zugleich. Figes: Das ist ein Problem, wenn man es mit

Orlando Figes: Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin Verlag, 928 S., € 35,–

Glauben Sie wirklich, dass die Russen die Geschichte des Stalinismus nicht kennen? Schließlich hat Chruschtschow die Geschichte schon einmal, wenn auch sehr verzerrt, „entstalinisiert“. Figes: Natürlich sagen sie, dass sie das alles

kennen. Fragt man aber genauer nach, erfährt man kaum Details. Unter Putin kümmert sich niemand mehr um diese Geschichten, und die Enkel sagen, das haben Oma und Opa erlebt, aber wir brauchen das alles nicht mehr. Gesprochen haben sie mit F ihnen aber nie.

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Reise ins strahlende Reich der Finsternis Karl Schlögel schrieb einen grandiosen Essayband über „Terror und Traum“ im Moskau des Jahres 1937 te x t: ALFRED PFOSER

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in historischer Reiseführer? Karl Schlögels Buch über das Moskau von 1937 legt auf den ersten Blick eine solche Nutzung nahe: Auf den inneren Coverseiten ist nach Art eines alten Baedeker ein historischer Stadtplan wiedergegeben, dessen eingeringelte Nummern auf die Hotspots verweisen und die Schlögel dann in den einzelnen Kapiteln als Stadtreporter ansteuert. Darunter sind natürlich die klassischen Adressen der Politik wie der Kreml, der Rote Platz oder das Hotel Lux, in dem die prominenten Polit-Emigranten wohnten. Nicht fehlen dürfen die klassischen Kulturbauten wie das Bolschoi-Theater, in dem 1937 der Geheimdienst Tscheka den 20. Geburtstag feierte, oder das Konservatorium, in dem Schostakowitschs Fünfte Symphonie aufgeführt wurde. Schlögel führt uns auch zur neuerrichteten kulturellen Infrastruktur, zu den modernen Kinopalästen, zum konstruktivistischen Schuchow-Radioturm, zum Gorki-Vergnügungspark und zu den Mosfilm-Studios, die in der kinofanatischen Sowjetunion Hollywood Konkurrenz machen sollten. Vom Flugfeld Tuschino starteten die Rekordpiloten zu ihren tollkühnen Flügen zur Artkis und über die Arktis hinaus in die USA. Das Moskau des Jahres 1937 war ein Wall-

fahrtsort des kulturellen Aufbruchs. Schriftsteller, Künstler, Architekten und Wissenschaftler aus aller Welt kamen angereist, um an der Vision einer neuen Gesellschaft Anteil zu nehmen. Moskau sonnte sich im Glanz des Generalplans von 1935, führte der staunenden Welt die fashionable Metro mit ihrem Luxus vor, ließ die Reisegruppen den als Gesamtkunstwerk konzipierten Moskwa-Wolga-Kanal befahren, der die Metropole mit den Weltmeeren im Norden, im Westen und im Süden verband. Der Palast der Sowjets, mit einer gigantischen Lenin-Statue an der Spitze, sollte die Krönung der vielen architektonischen Großprojekte werden. Bereits die Sprengung der Christi-Erlöser-Kathedrale, an deren Stelle sich der Monsterbau erheben sollte, und der Internationale Architekturwettbewerb bereiteten den Jahrhundertbau vor, an dessen Fundamenten 1937 gearbeitet, der aber nie realisiert wurde. Mit den Schauprozessen begann in diesem Jahr auch die Entfesselung des Großen Terrors. Während Moskau sich als Stadt der Utopie pries, wurden 700.000 Menschen ermordet, insgesamt mehr als 1,5 Millionen verhaftet; sie mehrten das bereits vorhandene Millionenheer in den Arbeitslagern. Insgesamt starben an dieser Orgie der Gewalt, die Opfer der Lager miteingerechnet, etwa zwei Millionen Menschen. Die Moskauer Zentrale unter der Regie Stalins gab den einzelnen Regionen Quoten vor, wie viele Personen zu verhaften und zu exekutieren waren. Auch das Ende des Mordens war typisch: Nikolai Jeschow, der Chef der Geheimpolizei NKWD, wurde 1938 als Schuldiger verhaftet und exekutiert. Der Große Terror wurde plötzlich als Werk des Feindes verkauft.

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Wie solchen Exzess erklären, mit seinen katastrophalen Folgen des Verlusts von Wissen und Menschenpotenzial, mit seiner destruktiven Produktion einer allgegenwärtigen Paranoia, mit dem millionenfachen Leid in den Familien, die traumatisiert weiterlebten, die nächste, noch größere Katastrophe, den Zweiten Weltkrieg, am Horizont? Wie diesen Exzess zusammendenken mit dem doch evident vorhandenen, von den Menschen so auch erlebten Aufbruch? Die Kunst der vielen topografischen Essays Moskau 1937:

von Karl Schlögel besteht darin, dass der renommierte Osteuropa-Historiker es schafft, mit charakteristischen Szenen und Szenerien, mit der Schilderung der Begebenheiten und agierenden Personen die Schauplätze und Geschehnisse einerseits vor unseren Augen lebendig werden zu lassen und sie andererseits lesbar zu machen, das heißt zu entschlüsseln. Das Erzählerische wird ergänzt durch das Analytische. Das Utopische wird in seinem Moskau des Jahres 1937 genauso sichtbar wie das Verbrecherische; beides war in ein und derselben Stadt simultan am Werk, beides eng miteinander verbunden. Aufbruch mit Wahnsinn, die Reise in die Finsternis als Essenz der Moderne. Dialektik der Aufklärung in der am schlimmsten denkbaren Zuspitzung. Jeder von Schlögels Essays steht auch für sich, aber in Summe ergeben sie mehr als die Addition der Teile, es geht Schlögel um die große Tragödie dieser Stadt in diesem entscheidenden Jahr. Entsprechend dem Charakter eines Essaybandes verweigert das Buch am Ende des puzzlehaften Gesamtgewebes die Zusammenfassung, um die Offenheit seiner Recherchen und Ergebnisse zu bekunden, um klarzumachen, dass dieses Jahr damals unbegreiflich war und es bis heute bleibt. Karl Schlögel kann und will die Verwunderung über das Unfassbare und Gespenstische der Vorgänge nicht auflösen. Die Abhörprotokolle, die zurückgebliebenen Tagebücher oder die Gerichtsakten lassen zwar heute eine Rekonstruktion der drei großen Schauprozesse einigermaßen zu, aber wie es damals wirklich gelang, hartgesottene Revolutionäre mit reicher Erfahrung in mutigem Auftreten dazu zu bewegen, vor der Weltöffentlichkeit ein falsches Schuldgeständnis abzulegen, gibt noch immer Rätsel auf. Warum gaben die Hauptangeklagten coram publico an, als Konterrevolutionäre, Verschwörer und Feinde der Sowjetmacht tätig gewesen zu sein? Sie, die ehemalige Mitstreiter Lenins, bekannte Parteiführer und führende Repräsentanten der Sowjetmacht gewesen waren und Krieg, Bürgerkrieg und Kollektivierung überstanden hatten? Sogar der amerikanische Botschafter in der Sowjet­ union wurde vom perfekten Schauspiel überrumpelt, eine britische Juristendelegation bescheinigte dem Verfahren einen korrekten Ablauf – dabei war die ganze Beweislast auf nichts als Geständnissen aufgebaut. Und diese lagen zweifelsfrei vor und wurden in der Presse breit wiedergegeben. Die Schuldigen legten sich die Schlinge selbst um den Hals.

Kinopaläste und der Gorki-Vergnügungspark, vom Flugfeld Tuschino starten Rekordpiloten zu Polarflügen. Gleichzeitig beginnt der Große Terror: 700.000 ermordete Menschen, 1,5 Millionen Verhaftungen

Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937. Hanser, 815 S., € 30,80

Die Sowjetmacht versteckte die Prozesse nicht, sondern machte sie durch Massenkundgebungen, große Zeitungsaufmacher und bewegende Radioberichte zum Massenereignis. Der Staatsanwalt überzog die Angeklagten mit Beschimpfungen, denen wie ein Echo aus allen Teilen der Sowjetunion die Forderung nach der Todesstrafe folgte. Diesem Wunsch wurde entsprochen. Der Welt wurde das Bild vermittelt, dass das Volk den Terror wünscht. Viele wurden unmittelbar nach Prozessende erschossen, andere kamen mit Haftstrafen davon und verschwanden im Gulag. Der Zufall entschied über Tod oder Leben. Kaum einer wusste, warum, niemand war sicher, wer der Nächste sein würde. Im Essay „Bucharins Abschied“, der im Gefängnis Lubjanka spielt, aber nicht nur in diesem, führt Schlögel vor, dass er auch ein glänzender Porträtist ist. Die Sowjetunion war, trotz ihrer prächtigen Fassaden, in den 30er-Jahren nahe dem Zusammenbruch. André Gide fielen bei seinem Besuch in Moskau die endlos langen Schlangen vor den Kaufhäusern auf, Lion Feuchtwanger registrierte die katastrophalen Wohnverhältnisse. Moskau glich am Stadtrand einem „Nomadenlager“. Innerhalb weniger Jahre strömten Millionen in die Stadt, eine gewaltige Wanderungsbewegung paralysierte die Sowjetunion. Die Kollektivierung am Anfang der 30er-Jahre hinterließ eine höchst irritierte, hungernde bäuerliche Bevölkerung, die in die Städte aufbrach, um dort ihr Glück zu suchen und in den neuen, riesigen Fabriken und Baustellen zumindest Arbeit zu finden. Die Stadt brachte Anonymität, verhieß eine neue Identität, schüttelte die alte, gefährliche, da adelige oder bürgerliche „Kulaken“-Vergangenheit ab und verschaffte vielen die Möglichkeiten, über Bildung und Anpassung den Aufstieg zu erreichen. Wie Schlögel am Beispiel der Stalin-Autowerke zeigt, waren die Fabriken Schmelztiegel, verführerisch auch mit ihren Angeboten an Kinos, Bibliotheken oder Sportplätzen. Es herrschte Chaos, und Stalin steigerte es, um Ordnung zu schaffen. Im Herbst 1937 sollten erstmals „allgemeine, freie, geheime Wahlen“ abgehalten werden. Viele in der Partei warnten. Aber Stalin zog die Idee durch und entfaltete in ihrem Namen den Großen Terror, um Gefügigkeit herzustellen. Die Säuberungen machte er populär, indem Arbeiter und Kolchosbauern aufgefordert wurden, ihre Vorarbeiter und Aufseher zu kritisieren. Fehler wurden in Verbrechen umgewertet, Unfälle in Sabotage. Die Idee, dass es Schuldige gab, die zur Verantwortung gezogen werden konnten, war verführerisch. Die Eliten zitterten, wurden exekutiert und verbannt. Der Große Terror war auch eine Art Kulturrevolution, in der neue, meist blutjunge Leute an Machtpositionen kamen. „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“, so Nikolai Bucharin im Schauprozess. Schlögel hält offensichtlich nichts von solcher Hegel’schen Tröstung. Mit seinen erzählerisch wahrlich beeindruckend gearbeiteten Essays hält er auch den Schock fest, der uns beim Betrachten des MoskauF er Bacchanals im Jahr 1937 befällt.

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Sachbuch

Ich denke, also bin ich ein Mediennetzwerk

Schild kröten knacken, Seelöwen reinlegen

Merlin Donald sezierte das menschliche Bewusstsein. Sein Fazit: Der Mensch ist doch mehr als eine neuronale Maschine

Markus Bennemann schrieb ein gutes Buch über Tiere: Sie überleben durch Strategien, die auf Kosten anderer gehen

TE x t: FR ANK HARTMANN

enn in einem Sachbuch über W Bewusstsein im Register die Namen Kant und Hegel fehlen, dafür

aber der von Kanzi, einem BonoboZwergschimpansen, auftaucht, dann scheint uns wieder einmal ein amerikanischer College-Professor die Welt erklären zu wollen. Es kommt dann doch ganz anders, denn Merlin Donald ist erstens Kanadier und zweitens Neurowissenschaftler mit empirischer Forschungserfahrung im Bereich menschlicher Kognition. Es geht also ausnahms­ weise einmal um das Gehirn und nicht bloß um die Gene. Schon Donalds erstes, nicht übersetztes Buch zum Ursprung des ­modernen Geistes widmete sich der kognitiven Evolution. An der vorliegenden deutschen Ausgabe seines zweiten Buches, das dieses Motiv fortsetzt, fällt sogleich auf, dass es sehr gut lesbar ist. Man lernt, was diskutiert wird: Sind Geist und Bewusstsein kulturelle Erfindungen? Hängen die Experimentalforscher der cartesianischen Trennung in Geist und Materie immer noch an, wenn sie den Geist als kognitiven ­Dämon betrachten, der aus dem Menschen eine Art spezialisierte neuronale Maschine macht?

Bewusstsein ist im Unterschied zum

Wissen eine Art reflexives Mitwissen oder, frei nach Kant, das alle meine Vorstellungen begleitende „Ich denke“. Die Bewusstseinsphilosophie vergangener Jahrhunderte hat immer wieder vernachlässigt, dass kultureller Ausdruck, historische Situiertheit oder Geschlecht dieses „Ich denke“ unterschiedliche Formen annehmen lassen. Donald macht klar: Bewusstsein ist das Produkt einer evolutionär erfolgreichen Strategie, die darin besteht, geistige Leistungen an entsprechende Kulturtechniken zu binden. Das menschliche Gehirn leistet demnach alles Wesentliche nicht aus sich heraus, sondern durch seine Einbindung in kommunikative Netze. Schon das Kind lernt über neuronale Rückkopplungen. Bewusstsein ist ein soziales Produkt, das man nicht ergründen kann, indem man das Gehirn seziert oder sein Funktionieren gerätetechnisch

visualisiert. Ein Hybrid aus biologischem und symbolischem Gewebe. Nicht ich denke, sondern wir denken. Kann Kultur den Evolutionsprozess korrigierend überbieten? Donald beantwortet diese Frage eindeutig positiv. Kulturelle Künstlichkeit, wie sie mit dem Gebrauch externer Symbolsysteme wie der Schrift auftrat, ist ein relativ junges Phänomen. Die Spezies Mensch war, was genetische Ausstattung und Gehirnentwicklung betrifft, in ihrer Entwicklung längst abgeschlossen, als sie den Schrift­gebrauch entwickelte. Symboltechniken sind keine Naturgegebenheiten, sondern kulturelle Hervorbringungen, die im ­L aufe der Zeit allerdings individuelle und kollektive Formen der Kognition umstrukturieren. Seine überlegenen Fähigkeiten verdankt das menschliche Bewusstsein demnach den externen Gedächtnisfeldern, die auch von anderen benutzt werden können. Dass das eine starke These ist, erschließt sich aus der Tatsache, dass unsere heutige Gesellschaft vielschichtige Symboltechniken entwickelt hat, die sich als Medien der kognitiven Kooperation verstehen lassen. Donalds Beitrag zur Theorie des Bewusstseins ist also auch medientheoretisch geprägt, obwohl dieser Ausdruck nicht den Weg in seinen Diskurs gefunden hat. Donald weist auf Arbeitsweltstudien hin, die gezeigt haben, wie die Verwendung neuer Medien die Formen des Wissens verändern. Die Technologien verteilter Netzwerke verändern das Verhältnis zwischen Geist und Technik oder Bewusstsein und Medien insgesamt. Entsteht hier eine kategorial neue Form von Bewusstsein? Was für eine Relevanz hätte dieses Buch erlangen können, hätte Donald gerade diese These nicht in einer abF gelegenen Fußnote versteckt. Merlin Donald: Triumph des Bewusstseins. Die Evolution des menschlichen Geistes. Aus dem Amerikanischen von Christoph Trunk. Klett-Cotta, 348 S., € 25,60

TE x t: K ARIN CHLADEK

icht argumentative ErkenntnisN se aus der Verhaltensforschung, sondern das pure Staunen am Ein-

fallsreichtum der Natur, an überraschenden tierischen Jagdmethoden und bizarren Jäger-Beute-Konstellationen steht im Mittelpunkt dieses unterhaltsamen Buches. „Im Fadenkreuz des Schützenfisches. Die raffiniertesten Morde im Tierreich“ ist wie kurzweiliges „Universum“Fernsehen zwischen Buchdeckeln – ein filmreifes und teilweise auch von neueren Film- und Fernsehdokumentationen bekanntes Kaleidoskop über das Fressen und Gefressenwerden. So ist zum Beispiel die Tatsache, dass Schwertwale auf der Jagd nach jungen Seelöwen absichtlich „stranden“ können, um ihre Beute durch den ebenso spektakulären wie riskanten Landgang zu überrumpeln, spätestens seit Ausstrahlung der BBC-Serie „Unser blauer Planet“ weltweit bekannt. Der Autor Markus Bennemann, selbst Biologe, arbeitet unter anderem als Verfasser von Drehbüchern, was sich durch fantasievolle Perspektivenwechsel auch in diesem Buch bemerkbar macht.

„Mord“ ist natürlich ein unpassendes

Wort, wenn es um „Tötungen“ im Tierreich geht, die fast ausschließlich dem eigenen Überleben eines Jägers dienen, dennoch: Bennemann betont mit diesem Begriff die Tatsache, dass viele dieser „Tötungen“ verblüffend ausgeklügelt und planvoll wirken. Und „wirken“ gibt hier das Stichwort für ein offensichtliches konzeptuelles Manko des Buchs: Bennemann macht in seiner Zusammenstellung keinen Unterschied zwischen primär instinktgesteuerten, aus langer evolutionärer Entwicklung hervorgegangenen, körpereigenen Jagdwaffen wie dem zielgenauen „Spuckangriff“ des Schützenfischs, der ebenso treffsicheren Zunge des Chamäleons oder den Mimikryködern von Wüstentodesotter und Anglerfisch einerseits und den durch soziales Lernen entstandenen, komplexen Jagdmethoden von „Intelligenzbestien“ wie Schimpanse, Schwertwal, Delfin, diversen Vögeln, Hermelin, Eisbär und Eisfuchs andererseits.

Der grundsätzliche Unterschied ist klar: Die einen haben die Wahl der Mittel, die anderen nicht. So ausgefeilte Jagdmethoden wie das gezielte Stranden der Schwertwale, das Einkreisen von Beute in der Gruppe bei Delfinen oder auch der Werkzeug­ gebrauch bei Schimpansen, Seeottern und sogar Reihern wurden irgendwann von besonders kreativen Individuen entwickelt und werden nun an die jeweils nächste Generation weitergegeben, von Jungtieren mühsam gelernt und nur in passenden Situationen eingesetzt. Einem jungen Schützenfisch oder Pistolenkrebs muss niemand beibringen, wie man Beute „abschießt“ – er beherrscht seine Art, auf die Pirsch zu gehen, von Anfang an perfekt. Allerdings nur diese. Die Frage, ob und wie bestens, aber einseitig angepasste Jäger auf neue Herausforderungen ihrer Umwelt reagieren, ob sie „lernen“ können oder ganz auf die lange Hand der Evolution angewiesen sind, bleibt ungestellt und auch unbeantwortet. Trotzdem: Wenn „Im Fadenkreis des Schützenfisches“ auch keine große intellektuelle Herausforderung darstellt, bietet es amüsante und gut dokumentierte, streckenweise faszinierende Einsichten in tierische Überlebensstrategien. Nicht alle sind so bekannt wie die Schildkrötenknackmethode mediterraner Adler, die als berühmtesten Kollateralschaden auch den Tod des Dichters Aischylos zur Folge hatte. Überraschende Highlights sind etwa der als Lawine getarnte Angriff des Kragenbären auf Hirsche oder auch die Methode des südafrikanischen Honiganzeigervogels, Menschen offensiv zu gemeinsamen Raubzügen auf Bienennester einzuladen. Eine Komplizenschaft, die den Menschen Honig und dem Vogel Bienenlarven und F -wachs einbringt. Man staunt.

