FORMATIIIEREN DER FORMATION

Page 1



formatieren der formation Visuelle Untersuchungen zu typografischen und schriftgestalterischen Betrachtungsweisen A visual analysis of approaches to typography and typedesign

t h e or i e



formatieren der formation Visuelle Untersuchungen zu typografischen und schriftgestalterischen Betrachtungsweisen A visual analysis of approaches to typography and typedesign

t h e or i e

Bachelor-Thesis von

Fabian A. Simon

Eingereicht am

19. Juli 2010

Studiengang

Kommunikationsdesign Hochschule Augsburg Fakult辰t f端r Gestaltung

Erstpr端fer

Prof. Hans Heitmann

Zweitpr端fer

Prof. Erich Gohl

Abschluss-Semester

Sommersemester 2010



inhaltsverzeichnis

EIN LEITU NG Kurzbeschreibung

I

Persรถnliche Motivation

II

Legitimation der Arbeit

III

Bezug zum Thema

IV

REGEL Typografie

01

Schrift

05

DA S E X PERI M E N T

I N D ER G E S C HIC HTE

Typografie

13

Schrift

25

Bewegtbild

29

DA S E X PERI M E N T Typografie

37

Schrift

41

Bewegtbild Wahrnehmung Fazit

51 57 V



einleitung I

Kurzbeschreibung Auf den kommenden Seiten gebe ich dem Leser ein fundiertes Grundwissen zu den Themengebieten Typografie, Schrift und Bewegtbild an die Hand, damit er die darauffolgenden Aussagen nachvollziehen kann. Da das Experiment im Zentrum meiner theoretischen wie praktischen Auseinandersetzung steht, werden zunächst einige prägende geschichtliche Ereignisse erwähnt, die experimenteller Natur waren. Diese dienen wiederum als Grundlage für meine allgemeinen Thesen zum experimentellen Arbeiten im Grafikdesign. Ziel meiner Bachelor-Thesis ist ein tieferes Verständnis über experimentelle Vorgehensweisen und für unkonventionelle Denkweisen.

Executive Summary On the following pages I impart the reader a fundamental knowledge about the issues of typography, type and type in motion, so that he can comprehend the pages to come. Due to the fact that the “experiment” is my main focus of the theoretical and the executed part of my examination, I start of with the most important historical periods which dealt with experimentation. These informations serve as the basis of my general assumptions on experimental work in Graphic Design. With my Bachelor-Thesis I want to achieve a more profound knowledge and understanding of experimental solutions for design challenges. Consequently I’m aiming at more tolerance for unconventional thinking.



einleitung II

Persönliche Motivation Meine Interessen liegen in gelungener Schriftgestaltung, ausgefeilter Typografie und dem tieferen Verständins der Zusammenhänge zwischen Schrift, Typografie und der Wahrnehmung derselbigen in den neuen Medien. Es liegt in der Natur meiner Arbeit, dass ich über den Versuch und manchmal das Experiment zu überraschenden Ergebnissen komme. Jedoch noch zu selten und zu wenig zielorientiert. Für meine Abschlussarbeit will ich diese freie Arbeitsweise in geregelten Strukturen zu einem Ziel führen und das Ergebnis meines großen Abschluss-Experiments an der Hochschule präsentieren. Allein die Arbeit für, mit und in den neuen Medien stellt ein Experiment dar. Nach meinem Verständnis von diesem Studium, muss man als Student die Ressourcen nutzen und (solange man kann) daraus Überraschendes generieren und kreieren. Damit es nicht zu weit ausufert reglementiere ich mich und beschränke mich auf die Untersuchung typografischer Phänomene, Experimente und Möglichkeiten der Schriftgestaltung oder genauer, der Gestaltung mit Schrift. Wie bei einem Experiment üblich ist der Ausgang erst einmal ungewiss. Nach dem Lehrverständnis der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel: „ Der Student soll begreifen, dass Entwerfen als endloser Prozess nicht in einem abschließenden Resultat zu enden braucht, sondern dass seine persönliche Erfahrung, seine Sensibilität und Kreativität Ziel und Produkt aller Anstrengung ist. Das heißt, er soll bewährte Bahnen verlassen und auf Bewährtes verzichten. Damit betritt er Neuland statt sich an gängige Trends zu halten.“


Experimentelle Schrift kann nicht konventionell sein und wird daher immer mehr vom Leser verlangen. Überraschung und sogar Schock ist zu erwarten – vielleicht sogar erhofft. (Übersetzung durch den Verfasser)