Markus Bennemann: Im Fadenkreuz des Schützenfisches. Die raffiniertesten Morde im Tierreich. Eichborn, 256 S., € 20,60

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„Wenn man vergaß, wie das Lächeln einer Frau aussah, dann war das, als verwelke die Sonne“ MUR ATHAN MUNGAN: „TSCHADOR“ SEITE 10

Foto aus der Serie „Türkisches Wien“ von Katharina Gossow

Die Welt als Wilde und Vorstellung Christoph Türckes untersuchte die Träume der Menschheit. Er mäandert und fantasiert wie im Traum Rezension: ANDREAS KREMLA

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icht nur Menschen, auch Kulturen träumen. Um diesen Gedanken kreist Christoph Türcke in seinem Werk und durchstreift dabei die klassischen Forschungsfelder der Psychoanalyse: Traum, Trieb und Sprache. Während Freud und seine Nachfolger die individuellen nächtlichen Botschaften des Unbewussten sezierten, untersucht Türcke den kollektiven Traum. Traumzeiten, in denen das kollektive Bewusstsein, erst halb erwacht, noch träumerisch gewesen sei, habe es, so Türcke, in unserer Vorgeschichte gegeben. Die Mythen der australischen Aborigines berichten, dass dieser Traumzustand einst alles Sein umfasste. Auch in der europäischen Ur- und Frühgeschichte sucht Türcke nach Spuren der Traumzeit – trotz dürftiger Quellenlage. Die eindrucksvollsten Beispiele für kollektive Träume liefern ihm Rituale. Menschenopfer sind Türckes Lieblingsgegenstand. Hier macht er die Freud’schen Werkmeister des Traumes in der Kultur sichtbar: Verschiebung, Verdichtung, vor allem aber die Umkehrung. „Identifikation mit dem Angreifer“ treibe die Brüder und Schwestern der schlachtenden Urhorde an: „Aller Schrecken, der das Kollektiv durchfährt, wird wirklich in diesen Schonräumen zusam-

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mengeballt. Das Kollektiv gibt sich darin eine Vorstellung vom gesamten Schrecken der Natur.“ An dieser Stelle beginnt nach Türcke die Entwicklung unserer Kultur: Aus dem geschützten Innenraum wird ein mentaler Raum, aus dem grausigen Vollzug nachvollziehbare Symbolik. An die Stelle der rituell gemordeten Menschen treten größere, dann kleinere Tiere, zuletzt kleine Opfergaben. Vom Traum geht’s weiter zum Trieb. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse werden serviert, keine neuen, sondern grundlegende. Christoph Türcke lehrt im Hauptberuf Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Ein fundierter naturwissenschaftlicher Hintergrund ist also nicht gegeben. Sichtlich sicherer fühlt Türcke sich dort, wo er wieder auf die Psychoanalyse zurückgreifen kann. Auch wenn Türcke in seiner Darstellung zunächst in Freuds Fußstapfen tritt, löst er sich immer wieder von seinem Vorbild, um in unverspurtem Gebiet zu forschen. Dabei gerät er zeitweise sogar in Opposition zum Vater der Traumdeutung, etwa wenn es um die Entwicklung der Kultur geht: Als „anachronistisch“ bezeichnet er das psychoanalytische Weltbild, in dem Kultur aus dem sublimierten Trieb entsteht. Wirklich romantisch wird aber auch er nicht, wenn er beschreibt, wie sich die menschlichen Regungen verfei-

nerten. Türcke will zeigen, „wie generell Kultur eine spezifische Perversion der Natur ist“. Auch sie verdanke sich dem unbewussten Mechanismus der Umkehrung. „Der Traum spricht, aber die Sprache träumt auch.“ Mit dem simplen Titel „Wort“ eröffnet er das dritte große Forschungsfeld seines Buches. Auch in der Sprachentwicklung seien keine anderen Meister am Werk gewesen als in der Traumarbeit, meint er: Verdichtung, Verschiebung, Umkehrung – Sprachentwicklung als kulturelle Traumarbeit? An den Anfang aller Sprachen stellt Türcke einmal mehr die psychoanalytische Umkehrung – und die Angst. Erst sie habe Worte entstehen lassen, die den Gegensinn eines gefürchteten Gegensinns bezeichnen – eine Art akustischer Totemtiere, die genau das symbolisieren, wovor sie schützen sollen. Hier verliert sich die Argumentationslinie des Buches stellenweise, und Türcke lässt sich auf akademische Dispute ein. Zuletzt findet das Buch jedoch wieder zurück zum Traum. Im Epilog stellt der Autor dem sitzfleisch- und damit auch philosophiefeindlichen „Updating“ unserer Tage die Urbilder unseres Unbewussten entgegen, Traumbilder, aus denen die menschliche Vernunft nicht aufhören dürfe zu schöpfen, „wenn sie bei Sinnen bleiben will“. Liegt hier nun wirklich eine „Philosophie des Traums“ vor? Seinem

Gegenstand bleibt der Autor nicht immer treu. Dankenswerterweise legt er aber auch nicht die x-te Ideen­ geschichte des Traums vor. Es geht ihm um nichts weniger als die Funktionen des Unbewussten in der Geschichte unserer Kultur – im Traum, im Trieb und in der Sprache. Mit diesem großen Anspruch und mit der damit notwendigerweise einhergehenden Subjektivität befindet sich Türcke im ureigensten Terrain seiner Disziplin, der Philosophie. Ein wenig ist sein Werk selbst wie ein Traum: Es beginnt realistisch, spekuliert in dichter Sprache bis ins Fantastische, mäandert zwischen verschiedenen Themen und findet doch immer wieder zu seinem ursprünglichen Gedankenfluss zurück. Ein philosophisches Werk bleibt es in jedem Fall. Auf ihrer Gratwanderung zwischen Kunst und Wissenschaft mal auf die eine, mal auf die andere Seite zu schwanken ist für die Königin aller F Disziplinen ja nichts Neues.

Christoph Türcke: Philosophie des Traums. C.H. Beck, 240 S., € 25,60

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Sachbuch

McAbendland ist abgebrannt Die neue Bürgerlichkeit preist die Familie und warnt vor Multikulti. Wo bleibt da noch Platz für linke Ideen? Te x t: THOMAS ASK AN VIERICH

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reißig Prozent für rechte Popu­ listen in Österreich. Das Ausland reibt sich einmal mehr verwundert die Augen. In Österreich findet man das al­ les ganz normal. Das sind doch nur verirr­ te Protestwähler! Das nächste Mal wählen sie schon wieder „bürgerlich“. Oder stehen FPÖ und BZÖ gar schon für eine neue Bür­ gerlichkeit rechts der Mitte? Ist Strache der neue Schüssel? Was heißt überhaupt „bürgerlich“? Macht uns das Einhalten konservativer Anstands­ regeln, die Pflege alter Traditionen zu bes­ seren Bürgern? Das Spießertum, gerne auch mit xenophobem Unterton, ist en vogue – die Vielzahl an Neuerscheinungen über Bürger­ lichkeit, Kleidungsvorschriften und Traditi­ onen spricht eine deutliche Sprache. Wenn Männer wieder wissen wollen, welche Schuhe man zu welcher Hose trägt, ist das Ausdruck einer Sehn­ sucht nach Verbindlichkeit in einer un­ übersichtlich gewordenen Welt. Wenn sich Frauen wieder zu Heim und Herd be­ kennen, dann wollen sie das wenigstens mit Niveau tun. Sie wollen Kulturträgerin­ nen sein, wenn sie gemeinsam mit ihren Kindern Weihnachtslieder singen. „Was wir wieder schätzen sollten. Die schönen Traditionen“ ist genau so ein Buch. Christine Paxmann und Johannes Thiele plädieren dafür, dass Familien wieder ihre Mahlzeiten gemeinsam ein­nehmen und musizieren, zumindest Marmelade einko­ chen. Solche Traditionen sollen zu „Fix­ punkten des frohen Herzens“ werden.

Die beiden Autoren eilen frohgemut in vielen

kurzen Kapiteln durch den Katechismus des Bildungsbürgertums, das sich durch keine Kritik bilderstürmender 68er das exquisite Lebensgefühl am Eigenheim ver­ miesen lassen will. Sie erklären, wie man richtig Blumen schenkt, Briefe schreibt, was Eleganz ausmacht, wie man Hoch­ zeit feiert. Leider fallen ihre Anweisungen so oberflächlich aus, dass sie unfreiwillig komisch wirken. Dem Mann schenkt man „Wein und Bücher“, der „Dame“ „Blumen und Naschereien“. Der elegante „Herr“ darf nie extravagante Kleidung tragen, zu dunkler Hose hat er schwarze Schuhe anzuziehen. Sitzt man gemeinsam feierlich zu Tisch, darf auf keinen Fall über Religion, Politik oder Sex gesprochen werden. Wenn sich Paxmann und Thiele dem durchaus kom­ plexen und nicht uninteressanten Thema „Heimat“ zuwenden, haben sie dafür ge­ nau eine Doppelseite übrig – das Kapitel „Handarbeiten“ bekommt mehr Platz. Um die Bürgerlichkeit zu retten, muss man sich schon etwas mehr anstrengen. Es reicht nicht, die Gardinen der bürgerlichen Idylle vor den Herausforderungen einer sich glo­ balisierenden Welt zuzuziehen. Etwas mehr Mühe gibt sich der Roman­ cier, Lyriker und Essayist Richard Wagner. Nur leider schreibt er mit Schaum vor dem Mund, dabei ist der Rumäniendeutsche für seine leichtfüßigen, intelligenten Roma­ ne bekannt. Doch der Mann fühlt sich be­ droht – von der Globalisierung, dem Terror und vor allem einer „islamistischen Unter­

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erweist – und ob nicht enthemmte Banker mit ihren Risikogeschäften unsere freiheit­ lich-demokratische Grundordnung mehr gefährden als ein paar Imame.

wanderung“ von „McAbendland“. Des­ halb ruft er „Europa zuerst!“ – und meint das nicht etwa ironisch. Wir Europäer soll­ ten uns nicht länger durch die „Mythisie­ rung der Ursachen des Hungers in Afrika“ moralisch unter Druck setzen lassen. Auch der „Multikulturalismus“ führe uns in die Irre. Wir hätten unsere Werte vergessen – und könnten sie deshalb nicht gegen die „islamistische Unterwanderung“ unserer Gesellschaft verteidigen. Und was sind die­ se unsere Werte? Das Christentum! Gott bewahre: Wagner malt den Teu­ fel an die Wand, um ihn mit einem er­ starkenden Glauben, der auch vor Rück­ griffen auf die Orthodoxie („die kann uns etwas von unserer ursprünglichen christ­ lichen Spiritualität mitteilen“) nicht zu­ rückschreckt, auszutreiben. Wagner sieht das Unheil nicht nur in den Schurkenstaa­ ten lauern, sondern auch in Moscheen und türkischen Supermärkten bei uns: „Es ist nicht egal, ob man im Café auf die Theati­ nerkirche blickt oder auf einen türkischen Discountmarkt.“ Für Wagner ist nur der Ausländer brav, der

sich vollkommen unserer Lebensart an­ passt und bei Billa oder Spar kauft. Da lobt er die Briten, die „es geschafft haben, alles Fremde, das ihnen brauchbar vorkam, in eine britische Erscheinungsform zu brin­ gen“. Wagner lobt den britischen Gouver­ neur Napier in der indischen Kolonie aus­ drücklich dafür, dass dieser allen Einhei­ mischen, die ihre Witwen verbrennen wollten, mit dem Galgen drohte. „Folgen Sie Ihren Bräuchen, wir folgen unseren“, soll Napier gesagt haben. Bravo, sagt Wag­ ner. Wer nicht denkt wie wir, an den Gal­ gen! Auch in Indien, wo wir eigentlich Kolonialmacht sind. Wagner verweist uns Heutige ans Mit­ telalter, an die christliche Wiege Europas. Das sei gar nicht so finster gewesen, wie uns linke Historiker einredeten. Inwiefern es hell gewesen sein könnte – trotz Raub­ rittertum, Pestseuchen, Kreuzzügen und Hundertjährigem Krieg –, lässt Wagner offen. Wie er auch seltsam schwafelig wird, wenn es darum geht, was für ihn am Chris­ tentum so bedeutend und vor allem zeit­ gemäß ist. Für ihn gibt es immerhin zwischen „Aufklärung und Christentum einen un­ auflöslichen Zusammenhang, einen Cor­ pus mysticum, was auch besagt, dass nicht jede Religion automatisch zum Partner der Aufklärung berufen ist“. Also zieht euch warm an, ihr bärtigen muslimischen Betbrüder, wir haben Giordano Bruno verbrannt und hätten Galileo Galilei bei­ nahe überzeugt, dass die Erde doch eine Scheibe ist. Ging es denn den Aufklärern nicht ge­ rade darum, uns aus der Unmündigkeit durch den Glauben zu befreien? Statt den vier Prozent Muslimen in Deutschland oder Österreich zu unterstellen, sie wollten uns „ihre Vorstellungen aufzwingen, und zwar von Lebenswelt und Lebensform, von Geschlechterrollen und Rechtsordnung“, sollte sich ein kluger Kopf wie Richard Wagner lieber darüber Sorgen machen, was der Staat mit immer mehr Überwa­ chung und Kontrolle seiner Bürger be­ zweckt, welchen Dienst er ihnen dabei

Christian Rickens: Links. Comeback eines Lebensgefühls. Ullstein, 254 S., € 17,40

Richard Wagner: Es reicht. Gegen den Ausverkauf unserer Werte. Aufbau, 163 S., € 17,50

Christine Paxmann/ Johannes Thiele: Was wir wieder schätzen sollten. Die schönen Traditionen. Christian Brandstätter, 279 S., € 19,90

Über die wirklichen Zukunftsfragen macht sich der Wirtschaftsjournalist Christian Rickens Gedanken. Er möchte wissen, was nach dem abgehalfterten Neoliberalismus, einer bloß noch rückwärtsgewandten Lin­ ken und einer Sozialdemokratie, die nur noch Mindestlöhne einführen will, eigent­ lich noch kommen soll. Also versucht er in seinem angenehm unaufgeregten Buch scheinbar unvereinbare Ziele zusammen­ zudenken: die heilenden Kräfte des Wett­ bewerbs, die Rechte des mündigen Bürgers gegen einen ihn gängelnden Staat und klas­ sische linke Ideen wie soziale Gerechtig­ keit, internationale Solidarität, Demokrati­ sierung und Nachhaltigkeit. Heraus kommt ein neuer Linksliberalismus. Rickens setzt auf die „neue Boheme“, die den Wert von selbstbestimmtem Le­ ben in gebührendem Abstand von den Alt-­ 68ern wiederentdeckt: in Freiberuflern, Kreativen und Unternehmern, die sich in ungesicherten materiellen Verhältnissen bewegen. Die die Globalisierung bejahen und anders als viele Alt-Linke tatsächlich noch an eine bessere Zukunft glauben. Deshalb will er den teuren Moloch ­Sozialversicherung abschaffen, weil der nur den Interessen einer Heerschar von Funktionären diene und die Bürger ent­ mündige. Er fordert stattdessen die schritt­ weise Einführung eines Grundeinkom­ mens von 800 Euro für jeden – finanziert über einen einheitlichen Steuersatz von 60 Prozent. Und rechnet glaubhaft vor, dass das trotzdem für jeden Arbeitnehmer eine geringere Belastung darstellen würde als heute, weil alle Sozialversicherungsbei­ träge wegfallen. Diese Grundsicherung würde unter an­ derem dafür sorgen, dass viel mehr Men­ schen den Sprung in die Selbstständig­ keit wagen und so zur positiven Entwick­ lung des Wirtschaftsstandorts beitragen würden. Diese Grundsicherung ist ein Zu­ kunftsthema, das von den Parteien nur sehr zögerlich aufgegriffen wird – vielleicht weil es wirklich revolutionär sein könnte? Außerdem möchte Rickens das europä­ ische Steuersystem vereinheitlichen, ge­ gen Länder mit Dumpinglöhnen und Ge­ werkschaftsverbot Schutzzölle einführen, andererseits die EU-Grenzen für gut Aus­ gebildete (und nur solche) weit öffnen. Vor allem ist er für eine beherzte Wiederbele­ bung des Genossenschaftsgedankens, weil der zutiefst demokratisch sei. Statt weitere Schritte in Richtung Überwachungsstaat zu setzen, plädiert er dafür, die Polizei an­ ständig auszurüsten. Das ist eine ungewöhnliche Mischung, die Christian Rickens da unter „links“ zu­ sammendenkt. Vielleicht hat er den Grund­ stock für das Programm einer neuen links­ liberalen Partei gelegt. Mit ihr könnten sich welt­offene, optimistisch denkende Men­ schen solidarisieren, die bei „links“ eher an Willy Brandt oder Bruno Kreisky den­ ken als an Oskar Lafontaine oder grauhaari­ ge Gewerkschaftsfunktionäre – und denen die Grünen zu selbstzufrieden und zahnlos F geworden sind.

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Die Verstellung blüht in flachen Hierarchien

Aus der Trabantenstadt in den Häuserkampf

Adam Soboczynski empfiehlt die Selbstverstellung als Lebenseinstellung. Seine Selbstgefälligkeit ist unverstellt

Alexander Mitscherlichs „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“, ein Klassiker der 68er-Jahre, ist in Würde gealtert

te x t: K L A U S N Ü C H TE R N

inen hübscheren Titel wird man E diesen Herbst nicht finden, ein hübscher gemachtes Buch auch kaum.

Dass es nicht schon längst erschienen ist, liegt wohl an dem bekannten Umstand, dass die Eulen der Minerva ­ihren Flug erst in der Dämmerung beginnen. Denn der naive Glaube an eine Authentizität, die noch die größte Plumpheit und Rüpelhaftigkeit als genuinen Ausdruck des eigenen, ach so schillernden Selbst durchgehen lässt, hat längst abgedankt. Gegen den hilflosen Traditionalismus einer sich selbst als „Neo-“ missverstehenden Bürgerlichkeit, die nun wieder zum Benimmbuch greift und die Messerbänkchen aus der Schublade holt, setzt der Zeit Magazin-Redakteur und Erfolgsautor („Polski Tango“) Adam Soboczynski auf die gute alte Verstellungskunst und greift dabei auf Baldassare Castigliones Vorstellung vom Uomo universale ebenso zurück wie auf den französischen Moralisten François de La Rochefoucauld, vor allem aber auf den spanischen Jesuiten Baltasar Gracián (1601–1658), dessen „Hand-Orakel und Kunst der Weltläufigkeit“ von Schopenhauer ins Deutsche übersetzt wurde. In 33 Kapiteln versucht Soboczynski die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Affektkontrolle nachzuweisen, über die einst jeder Shakespeare’sche Intrigant Bescheid wusste und die der Anthropologie des Barocks zugrunde lag. Die Selbstverstellung aber soll eben nicht als Lüge entlarvt, sondern als Kunst estimiert werden. Dass diese Position notwendig zwischen Ästhetik und Ethik, Utilitarismus und sozialer Verantwortung oszilliert, wird vom Autor ein bisschen unterschlagen, weil Soboczynski die zivilisatorische Leistung jener „sanften Lügen“, die man Höflichkeit nennt, zwar explizit erwähnt, über weite Strecken aber lieber mit deren machtpolitischen Facetten kokettiert. Fragen der Moral sind freilich nicht schon dadurch suspendiert, dass man sie in solche des Stils oder der Lebenskunst überzuführen meint, denn auch das, was elegant, schön oder nützlich ist, muss deswegen noch nicht gewollt und gesollt werden. Gegen das Buch, das fraglos mit zahlreichen beherzigenswerten Einsichten aufwartet – „wer mit Entrüstung sich vorzeitig vom Spieltisch der Liebe entfernt, ist ein schlechter Verlierer, der durchaus noch hätte gewinnen können“ – oder so manch verkannte Wahrheit ausspricht (etwa die, dass Kleidung mitnichten dazu da ist, dass sich ihre Träger darin wohlfühlen), lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Einwände erheben. Der

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eine wäre moralisch (man kann ihn aber auch „politisch“ nennen): Soboczynskis Wiedereinführung höfischer Tugenden im Zeitalter flacher Hierarchien und prekärer Arbeits- sowie Liebesverhältnisse läuft letztendlich auf eine Apologie dessen hinaus, was man schlampig als „Neoliberalismus“ bezeichnet: Geordnete Lebens- und Berufsläufe produzierten Langeweile, die der Verstellungskunst nicht günstig war, jetzt, in Zeiten der „flirrenden Beweglichkeit“, in denen „das notorische Schließen von Fabriken und ihre Neueröffnung an anderer Stelle“ endlich wieder für Abwechslung sorgt, hat sie wieder Konjunktur. Schwerer aber noch wiegt der zweite

Vorwurf, und der ist ästhetisch-literarischer Natur: Soboczynskis Buch ist mitunter von einer schwer erträglichen Selbstgefälligkeit. Schon die Skizze der Prenzlauer-Berg-Welt mit ihren Paaren in mittleren Jahren, ihren Junganwälten und -architekten, Malern und Schriftstellern, LustigeT-Shirt-Designerinnen und Mütter­ cafékellnern geht einem mit der Zeit auf die Nerven. Hinzu kommen stilistische Missgriffe und Manierismen, die nicht nur den massiven Einsatz des Pluralis auctoris, die postadornitisch eh schon zu Tode genudelte Postponierung des Reflexivums und bizarre Wortstellungen, also schlechtes, sondern darüber hinaus auch schlicht falsches Deutsch hervorbringen (Indikativ in der abhängigen Rede). Letztendlich laboriert „Die schonende Abwehr verliebter Frauen“ an einem klassischen Selbstwiderspruch: Soboczynski scheitert in der Kunst der Verstellung, weil es ihm nicht gelingt, deren eherne Grundregel durchgängig einzuhalten – nämlich die, dass man die Verstellung verstellen muss. So aber merkt der Leser die Absicht und ist verstimmt: Leichtigkeit verkommt zur Koketterie, Esprit zum frivolen Parlando, Bildung zur Dünkelhaftigkeit. Mag man die ständige Erwähnung ­eines Bordeaux Saint Estèphe noch als Ironisierung eines vermeintlich kultivierten Lebensstils gelten lassen, so ist Soboczynskis herablassende Weitergabe eine Rezepts, das „einfacher vonstatten geht, als gemeinhin angenommen“, nur noch peinlich: Pesto kann F nun wirklich jeder!

begriff des Herzlosen, der Plattenbau, obwohl er billigen Komfort für arme Menschen brachte, als No-go-Area. m Jahr 1965 veröffentlichte der deutIn den Bemerkungen über „kümsche Psychoanalytiker Alexander merliche Gesellungsformen, deren Mitscherlich ein Buch, das zum Best- mentales Niveau sehr bescheiden ist“, seller und nun aus Anlass seines 100. erweist sich Mitscherlich als Kind seiGeburtstags wieder aufgelegt wur- ner Zeit. Auch wird der zugegebenerde. Mehr Pamphlet als Analyse, ver- maßen einfallslose Wohnungsbau der dammt Mitscherlich den Städtebau Nachkriegszeit – auch als „Bauwirtder Moderne – die funktionelle Entmi- schaftsfunktionalismus“ bezeichnet schung in Wohnviertel, Industriezo- – heute als Ausdruck ökonomisch benen und Freizeitparks, aber auch die dingter Bescheidenheit gewertet. Vorstadtvilla als Ausdruck eines entUnd dennoch muss man sich die fesselten Individualismus. Zeit in Erinnerung rufen, deren UnViele Argumente, mit denen Mit- behagen Mitscherlich so trefflich in scherlich die Wirtschaftswunderidylle Worte fasste. Beim Wiederaufbau zerstörte, tauchen auch in der Urbanismus- bombter Städte wie Frankfurt standen kritik der Gegenwart auf: die Nachgie- die Erfordernisse des Autoverkehrs im bigkeit der Stadtplanung gegenüber In- Mittelpunkt. Die erste Fußgängerzone präsentiert sein Buch vestoren, die Missachtung der für den in Westdeutschland entstand erst 1972 alltäglichen Gebrauch so wich­tigen in München. Was an alter BausubsRäume für Kinder und Jugendliche oder tanz übriggeblieben war, wurde systedie für die Kinderbetreuung nachteili- matisch weggeräumt. Die Mitsprache ge Trennung zwischen Wohnung und des „Wohnraumverbrauchers“ war in Arbeitsplatz. „Alte Städte hatten ein ­dieser autoritär exekutierten ModerHerz“, schreibt28. Mitscherlich. nisierung nicht vorgesehen. Dienstag, Oktober Seine 2008,Kri19 Uhr tik bleibt nicht an den GeschmacklosigDas in seinem Buch geforderte 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei keiten der Häusl­bauer hängen, sondern Aufbegehren – „Anstiftung zum Unsteigert sich zur radi­kalen Forderung frieden“ heißt es im Untertitel – wurnach Bodenenteignung. So bolschewis- de dann in besetzten Häusern und tisch redet heute niemand mehr. Wohngemeinschaften verwirklicht. „Die Unwirtlichkeit“ wurde also zu eiNach drei Jahrzehnten Cultural Studies nem Stimmungsbericht über die post­ lösen Mitscherlichs Auslassungen moderne Wende, die eine Wiederüber jugendliche, durch eingeschränk- entdeckung der Innenstädte und die te Bewegungsfreiheit ausgelöste De- Entwicklung alternativer, kulturpes­ linquenz, die „suchthafte Hingabe an simistisch gestimmter Milieus zur F das Fernsehprogramm“ allerdings in- ­Folge hatte. nerliche Abwehrreflexe aus. Bei Begriffen wie „Trabantenstadt“ präsentiert sein Buch fällt einem die Berliner Gropius-Stadt ein, in der Christiane F. in den 70er-JahAlexander ren gewissermaßen von der tristen ArMitscherlich: chitektur zum Junkie gemacht wurDie Unwirtlichkeit de. „Alles ist artifiziell, gewollt, beabunserer Städte. sichtigt, geplant – manipuliert also.“ Anstiftung zum Mitscherlichs hatte nachhaltige Freitag, 14.Buch November 2008, 19 Uhr Folgen auf das negative Image moder3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Unfrieden. Eintritt frei Suhrkamp, ner Architektur; die reduzierte For214 S., € 15,50 mensprache – der Raster – galt als Inte x t:

M A TT H I A S D U S I N I

I

Gerald Gross

„Wir kommunizieren uns zu Tode. Überleben im digitalen Dschungel“

Michael Stavaric „magma“

Sigi Maron präsentiert sein Buch

Adam Soboczynski: Die schonende Abwehr verliebter Frauen Oder die Kunst der Verstellung. Kiepenheuer, 204 S., € 19,50

„fahrrad gegen mercedes“ Mittwoch, 19. November 2008, 19 Uhr 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei

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Sachbuch

Himmelsherrscher und Haushaltshilfen

Flüchtlingsflut im Land der Dämme

Das Patriarchat geht in Dieter Thomäs Geschichte der Vaterschaft vor die Hunde. Wer sind die neuen Väter?

Mit seinen Thesen zur Migration schockierte Paul Scheffer die Niederlande. Auch sein Buch zum Thema ist unbequem

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eine Sorge, hier kommt nicht die K 157. Variation von „Vater werden ist nicht schwer …“. Denn Dieter

Thomä ist kein Kleinkinderpädagoge, sondern Familienphilosoph. Sein aktuelles Buch versucht nicht, Vätern eine Anleitung für die nahe Zukunft zu geben, sondern eine Analyse ihrer kollektiven Vergangenheit zu sein. Eine Ideengeschichte der Vaterschaft also? „Drei Väter sind im Repertoire, denen es an den Kragen gehen könnte: der Vater im Himmel, der poli­t ische Vater und der Familienvater.“ Zunächst wird vernichtet. In der französischen Revolution, so die Grundthese des Autors, sind alle drei Patriarchen umgekommen. Invalide seien sie vorher schon gewesen. Allerdings: Nachfolger sind deswegen noch lange nicht in Sicht. „Alle Menschen werden Brüder – und wer ist ihr Vater?“ lautet die Grundfrage des Philosophen für die Zeit danach. Thomä suchte in den 200 Jahren nach der Revolution nach neuen Rollenbildern. Himmel, Herrscherhaus und Haushalt bilden weiterhin das Dreigestirn, auf das die Vaterschablonen passen sollen. Diese Leitgedanken beleuchtet Thomä aus verschiedenen Blickwinkeln. So entsteht ein dichtes Gewebe bunter Vatermuster – von und mit Adam Smith, de Sade, Friedrich Schiller und natürlich auch Sigmund Freud. Auch für Detailaufnahmen beispielhafter Väter findet sich Platz: etwa für Friedrich Hebbel, der „über die Härte seines eigenen Vaters klagte und sich um seinen ersten Sohn kaum kümmerte“, oder für Matthias Horx, der den „Megatrend“ zur Kinderlosigkeit prophezeite, bevor er selbst Vater wurde.

Grundsätzlich lassen sich Thomäs Väter

des 19. und 20. Jahrhunderts in zwei Gruppen teilen: jene, die zu viel da sind und mit ihren Allmachts­a nsprüchen alles erdrücken, und jene, die zu wenig da sind, um ernsthaft Vater genannt zu werden. Neue Gefahren drohen von den neuen Ideologien des 20. Jahrhunderts. Sozialismus, Faschismus und Kapitalismus haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam – ein wohnliches Nest für treusorgende Väter bieten sie allerdings alle drei nicht. Die Lösung findet der Autor schließ­ lich in der einigermaßen gleich­ berechtigten Familie der Post-68er. „Die Wiederkehr des Vaters“ übertitelt Thomä sein Schlusskapitel und stellt diesen vor allem vor eine Herausforderung: überhaupt Kinder zu bekommen in einer Welt, die es ihm freistellt, in einem „Zustand der Dauer­ pubertät“ zu verharren.

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Das Patriarchat geht hier gründlich zu Grunde – patrilinear bleibt das Werk dennoch. Es handelt von Vätern, ihren Ideen, ihren Söhnen, die wieder Väter von Ideen und Söhnen werden. Töchter fehlen. Hannah Arendt ist eine der wenigen Frauen, die ein paar Gedanken zum Thema äußern dürfen. Bei so vielen großen Namen würde man manchmal gerne auf ein kleines Namens- oder Stichwortregister zurückgreifen, das hier nicht zur Ausstattung zählt. Dafür gibt es ein paar SchwarzWeiß-Fotos. „Saturn verschlingt seinen Sohn“ von Goya steht an einem, ein niedliches Familienbild des Autors am anderen Ende des Spektrums exemplarischer Vater-Sohn-­ Beziehungen. Auch autobiografische Erinnerungen dienen als Anschauungsmaterial. Ob das menschliche Nähe oder peinliche Vertraulichkeit schafft, bleibt Geschmacksfrage. Inflationär geht Thomä mit derlei Intimitäten jedenfalls nicht um. Der sprachlichen Herausforderung be-

gegnet der Vater der großen VäterRundschau souverän. Seine historischen Interpretationen macht er dem Leser nachvollziehbar und belegt sie mit Beispielen – manchmal mit so vielen, dass man den Eindruck gewinnt, er müsse sein Projekt rechtfertigen. Nicht immer bleibt Thomä bei der reinen Analyse. Vor allem gegen Ende, in der Jetztzeit angekommen, lässt er immer wieder seine Wünsche und Visionen einfließen. „Meinethalben bin ich ein Sozialromantiker“, bezieht er abschließend Stellung zu den eigenen Vaterglücks-Ideen und fragt: „Warum ist das eigentlich ein Schimpfwort?“ Dass er den Anspruch des Unter­ titels, „eine moderne Heldengeschichte“ zu schreiben, nicht einlöst, liegt weniger an ihm als den handelnden Personen. Seine Helden zeichnen sich großteils durch abstrakte Ideen aus, gepaart mit konkreter Abwesenheit im Alltag. Heldenhaft bleibt der Versuch einer Zusammenschau von allem, was in den letzten 200 Jahren so über Väter gedacht wurde. Auch wenn die Spannung manchmal wegen der Fülle des Materials verlorengeht: Hier finden sich viele große, kuriose und bedenkenswerte Gedanken zur Idee des Vaters und zum realen F Vater-Dasein.

Dieter Thomä: Väter. Eine moderne Heldengeschichte, Hanser, 368 S., € 25,60

Te x t: Stefan Löffler

aul Scheffers im Januar 2000 in P der niederländischen Tageszeitung NRC Handelsblad erschienene Polemik „Het multiculturele drama“ rüttelte ein ganzes Land wach. „So energisch die Niederlande der sozialen Frage von einst zu Leib gerückt sind, so gelassen reagieren wir nun auf das Zurückbleiben ganzer Generationen von Zugezogenen und das Entstehen einer ethnischen Unterschicht“, klagte der Soziologe und Publizist. Die Folgen einer zu nachlässigen Einwanderungs- und Integrationspolitik bedeuteten seiner Meinung nach „die größte Bedrohung für den gesellschaftlichen Frieden“. Seine Kritik zielte auf Multikulturalisten und selbsterklärte Kosmopoliten ab, die Einwanderung eindimensional als Bereicherung darstellten und die Wahrnehmung ihrer Schattenseiten durch Teile der Bevölkerung als rassistisch motiviert abtaten. Scheffer sah darin auch eine für seine Landsleute typische Konfliktscheu. Unangenehme Fragen wurden vermieden, etwa wie die Gesellschaft damit umgehen sollte, dass viele Einwanderer äußerst rückschrittliche Vorstellungen von Familie, der Stellung der Frau oder auch zur Homosexualität mitbringen. Statt sich mit dem kulturellen Hintergrund der zwei größten Einwanderergruppen aus Marokko und der Türkei auseinanderzusetzen, wurde der Islam gedrängt, sich in eigenen Institutionen und Medien zu organisieren, ohne zu überlegen, ob diese Lösung weltanschaulicher Differenzen noch in die Zeit passte.

Die Debatte, die Scheffer vor fast neun Jahren durch das Rühren an Tabus lostrat, hat die Konfliktkultur der Niederlande verändert. Ein vormals unbekannter Typus populistischer Politiker wie Pim Fortuijn und Geert Wilders trat auf. Fortuijn wurde ermordet. Ebenso der Filmemacher Theo van Gogh. Ayaan Hirsi Ali, die es von der Asylwerberin zur Parlamentarierin brachte, fühlte sich in den Niederlanden nicht mehr sicher und setzt ihre Karriere als Islamkritikerin in den USA fort. Sie alle spielen aber nur eine Nebenrolle in Scheffers lange erwartetem Buch; es erschien vor einem Jahr in den Niederlanden und liegt nun auf Deutsch vor. Die Brutalität, mit der seine Debatte fortgeführt wurde, hat ihn erschrocken. Er war schon auf das Schlimmste gefasst, als sich auf der Straße unvermittelt ein Schwarzer aus einem Auto lehnte und ihn beschimpfte: „Das ist alles deine Schuld, was in unserem Land schiefgegangen ist.“ Dann lachte der aus Surinam stammende Mann, und es entspann sich eines von

vielen Gesprächen, die Scheffer in seinem Unterfangen bestärkten, die Folgen der Einwanderung in ihrer vollen Breite darzustellen. Forderte er damals „bis hier und nicht weiter“, hat er sich nun unter dem Motto „bis hier und jetzt weiter“ an seinem Thema abgearbeitet. Dem einführenden Kapitel ist anzumerken, dass Scheffer hier am meisten gefeilt hat. Auch wenn er sich später kürzer hätte fassen können, bleibt die Lektüre stets ein Gewinn. Seine Kronzeugen findet er weniger bei heutigen Migrationsforschern als bei Pionieren wie Oscar Handlin, der vor mehr als 50 Jahren festhielt, dass Migration stets „die Geschichte einer Entfremdung“ ist: Vom Land in die Stadt, von einer autoritätshörigen in eine freiere Gesellschaft, von einer traditionellen Familienhierarchie in die Abhängigkeit der Eltern von ihren Sprache und Spielregeln schneller erfassenden Kindern. Scheffer erinnert daran, dass die irischen Einwanderer des 19. Jahrhunderts in den USA trotz der englischen Sprache mehr als ein halbes Jahrhundert am Rand der Gesellschaft blieben und der Umgang mit dem Islam die Niederlande schon einmal beschäftigt hat, als nämlich das bevölkerungsreichste islamische Land, das heutige Indonesien, ihre Kolonie war. Der Horizont seines Buchs ist indes nicht niederländisch, sondern europäisch. Verglichen mit Kanada oder Australien, wo die Einwanderer nach ihrer Nützlichkeit ausgewählt werden, sieht er die Einwanderungs- und Integrationspolitik fast überall in Europa gescheitert. Obwohl ab der ersten Ölkrise 1973 wenig qualifizierte Arbeiter eigentlich nirgends mehr gefragt waren, nahm die Zuwanderung nicht ab, sondern durch Familiennachzug sogar zu. Der Anteil der Erwerbstätigen unter den Migranten ging rapide zurück, etwa bei Türken in Deutschland von 80 auf 40 Prozent. Nicht die von Rechtspolitikern geschürte Furcht, dass sich die Migranten zu viel in die Gesellschaft einmischten, treibt Scheffer an, sondern der Umstand, dass die Distanz zu groß bleibt und sie sich Rückzugsnischen schaffen. Die Einheimischen fordert er auf, sich wieder stärker zu engagieren. Neue und künftige Bürger brauF chen schließlich Vorbilder. Paul Scheffer: Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt. Aus dem Niederländischen von G. Seferens, A. Ecke, H. Baryga und G. Busse. Hanser, 536 Seiten, € 25,60

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Unsichtbare Hand, eiserne Faust Der Soziologe Loïc Wacquant schrieb eine zornige Studie über die brutale Kriminalisierung von Armut cher Wohlfahrt abhängig ist, gilt als faul leben, steigt die Kriminalität an. „It’s deund moralisch verkommen, weil er „uns“ mography, stupid.“ Deswegen explodierte auf der Tasche liegt. Auch die Sozialsys- die Gewalt in den 60er-Jahren in den ameteme werden liest mehraus und mehr zu bürokra- rikanischen Innenstadtquartieren – und tischen Arrangements modelliert, die die deshalb ging sie auch wieder zurück. AnBedürftigen „kulturell wie Kriminelle sonsten sei Sozialpolitik die einzige nachbehandeln“. haltige Sicherheitspolitik. Diogenes Verlag Wer Sozialhilfe bezieht, unterliegt eiEine intelligente Strategie zur Bekämpnem ausgeklügelten Kontrollregime, fung der Kriminalität muss zur Kenntnis wird mit Sanktionen für jede Form nicht- nehmen, schreibt Wacquant, „dass delinFreitag, 24. Oktober 2008, 19 Uhr konformen Verhaltens bedroht, ist inten- quente Handlungen das Produkt nicht ei6., Mariahilfer Straße 99, 01/595 45 50, Eintritt frei Individuums siven Überwachungsprogrammen unternes einzelnen, autonomen worfen, die an „Bewährungsstrafen für mit abartigen Wünschen sind, sondern ­eines Netzes von vielen verschiedenen Ursachen und Gründen (Triebhaftigkeit, Wo viele Jugendliche Selbstdarstellung, Entfremdung, Demütigung, Grenzüberschreitung, Angehen geunter 25 Jahren gen Autorität usw.).“ auf engem Raum Somit bräuchte es auch vielfältige Gegenmittel. Das Strafgeheul möge Raleben, steigt die chegefühle befriedigen, sei aber nutzKriminalität an. los. Wer so vernünftig argumentiert, der darf heute freilich damit rechnen, dass „It’s demography, stupid.“ man ihm vorhält, er würde „die Täter präsentiert sein Buch entschuldigen“.

te x t:

Benedict Wells

Robert Misik

V

erbrecher, Marodeure, Delinquenten allüberall. „Es kann jeden treffen“, so die allgemeine Auffassung. Beinahe-Totschlag in der Münchner U-Bahn, Totschlag in Wien im Drogenrausch. Der Boulevard liefert uns den täglichen Kitzel. Für die Politik ist es ein gefundenes Fressen. „Volle Härte“, plakatierte Österreichs Volkspartei im vergangenen Wahlkampf. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy schaffte seinen kometenhaften Aufstieg, weil er sich als „Law and Order“Politiker positionierte. Aus den USA kommen seit Jahren Politikrezepte mit schneidigem Namen: „Zero Tolerance“ oder „Three Strikes And You Are Out“. „Nulltoleranz“ fordert auch Hessens Ministerpräsident Roland Koch. Das heißt: Kriminalitätsbekämpfung, brutalstmöglich.

„Becks letzter Sommer“

August Sarnitz

Eine neue Straflust schleicht sich ein, ein

„Gefahren-, ja Katastrophendiskurs“, so der aus Frankreich stammende, in Berkeley lehrende Sozialwissenschaftler Loïc Wacquant. Die Gefängnisse quellen über – nach US-Vorbild wird mehr und länger eingesperrt, mehr und mehr Delikte werden unter Strafe gestellt. Diese „Kriminalitätspornografie“ steigere das Unsicherheitsgefühl, beruhe aber keineswegs auf Tatsachen: Die Nulltoleranz-Politik in den Vereinigten Staaten und der explosionsartige Anstieg der Gefängnispopulation setzten zu einem Zeitpunkt ein, als die Kriminalität bereits begann, merklich zurückzugehen. Auch hierzulande stehen die politischmedialen Panikattacken in einem Missverhältnis zur kriminalstatistischen Realität. Gewaltverbrechen sind seit Jahren rückläufig – teilweise, wie etwa bei schweren Delikten wie Mord, sogar signifikant. Alleine die Einbruchskriminalität nimmt zu sowie der Anteil junger Migranten an der Delinquenz. Wobei Letzteres möglicherweise ein Beobachtungsphänomen ist: Wenn mehr hingesehen wird, wenn die Toleranz gegenüber Ordnungswidrigkeiten sinkt, steigen auch die Anzeigen. Alles Panik also? Oder ist gar System dahinter? Wacquant, ein engagierter Kriminalsoziologe im Geiste Pierre Bourdieus, ist entschieden zweiterer Meinung. Ein veritabler Kampf gegen die Armen spiele sich vor unser aller Augen ab. Die „Bestrafung der Armen“ ist für ihn die düsterste Seite des Neoliberalismus. Das mag widersprüchlich klingen: Ist der Neoliberalismus doch für den schlanken Staat, für den Abbau der staatlichen Autorität. Dieselbe Ideologie, die im Ökonomischen den Minimalstaat favorisiert, soll in der Gesellschafspolitik für den harten, den strafenden Maximalstaat verantwortlich sein? Kein Widerspruch, so Wacquant: Die „unsichtbare Hand“ ballt sich, sobald sie es mit den Verlierern zu tun hat, zur „eisernen Faust“. Der Neoliberalismus präsentiert Arme als Täter. Dieser Diskurs zieht sich nicht nur durch die Sicherheitspolitik, sondern auch durch die Sozialpolitik. Wer von staatli-

„Architektur Wien – 700 Bauten“

Loïc Wacquant nimmt den Begriff der teilnehmenden Beobachtung ziemlich ernst. Für eine Studie über das afroamerikanische Ghetto von Chicago schrieb er sich in einen Boxclub ein und holte sich dort eine gebrochene Nase. „Leben im Ring“ erschien 2003.