Je mehr man dazu in der Lage ist neue und unterschiedliche Dimenionen der menschlichen Vielseitigkeit zu erleben, desto mehr lernt man über sich selbst. (Übersetzung durch den Verfasser)


einleitung III

Legitimaiton der Arbeit Nach einer intensiven Recherche sehe ich die Entwicklung des Kommunikationsdesigns als Dynamisierung statischer Inhalte in einer zunehmend dynamisierten Zeit. Es ist ein entsprechendes Konsumverhalten der Gesellschaft erkennbar, das die zurückgelegte Strecke gegenüber der dafür verwendeten Zeit strenger und rigider auffasst als es einmal der Fall war. Ironischerweise ist es auch der Film der neben dem Schnell-Schnell Alltag zum Entspannen einläd nicht das Buch, in dem man nach Lust und Laune schmökern kann und somit das Tempo heraus nimmt. Mit dieser Arbeit will ich genau diesem Entwicklungstrend antworten und ihn zum Hauptinhalt meiner Arbeit machen. Abschließend möchte ich die Betrachter überraschen, vielleicht sogar schockieren. Denn: „ Experimental type cannot be conventional and, therefore, will always demand more of the reader. An element of surprise or even shock is to be expected.

¹ David Jury: ‚ New Typographic Design‘ – p.122

Perhaps it is hoped for.“1 „ The more one is capable of experiencing new and different dimensions of human diversity, the more one learns about oneself.“2 Es wird in zunehmendem Maße um die Klärung diffiziler Zusammenhänge von Information, Informationsträger und Rezipient der Information gehen. Um diese Aufgaben adäquat lösen zu können bedarf es Systemen,

² P.S. Adler: ‚ The Transitional Experience: An Alternative View of Culture Shock‘ – Journal of Human Psychology 15, 1975

Regeln und Verfahrensweisen, die funktionieren. Auf dem Feld der Typografie und des Schriftdesigns wird schon immer nach der schnellsten und unproblematischsten Kommunikationsform gesucht. Ständig werden Erkenntnisse aus der Wahrnehmungspsychologie angewandt, um das Lesen und die Lesbarkeit benutzerfreundlicher zu gestalten oder mit den LeseErwartungen zu spielen. Neben dem Festhalten an Regeln und Vorschriften für ein steuerbares Benutzer- oder Leserverhalten, muss man auch bekannte Muster durchbrechen können. Auf diesem Wege kann man zu neuen Erkenntnissen gelangen. Experimentieren heißt nicht, eine Antwort zu suchen, sondern die Frage zu stellen!3 In allen Epochen und allen Kunstrichtungen, war das Experiment immer ein integraler Teil des Prozesses hin zu einem besseren oder zumindest unerwarteten Ergebnis. Wenn ich als sog. „Junger Kreativer“ etwas dazu beitragen will, dass die Zielgruppen noch besser angesprochen werden, die Kommunikationsaufgaben im Bereich des Design noch besser gelöst werden, dann mit dem Selbstversuch.

³ Lucinda Hitchcock: ‚Experimentelle Typografie‘ S.150



einleitung IV

Bezug zum Thema Mich faszinieren Prozesse, die Verhaltensweisen steuern können. Daher gehe ich auch auf Fälle aus der älteren und jüngeren Geschichte des Grafikdesigns ein, die mit Mitteln der Kommunikation oder etwaiger Expression gespielt und experimentiert haben. Um aus ihren Fehlern zu lernen und von ihren Gewinnen zu profitieren gehe ich ihnen auf die Spur und versuche ihnen auf die Schliche zu kommen. forschen, filosofieren, fantasieren, finden, formen, filmen, formatieren. Echtes Experimentieren bedeutet, Risiken einzugehen. Man kennt das Ergebnis nicht, doch man probiert etwas aus, man glaubt an den Erfolg – glaubt – hat aber keinen Beweis dafür. Experimentieren bedeutet, neugierig zu sein, zu glauben, dass man etwas machen kann, das es noch nicht gibt. Es bedeuetet bereit zu sein, Fehler zu machen und diese Fehler als lehrreiche Erfahrung anzusehen, die man in einen Prozess einbauen kann, der es einem ermöglicht, das Alltägliche hinter sich zu lassen. Experimentelle Typografie geht dieselben Risiken ein. Man sollte vorher keine bestimmten Erwartungen an die Form haben. Das Experimentieren besteht im Schaffen der Form. Die Form kann für den Designer oft genauso unerwartet ausfallen wie für das Publikum (wollen Designer nicht genau deshalb experimentelle Werke schaffen? Werke, die wirklich kreativ sind und nicht bloße Produktion?). Sobald die experimentelle Form geschaffen wurde, kann sie kategorisiert, benannt, verstanden und schließlich auch aus ihrem Zusammenhang herausgenommen werden. Experimentelle Typografie hat so lange nichts mit Stil zu tun, bis das Design fertig ist. Aber dann ist es Stil pur.4