Verurteilte oder auf Bewährung Entlasse- Tatsächlich produziert der Neoliberalismus ne“ erinnern. Bezieher von Wohlfahrts- die Verbrechen, die er zu bekämpfen vorleistungen erleben den Staat als Obrig- gibt: Wer Menschen in Chancenlosigkeit keitsstaat, der sie anhält, jede Arbeit an- hält, braucht sich über die Folgen nicht zu wundern. zunehmen. Der Kampf gegen Form2008, Donnerstag, 30.jede Oktober 19 UhrWer die Bedürftigen – am Sozider Devianz kann insofern als ein Ele- alamt, in der Polizeistation, vor Gericht – 6., Mariahilfer Straße 99, 01/595 45 50, Eintritt frei ment einer umfassenden Ideologie ver- als Objekte staatlicher Reglementierung behandelt und nicht mit Respekt, unterstanden werden. gräbt die intuitive Loyalität zur staatlichen Wacquant schildert detailliert, materialreich Ordnung, auf der letztlich jede Rechtsordund gelegentlich ausufernd die Auswüch- nung beruht. se dieser Politik. Und er ist ein parteiischer, Würden die Menschen die Gesetze nur ein zorniger Wissenschaftler: Dass links­ aus Angst vor Strafe befolgen, es herrschliberale und sozialdemokratische Parteien te Gewalt und Chaos – denn so viel Poeinstimmen in den Chor, der alle Armen lizei, kann man gar nicht auf die Strazu potenziellen Tätern und alle Täter zu ße schicken, um dann noch Sicherheit zu menschlichem Unrat stilisiert, macht ihn gewährleisten. wütend. Wer den Exkludierten auch noch poUnd er setzt bekannte Argumente da- lizeilich nachstellt, wird deren Gefühl, gegen, die heute leider allzu oft vergessen ungerecht behandelt zu werden, nur verwerden: Mehr und höhere Strafen haben stärken. Schließlich: Wer zu hart und zu keinerlei Auswirkungen auf die Krimina- schnell einsperrt, raubt der Gefängnisstralitätshäufigkeit. Allenfalls mehr und sicht- fe ihre abschreckende Wirkung. Wenn in barere Polizeipräsenz im Stadtbild kann bestimmten Vierteln aus jeder Familie jevon dieser Seite zu mehr Sicherheit bei- mand einsitzt, dann „verkehrt sich die netragen. Wenn Kriminalität hingegen ex- gative symbolische Besetzung der Gefängplodiert, hat das primär mit demografi- nisstrafe in ihr Gegenteil“ – dann wird die Mittwoch, 5. November 2008, 19 Uhr schen Faktoren zu tun. Wo viele JugendGefängnisstrafe zum „Abzeichen männli6., Mariahilfer Straße 99, 01/595 45 50, Eintritt frei F liche unter 25 Jahren auf engem Raum cher Ehre“.

Hallwag Weinseminar

Alles rund um den Wein inkl. Weinverkostung

Wolfgang Hohlbein Loïc Wacquant: Bestrafen der Armen. Zur neuen Regierung der sozialen Unsicherheit. Aus dem amerikanischen Englisch von Hella Beister. Barbara Budrich, 360 S., € 30,80

liest und signiert seinen neuen Roman

„WASP“ Freitag, 21. November 2008, 19 Uhr 6., Mariahilfer Straße 99, 01/595 45 50, Eintritt frei

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Sachbuch

Berechnete Unberechenbarkeit Ein mathematischer Roman und ein fantasievolles Sachbuch über Spieltheorie. Zwei Empfehlungen des Unendlichen; dahinter steht eine abso­ lut klare Struktur und eine fast schon peni­ ble Trennung zwischen Fiction und NonFiction, an der sich auch ein als Sachbuch deklariertes Werk ein Beispiel nehmen könnte. Im Anhang wird für jeden Eintrag mit entsprechenden Quellenangaben klar an­ gegeben, was wahr und was Fiktion ist. So geben die Autoren etwa zu, nicht zu wissen, ob Cantors Ehegattin Vally ihn tatsächlich „Knuddelbär“ zu nennen pflegte. Wahr ist, dass Cantor abwechselnd behauptete, er hätte die Kontinuumshypothese bewiesen beziehungsweise widerlegt, und Gauß als Mensch nicht ganz so göttlich wie als Ma­ thematiker war. Nach einem durch und durch intensi­ ven Ringen um Erkenntnis kommt der Ro­ man zu dem Schluss, zu dem er kommen muss: Eine allgemein gültige Wahrheit gibt es nicht, Mathematik ist wie Religion letzt­ endlich eine Glaubensfrage, Ravi wird Ma­ thematiker statt Wirtschaftsmacher. Und er bekommt natürlich die Dame seines Herzens.

Te x t: MARTINA GRÖSCHL

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orisette, New Jersey, 1919. Der in­ dische Mathematiker Vijay Sahni wird verhaftet. Ihm wird Ungeheu­ erliches vorgeworfen: Bei einer öffentlichen Versammlung soll er das Christentum als unlogisch und seine Anhänger als Narren bezeichnet haben. Zur Prüfung der Frage, ob Sahni wegen Verstoßes gegen das Blas­ phemiegesetz angeklagt werden soll, wird der ehrenwerte Richter John Taylor beauf­ tragt, ein Mann des Glaubens und von un­ tadeligem Ruf. Er besucht Vijay Sahni mehr­ mals in dessen Zelle im Bezirksgefängnis, um das Motiv hinter den schockierenden Äußerungen herauszufinden. Kalifornien, Gegenwart. Sahnis Enkel Ravi

Kapoor, eigentlich Wirtschaftsstudent in Stanford, besucht beim charismati­schen Mathematikdozenten Nico ein Seminar über die Unendlichkeit. Er findet in einem Buch über algebraische Zahlentheorie ei­ nen Hinweis auf den Gefängnis­aufenthalt seines Großvaters, von dem er bis dahin nichts wusste. Sein mittlerweile verstor­ bener Großvater war Ravis erster Kontakt zur Mathematik. Er will herausfinden, was damals in Morisette geschehen ist, und be­ ginnt in den Protokollen der Zellengesprä­ che zwischen Sahni und Richter Taylor zu schmökern. Zugegeben: Die Storyline, die Gaurav Suri und Hartosh Singh Bal in ihrem Ma­ thematikroman „Eine gewisse Ungewiss­ heit“ aufbauen, ist schlicht. Und es ist nicht das erste und wahrscheinlich nicht das letzte Buch, das sich dem Thema der ma­ thematischen Unendlichkeit widmet. Umso größer ist der philosophische An­ spruch, der sich nichts Geringeres vor­ genommen hat als die Antwort auf die Fra­ ge: Gibt es in dieser Welt Gewissheit, und wenn ja, durch was? Pierre Basieux: Gott wird in einen Schlagabtausch mit der Ma­ Die Welt als Spiel thematik als dem Inbegriff reinster Logik – Spieltheorie und Wahrheit geschickt. Das Wesen der in Gesellschaft, Mathematik wird am Unendlichkeitsbe­ Wirtschaft und griff ergründet. Kein Wunder also, dass die Natur. Rowohlt, Autoren Ravi bei seiner Suche archetypi­ 254 S. m. Abb., sche Kapazunder aus den verschiedensten € 9,20

Fachgebieten zur Seite stellen: den Richter, der für eine objektive Beurteilung sorgen soll, einen Philosophiestudenten namens Adin in der Rolle des Sinnsuchenden. Für die weltliche Würze sorgt Ravis Liebe zu ei­ ner gewissen Claire. Eigentlich die beste Mathematikerin im Bunde der Studenten, muss sie trotzdem als Frau „an sich“ her­ halten. Dozent Nico fungiert als abgeklär­ ter Weiser und wissender Führer seiner Schäfchen zu den ihm von Anfang an kla­ ren Antworten. Wenn man es einmal geschafft hat, von den archetypischen Klischees und einem gewissen Hang zur Pathetik (nach dem Motto „Würde Gott existieren, wäre er Ma­ thematiker“) abzusehen – und davon, dass jeder Mathematiker als Geistesgigant an­ gepriesen wird –, dann, ja dann taucht man in eine der wohl tiefgründigsten Ausein­ andersetzungen mit der Mathematik ein. Dazu kommt eine didaktisch perfekt auf­ bereitete Einführung in die Mathematik

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Homo ludens, Homo oeconomicus, Homo emotionalis, Homo (ir)rationalis? Auch Pi­ erre Basieux begibt sich in seinem Essay „Die Welt als Spiel – Spieltheorie in Gesell­ schaft, Wirtschaft und Natur“ auf die Su­ che, jedoch weniger nach einer wie auch immer gearteten Gewissheit – die es für Basieux zwar gibt, aber nur als Sehnsucht –, sondern vielmehr nach dem Menschen: Was er ist, wie er sich in der Welt zurecht­ findet und sie interpretiert. Sich zurechtfinden heißt richtige Ent­ scheidungen zu treffen. Und das ist nicht leicht, besonders nicht, wenn andere Men­ schen ebenfalls mitmischen. Die mathema­ tische Spieltheorie stellt Analysewerkzeu­ ge zur Verfügung, die ein wenig Klarheit in Entscheidungssituationen unter gegensei­ tigen Abhängigkeiten bringen sollen. Im Mittelpunkt steht die Suche nach der opti­ malen Strategie. Die moderne Spieltheorie verdankt ihre Existenz John von Neumann, der Ende der 20er-Jahre ­Gesellschaftsspiele mathematisch analysierte und seine Er­ kenntnisse dann auf wirtschaftliche Fra­ gestellungen erweiterte. 1944 veröffent­ lichte er gemeinsam mit Oskar Morgen­ stern den Klassiker „Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten“. In seinem ­Essay behandelt der in Spieltheorie wie -praxis erfahrene Basieux sowohl die his­ torische Entwicklung der Spieltheorie als auch die Facetten ihrer breitgestreuten Anwendungsmöglichkeiten.

der ­ athematik, dessen praktischer Nutzen M sich selbst den Mathematikfernen leicht erschließt. Die wenigsten sträuben sich gegen kleine Hilfestellungen beim ­Lotto (man kann zwar nicht die Lottozahlen vorher­sagen, aber, sollte man gewinnen, den Gewinn optimieren). Der Weg vom Glücksspiel zum Börsespiel ist nicht weit. Wissenschaftliche Tagungen zur Spielthe­ orie gehören zum Must-visit des informier­ ten Börsenspekulanten von heute. Bei Basieux finden sich demgemäß praktische Tipps (etwa wie ein Glücksspiel Die Spieltheorie ist jener Zweig

Gaurav Suri, Hartosh Singh Bal: Eine gewisse Ungewissheit oder Der Zauber der Mathematik. Aus dem Englischen von Angel Praesent. DuMont, 445 S. m. Abb., € 20,50

zu einem „Geschicklichkeitsspiel mit posi­ tiver Gewinnerwartung“ wird) sowie Ein­ blicke in das „Börsen-Casino“. Wobei Ers­ tere dem Glücksspiel neutral bis gleich­ gültig Gegenüberstehenden vielleicht ein wenig zu ausführlich, Letztere den wirt­ schaftlich Interessierten zu wenig aus­ führlich geraten sein könnten. Grundlegende Prinzipien der Spielthe­ orie werden anhand bekannter Beispiele erläutert, zum Beispiel dem Nash-Gleich­ gewicht, dem Gefangenendilemma inklu­ sive praktischer „Anwendungen“ wie dem Wettrüsten, Tit-for-Tat – „Wie du mir, so ich dir“ –, als einfacher, aber dafür umso wirkungsvollerer Lösungsstrategie für das wiederholte Gefangenendilemma. In der Spieltheorie ist man schneller bei den Grenzen der Logik als bei der Frage nach der Gewissheit. Denn auch wenn es sich die Spieltheoretiker zwecks einfacherer Handhabung noch so sehr wünschten: Der Mensch denkt in der Regel ebenso wenig rational, wie er handelt. Basieux belegt das mit eindrucksvollen Beispielen: Bei der ­sogenannten „Concorde-Falle“ werden re­ gelmäßig für einen Dollar drei bis vier Dol­ lar gezahlt. Beim Ultimatumspiel lässt das Gefühl, unfair behandelt zu werden, den Homo ra­ tionalis in den Hintergrund rücken. Basi­ eux reflektiert allgemein, was die NichtRationalität, gepaart mit ein paar anderen menschlichen Eigenschaften, für die Ent­ wicklung der Menschheit an sich bedeu­ tet hat und noch bedeuten könnte, wo­ bei er weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft, geschweige denn für die Gegenwart ein allzu optimistisches Bild zeichnet. In einem Essay ist Platz für Meinung, in einem Roman für Fiktion. Damit sprengen Pierre Basieux wie Gaurav Suri und Har­ tosh Singh Bal die Grenzen von Mathema­ tiksachbüchern, die sich um die möglichst sachliche Darstellung mathematischer Fakten bemühen. Dass Suri und Bal da­ bei ein realistischeres Bild von der Mathe­ matik zeichnen als so manches Sachbuch, ist zumindest bemerkenswert, zumal das Buch als Roman bei strenger Betrachtung wohl durchfallen würde. Ebenso belebt Basieux’ Subjektivierung die Mathematik und gibt ihr einen Platz fern­ ab vom Olymp der geistigen Unerreich­ barkeit als eine Disziplin, die gute Dienste leisten kann, deren Anwendbarkeit aber immer von einem verantwortungsvoll-­ kritischen Betrachter eingeschätzt und bewertet werden sollte. Offenbar werden Autoren gerade bei einer so abstrakten Wissenschaft wie der Mathematik krea­ tiv, wenn es um die Vermittlung ihrer Bot­ schaft geht. Sie sammeln Kurzgeschichten und Anekdoten, Zitate, Witze und fingier­ te Dialoge. Die Grenzen, ab wann ein Buch als Sach­ buch betrachtet werden kann und soll, sind fließend und müssen sich wohl mehr an der Intention als an der Form orientieren. Klar ist auf jeden Fall, ab wann es kein Sachbuch mehr ist: Wenn die darin vorkommende Mathematik frei erfunden ist. Wenn sie je­ doch nur noch nicht bewiesen ist, wird es F kompliziert .

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Gerald Gross präsentiert sein Buch

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„Die ist sicher lesbisch. Und selbst wenn nicht, irgendwas stimmt doch bei der garantiert nicht.“ DENIZ GOR AN: „ D I E T O C H TE R D E S

TÜRKISCHEN GENER ALS“ „Wir kommunizieren uns zu Tode. S e i te 9 Überleben im digitalen Dschungel“

Dienstag, 28. Oktober 2008, 19 Uhr 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei Fotos aus der Serie „Türkisches Wien“ von Katharina Gossow

Schwarze Löcher für helle Köpfe Der Physiker Hans Graßmann formulierte eine leidenschaftliche Kritik an den Gesetzen des aktuellen Wissenschaftsbetriebs te x t: ANDRÉ BEHR

ie Fragen sind alt, und wir kenD nen sie wohl alle seit der Schulzeit: Waren wir zu dumm, wenn uns der Physik- oder Mathematiklehrer eine Formel an die Wandtafel zeichnete, die wir dann in den Hausauf­ gaben und Prüfungen allenfalls mechanisch anwenden konnten, aber irgendwie doch nicht kapierten? Oder war der Lehrer schlecht? Hatte er die Sache vielleicht selbst nicht wirklich verstanden? Die meisten dürften bereit gewesen sein, die Schuld des Nichtkapierens auf sich zu nehmen. Man wurstelte sich durch, orientierte sich in der Berufswahl anders, und von da an galten Physiker und Mathematiker als Wandelnde in Sphären, die uns zwar für immer verschlossen sind, aus denen aber wenigstens via Medien in schöner Regelmäßigkeit neueste Meldungen eintreffen. Nachrichten von abenteuerlichen Forschungen über verschränkte Photonen, Quantencomputer, lebende und zugleich tote Schrödinger’sche Katzen oder riesige Schwarze Löcher, die alles verschlingen wollen, dunkle Energie und dunkle Materie, winzige saitenähnliche Strings, aus denen unser Universum aufgebaut sein soll – oder sogar von Extradimensionen und Multiversen. All jenen, die in früher Jugend die

Schuld des Nichtverstehens auf sich geladen haben, und vor allem all jenen, die eventuell gerade dabei sind, es zu tun, ist das neueste Buch des deutschen Physikers Hans Graßmann, „Ahnung von der Materie“, gewidmet. Das Cover zeigt eine leicht verschmierte Schultafel, auf der über dem Buchtitel mit orangefarbener Kreide das Wort „Keine“ durchgestrichen und als Untertitel „Physik für alle!“ zu lesen ist. Eine schöne bildliche Umsetzung der zentralen Botschaft, die uns Graßmann vermitteln

will: Jeder kann Physik verstehen! Bücher von Wissenschaftlern, die sich an uns richten und uns offen erzählen, was den Forscher umtreibt und warum, was er in den realen Sphären des heutigen Wissenschaftsbetriebs alles erlebt hat und wie er selbst die Gesetze der Natur versteht oder eben noch nicht versteht, sind immer interessant. Zum Beispiel Robert B. Laughlins „Abschied von der Weltformel: Die Neuerfindung der Physik“ (dt. 2007) oder Anton Zeilingers „Einsteins Schleier: Die neue Welt der Quantenphysik“ (2003). Leider schreiben aktive Forscher nur selten solche Bücher, sondern überlassen die Vermittlung neuer Ideen lieber den Journalisten. Und fast nie schreiben sie Bücher, die man auch auf Schulstufe mit Gewinn lesen kann Was das Buch von Graßmann so beson-

ders macht: Über die Botschaft hinaus, jeder könne Physik verstehen, ist er der Meinung, dass das, was man nicht verstehen könne, keine Physik sei – und dass jeder, egal auf welcher Stufe, Wichtiges zur Physik beitragen könne. Für Letzteres liefert er auch Beispiele und zieht dann den Leser in einem Schnellkurs gekonnt durch die erforderlichen Grundbegriffe der Physik bis hin zu den Forschungsthemen, die ihn heute an der Universität Udine und in seiner Firma beschäftigen: der Entwicklung eines günstigen Spiegelsystems zur Erzeugung von elektrischem Strom aus Sonnenlicht und einer neuen Physik der Information. Die Methode, konsequent nur das zu erklären, was gerade gebraucht wird, wird oft von kreativen Köpfen angewandt. Ich erinnere mich an eine Vorlesung von Pierre Gabriel an der Uni Zürich über Algebra, die sozusagen bei null begann, um die Studenten dann am Ende des Semesters mit einem Strauß an offenen Forschungsthemen in die Ferien zu entlassen. Wie unzählige Biografien heraus­ ragender Wissenschaftler belegen,

Michael Stavaric

haben es solche Menschen im akade- finanziert wird. Mit seiner Kritik am präsentiert sein Buch mischen Betrieb freilich nicht leicht, aktuellen Wissenschaftsbetrieb steht da sich Kreativität und Angepasstheit Hans Graßmann auch nicht alleine da. bekanntlich reiben. Auch Hans Graß- Physiknobelpreisträger wie Robert B. mann kollidierte früh mit den Festun- Laughlin oder Martinius Veltman äugen der Institutionen. Geboren 1960 ßern sich ebenso dezidiert gegen die in Bamberg, studierte er in Erlan- PR-Maschinerie von bestens alimengen, machte zuerst Station an der Be- tierten Forschungsinstitutionen. Freitag, 14. November 2008, 19 Uhr Wenn nur Moden und Seilschafschleunigeranlage Desy in Hamburg, 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 93 53, frei ten 01/718 gefördert undEintritt zur Sicherung später am CERN in Genf, promovierte in Aachen, wanderte nach Italien der Finanzen medienwirksam Speaus und war unter anderem involviert kulationen in die Welt gesetzt werbeim Nachweis des Topquarks in den den, schadet das der Disziplin Physik USA, bis er an der Universität Udine zweifellos. Mit Leidenschaft verfasste Bücher als Professore aggregato unterkam. Was er auf diesem langen Weg alles wie dasjenige von Hans Graßmann jeerlebt hat, schildert er ausführlich in doch motivieren dazu, die Freude am Selberdenken gegen Autoritäten jeseinem Buch. der Art zu verteidigen, die einen für F Mit Sicherheit sind diese ausschweifen- dumm verkaufen wollen. den und angriffig formulierten Passagen, die sich gegen das „groteske Europa der Bürokraten“ richten, nicht jederpräsentiert sein Buch manns Sache. Graßmann unterschätzt vielleicht auch die Anstrengungen, die gerade in Deutschland unternommen Hans Graßmann: worden sind, um den Wissenschaftlern (Keine) Ahnung mehr Freiheiten einzuräumen. Zuminvon der Materie. dest hat sich der Trend zur AbwandePhysik für alle! rung in die USA umgekehrt, weil dort Mittwoch, 19.noch November 2008, 19 Uhr DuMont, zum Beispiel nur einer kleinen 3.,eine Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, 287 Eintritt frei S., € 20,50 Elite freie Grundlagen­ forschung

„magma“

Sigi Maron

„fahrrad gegen mercedes“

Christoph Feurstein präsentiert sein Buch

„(ein)geprägt“ Dienstag, 25. November 2008, 19 Uhr 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei

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Sachbuch

Freiheitskampf in der Großhirnrinde Michael Pauen und Gerhard Roth untersuchten die neuronalen Grundlagen des menschlichen Willens te x t: K I R S T I N B R E I TE N F E L L N E R

N

atürlich findet ein Neurobiologe im Gehirn keine rationalen Überlegungen. Genauso wird ein Computerspezialist mit dem Mikroskop auf der Festplatte eines Computers nur magnetisierte Eisenpartikel finden, nicht aber die Texte, Bilder oder Musikstücke, die dort gespeichert sind. Die Existenz dieser Texte, Bilder und Musikstücke wird damit genauso wenig bestritten, wie der Neurobiologe die Existenz rationaler Überlegungen bestreiten muss. Beide, der Neurobiologe wie der Hardwarespezialist, müssen allerdings eine andere Beschreibungsperspektive einnehmen, wenn sie Zugang zu den Texten bzw. den rationalen Überlegungen gewinnen wollen.“ Diesem anderen, nämlich interdisziplinären Blickwinkel hat sich die im Frühjahr neugegründete edition unseld im Suhrkamp Verlag mit ihren lesbaren, durchschnittlich 200 Seiten schmalen Bänden erfolgreich verschrieben. In Band 12 zeigen der Philosoph Michael Pauen und der Hirnforscher Gerhard Roth neue Wege der Verständigung zwischen Geistes- und ­Naturwissenschaften auf, bei denen die Methoden – begriffliche und empirische Arbeit – nicht miteinander konkurrenzieren, sondern sich vielmehr ergänzen. Das heißt in diesem Fall konkret, dass die Interpretation der Ergebnisse aus den naturwissenschaftlichen Experimenten durch fundierte Begriffsdefinitionen auf eine solide wissenschaftliche, sprich: intersubjektiv nachvollziehbare Basis gestellt wird. Und nicht, wie es gerade in der Diskussion um die Willensfreiheit oft der Fall ist, empirische Daten mit unklaren Begriffen als „Beweise“ für eine ganz offenbar ideologisch vorgefertigte, den Autoren genehme, da populäre Theorie präsentiert werden.

Gelungener Dialog zwischen Geistes- und Naturwissenschaften Dem Buch „Freiheit, Schuld und Verantwortung“ gelingt es so auf exemplarische Weise, die Debatte um die Willensfreiheit und ihre strafrechtlichen Implikationen auf neue Füße zu stellen und dabei durch treffende Vergleiche wie den oben zitierten auch für den Laien verständlich darzustellen. Dabei steht der Bezug zum „wirklichen Leben“ von der ersten Seite an fest: denn Freiheit, das bedeutet Verantwortlichkeit. Ausgehend von der Delmenhorster Gewaltstudie diskutieren die Autoren im letzten Kapitel deswegen auch die Implikationen ihrer Theorie auf das existierende Strafrecht und vertreten die Ansicht, dass die Schuldfähigkeit von Gewalttätern enger gezogen werden müsse als bisher angenommen. „Gerade im Falle besonders brutaler Gewalttäter spielen häufig Störungen eine Rolle, die die Verantwortlichkeit des Täters einschränken.“ Dieses „Schuldparadox“ bedeute freilich nicht, dass die Täter nicht bestraft werden müssten, wohl aber, dass die Legitimation von staatlichen Sanktionen einer anderen Begründung bedürfe. Statt den gängigen Modellen, die auf Schuld und

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nicht nur keinen Widerspruch, vielmehr setzt Willensfreiheit ein einigermaßen zuverlässig und gesetzmäßig funktionierendes System wie das Gehirn voraus.“ Die aus diesen Voraussetzungen entwickelte Theorie der Willensfreiheit hat den Anspruch, sowohl vorwissenschaftliches und also intuitives Verständnis von Willensfreiheit zu berücksichtigen als auch ­Erkenntnissen der empirischen Forschung zu genügen. Im Blickfeld stehen dabei bewusst und unbewusst ablaufende Prozes-

Vergeltung bzw. Prävention fußen, schlagen Pauen und Roth hier ein Vertragsmodell vor, das die Einhaltung von Normen im Austausch gegen den Schutz vor Verbrechen zum Inhalt hat. Die Debatte um die Willensfreiheit erhielt mit den berühmt gewordenen Libet-Experimenten in den 80er-Jahren einen neuen Anstoß, die immer noch in die Richtung interpretiert werden, dass der freie Wille auf einer Illusion beruhe. Benjamin Libet fand damals heraus, dass sich im Gehirn das sogenannte „Bereitschaftspotenzial“ Bruchteile von Sekunden vor einer Willkürbewegung bzw. bewussten Handlungsentscheidung aufbaut – woraus mancherorts geschlossen wurde, dass dieser nichtbewusste Gehirnzustand und nicht die Person eine Handlung einleite, Letztere also nicht für sie verantwortlich sein könne. Libet selbst hingegen nahm die menschliche Willensfreiheit durchaus als gegeben an, billigte ihr allerdings nur Vetofunktion zu.

„Gerade im Falle besonders brutaler Gewalttäter spielen häufig Störungen eine Rolle, die die Verantwortlichkeit des Täters einschränken“

Begriffsklärungen Im ersten Teil von „Freiheit, Schuld und Verantwortung“ machen sich Pauen und Roth die Mühe, die in dieser so ideologisch geführten Debatte verwendeten Begriffe wie Willensfreiheit, Handlung, Person etc. einer Klärung zu unterziehen, nebulös vermengte Begriffe wie „Gründe“, „Ursachen“ und „Naturgesetze“ auseinanderzudividieren und so eine Grundlage zu schaffen, auf der sie die Ergebnisse der empirischen Forschung dann interpretieren können. So sind, wie die anspruchsvolle, aber durchwegs nachvollziehbare Argumenta­ tion darlegt, Naturgesetze keine Akteure, sondern beschreiben lediglich Vorgänge – z.B. im Gehirn. Wer daraus schlussfolgert: „Der Geist ist nichts anderes als das Feuern von Neuronen“, unterliegt somit einem Irrtum, denn geistige Vorgänge werden nicht von Naturgesetzen bestimmt, sondern haben eine natürliche, d.h. neuronale Grundlage. Unter Willensfreiheit verstehen Pauen und Roth ein Vermögen wie das sprachliche oder mathematische, das entwickelt werden muss und niemals absolut und unabhängig von jeglichen Bedingungen sein kann. Willensfreiheit existiert in Graden und Varianten, beeinflusst von Faktoren, die sich unserer bewussten Erfahrung allerdings zu einem beträchtlichen Teil entziehen. Deswegen konzentrieren sich die Autoren darauf, Freiheit von absoluter Beliebigkeit, das heißt dem Zufall abzugrenzen – und weisen die gängige Vorstellung der Unvereinbarkeit von Freiheit und Determination ausdrücklich zurück.

Die edition unseld wurde gegründet, um die Naturwissenschaften bei der Deutung ihrer exakten Daten mit fundierter Begriffsarbeit zu unterstützen.

So ganz nebenbei liefern Pauen und Roth auch eine kleine Einführung in die Entwicklung und Funktionsweise des menschlichen Gehirns.

Freiheit und Selbstbestimmung

Freiheit und Determination Freie Handlungen dürfen also nicht zufällig, können aber durchaus determiniert sein – nämlich durch die handelnde Person, ihren Charakter und ihre Präferenzen sowie den Kontext. Da die Abwesenheit von Determination „nicht zu einem Mehr an Freiheit, sondern nur zu einem Mehr an Zufall und damit letztlich zu einem Verlust an Kontrolle seitens des Handelnden“ führt, folgt für die Autoren daraus, dass das Fortbestehen von Determination die Freiheit auch nicht einschränken kann. „Willensfreiheit und Determinismus bilden

se der Willensbildung, Handlungsvorbereitung und Handlungskontrolle sowie die Phänomene des Freiheitsgefühls und der Selbstzuschreibung von Handlungen. Die Gehirnaktivität der Handlungsvorbereitung, die mittels moderner Kernspintomografie sichtbar gemacht werden kann, beschreiben Pauen und Roth als multizentrisches Netzwerk, das allein durch die schiere Anzahl der beteiligten Neuronen allerdings höchstens quasideterministisch sein und deswegen auch nicht berechnet werden kann. „In jedem Fall ist das Gehirn ein derart komplexes System, dass sich sein Verhalten mit den derzeit verfügbaren Mitteln der Mathematik selbst dann nicht genau vorhersagen ließe, wenn es streng deterministisch ablaufen sollte.“ Die Experimente von Benjamin Libet werden in diesem Kontext nicht angezweifelt, aber neu interpretiert. Dass eine komplexe, in weiten Teilen unbewusste Aktivität im limbischen System, im Thalamus und in der Großhirnrinde stattfindet, bevor uns ein Gedanke, eine Vorstellung oder ein Wunsch bewusst werden, heißt nicht, dass diese Handlungen nicht der Person zugeschrieben werden können und von der Persönlichkeit des Handelnden determiniert sind, seinem angeborenen Temperament, seinen unbewussten Prägungen und Präferenzen – und manchmal auch seinen rationalen Überlegungen.

Michael Pauen, Gerhard Roth: Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit. Suhrkamp, edition unseld, 195 S., € 10,30

„Wenn ein Mensch aufgrund der ihm zuschreibbaren Wünsche, Überzeugungen und sonstigen Motive handelt, dann handelt er selbstbestimmt und damit frei. Dies gilt auch dann, wenn die zugrunde liegende Entscheidung determiniert ist oder wenn die der Entscheidung zugrunde liegenden physischen Prozesse vollständig in neurobiologischen Kategorien erfasst werden können.“ Freiheit, so lautet das Fazit, bedeutet keine vollkommene Indeterminiertheit, sondern in ihrer ausgereiften Form die Fähigkeit zu persönlichen, autonomen Zielsetzungen, zur Berücksichtigung von Normen, dem Abwägen zwischen konkurrenzierenden Zielen und zur F langfristigen Handlungsplanung.

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„Der Unterschied zwischen einem gebürtigen Istanbuler, der die Schule besucht hat, und einem anatolischen Bauern ist gewaltiger als der Unterschied zwischen einem Engländer aus London und einem Inder aus dem Pandschab“ YAKUP K ADRI: „DER FREMDLING“ SEITE 7

Fotos aus der Serie „Türkisches Wien“ von Katharina Gossow

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Sachbuch

Kotzende Schnorrasseln im Damenklo Aus den Archiven der Jugendkultur: Punk ist voller Widersprüche und dennoch nicht tot zu kriegen te x t: GERHARD STÖGER

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ls Punk-Rock steht Punk in einer klassischen Rock-’n’-Roll-Tradition, die mit Elvis Presley Mitte der 50er begann und in den 60ern von den Rolling Stones, The Who und Kollegen fortgesetzt wurde. Dieser Punk-Rock war aber nur eine Facette jener (Anti-)Pop-Spielarten, die unter dem Überbegriff „Punk“ zusammengefasst wurden und zum wichtigsten Ideenspender im nicht-afroamerikanischen Pop der letzten drei Jahrzehnte werden sollte. Ausgehend von diversen amerikanischen und britischen Regionalszenen tauchte Punk in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre vor allem als musikalische Ausdrucksform auf, die mit klassischen Rock’n’-Roll-Mustern radikal brach. Punk hielt nichts von technischem Können, Starprinzip und bleibenden Werten, sondern lebte von der Freude am Dilettantismus, der Lust am Ausprobieren und dem Reiz des Minimalismus. Und auch als Jugendkultur ging es bei Punk nicht um wohlüberlegt reformistisches Streben nach Veränderung. Punk wollte in erster Linie eines: lautstark „Nein!“ sagen. Nein zu Autoritäten jeder Art, zu Eltern, Lehrern, dem Staatsapparat, aber eben auch nein zum großen Hippie-Bruder. Punk war anfangs eine extrem schnelllebige Angelegenheit. Sein klassisches Tonträgerformat bildete nicht mehr die Schallplatte, sondern die Vinylsingle. Gefüllt mit zwei, drei, vier selbstproduzierten Aufnahmen sind diese meist in geringen Auflagen auf obskuren Kleinlabels erschienen, die von den Musikerinnen und Musikern und ihrem unmittelbaren Umfeld selbst betrieben wurden. Diese Platten wurden aber nicht etwa vergessen, sie wurden und werden bis heute in Büchern und auf Webseiten akribisch dokumentiert und von Sammlern weltweit gesucht.

„Wenn kaputt, dann wir Spaß“ Dass der ursprünglichen Schnelllebigkeit retrospektiv eine derart penible Dokumentation gegenübersteht, ist nur einer der Widersprüche, die der vielschichtige Themenkomplex „Punk“ bereithält. Dass Punk mit Parolen à la „Wenn kaputt, dann wir Spaß“ lustvoll zerstören wollte und doch zu einem Motor der kulturellen Erneuerung wurde, ist ein anderer. Einer kulturellen Erneuerung, die sich übrigens nicht nur auf den musikalischen Bereich beschränkte, sondern auch verwandte Bereiche wie Film, Mode, Malerei, Theater, Grafikdesign und Medien nachhaltig erschütterte. Wie Punk überhaupt in den unterschiedlichsten Inkarnationen bis heute weiterlebt, obwohl er bereits um 1978/79 herum von diversen Protagonisten der ersten Stunde für tot erklärt wurde. Nicht ganz unoriginell ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass die Sex Pistols, die vermeintlich authentische Stimme einer desillusionierten Arbeiterklassejugend, tatsächliche vom findigen britischen Musikmanager Malcolm McLaren als Casting-Boygroup der etwas anderen, chaotischen Art inszeniert wurden. Andere Punk-Widersprüche sind weniger produktiv. Allen voran jenes seit Jahr-

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Außenstehende ansprechender Überblick gegeben, gleichzeitig aber auch die eigentliche Community bedient werden. Eine Community, die sich vielfach in beherzter Intellektuellenfeindlichkeit gefällt, einem weiteren Element der zuvor angesprochenen Punk-Folklore. Teil zwei versammelt eine Handvoll Essays zum Thema, Teil drei Interviews mit alten Szenehasen, deren jeweilige Biografien als exemplarisch präsentiert werden. Den Reiz des Buches macht vor allem seine liebevolle Aufmachung aus, die anhand hunderter Illustrationen – Fotos, Plattencover, Zeitungsausschnitte, Konzertplakate, Fanzinecover und Songtexte – auch abseits der Textebene durch mehr als drei Jahrzehnte Punk in Deutschland führt.

zehnten zur urbanen Folklore gehörende Missverständnis, das Punk mit einem gewissen Stylecode – Irokesenschnitt, Nietenarmband, Hund – sowie bestimmten Verhaltensweisen verbindet. Saufend und schnorrend durch Fußgängerzonen zu ziehen etwa. Oder die lautstark zur Schau gestellte Perspektivlosigkeit zum zentralen Lebensprinzip zu erheben.

„Ein bisschen Wut ist immer übrig“ Dieses Dosenbier-Punk-Verständnis ist auch einigen Autorinnen und Autoren des im Berliner Archiv der Jugendkulturen erschienen Bandes „Keine Zukunft war gestern – Punk in Deutschland“ nicht ganz fremd. Aber dass für diesen Wälzer nicht unbedingt die Gymnasiastenpunkfraktion verantwortlich zeichnet, verrät bereits der Name des Herausgeberkollektivs, das sich schlicht „IG Dreck auf Papier“ nennt. „Die größte Herausforderung für mich sind die zwischenmenschlichen Beziehungen“, schreibt eine gerade einmal 15-jährige Schülerin mit dem Punk-Pseudynom Blanka Wahnsinn in ihrem Essay „Punkettes Don’t Cry“ über die Schwierigkeiten individueller Verhaltensweisen innerhalb jenes subkulturellen Zirkels, den sie sich als Nachwuchspunk ausgesucht hat. „Ich bin Punk, kein Girlie und schon gar kein Accessoire. Damit schmücken sich allerdings die Herren der Schöpfung nur allzu gerne – vor allem beim Sehen und Gesehenwerden auf Punk-Konzerten. Sexy soll das Anhängsel sein, Titten, Minirock. Eine echte Punkette soll saufen können wie ein 100-Kilo-Oi!-Skin und fähig sein, ihren trunkenen Kerl huckepack und in Stilettos nach Hause zu tragen. Sonst noch was? Versuche ich nicht gerade mit aller Kraft, genau das zu vermeiden? Okay, es bleibt mir wohl nur noch, wenigstens cool und hart zu sein – oder zumindest so zu tun. Ich würge auf Konzerten die Bierdosen im Dreischlag runter, in gekonnter Pose, versteht sich. Ich hasse Bier und kotze die Hälfte im Damenklo gleich wieder aus, aber was tut man nicht alles fürs Image.“ An anderer Stelle erzählt die um knapp 20 Jahre ältere Designerin Yvy Pop davon, wie sie Punk-Identität und Alltagsleben zusammenbringt. „Ich wohne jetzt in der Stadt, hab’ einen Job und ’ne verhältnismäßig konforme Frisur, aber ich bin immer noch Punk – nicht Nietenkaiserin oder Schnorrassel, aber innen drin. Da brodelt es noch kräftig. (…) Letztens auf einem Punk-Festival fordere ich den ehemaligen DDR-Boxmeister zum Spaßkampf heraus und breche mir beim eigenen Schlag die Hand. Erwachsen werden? Das bekämpfe ich erfolgreich. Mein Punk-Tattoo wird nicht übertätowiert. Ein bisschen Wut ist immer übrig.“ „Keine Zukunft war gestern“ ist ein Buch der Basis, inhaltlich zerfällt es in drei Blöcke. Der erste Teil umfasst eine Geschichtsschreibung zu Punk in Deutschland, wobei die IG Dreck auf Papier einen gefährlichen Spagat hinlegt, der letztlich aber doch einigermaßen schmerzfrei gelingt: In einer Mischung aus kurzen einführenden Texten und umfangreichen OTon-Erinnerungen diverser Punk-Aktivistinnen und -Aktivisten soll ein gerade auch

Und wir hängen auch noch 100 dran

Hollow Skai: Punk. Versuch der künstlerischen Realisierung einer neuen Lebenshaltung. Verlag Archiv der Jugendkulturen, 272 S., 168 Abb., € 28,–

IG Dreck auf Papier (Hg.): Keine Zukunft war gestern – Punk in Deutschland. Verlag Archiv der Jugendkulturen, 368 S., 600 Abb., € 28,–

Über die Einschätzung der Punk-Gegenwart ist sich die IG Dreck auf Papier nicht ganz sicher. „Inzwischen gilt Punk-Rock als der ideale Soundtrack, um schnelle Autos zu bewerben, und selbst dilettantisch gespielte Songs finden als Ausdruck jugendlichen Aufbruchs Platz in Werbespots“, heißt es da. „Punk-Rock als Musikstil ist fester Bestandteil des Mainstream geworden.“ Über die Zukunft macht man sich dagegen mit einem abgewandelten Zitat aus dem noch spaßbetonten Frühwerk der Hamburger Diskurspunkband Die Goldenen Zitronen keine Sorgen: „Viva Punk 30 Jahre lang, schönen Dank. Und wir hängen auch noch 100 dran.“ Dass der zugehörige Song „Für immer Punk“ von der Band einst voll ironischer Brechungen gesungen wurde, wird an dieser Stelle großzügig ignoriert. Eine andere Form der Punk-Geschichtsschreibung leistet die Wiederveröffentlichung von Hollow Skais Buch „Punk“. Der 1954 als Holger Poscich geborene Autor hatte diesen Text 1980 als Abschlussarbeit seines Germanistikstudiums eingereicht (sie wurde mit „Gut“ beurteilt); im Jahr darauf ist das im collageartigen Schnipsellayout verfasste Werk im Sounds-Verlag erstmals in Buchform erschienen. Skai, der als Betreiber des Punk-Plattenlabels No Fun bekannt wurde, später als Stern-Kulturredakteur arbeitete und heute Musikbücher schreibt, nutzte seine Magisterarbeit zu einer stark subjektiv gefärbten Auseinandersetzung mit Punk, die sich um Prinzipien der Wissenschaftlichkeit herzlich wenig scherte. Er folgte dabei jenem Zitat Walter Benjamins, das seine Arbeit leitsternartig eröffnet: „Die Dinge in der Aura ihrer Aktualität zu zeigen ist mehr wert, ist weit, wenn auch indirekt, fruchtbarer, als mit den letzten Endes sehr kleinbürgerlichen Ideen der Volksbildung aufzutrumpfen.“ Und obwohl oder gerade weil Skai die Würze vor allem in der Kürze suchte und sich kaum je mit detaillierten Ausformulierungen aufhalten mochte, funktioniert das Buch auch ein gutes Vierteljahrhundert später noch ganz ausgezeichnet. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Als kurzweiliger Text eines frühen Szeneprotagonisten sowie als Dokument jener künstlerischen Revolte namens Punk, das sich bei aller Eigenwilligkeit doch auch als kursorische EinF führung ins Thema lesen lässt.