⁴ Michael Worthington. Aus Teal Triggs: Experimentelle Typografie, S.115



REGEL 01 63

Typografie

Es gibt viele Definitionen von Typografie. Eine ganz grundsätzliche Begriffserklärung könnte folgende sein: In der Typografie gruppieren sich Buchstaben zu Wörtern, aus Wörtern werden Sätze. In der Typografie wird „Text“ als eine aneinander gereihte Folge von Wörtern definiert und von kürzeren Schlagzeilen, Titeln und Bildunterschriften unterschieden. Der Hauptblock wird oft „Textkörper“ genannt und enthält am meisten Information. […] Das typografische Layout strukturiert die Zeichen zu Wörtern, Zeilen, ganzen Texten – und verdeutlicht durch deren räumliche Anordnung den Sinn des Textes. Wie der Typograf eine Seite präsentiert, berücksichtigt neben Inhalt und Form auch Material, Produktionsvorgang und sein Wissen um die Zielgruppe. Hier beginnt der freie, interpretierende Teil dieser möglichen Definition: Auch als „Lauftext“ bekannt, kann er von einer Seite oder Spalte zur nächsten fließen. Der Text kann als solides, festes Objekt betrachtet werden oder aber als eine Flüssigkeit, die man in die Behälter einer Seite oder eines Bildschirms gießt. Text kann fest oder flüssig, Körper oder Blut sein. Diese schon fast metaphorische Ebene kann einem Laien dazu verhelfen, die Funktionsweise auch ohne Fachjargon nachzuvollziehen.⁵ Unter dem funktionalen Gesichtspunkt wird der Zweck der Typografie

⁵ Ellen Lupton: Mit Schrift denken S.63

von anderen Geistern in der Verbesserung der Lesbarkeit des geschriebenen Wortes gesehen, während eine der wichtigsten Funktionen von Grafik darin bestünde, dem Leser das Lesen zu ersparen. Des Weiteren kann der Zweck der Typografie darin bestehen, Buchstaben so anzuordnen, den verfügbaren Raum so zu verteilen und die Schrift so zu wählen, dass dem Leser das Verstehen des Textes so einfach wie möglich gemacht wird.⁵˙¹ Vielleicht um damit auch die Wichtigkeit von Grafiken herabzusetzen. Auch Typografie wirkt auf uns nicht nur als Informationsvermittlerin, sondern auch als ein Produkt mit einem unbestimmten Anspruch auf „Schönheit“.

⁵˙¹ Adrian Frutiger: Type, Sign, Symbol  S.67, 69 ⁶ Hans-Rudolph Bosshard: Die Demontage der Regel, Vortrag, gehalten 1993 am „Tag der Typografie“, Zürich. Aus 6 Essays – S.130

[…] d.h. Typografie wird mit einem empfindsamen, ästhetischen Auge betrachtet, nicht nur unter dem Aspekt der Mitteilung.⁶ Ein wichtiger Aspekt der Typografie ist, dass sie sich auf der zweidimensionalen Ebene des Papierblatts abspielt. Damit unterscheidet sie sich von der Architektur – die raumbildend ist – und der Malerei, die Raum suggerieren kann.⁷

⁷ Max Bill: Zeitschrift „Schweizer Graphische Mitteilungen“ erschienen in den „Typografischen Monatsblättern“, St. Gallen, Heft 5, 1991 aus 6 Essays – S.179



REGEL 03 63

Ein Blick auf die Makrotypografie erlaubt den Charakter der Typografie besser zu verstehen: Die Verhältnisse und Größenunterschiede der Buchstaben und der verschiedenen Schriftgrade sind genau festgelegt. Dieses präzise Grundmaterial bestimmt den Charakter der Typografie. Betrachten wir dieses Grundmaterial genauer, dann können wir beobachten, dass es geeignet ist, einen genauen Rhythmus zu entwickeln, der sich in berechenbaren Proportionen ausdrückt, die das Gesicht der Drucksache ausmachen und das Charakteristische der typografischen Kunst darstellen. Um dann aber sofort wieder auf die Funktionalität der Typografie hinzuweisen: Vor allen Dingen müssen die Notwendigkeiten der Sprache und des Lesens erfüllt sein, bevor rein ästhtetische Überlegungen Platz greifen können.“ ⁸ Damit steht diese Definition der zuvor erwähnten konträr gegenüber. Die Typo-