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„Ich sehe den Alkohol als ein handelndes Element der Geschichte – genauso wie das Dorf und den Fluss. Manchmal hat er einen guten Einfluss, er hilft Lewis weiter“ S A D I E J O N E S I M I N TE R V I E W SEITE 19

Foto aus der Serie „Türkisches Wien“ von Katharina Gossow

Modern im Schatten der Einsamkeit Jon Savage verfolgt die Jugendkultur bis zu ihren Ursprüngen zurück. Und verliert sich dabei in Details te x t: INGRID BRODNIG

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lar weiß heute jeder, was ein „Teenager“ ist. Jemand zwischen 14 und 18 Jahren. Jemand, der kein Kind und auch kein Erwachsener ist. Doch der Begriff selbst gehört erst seit den 1940erJahren zum allgemeinen Wortschatz: Die Idee, dass die Adoleszenz ein eigener Lebensabschnitt ist, wurde im 20. Jahrhundert langsam populär. Und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zum rasanten Aufstieg der Jugendkulturen. Über Punks, Hippies, Teds und Mods hat Jon Savage viel geschrieben: Der Musikjournalist und Ex-Punk wurde 1953 in London geboren und hat sich mit allen Facetten von Jugendkultur befasst. Seine Punkgeschichte „England’s Dreaming“ ist zum Bestseller geworden, der Guardian nennt ihn „Professor of Punk“. In seinem neuen Buch „Teenage“ beschreibt er nun die PräHippie-Ära. In den Jahren 1875 bis 1944 sei die Geburt des Teenagers eingeleitet worden, so die zentrale These. Und als das New York Times Magazine schließlich 1945 die „Teen-Age Bill of Rights“ veröffentlichte, wurde das Konzept der Adoleszenz zum amerikanischen Mainstream. Auf 500 Seiten beschreibt der Pophistoriker die Erfindung der Jugend. Das Buch beginnt mit den Tagebucheinträgen der unglücklichen 17-jährigen Marie Bashkirtseff, die sich im Dezember 1875 über den niedrigen sozialen Status ihrer Familie grämt und von Berühmtheit träumt. Als Marie 25-jährig an Tuberkulose stirbt, sollte dieser Wunsch posthum in Erfüllung gehen: Ihr Tagebuch wird veröffentlicht und

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zum Bestseller. Es handelt sich um die erste massentaugliche Publikation, die die intime Gefühlswelt eines Teenagers beschreibt. Mit Sätzen wie: „Ich habe es satt, unbedeutend zu sein. Ich modere im Schatten dahin. Die Sonne, die Sonne, die Sonne! Los geht’s – lasst uns mutig sein. Die Zeit ist eine Reise, die mich dorthin führt, wo es mir gutgeht. Bin ich wahnsinnig? Oder vom Schicksal auserwählt? So oder so, ich bin gelangweilt.“

ter hineinsah. Er hatte unzählige Abenteuer bestanden, die andere Kinder nie erleben werden, doch jetzt blickte er durch das Fenster auf das eine Glück, vom dem er immer ausgeschlossen sein würde.‘“ Es sind diese Passagen, in denen „Teenage“

Für „Teenage“ hat Savage unzählige Materi-

alien zusammengetragen: Briefe, Fotografien, Zeitungsartikel, Fach- und Populärliteratur. Und anhand dieser Unterlagen weist er nun nach, dass die Vorstellung von Jugend als eigener Lebensphase älter ist als gedacht. Schon rund um die Jahrhundertwende erkannten immer mehr Schriftsteller, Freizeitorganisationen und schließlich auch faschistische Regimes das Potenzial der Jugend. Maßgebend für die damalige Zeit war etwa die Figur des Peter Pan. J. M. Barrie stellte das Theaterstück 1904 fertig. Die Geschichte vom Jungen, der nicht erwachsen werden kann, ist eine Parabel auf die ewige Jugend. Ein Thema, dem in den nächsten 100 Jahren eine enorme Bedeutung zukommen sollte. Doch für Savage ist Peter Pan vor allem ein trauriger Held: „Seine ewige Jugend hat auch ihren Preis. Gegen Ende des Stücks ist Peter seinen verlorenen Jungs – die inzwischen erwachsen geworden sind – und der wiedervereinigten Familie Darling entfremdet: ,Es hätte keinen schöneren Anblick auf der Welt geben können, aber niemand sollte es sehen, außer einem merkwürdigen Jungen, der durchs Fens-

Jon Savage: Teenage – Die Erfindung der Jugend (1875–1945). Übersetzt von Conny Lösch. Campus, 525 S., zahlr. Abb., € 30,80

ganz besonders lesenswert ist. Doch insgesamt kommt das Buch nur langsam in Schwung und hört gerade dann auf, wenn es spannend wird: mit dem Abwurf der Atombombe und dem rasanten Aufstieg der Nachkriegsjugendbewegungen. Wer weiß, vielleicht will Savage noch einen zweiten Teil verkaufen. Vielleicht hat er sich aber auch in den Details einfach verloren. Denn abgesehen von wenig überraschenden Feststellungen, wie jener, dass die Nazis eine ganze Generation an jungen Menschen verheizt haben, fehlt es „Teenage“ an Stringenz und einer klaren Aussage. Bei manchen Anekdoten scheint sich der Autor selbst gar nicht so sicher zu sein, was er eigentlich sagen will. So ist das Buch zu einer vertanen Chance geworden. Dabei gäbe es viele interessante Parallelen zur Jetztzeit. Was bedeutet es zum Beispiel für eine Gesellschaft, wenn sie das Erwachsenwerden ablehnt und lieber wie Peter Pan ewig jung sein will? Und warum ähnelt die 17-jährige Marie Bashkirtseff so sehr der heutigen Internetgeneration, die ihre Gefühlswelt in Blogs zum Ausdruck bringt und ihre Popularität an der Zahl der virtuellen Freunde misst? Mit solchen Fragen setzt sich der Autor gar nicht auseinander. Und so bleibt „Teenage“ eher eine Chronik der frühen Jugendkultur, anstatt eine Analyse über das Wesen F des Jugendlichen zu liefern.

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Sachbuch

Im Superhirn fiepen digitale Synapsen Der Journalist Michael Maier und die Philosophin Christine Kolbe finden das Internet super. Warum nur? te x t: LUK AS WIESELBERG

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ls der 22-jährige Matti Juhani Saari im finnischen Kauhajoki im September zehn Menschen erschoss, hatte er diese Tat zuvor über YouTube angekündigt. Ohne Internet wäre das nicht passiert, argwöhnten daraufhin Technokritiker. Das Internet stelle narzisstischen Psychopathen erst eine weltweite Bühne für ihre krankhafte Selbstdarstellung. Werden wir durch das Internet tatsächlich brutaler und blöder? Oder werden wir durch die ständige Vernetzung – nicht nur sozial – intelligenter? Solchen Fragen gehen zwei Bücher nach, die in Form und Inhalt unterschiedlicher nicht sein könnten. Das erste stammt von Michael Maier, dem ehemaligen Chefredakteur der Presse und des Stern sowie Begründer der Netzeitung. Seinem Buch „Die ersten Tage der Zukunft“ ist zugutezuhalten, dass es zwei starke Thesen bereithält. Seiner journalistischen Herkunft gemäß verpackt sie Maier bereits im Untertitel: „Wie wir mit dem Internet unser Denken verändern und die Welt retten können“. Ausgangspunkt und erste These: Wir stehen heute vor einem Abgrund, der etwas mit „Ozonloch. Erderwärmung. Klimakatastrophe. Eiszeit“ zu tun hat – und mit der Energiekrise, Atombomben, dem Völkermord im Sudan und Osama Bin Laden auch irgendwie. Viel genauer führt Maier das nicht aus. Jedenfalls könnte es bald zu spät sein, und die Menschheit bedürfe einer kollektiven Anstrengung, um sich der kommenden Gefahren zu erwehren. Hier kommt das Internet ins Spiel. In

schillernden Farben zeichnet Maier ein Bild, wie Menschen durch My­ Space, Facebook & Co quasi spielerisch Kollaboration und Partizipation lernen können. Im Gegensatz zu den Vor-Internetgesellschaften mit ihren vertikalen Hierarchien und entsprechend alten Eliten komme es im Web auf jeden Einzelnen an, gebe es eine Kommunikation aller mit allen. Diese Grassroots-Interaktion werde in Zukunft der Schlüssel sein, dem drohenden Kollaps zu entkommen. Nur die besten Ideen könnten uns dabei helfen – und das Internet sei das passende Medium dazu, so die zweite These Maiers. So weit, so gut. In den vergangenen Jahren lobten oder verteufelten Vertreter aller politischen Couleurs

die kollektive Intelligenz, die durch das Internet gefördert wird. So warnte der Computerwissenschaftler Jaron Lanier vor ihrem Hang zum Totalitären und bezeichnete sie als „digitalen Maoismus“, in dem der Einzelne auf der Strecke bleibe. Michael Hardt und Antonio Negri hingegen sahen im Netzwerk schlechthin die Form aktueller Gesellschaften. Ihr politisches Subjekt, die Multitude, verbanden sie mit utopischen Hoffnungen, die sich auf die neuen Formen transnationalen Zusammenarbeitens via Web stützten. Und wie steht Michael Maier dazu? Leider gar nicht. Statt handelnde Subjekte mit Interessen zu beschreiben, greift der studierte Jurist in die Kiste der Naturwissenschaft. Die vielen kleinen Menschen, die in Chatrooms herumwuseln, Instant Messaging benutzen oder bloggen, sind für Maier Synapsen des „Superhirns Internet“. Schalthebel und Teile dieses größeren Ganzen, das uns „besser, klüger und schneller“ vor dem Abgrund bewahren könne. Doch der Hirnmetapher nicht genug, schnappt auch noch die Delfinfalle zu. Das Echolotsystem, mit dem sich die putzigen Meeressäuger unter Wasser über weite Strecken mit Angehörigen ihrer Schule unterhalten, soll Vorbild für die Menschen sein. Genauso schnell und sozial erfolge auch die Kommunikation über das Internet. Maier projiziert menschliches Verhalten munter ins Tierreich und vergisst dabei auf das soziale und politische Wesen des Menschen, das nicht erst durch das Internet erfunden wurde. Das einzige handelnde Subjekt in seinem Buch ist die Spezies Mensch. Diese könne sich durch die via Internet neu erlernte soziale Intelligenz nicht nur retten, sondern im Vor­ übergehen auch noch die Klassenfrage lösen. Das Problem dabei: Diese Art hat noch nie jemand gesehen. Die Spezies Mensch hat die Eigentümlichkeit, sich nicht als solche zu begreifen. Viel eher neigt sie dazu, sich als möglichst vielfältig aufzufassen: Die Unterschiede zwischen Griechen und Barbaren, Amerikanern und Russen etc. sind das, was Menschen zumindest bisher ausmachte. Man kann dazu auch Gesellschaft und Geschichte sagen. Nur wer diese simple Tatsache und dazu noch die Zeit des Kalten Kriegs vergisst, kann wie Michael Maier bizarr unhistorische

Sätze schreiben wie: „Warum der Mensch auf den Mond flog, ist noch nicht ganz klar.“ Maiers Buch ist da am besten, wo man seine persönliche Begeisterung für das Netz spürt. Wenn er die alten Eliten attackiert, weil sie sich vor dem neuen Kollektiv fürchten, und er lieber von den eigenen Kindern lernt, entstehen die lebendigsten Sätze. Den Vorwurf, zu wenig historisch zu argumentieren, kann man Christine Kolbe nicht machen. Im Gegenteil. In ihrem Buch „Digitale Öffentlichkeit“ kümmert sich die deutsche Philosophin vornehmlich um die Geschichte und schreckt vor einer Beurteilung der Gegenwart zurück. Ihr Ziel ist es, den Zusammenhang zwischen den bestimmenden Medien einer Gesellschaft und deren Fragen nach dem „guten Leben“ aufzuzeigen. Um zu überprüfen, ob sie das auch erreicht, heißt es, sich erst einmal an Kolbes Sprache samt akademischem Substantiv-Stakkato zu gewöhnen. Abgesehen davon liefert Kolbe für die zwei von ihr ausgesuchten historischen Epochen interessante Zusammenhänge. Sowohl für den Beginn der philosophischen Ethik in der Antike als auch für die deutsche Aufklärung beschreibt sie das Verhältnis von ethischer Reflexion und vorherrschendem Medium als wechselseitig wichtiges. Im Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr. vollzog sich der Übergang einer Gesellschaft, die sich vor allem mündlich über das „gute Leben“ verständigte, hin zu einer schriftlich geprägten. Dieser Prozess der Literalisierung habe sich auch auf die ethische Reflexion ausgewirkt, meint Kolbe. Der sokratische Dialog etwa, der über

geteilte Begriffsfindungen auch zu gemeinsamen normativen Haltungen führen sollte, war noch eine klassisch mündliche Technik. Bei seinem Schüler Plato sah das schon anders aus. Dieser kritisierte zwar ausdrücklich die Schrift als Medium, das im Gegensatz zum Gespräch keine individuelle Zuwendung möglich mache. Diese Kritik selbst und seine Ideenlehre mit der zentralen Idee des Guten wurden aber schriftlich vorgebracht. Aristoteles schließlich als Begründer der Wissenschaften bediente sich erstmals durchgängig eines „objektiv rationalen Begründungsprozederes“ und dies dazu passend „konsequent und vollständig in schriftlicher Sprache“. Auch die Fragen nach dem rich-

tigen Leben und die Unterscheidung von Gut und Böse mussten sich nach wissenschaftlichen Kriterien richten, die Schrift war das passende Medium der dafür nötigen Arbeit an Definitionen, Begriffen und Systematik. So einschneidend wie die Literalisierung in der Antike ist die Erfindung des Buchdrucks in der Neuzeit gewesen. Mit ihm entstand erstmals der öffentliche Raum, ein größeres Publikum, an das sich etwa Immanuel Kant bei der Formulierung seiner vernunftgeleiteten Moraltheorie wandte. So überzeugend und umfangreich, wie Kolbe die historischen Parallelen von ethischer Reflexion und medialen Bedingungen zieht, so enttäuschend endet aber letztlich ihre Beschreibung der Gegenwart. Welche Strukturen digitale Öffentlichkeit hat – relativ leichte Teilhabe am Diskurs, Ortsund Zeitungebundenheit, Interaktivität etc. –, das wurde schon vielfach beschrieben, nun auch ausführlich von Kolbe. Relativ kurz geht sie auf das Verhältnis dieser Strukturen zu dem von ihr ausgesuchten Bereich angewandter Ethik, der Bioethik, ein. Wie das „Superhirn Internet“ im Michael Maier’schen Sinne dazu beitragen könnte, die durch den medizinischen Fortschritt neuen Fragen nach Anfang und Ende des Lebens zu beantworten, wird nur angedeutet. Und nachdem man sich von einem hoffnungsvollen Cliffhanger zum nächsten durchgelesen hat, heißt es bei Kolbe auf der allerletzten Seite unleugbar richtig, aber lapidar: „Die Beschreibung des Neuen ist erst möglich, wenn das Neue schon wieder alt F ist.“ Michael Maier: Die ersten Tage der Zukunft. Wie wir mit dem Internet unser Denken verändern und die Welt retten können. Pendo, 280 S., € 20,50

Christine Kolbe: Digitale Öffentlichkeit. Neue Wege zum ethischen Konsens. Berlin University Press, 278 S., € 46,20

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Standard war ihm nicht gut genug Eine Biografie schildert das Leben des schillernden Verlegers, Malers und Journalisten Oscar Bronner te x t: FLORIAN KLENK

Land hat die Zeitungen, die es verJ edes dient. Oscar Bronner fand sich mit die-

sem Gesetz nicht ab. Deshalb gründete er

trend, profil und den Standard. Weil Bronner und sein Standard heuer einen runden

Geburtstag feiern – der Verleger wurde 65, sein „lachsrosa Blatt“ wird 20 Jahre alt –, haben die Journalisten Eva Weissenberger und Klaus Stimeder endlich Bronners Lebensgeschichte aufgeschrieben. Die Biografie bietet nicht nur ein spannendes Stück Zeitgeschichte, sondern gewährt auch Einblicke in das schillernde Leben eines in Haifa geborenen Emigrantenkindes, das 1948, mit fünf Jahren, erstmals das vom Krieg zerstörte Wien betritt – und über die Schneeflocken staunt, die in dieser grauen und ungemütlichen Stadt am Himmel tanzen. Weissenberger und Stimeder recherchierten die bislang unbekannte Geschichte der jüdischen Vorfahren Bronners, die ihre Wurzeln ausgerechnet in jener Stadt haben, wo sich später das größte Vernichtungslager befand: Auschwitz. Einige von Bronners Verwandten wurden von den Nationalsozialisten in Minsk ermordet, anderen gelang die Flucht nach Shanghai. Deren Nachkommen ließen sich nicht unterkriegen. Gerhard Bronner, Oscars Vater, kehrte ins Nachkriegsösterreich zurück, avancierte zu einem der berühmtesten Kabarettisten („Der Papa wird’s schon richten“) und kämpfte mit Helmut Qualtinger („Der Herr Karl“) gegen den Mief der 50er-Jahre an. „Quasi“ lebte gelegentlich in Oscars Kinderzimmer in einer zugigen Dachwohnung

und freundete sich mit dem Buben an. Oscar Bronner wollte zunächst gar nicht Journalist werden. Seine ersten beruflichen Schritte führten ihn in das Kellertheater seines Vaters, wo er als Beleuchter arbeitete und sich als Autor von Dramen versuchte. Einmal schrieb er sogar ein Stück für Arminio Rothstein, einen Puppenspieler, der als „Halbjude“ den Krieg in einem Keller überlebt hatte und später als Fernsehclown „Habakuk“ Karriere machen sollte. Doch aus der Theaterkarriere wurde nichts. Bronner zieht es zum Schreiben. Er heuert bei der Arbeiterzeitung als Volontär an, hört dort den Polizeifunk ab, wechselt zum Boulevardblatt Express, erlebt dort politische Einflussnahme, wechselt zum Kurier, dessen Chef Hugo Portisch er bis heute schätzt. Doch auch dort hält es Bronner nur kurz. Das hastige Schreiben liegt ihm nicht. Er kündigt und versucht sich als investigativer Journalist – und das mit Talent. Für das Forum des Schriftstellers Friedrich Torberg (eines Freundes der Familie) schreibt Bronner Enthüllungsgeschichten über Nazi-Richter, die in der Zweiten Republik Karriere machen konnten. Er lernt den späteren Grünaktivisten und „Club 2“-Macher Günther Nenning kennen und schätzen. Abends sitzt Bronner im Hawelka, seiner „Akademie“, wie er das Café nennt. Er trifft dort Künstler, Schriftsteller und Adelige, die ihn prägen. Etwa Karl Schwarzenberg, den späteren Financier des trend und heutigen Außenminister Tschechiens. Mit dem Maler Kurt Moldovan spielt Bronner Schach und lässt sich von ihm für die Kunst begeistern.

Klaus Stimeder, Eva Weissenberger: Trotzdem. Die Oscar-BronnerStory. Ueberreuter, 200 S., € 21,95

Das Wien der 60er-Jahre ist stickig, und vor allem die Presse ist für kritische Geister wie Bronner nicht zu ertragen. Deshalb gründet der damals 26-Jährige im Jahr 1969 einfach selbst ein Wirtschaftsmagazin: den trend. Kritisch und unabhängig soll das Blatt sein. Vor allem aber soll es das Geld einbringen, das Bronner für die Gründung des profil braucht, das kurz darauf erscheinen wird, um „der österreichischen Öffentlichkeit mit dem nackerten Orsch ins Gesicht zu fahren“, wie der mittlerweile verstorbene profil-Chefredakteur Helmut Voska es nannte. profil wird auch der Konkurrenz lästig, sie drängt Bronner, sein Blatt zu verkaufen. Der Kurier, so sagt er, legt ihm ein Angebot, „dass ich nicht ausschlagen kann“. Bronner übersiedelt nach New York, widmet sich in seinem Loft der Malerei, lernt Frederik Morton und Serge Sabarski, den legendären Galeristen und ehemaligen Kulissenmaler des Kabarett Simpl kennen. „Aufstehen, New York Times lesen, Malen, so vergehen die Tage“, erinnert sich Bronner. Nach 13 Jahren zieht er zurück nach Wien. Er will ein Blatt nach dem Vorbild der New York Times gründen. Das wird ihm nicht gelingen, aber er schafft eine anständige Tageszeitung. Die Oscar-Bronner-Story ist eine für die österreichische Medienszene höchst ungewöhnliche Erfolgsgeschichte, die eines kreativen, weltläufigen Querkopfs, der es nicht hinnehmen will, dass es in Wien keine guten Blätter geben soll. Die Nörgler und Zweifler des heimischen Pressewesens sollten diese Biografie eingehend studieren. Eine bessere Zeitungswelt ist nämlich mögF lich. Oscar Bronner hat es bewiesen.