⁸ Stanley Morrison: Experimentelle Typografie – S.9

grafie befindet sich also in dem Spannungsfeld zwischen dem Anspruch der Lesbar-Machung von gedruckten Inhalten und der Ästhetisierung der zu vermittelnden Information. Abschließend zu diesen einleitenden Worten zur Typografie spricht Giambattista Bodoni, einer der größten Altmeister des ausgehenden 18. Jahrhunderts: Keine andere Kunst hat ja mehr Berechtigung ihren Blick auf die zukünftigen Jahrhunderte zu richten als die Typographie. Denn, was sie heute schafft, kommt der Nachwelt nicht weniger zu gute als der lebendigen Generation.⁹

⁹ http://www.typokinetik.de/



REGEL 05 63

Schrift

Schrift ist die symbolische Darstellung von Sprache in mechanischer oder digitaler Form. Unter Schriftdesign versteht man die Konstruktion von Buchstabenformen und ihre systematische Anwendung auf einen kompletten Zeichensatz.¹⁰ Dabei haben alle Buchstabenformen stets dieselbe klassische Grundstruktur gemeinsam. Der Kern des Zeichens ist wie der reine Ton in der Musik – die Außenform jedoch bewirkt den Klang.¹¹ Von Kleinauf lernt man als Mensch mit den Zeichen der Schrift, dem

¹⁰ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.8 ¹¹ Adrian Frutiger: Type, Sign, Symbol S.67, 69

„Alphabet“ eine Bedeutung zu verbinden. Das Alphabet ist es wiederum auch, welches Kommunikation erst ermöglicht. Ohne diese „Zeichensprache“ könnten sich die Menschen gleicher Herkunft nicht schriftlich verständigen. Werbung, Informationsvermittlung und -fixierung wären gänzlich undenkbar. Aber zu einem Buchstaben gehört mehr als nur sein Klang oder seine Form. Man unterziehe sich einmal dieser (durchaus gewinnbringenden) Mühe, die Form eines Buchstabens mehrmals (oder immer wieder) mit den Augen abzutasten, an ihr entlang zu gleiten, die Kurven und Schwellungen aufzunehmen, ihre Annäherungen und Drehungen, ihre sicheren Endpunkte zu erleben, von ihnen zurück zu gleiten: Zum Anfang – zum Ende – zum Anfang – zum Ende.¹² Sein Einsatz und die Wahl eines jeden Buchstaben muss mit Bedacht

¹² Wolfgang Weingart: Wo der Buchstabe das Wort führt

geschehen, denn seine Verwendung sagt viel darüber aus, welche Wirkung bei dem Betrachter erwünscht wird. Man vergleiche die geschwungenen Zierschriften oder englischen Schreibschriften auf Einladungskarten mit der Wirkung von breiten, robusten serifenbetonten Buchstabenformen beispielsweise bei Veranstaltungs-Plakaten. Doch neben der Anmutung von Buchstaben und Alphabeten gilt es stets auch die Lesbarkeit und die Einsatzmöglichkeiten zu bedenken und vernünftig abzuwägen. Der Leser muss Schrift mit geringstem Widerstand in größter Geschwindigkeit aufnehmen können.¹³ Im Buchwesen geht es bei der Schriftgestaltung um die bestmögliche Lesbarkeit der Buchstabenformen. In den meisten Fällen muss gesondert entschieden werden, welche Schriften wann verwendet werden. In der heutigen Zeit ist der Schriftmarkt kaum noch zu überblicken. Aus allen Ländern und allen Bereichen und Altersschichten kommen stetig neue Fonts von Schriftdesignern oder solchen, die es sein

¹³ Hans-Rudolph Bosshard: Die Demontage der Regel, Vortrag, gehalten 1993 am „Tag der Typografie“, Zürich. 6 Essays – S.131,2