Mimetisches Mitatmen im Reich der Scheintoten Was macht den Horrorfilm so sexy? Ein Sammelband „Horror und Ästhetik“ erforscht die Welt der Werwölfe und Kannibalen te x t: MAYA MCKECHNEAY

it dem Welterfolg von „The Sixth SenM se“ wurde vor rund zehn Jahren das Genre Horrorfilm wieder salonfähig. Seit-

her gehören als Blockbuster konzipierte Gruselfilme wieder zum festen Repertoire großer Verleiher in den Vereinigten Staaten. Aber auch in Europa wächst ein kreativer Horrornachwuchs heran: Allein aus Spanien kamen mit „[REC]“ und „El Orfanato“/„Das Waisenhaus“ im Vorjahr zwei moderne Euro-Horrorinterpretationen ins österreichische Kino. Zeit also für den entsprechenden theoretischen Unterbau. Der von Claudio Biedermann und Christian Stiegler herausgegebene Band „Horror und Ästhetik“ ist das Ergebnis eines in Wien abgehaltenen Symposiums mit internationalen Vortragenden aus den Bereichen Literatur und Filmtheorie. Alle 19 Autorinnen und Autoren nähern sich dem Thema auf ungewohnten Pfaden. So analysiert etwa Mitherausgeber Christian Stiegler die menschliche Atmung im Horrorfilm als Zeichen des gefährdeten Lebens, das zugleich auffordert, sich mimetisch mitzuängstigen. Wie beim automatischen Mit-

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gähnen, so Stieglers These, atmen wir auch in Horrorfilmen mit den Verfolgten schneller, ein Vorgang, der eine unmittelbare, körperliche Angst schürt. Julia Köhne, Dozentin am Wiener Institut für Zeitgeschichte, untersucht den „Konnex von Blut und Trauma“ in Brian de Palmas Stephen-King-Verfilmung „Carrie“. Und der Bonner Filmkritiker Stefan Höltgen überlegt in seinem Beitrag „Es hat (nicht) geschmeckt“, welches Bedürfnis des Filmkonsumenten eigentlich mit Kannibalenfilmen gestillt wird. Ganz speziell interessieren ihn dabei die aktuellen „verständnisvollen“ Filmannäherungen an den Fall des „Kannibalen von Rothenburg“. Der deutsche Filmpublizist Marcus Stiglegger argumentiert mit Julia Kristeva, dass mit jedem Horrorfilmmonster ein Teil unseres eigenen verdrängten Ichs auftrete. Mit großem Vergnügen liest man seinen kenntnisreichen Spaziergang durch die Welt der Werwolf-Filme. Die Tatsache, dass es in Spanien in den 60er- und 70erJahren einen veritablen Werwolf-Boom im Kino gab, beleuchtet dabei jene Tradition, der die Monstren aus „[REC]“ oder „Eskalofrío“ (der heuer auf der Viennale zu sehen ist) entstammen.

Christian Stiegler, Claudio Biedermann (Hg.): Horror und Ästhetik. Eine interdisziplinäre Spurensuche. UVK, 270 S., € 29,90

Die Dresdner Soziologinnen Grit Grünewald und Nancy Leyda kombinieren in einem Aufsatz über die „Theatrale Inszenierungspraxis innerhalb der Schwarzen Szene“ die filmische mit der soziologischen Betrachtung. Dieser Text gehört aufgrund inhaltlicher wie sprachlicher Unbeholfenheit allerdings auch formal zu den schwärzesten Momenten des Bandes. Überhaupt hätte man sich von den Herausgebern mehr editorische Sorgfalt gewünscht. Der Umgang mit Fußnoten und Anhang (es gibt weder ein Stichwortverzeichnis noch Biografien der Autoren) ist wenig liebevoll. Ein Grundsatztext zur aktuellen Renaissance des Kinohorrors, wie man ihn sich von einem solchen Band wünscht, stammt von Drehli Robnik: „Angesichts der neuen Normalität eines Prekaritäts“, formuliert der Wiener Autor, DJ und Dozent, „hat eine medienkulturelle Bildpraxis wie der Horrorfilm noch die Chance, die Idee einer ,Ausnahme von der Ausnahme‘, die Verheißung einer Unterbrechung aufrechtzuerhalten, und sei es als Drohung mit der Sterblichkeit als Endlichkeit.“ Und will damit sagen: Überall ist es besser, wo wir nicht sind. Vielleicht sogar F im Reich der Toten.

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Sachbuch

Die unheilige Allianz von Schafen und Wölfen

Unter seinem Galgen grinste Österreich

Die Forschung über das Verhältnis zwischen dem Vatikan und Nazideutschland endet noch immer im Jahr 1939

Anton Holzer schrieb ein Buch über den Krieg der schmutzigen Bilder und die Verbrechen der k.u.k. Armee

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or neun Jahren war es fast so weit. V 1999 rief Papst Johannes Paul II. eine Historikerkommission ins Le­

ben, die Rolle der katholischen Kirche im Zweiten Weltkrieg sollte endlich untersucht werden. Sie scheiterte in­ des am (berechtigten) Anspruch, un­ gehinderten und unbegrenzten Zu­ gang zum Archiv zu erhalten. Dieser wurde ihr verweigert, woraufhin sich die Kommission wieder auflöste, ehe sie ihre Arbeit überhaupt aufgenom­ men hatte. In der Folge machte der Vatikan (unter starkem öffentlichem Druck) lediglich die Aktenserien aus dem Pontifikat Pius’ XI. zugänglich, das von 1922 bis 1939 dauerte. Mit den wirklich großen Enthül­ lungen über das Verhältnis des Vatikan zum nationalsozialistischen Deutsch­ land im Allgemeinen und Auschwitz im Besonderen kann deswegen auch Hubert Wolf nicht aufwarten: Diese können wohl, wenn überhaupt, erst erwartet werden, wenn sich der Hei­ lige Stuhl dereinst entschließen soll­ te, den Aktenbestand des Pontifikats Pius’ XII. (1939–1958) freizugeben. Und das kann noch dauern. Was der renommierte Kirchen­ historiker der Universität Münster in seinem Buch mit dem etwas groß­ spurigen Untertitel „Die Archive des Vatikan und das Dritte Reich“ hinge­ gen unternimmt, ist eine detaillier­ te und zugleich übersichtliche Dar­ stellung der Beziehungen zwischen dem Vatikan und Nazideutschland bis 1939 – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Über weite Strecken bestätigt sich dabei das Bild, das seinerzeit bereits Rolf Hochhuth in seinem Bestseller­ drama „Der Stellvertreter“ und her­ nach eine Reihe von Historikern ge­ zeichnet hatten: Der Vatikan war zugunsten eines intakten diplomati­ schen Verhältnisses zu Nazideutsch­ land nicht bereit, anhaltende Kri­ tik am 1933 installierten Regime zu üben.

Wolf belässt es jedoch nicht bei dieser hinlänglich bekannten Feststellung, sondern – und darin liegt die beson­ dere Qualität des Buches – liefert eine detailreiche und stets spannend zu le­ sende Analyse der Entscheidungsfin­ dungsprozesse, wie sie zwischen den deutschen Bischöfen auf der einen und dem Papst beziehungsweise sei­ nem Chefdiplomaten Eugenio Pacelli, als Pius XII. später selbst Oberhaupt der katholischen Kirche, auf der an­ deren Seite abliefen. In dieser Hin­ sicht aufschlussreich ist auch die Vor­ geschichte dazu, die Wolf mit Pacel­ lis Amtszeit als päpstlicher Nuntius in München und Berlin (1917–1929) be­ ginnen lässt.

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Die als Reaktion auf den sich ver­ schärfenden Antisemitismus gegrün­ dete, sich dezidiert gegen jeglichen Antijudaismus wendende Priesterge­ meinschaft Amici Israel wurde durch ein päpstliches Dekret in dieser Zeit ebenso wieder aufgelöst, wie ihre Forderung abgeschmettert wurde, die katholische Liturgie von antijüdi­ schen Elementen zu reinigen. An der Formulierung „perfide Juden“, für die in der Karfreitagsliturgie – nebst Pro­ testanten und Heiden – gebetet wur­ de, ließ der Papst nicht rütteln. Zu einer gezielten Offensive gegen den

Nationalsozialismus wollte sich Pius XI. erst kurz vor seinem Tod aufraf­ fen – doch wurde er darin von sei­ nem obersten politischen Berater und Nachfolger, Pacelli, merklich aus­ gebremst. Denn längst war das so­ genannte „Reichskonkordat“ unter Dach und Fach, der Vertrag zwischen den Nationalsozialisten und der ka­ tholischen Kirche, in dem sich die bei­ den Parteien zu gegenseitigem Res­ pekt verpflichteten. Pacelli hielt mit heiligem Eifer an diesem fest. Er verzichtete sogar da­ rauf, Hitlers „Mein Kampf“ auf den päpstlichen Index zu setzen. Und eine Exkommunikation des „Führers“, wie sie selbst Mussolini in Anbetracht des antikirchlichen Aktivismus Hitlers beim Vatikan betreiben wollte, stand außerhalb jeder Diskussion. Mit tatkräftiger Unterstützung Pacellis hat sich Pius XI. letztlich für einen „typisch römischen Kompro­ miss zwischen Dogma und Diploma­ tie“ entschieden, bei dem katholi­ sches Obrigkeitsdenken einmal mehr den Sieg davontrug. Öffentliche Pro­ teste gegen die antisemitischen Ver­ brechen der Nazis wurden von ver­ einzelten katholischen Würdenträ­ gern bisweilen zwar vernehmbar. Der Heilige Stuhl selbst beließ es aber, wenn überhaupt, bei vagen Unmutsbekundungen. Und auf Bitt­ schriften verfolgter Juden und Jü­ dinnen reagierte er stets auf diesel­ be Weise: gar nicht. Denn immerhin, und auch dieser Aspekt kommt bei Wolf nicht zu kurz, konnten sich der Vatikan und der Nationalsozialismus stets von neuem auf einen gemeinsa­ men Feind einigen: In ihrem Hass auf den „Kommunismus“ standen sich die beiden Lehren in nichts nach. F

Hubert Wolf: Papst & Teufel. Die Archive des Vatikan und das Dritte Reich. C.H. Beck, 360 S., € 25,60

Te x t: MAT THIAS DUSINI

nfang des Jahres lud der Falter Ku­ A ratoren und Forscher ein, Aus­ stellungskonzepte für Museen zu ver­

öffentlichen, die ihre Aufgaben nur mangelhaft erfüllen. Der Fotohistori­ ker Anton Holzer nahm das Heeresge­ schichtliche Museum unter die Lupe und urteilte: „Eigentlich müsste man es schließen.“ Unhinterfragt würden hier die Heldenmythen der Habsbur­ ger wiedergegeben. Nun legt Holzer eine Materialsammlung vor, die sei­ nen Unmut begründet. Sie dokumen­ tiert die während des Ersten Welt­ kriegs in erster Linie an der Zivilbevöl­ kerung begangenen Verbrechen der k. u. k. Armee. Im Zuge einer Anklage gegen ei­ nen bayrischen Wehrmachtssolda­ ten tauchten die Bilder erst kürzlich in den Zeitungen auf: Partisanen bau­ meln an den Ästen von Bäumen, die die Einfahrtsstraßen norditalieni­ scher Städte säumen. Unbekannt ist, dass diese Bäume bereits 30 Jahre vor­ her als Galgen benutzt wurden. Hol­ zer belegt dies mit Aufnahmen von tschechischen Legionären, die auf Seiten der Italiener kämpften, den Ös­ terreichern in die Hände fielen und als Verräter zum Tode verurteilt wurden. „Die Früchte der österreichischen Kultur in Italien“, schrieb ein unbe­ kannter Archivar auf das Bild eines gehängten Legionärs.

Als Trophäen von Soldaten aufgenom­ men oder als abschreckende Beispie­ le von der Armee in Umlauf gebracht konnten diese Fotografien sich auch gegen ihre Urheber richten. Der Schweizer Kriminologe Rodolphe Archibald Reiss prangerte anhand von Hinrichtungsszenen in Serbien, die als Bildpostkarten Verbreitung fanden, die Verbrechen der Öster­ reicher und Ungarn an. „Erkennen sie denn nicht, dass diese Dokumen­ te eine gewaltige Anklage gegen das barbarische Vorgehen dieser Leute bilden?“ „Der Krieg gegen die Zivilbevöl­ kerung ist kein Randphänomen“, schreibt Holzer. „Er bildete die Kehr­ seite des Krieges.“ Zum ersten Mal in der Geschichte geraten im Ersten Weltkrieg Bauern, Priester und Bür­ ger zwischen die Fronten. Tausende von Männern, Frauen und auch Kin­ dern werden vor allem im Osten und Südosten Europas hingerichtet, ohne Prozess und Verteidigungsmöglich­ keit. Die Hinrichtung am Galgen galt in der Militärjustiz als angemessene Strafe für „Spione“ und „Verräter“. Holzer legt dutzende Fotos vor, die das wahllose Morden belegen. Warum das Bild eines harten, aber dennoch sauberen Kriegs sich bis heu­ te erhalten hat? In den 30.000 Auf­

nahmen der k. u. k. Propagandaabtei­ lung fand Holzer kein einziges Foto, das dem „anständigen“ Image der Ar­ mee widerspricht. Fündig wurde er in osteuropäischen Archiven, wo die Fotografien nach Kriegsende als Be­ weisstücke für die brutale Kriegsfüh­ rung der Mittelmächte zusammenge­ tragen wurden. Dennoch war der His­ toriker auf andere Quellen wie Briefe, Erinnerungen und Romane angewie­ sen, um die Geschichte dieser Bilder zu rekonstruieren, denn in der eige­ nen Zunft wurde das Thema ausge­ spart. Die Fotos verschwanden in pri­ vaten Fotoalben und wurden damit unsichtbar. Nach 1945 geschah ein weiterer Verdrängungsschub. „Die Aufnah­ men aus dem Ersten Weltkrieg wur­ den durch die Masse an Kriegsbildern aus dem Zweiten Weltkrieg überla­ gert“, schreibt Holzer. Ausführlich geht Holzer auf Karl Kraus

als Historiker ein. Als einer der Ers­ ten beschäftigte er sich nach dem Krieg mit der Gewalt dieser Bilder. Er wählte ein Hinrichtungsfoto als fo­ tografisches Frontispiz für sein Anti­ kriegsdrama „Die letzten Tage der Menschheit“ (1919/22). Es zeigt den italienischen Irredentisten Cesare Battisti nach seiner Hinrichtung am 12. Juli 1916 in Trient. Kraus erkennt im Grinsen des Hen­ kers und der sich ins Bild drängenden Personen eine perverse Schaulust. Holzer fand zahlreiche Fotos von der Szene, Schnappschüsse vom Sterben. Unberührt vom Geschehenen, grin­ send und triumphierend, posieren auch in Galizien und Serbien Soldaten und Zivilisten neben den Galgen. Ge­ walt und Kamera fanden auf unheim­ liche Weise zueinander. Holzer versucht am Ende seines Buches plausibel zu machen, dass die von ihm gesammelten Hinrichtungs­ fotos nicht nur historischen Wert be­ sitzen. Fotografische Gewaltbilder üben heute einen sexuellen Reiz aus, mehr denn je. Die Folterbilder aus dem Militärge­ fängnis von Abu Ghraib etwa entstan­ den als voyeuristische Beutestücke, ehe sie sich als Beweismittel gegen ihre Urheber richteten. Die Gewalt­ voyeure bekommen ihren Stoff nicht mehr mit der Feldpost geliefert, son­ F dern finden ihn im Internet.

Anton Holzer: Das Lächeln der Henker. Primus, 244 S., 114 Abb., € 41,10

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„Es gibt 800 Sudanesen in Atlanta, aber keine Harmonie unter ihnen. Es gibt sieben sudanesische Kirchen, und sie bekämpfen einander unaufhörlich und mit zunehmender Erbitterung“ DAVE EGGER S „WEIT GEGANGEN“ SEITE 18

Fotos aus der Serie „Türkisches Wien“ von Katharina Gossow

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Sachbuch

Anschwellender Kochbuchstrom Der Chefredakteur, in der Freizeit Angler und Koch, hat in der Flut gastrophiler Neuerscheinungen gefischt te x t: AR MIN THURNHER

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er Strom der Bücher schwillt an, und der kleine Nebenfluss der Kochbücher trocknet keinesfalls aus. Im Gegenteil: Essen, Kochen, zumindest das Lesen darüber, möglicherweise das Besitzen von Büchern, gewiss aber die Produktion von Büchern zu diesem Thema wird zu einer nicht abebbenden Mode. Die Bücher werden schöner, fantasievoller, besser und vielfältiger. Das hundertste Kochbuch des vierhundertsten Spitzenkochs braucht man nicht so unbedingt, aber „Kochen mit der Bibel“, das hat möglicherweise was. Drei Trends greifen wir aus der Fülle heraus: erstens die Grundsatzwerke, mit Interesse am Physikalischen, Bäckerischen und am Kulinarischen überhaupt, ja sogar am Biblischen! Zweitens den anhaltenden, wenn nicht stärker werdenden Trend zu Asiatischem, zu Fusion-Küche, Fernöstlichem. Drittens, ebenfalls anhaltend bis zunehmend: den Trend zum Regionalen.

1. Vom Lexikon zum Molekül Die Schweiz ist ein Land, in dem man bestens isst. Das hat zu tun mit der Konjunktur, mit einem von keinem Krieg unterbrochenen Wohlstand, mit der zentralen europäischen Lage und einer Mischung aus vier Kulturen. Es hatte aber auch mit Leuten zu tun, die diese kulinarische Kultur prägten. Die Hausfrauenküche ist nur ein Spiegel des allgemeinen gastronomischen Niveaus. Namen wie Betty Bossi oder Marianne Kaltenbach sind damit verknüpft. Letztere wird uns nun mit zwei Neuerscheinungen nahegebracht. Einmal mit einem biografischen Porträt („Die Kaltenbach“), in dem der österreichische Journalist Christian Seiler liebevoll nachzeichnet, wie aus der Bankierstochter über private Zufälligkeiten die einflussreichste Rezeptautorin der Schweiz wurde. Zugleich bringt der Echtzeit Verlag – übrigens erst vor zwei Jahren von einem Journalisten und zwei ehemaligen Weltwoche-Art-Direktoren gegründet – eines der Standardwerke von Marianne Kaltenbach heraus, das zu ihren Lebzeiten nie erschienen ist. Sie hatte zwar die Rezepte dafür gesammelt, es aber selbst, anders als ihre Bestseller „Aus Schweizer Küchen“ und „Aus Italiens Küchen“, nie publizieren können. Klassische Rezepte, präzise aufgeschrieben, für die Praxis zuhause geeignet.

Leandra Graf, Christian Seiler: Die Kaltenbach. Echtzeit, 160 S., € 24,70

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Marianne Kaltenbach: Aus Frankreichs Küchen. Echtzeit, 600 S., € 47,30

Tomaten und Kürbisse. Damit könnte man alles machen, denn egal ob regional, molekular oder exotisch: Auf das Material kommt es an

Richard Bertinet: Brot und Gebäck für Genießer. Christian, 158 S., € 20,60

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Richard Bertinet, ein französischer Spitzen-

koch und Bäcker, richtete in Bath in Süd­ england eine Back- und Kochschule ein: „The Bertinet Kitchen“ bietet ein Vielzahl von ernsthaften Kursen in Brotbacken und anderen kulinarischen Sparten. „French Breads“ kann zum Beispiel nur buchen, wer schon „Bread 1“ oder „Bread 2“ belegt hatte. No-nonsense with Mr. Bertinet! Sein neues Buch „Brot und Gebäck für Genießer“ lehrt in vielen Detailfotos, wie man selber ein Brot backen kann, das höheren kulinarischen Ansprüchen genügt, und wie man den eigenen Ofen dafür adaptieren kann. Der Brotbackboom ist in angelsächsischen Ländern stärker entwickelt als bei uns und wird dort von französischen Bäckern beflügelt. Wer in New York oder sonst wo kulinarisch etwas auf sich hält, setzt seinen eigenen Grundteig an oder redet zumindest drüber. Dieses Buch hilft dem Brottrendbewussten in beiden Fällen.

Grundsätzliches Interesse an Kochen hat in

letzter Zeit auch zwei ganz andere Formen

Werner Gruber: Die Genussformel. Kulinarische Physik. Ecowin, 304 S., € 21,90

Rolf Caviezel: Molekulare Küche. Do it yourself. Edition Fona, 121 S., € 21,90

angenommen. Einerseits gibt es schon länger ein grundsätzliches Interesse an physikalischen Vorgängen. Der französische Physiker Hervé This ist hier der Vorläufer. In Werner Gruber („Die Genussformel“) hat er einen österreichischen Nachläufer gefunden; mit Witz und Ironie beleuchtet der akademisch-physikalische Koch bekannte Fragen wie die, warum das Fleisch in der Pfanne gern kleiner wird, wenn man es brät. Stilistisch nicht immer so brillant, wie der Autor es gerne hätte, bringt das Buch doch unterhaltsame Aufklärung. Hier Physik, da Molekularküche. Ferran Ad-

rià ist jener Name, mit dem selbst weniger Kochinteressierte eines verbinden: die Revolution der Küche, die eben unter dem Stichwort „Molekulare Küche“ läuft. Der spanische Koch kreiert kulinarische Erlebnisse im Labor, nachvollziehen kann sie in seinem Restaurant nur, wer sich Jahre vorher einen Termin zuweisen lässt. Brauchbare Anleitungen bieten seine teuren Kochbücher eher nicht; hier springt die-

Anthony F. Chiffolo, Rayner W. Hesse Jr.: Kochen mit der Bibel, Rezepte und Geschichten. C.H. Beck, 299 S., € 20,50

Die Parkschlösschenküche mit Eckhard Fischer: Ayurvedische Kochkunst. Neuer Umschau Buchverlag, 191 S., € 30,80

Bobby Chinn: Der Geschmack Vietnams. Christian, 244 S., € 30,80

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s a c h b u c h    ses Büchlein in die Bresche. Wem der Sinn nach Zuckerwattewolken steht, nach Grünteenudeln, Safran-Air, lauwarmem Spinatgelee und dergleichen, der ist hier richtig. Grundsätzlicher geht es nicht. „Kochen mit der Bibel“ nimmt seine Sache ernst. Exegetisch genau werden Textstellen aus dem Alten und dem Neuen Testament erklärt, dazu gibt es den historischen Hintergrund. Passende Gemälde machen das insgesamt wunderschön gemachte und ausgestattete Buch zu einer wirklichen Bereicherung des Kochbuchregals. Die Rezepte scheinen manchmal für Anfänger etwas rätselhaft (wie der Freundschaftskuchen, dessen Teig man acht Tage gehen lässt), aber immerhin bedenkenswert. Manche wirken durchaus lohnend. Selbst wenn man sie nicht nachkocht, lässt einen das Buch belehrt und erfreut zurück.

2. Von Ayurveda bis Wagamama Sehr zivilisiert kommt die ayurvedische Kochkunst daher. Wer einmal in Indien eine Ayurvedatherapie gemacht hat, weiß, dass indisches Essen mit ayurvedischer Mäßigung nun ja, sagen wir einmal, nicht gerade aufregend schmeckt. In einem kleinen Ort im Moseltal gelegen, bietet das Hotel Parkschlösschen Ayurvedakuren an; die Küche muss die gehobenen Bedürfnisse eines europäischen Publikums befriedigen und zugleich den Prinzipien von Ayurveda (was auf Indisch soviel bedeutet wie Lebenskunst) genügen. Soll heißen, sie hat den in Doshas (Typen) eingeteilten Essern das Entsprechende zuzuführen. Neben praktikablen Rezepten bietet „Ayurvedische Kochkunst“ auch eine Einführung in diese Typenlehre, also in Ayurveda insgesamt. Dabei bleibt das ganze nachkochbar, lebenskünstlerische Hausmannskost sozusagen. Unzweifelhaft schick kommt hingegen „Der

Geschmack Vietnams“ daher. Ursprünglich in Terence Conrans Londoner Verlag erschienen, zeigt es die Ästhetik von dessen Produkten wie etwa dem Fressführer „Eating London“ sowie von Conrans Lokalen und Designprodukten. Der Autor passt in dieser Hinsicht zum Konzept. Der stilbewusste Konsument schaut ja dem Koch in die Augen bzw. auf Frisur und Gewand, ehe er auf den Teller schaut. Koch Bobby Chinn ist halb Ägypter, halb Chinese, geboren in Neuseeland, aufgewachsen in Europa und zuhause in San Francisco, führt aber ein Restaurant in Hanoi. Tatsächlich bekommt man in seinem Buch nicht nur einen Einblick in Vietnams Küche, sondern auch einen Hauch vietnamesischen Lebensgefühls, gesehen durch die Brille internationaler Stylishness.

Hugo Arnold: Das Wagamama Kochbuch. Christian, 192 S., € 20,60

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Judy Bastyra, Becky Johnson: Thai-Küche, Warenkunde, Küchenpraxis, 148 Rezepte. Christian, 256 S., € 13,40

Ebenfalls einem Trend entspricht „Das Wagamama-Kochbuch“. Wagamama? Das ist eine in London entstandene Kette, ein Gastronomie-Konzept. Was treibt Leute dazu, sich so zu ernähren, wie es ihnen eine – und sei es noch so schicke – Systemgas­ tronomie, anbietet? Man bestellt dort nach Nummern und bezahlt dafür nicht allzu viel. Das Buch verspricht, mit wenigen frischen Zutaten schnell ein schmackhaftes Resultat zuwege zu bringen. Gekocht wird mit dem Wok, die Richtung ist japanisch, die Fotos sind hübsch; warum es allerdings Restaurantfotos zur Animation braucht, soll mir einer erklären. Außer, es handelt sich nicht um ein Kochbuch, sondern um Werbung für ein Food-Konzept. Unprätentiös und klassisch, aber umso be-

eindruckender kommt „Thai-Küche“ daher. Dieses Buch vermittelt kein Lebensgefühl, sondern grundsolide Informationen über eine Küche, nämlich die thailändische. Das tut es äußerst sorgfältig und gut illustriert, mit reichlich Informationen über Land und Leute, Regionen und Tischsitten, Religion und Feste. Eine ausführliche Warenkunde hilft dem interessierten Koch wirklich weiter, zumal sie entsprechend bebildert ist – so findet man sich auf dem Markt und im Asia-Shop zurecht. Dieses Buch kann ich wirklich jedem empfehlen, der thailändisch kochen möchte oder sich nur dafür interessiert. Ein No-nonsense-Buch, wie es fast nur Angelsachsen zusammenbringen. Und günstig auch noch!

Grundsatzfragen Wovon hat sich zu Beispiel Johannes der Täufer ernährt, wenn von „Heuschrecken und Honig“ die Rede ist? Von Früchten des Johannisbrotbaums, den Karuben. Mit Interesse werden Sie also Honig-KarubenKüchlein zubereiten, ohne gleich ein härenes Gewand überwerfen zu müssen oder gar ihren Kopf zu verlieren. In „Kochen mit der Bibel“ lernt man mindestens so viel über die Heilige Schrift wie für seine Küche

Drei Trends erkennt der Rezensent:

¦ den fundamentalen

(Grundsatzwerke, Brotbacken, Physik des Kochens)

¦ den exotischen

(Ayurveda, schicke Vietnam- und Thaiküche)

Eine unwahrscheinliche Waldviertler Erfolgsstory legt Johannes Gutmanns Buch „Auf ¦ den regionalen der Sonnenseite“ dar. Gutmann gründete (Waldviertel, Wien, und leitet die Kräuter- und Gewürzfirma Knödel, Wurst) Sonnentor. In diesem Buch schildert er seine Erfolgsstory, die auch jene seine bäuerlichen Produzentenpartner ist. Das kommt frisch und modern aufgemacht daher. Bei den Rezepten verzichtet man bewusst auf Regionales und schweift aus – von Asiatischem bis zu Äthiopischem, Hauptsache gut gewürzt.

Inge Krenn, Rupert Schnait: Das Waldviertel Kochbuch. Krenn, 160 S., € 14,90

Johannes Gutmann: Auf der Sonnenseite. Leben und Genießen mit Kräutern und Gewürzen. Residenz, 222 S., € 29,90

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„dreimahl“ ist so was von überhaupt nicht regional, außer dass seine Autorin Vorarlbergerin ist und ihren Dialekt für Kapitelüberschriften einsetzt, die allerdings nicht immer dem linguistischen AlemannischHärtetest standhalten: „z’guate alte ländlekalb“ ist natürlich nicht das „z’guate“ (zugute), sondern „s’guate“ (das gute). Nebbich. Die Rezepte bringen klassische moderne Fusionküche und sind witzig dazu, also absolut überregional, aber durchaus anregend. Ein paar der superpfiffigen Fotos hätte sich der Verlag durchaus schenken können. Die Originalität der Amann’schen Küche überzeugt auch so. Jeder aufgescheuchten Trendiness unverdächtig ist Ewald Plachutta, Wiens erfolgreicher Rindfleischkoch, ein Mann, der mit der Wiederbelebung der Wiener Rindfleischkultur ein Vermögen machte. Man ist versucht zu sagen, dass das oft gesuchte Bürgerliche in Wien weder in Politik, Wirtschaft noch in der Kultur zu finden ist, sondern lediglich in der Wiener Küche. Von Apfelkren bis Zwiebelrostbraten und zum unerlässlichen Wiener Schnitzel – Ewald Plachutta dekliniert in „Meine Wiener Küche“ Gutbürgerliches durch. Nicht schick, aber rund und nahrhaft wie eine gute Rindssuppe. Dieses Buch ist eine runde Sache: Es bringt

3. Knödel, Schnitzel, Chorizo Das Waldviertel ist eine Region voller Naturschönheiten und Kulturdenkmäler, aber arm an Kultur. Daran ändern die vielen ehrenwerten Bestrebungen, das zu verbessern, wenig. Kultur kann man nicht in ein paar Jahrzehnten verordnen, die muss jahrhundertelang wachsen. Deswegen gibt es natürlich keine wirkliche Waldviertler Küche, das weitgehende Fehlen von Kulinarik gehört zu den Grunddefiziten dieses wunderbaren Landstrichs. Solche Schwächen merkt man natürlich dem „Waldviertel-Kochbuch“ an, das dennoch Regionales sammelt und appetitlich präsentiert.

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Denise Amann: dreimahl. ehrlich gekochtes in 3 gängen. Residenz, 160 S., € 24,90

„Knödel in allen Variationen“. Martin Sieberer ist ein Tiroler Meisterkoch, dessen Bücher hier schon das eine oder andere Mal gewürdigt wurden. Dieses Knödelbrevier, verfasst mit einer Kollegin und zwei Kollegen, ist brauchbar und österreichisch, also durchaus für den Regionaltrend qualifiziert. Kleines Manko: Der Sponsor, eine Tiroler Brauerei, hat sich auf jeder Seite hineinreklamiert – manchmal passt Bier zu den Rezepten, manchmal aber wirkt das aufdringlich.

Ein Monument der spanischen Kochkunst ist

ein Buch mit dem schlichten Titel „1080 Rezepte“. Der Verlag nennt es, gewiss nicht zu Unrecht, die „Bibel der echten spanischen Küche“. An den hier dargebotenen Rezepten werden sich die Gegner Ferran Adriàs aufmunitionieren können. Hier findet man – zusammengestellt von Mutter und Tochter, beide Rezeptautorinnen, Erstere seit 50 Jahren (!) –, keine sphärisierten Rosenwassermurmeln und keine Anchoviswassergelatine. Hier gibt’s Eintöpfe und Suppen, Wild und Innereien, Frittiertes und Souff­liertes. Hier geht’s um die Wurst, pardon, um die Chorizo, und die kommt schon einmal in ihrer deftigstmöglichen Form daher, mit Kartoffeln und Speck. Sollte man im Regal haben. Wird F man brauchen können.

Ewald und Mario Plachutta, mit Texten von Werner Meisinger: Meine Wiener Küche. Brandstätter, 209 S., € 29,90

Martin Sieberer Knödel in allen Variationen. Tyrolia, 136 S., € 14,95

Simone und Inès Ortega: 1080 Rezepte. Phaidon, 848 S., € 41,10

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Sachbuch

Erst kommt die Moral, dann erst Happa-Happa

Darwins Dogmen von der natürlichen Zuchtwahl gehören auf die Müllhalde der Theorie

Für Frans de Waal verschafft Moral Vorteile in der Evolution. Diese Neudeutung des Darwinismus bleibt nicht unwidersprochen te x t: OLIVER HOCHADEL

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enschenaffen machen Politik, indem sie gezielt Bündnisse schmieden. Bonobos handeln mit Sex und schlichten damit auch Konflikte. Frans de Waal hat all dies nicht alleine herausgefunden, aber es war der niederländische Primatologe, der diese Erkenntnisse in erfolgreichen populärwissenschaftlichen Büchern einem großen Publikum bekannt machte. De Waal, der schon seit 1981 in den USA forscht, hat wesentlich zur Einsicht beigetragen, wie ähnlich uns unsere nächsten Verwandten im Tierreich tatsächlich sind. In seinem neuen Buch werden die Erkenntnisse der Verhaltensforschung nur angerissen. Er wird grundsätzlich, es geht ihm darum zu zeigen, „Wie die Evolution die Moral hervorbrachte“, so der Untertitel. Um dies zu zeigen, nimmt sich de Waal zunächst die entgegengesetzte Theorie vor, wonach die Moral aus der menschlichen Kultur entstanden sei. Er bezeichnet diese Vorstellung als „Fassadentheorie“: Der Mensch habe quasi von Natur aus einen durch und durch bösen und egoistischen Kern, um dem sich im Laufe der Zivilisation eine dünne Schicht Moral gelegt hat. „Gut“ verhalten wir uns nie aus innerem Antrieb, sondern immer nur aus taktischen Gründen: um Ansehen zu erwerben, uns anzupassen und nicht in Konflikte zu geraten. Moral dient demnach lediglich dem eigenen Fortkommen, ist eben bloß Fassade, der Mensch bleibt dem Menschen Wolf. Diese Theorie hat für de Waal freilich einen entscheidenden Fehler: Sie ist entwicklungsgeschichtlich nicht haltbar, eine reine Kopfgeburt westlichen Denkens von Hobbes bis Richard Dawkins („Das egoistische Gen“).

Die „Lautsprecher Darwins“ hätten die Evolu-

tionstheorie nicht konsequent zu Ende gedacht, das heißt, diese nicht von der Entstehung der Arten auf die Moral übertragen. Gerade der Blick auf unsere haarigen Vettern aber zeige: Moral ist keineswegs eine dünne Tünche, mit der wir unser im Grunde rein egoistisches Verhalten bedecken. Empathie, Reziprozität (Hilfst du mir, helf ich dir) und Altruismus (helfen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten) sind aufgrund unserer evolutionären Entwicklung tief in uns verwurzelt. Wenn Affen Affen oder Menschen Menschen leiden sehen, dies haben Versuche gezeigt, ist das für beide ein enormer Stressfaktor. Schimpansen verzichten lieber auf Essen, wenn sie wissen, dass es einem Artgenossen Schmerz bereiten würde. De Waals Argument: „Moral“ war ein Evolutionsvorteil. Mitfühlen und einander Helfen fördern den Gruppenzusammenhalt und werden so zum Selektionsvorteil. Klar, neben der Kooperation prägt immer auch Konkurrenz das Verhalten. Die Fassadentheorie dient de Waal als Kontrastfolie für das eigene Szenario – und als Feindbild, auf das er eindreschen kann. Denn dass es

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bei aller Hinterlist und Grausamkeit in der Geschichte auch unzählige Beispiele für Güte, Selbstlosigkeit, Fairness, Loyalität und weitere Spielarten nichtegoistischen Verhaltens gibt, ist offensichtlich. Oft mag die Motivation gemischt sein, aber moralisches Verhalten ausschließlich mit Berechnung, heimlichem Egoismus und bloßem Konformismus zu erklären, läuft schlicht aller Erfahrung zuwider. Genau dies betonen die vier Kommentatoren, die de Waal im zweiten Teil des Buches antworten. Die Philosophen Philip Kitcher, Christine Korsgaard, Peter Singer und der Publizist Robert Wright sehen sich selbst denn auch keineswegs als reine „Fassadentheoretiker“. Insbesondere Kitcher und Korsgaard reicht de Waals naturalistische Moralherleitung nicht. Von Kants Ethik kommend, streichen sie die gerade die individuelle Entscheidung für das Gute als Charakteristikum einer moralischen Handlung hervor. Mäßig originell verweisen sie auf Vernunft und Selbstreflexion als die Kennzeichen des Menschlichen. Wo der Instinkt aufhört und die bewusste Entscheidung beginnt, ist Anlass für begriffliche Scharmützel. Letztlich spitzt sich die Diskussion damit auf die altbekannte Frage zu, wie sehr sich der Mensch vom Tier unterscheidet. Hier hakt de Waal in seiner Replik am Ende des Buches ein. Die Dichotomie zwischen Kultur und Natur lehnt er ab. Er setzt zwar Mensch und Tier nicht gleich, betont aber das durch die Evolution geschaffene Kontinuum zwischen beiden. Allein der Tierrechtler Peter Singer, der mit seiner Forderung nach „Menschenrechten für Menschenaffen“ bekannt wurde, überbietet de Waal in diesem Punkt noch. Frans de Waal kritisiert die Kritik des Anthropomorphismus. Von uns auf Tiere zu schließen, also diesen etwa ein komplexes Innenleben zuzuschreiben, galt lange als methodische Todsünde in der Zoologie. Diese Zuschreibungen müssen aber nicht notwendig falsch sein, zumal, wenn sie methodisch kontrolliert werden. Gerade aufgrund stammesgeschichtlicher Verwandtschaft seien viele Analogieschlüsse plausibler, als im Gegenzug diese in Abrede zu stellen, so de Waal. „Anthroponegation“ sei genau so ein Irrweg wie ein naiver Anthropomorphismus. Ein gewichtiges Problem freilich bleibt. In de Waals Worten: „Moralsysteme sind ihrem Wesen nach parteiisch zugunsten der eigenen Gruppe.“ Kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Schimpansenpopulationen führen mitunter zur völligen Auslöschung eines Gegners. Eine evolutionäre Moral ist rein deskriptiv, es lassen sich keine Forderungen oder Normen ableiten, gerade für eine Weltgesellschaft. Hier muss sich de Waal hüten, dass seine Theorie nicht von rechtsextremen Gruppen vereinnahmt wird, die es als „natürlich“ erachten, dass man sich zunächst um seine Familie, dann um die eigene Nation und erst am Schluss um den Rest der MenschF heit kümmert.

::  Der Darwinismus hat die Ideen vom im-

Frans de Waal: Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte. Hanser. 220 S. € 20,50

Das Darwin-Jahr 2009 feiert ein Doppeljubiläum: Am 12.11.1809 wurde Charles Darwin geboren, am 24.11.1859 erschien sein Hauptwerk „Über den Ursprung der Arten“

merwährenden „Kampf ums Dasein“ und vom „Überleben des Stärkeren“ populär gemacht. Gerade im Zeitalter des Turbokapitalismus scheinen diese Parolen plausibler denn je. Ein schreckliches Missverständnis, warnen Biologen. Gegen die Vorstellung vom Menschen als rücksichtsloser Egomaschine argumentiert der Freiburger Neurobiologe Joachim Bauer. „Das kooperative Gen“ versteht sich als radikaler Gegenentwurf zu Richard Dawkins’ wirkmächtigem Bestseller „Das egoistische Gen“ (1976). Die „Dogmen Darwins“ von der rein zufälligen Mutation des Erbguts und der natürlichen Selektion als den Triebkräften der Evolution gehören für Bauer auf die Müllhalde empirisch widerlegter Theorien. Zu diesem Zweck fasst er Forschungen nach der Entschlüsslung des menschlichen Genoms 2001 pointiert zusammen. Die Überraschung bestand damals darin, dass die Gene nur einen sehr kleinen Anteil der DNA ausmachen, nämlich 1,2 Prozent. Galt der riesige Rest manchen als „Junk-DNA“, wurden in den letzten Jahren zahlreiche Mechanismen entschlüsselt, mit denen die Zellen selbst den Umbau der DNA vorantreiben. Eine entscheidende Rolle spielen hierbei die sogenannten Transpositionselemente, die Gene verdoppeln und verschieben können. Die Zelle gibt also gezielt bestimmte Abschnitte der DNA frei und „lässt“ mutieren, während für die Stabilität entscheidende Gene gesichert werden.

Genmutationen werden kontrolliert herbeige-

Joachim Bauer: Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus. Hoffmann und Campe. 223 S., € 20,60

Sean B. Carroll: Die Darwin-DNA. Wie die neueste Forschung die Evolutionstheorie bestätigt. S. Fischer. 330 S., € 20,50

führt, und zwar bevor die Umweltbedingungen sich ändern. Treten dann „Stressoren“ wie etwa Dürre oder neue Feinde auf, vermag der Organismus entsprechend schnell zu reagieren. Diese Reaktion ist auch der entscheidende Mechanismus für die Entstehung neuer Arten, die natürliche Selektion spielt eine sekundäre Rolle. Bauer steht hier auf der Seite der Saltationisten, die schnelle, eben sprunghafte Entwicklungen neuer Spezies annehmen, zwischen denen lange Phasen der Artenstabilität liegen. Die Erforschung des menschlichen Genoms wird noch so manche Überraschung liefern. Ob sich diese erstaunlichen Mechanismen der Selbstadaption des Erbguts tatsächlich am besten mit Bauers Schlagworten Kommunikation, Kooperation und Kreativität beschreiben lassen, wird sich weisen. Auch Bauer ist einem Zeitgeist verpflichtet, einem harmonie- und sinnbedürftigen nämlich, auch wenn dieses gemeinschaftliche Ziehen an einem DNAStrang uns sympathischer erscheinen mag als der gnadenlose Wettkampf einzelner Gene. Die Debatte ist noch im vollen Gange. So legt der US-Molekularbiologe Sean Carroll mit „Die Darwin-DNA“ einen, wie Bauer sagen würde, „dogmatischen“ Überblick vor, in der Mutation und Selektion fröhliche Urständ feiern. Statt „Abschied vom Darwinismus“ heißt es bei Carroll: „Wie die neueste Forschung die Evolutionstheorie bestätigt“. Das Darwin-Jahr 2009 kann O.H. kommen.

10.10.2008 19:04:15 Uhr


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