REGEL 07 63

wollen. Dabei wird u.a. Authentizität durch Handschrift, eine bestimmte Stimmung und Optik beispielsweise durch aufgeriebene, strukturierte oder aufgebrochene Schriften, oder eine Materialisierung der Schrift mit Nähen, durch dreidimensionales Bauen oder Zusammensetzen, ausgedrückt. Es geht dabei also mehr um die Selbstverwirklichung des Gestalters als um funktionales massenkompatibeles Design. Geschichtsexkurs (1.Teil) Mit der Zusammenfassung der Schriftzeichen oder Buchstaben und deren Abbildung auf der Buchseite konnte Wissen archiviert und über Generationen weiter gegeben werden. Die größte Revolution auf diesem Gebiet war die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg in der ersten Hälfte des 15.Jahrhunderts. Davor hatte man nur Sprache, Handschrift und Symbole gekannt, um sich zu verständigen. Durch die Druckerpresse wurde es möglich, breite Massen von Menschen zu erreichen. Das Phänomen der Massenkommunikation verbreitete sich nach der bahnbrechenden Erfindung Gutenbergs in unnachahmlicher Geschwindigkeit in ganz Europa. Diese Schriften waren nun die beste und unmissverständlichste Möglichkeit Informationen zu verbreiten und hatten dadurch das Bild als Bedeutungsträger abgelöst oder zumindest in dessen Bedeutung herabgesetzt. Doch es wurden mit dem Druck von Texten nicht nur Informationen verbreitet, sondern auch Propaganda betrieben. Zunächst meist für religiöse Zwecke. Die Industrie erforschte ständig technische Neuerungen und Verbesserungen von Druckverfahren und Pressen. Diese technischen Errungenschaften machten neue Medien möglich. Die Zeitung war eines der ersten großen Massenkommunikationsmittel (um 1600). Flugblätter und Plakate im Sinne einseitiger Anschläge hatte es schon früher gegeben. Diese Fortschritte stellten schließlich allen Menschen die professionelle Abbildung von Typografie zur Verfügung, nicht nur denen, die eine Ausbildung im Druckwesen durchlaufen hatten. Mit den in den 60er Jahren erfundenen Rubbel-Alphabeten von Letraset war es jedem möglich korrekte Buchstabenformen auf einen beliebigen Träger abzureiben.



REGEL 09 63

Geschichtsexkurs (2.Teil): Das Letraset-Verfahren wurde erst durch die Erfindung des Fotosatzes in den 50er Jahren möglich, bei dem man die Negative der Buchstaben mit Licht auf Film projizierte und dann auf das Papier übertrug. Das Revolutionäre am Fotosatz war, dass man nicht mehr an die materielle Größe der Bleiletter oder Holzbuchstaben gebunden war. Nun konnte man den Buchstabenabstand bestimmen wie man wollte, die Größe der Schrift entsprechend anpassen uvm. Diese Schöpfung bedeutete das Ende für den Bleisatz. Die Typografie näherte sich mit großen Schritten dem digitalen Zeitalter. Die großen Plakatkünstler des späten 19. Jahrhunderts schafften es, die Schrift mit den Bildteilen – die damals noch rein illustrativ waren – zu einer Einheit zu verbinden, indem sie sie ebenfalls illustrativ wiedergaben.* Im Gegensatz zum illustrativen Arbeiten mit Schrift ging es den meisten erfolgreichen und renommierten Schriftgestaltern um die ideale Lesbarkeit in einem speziellen Verwendungsbereich. Ein sehr gutes Beispiel ist hier die „Bell Centennial“ von Matthew Carter aus dem Jahr 1978, die er für die Telefongesellschaft AT&T schnitt. Er optimierte die Schrift für sehr schlechte Druckbedingungen und große Informationsmengen auf einer Druckseite. Um ein Zulaufen der Schrift zu vermeiden, kerbte er die Punzen und potentielle Problemstellen extrem aus, sodass ein gleichmäßiges Schriftbild trotz des zu erwartenden Zulaufens entstand. Zu dieser Zeit befanden wir uns schon mitten im digitalen Zeitalter der Typografie. Jeder Mensch konnte sich nun einen PC, einen Personal Computer, anschaffen und hatte damit dasselbe Werkzeug im Gebrauch, wie die professionellen Gestalter. Grafikdesign war nun endlich für alle da. Natürlich nicht durchweg zum Vorteil des guten Designs. Es fällt jedoch schwer gutes von schlechtem Design scharf zu trennen. Kontextbezogenes Gestalten und situations-adäquates Denken sind weitaus wichtiger. Am Beispiel von David Carson sieht man, dass man auch ohne Ausbildung, aber mit dem nötigen Drang zum Neuen, Überraschenden, Schockierenden eine Legende werden kann. Sein Umgang mit Schrift zeichnet sich dadurch aus, dass er das Layout als Spielwiese sieht, auf der er mit den Buchstaben und Worten jongliert und sie spannend und extrem anordnet, sodass man sich den richtigen Sinnzusammenhang nicht sofort erschließen kann. Aber das ist von ihm auch nicht gewünscht. Ihm geht es um ganz andere Dinge. Er vermittelt die Inhalte, wie er sie versteht. Sein Umgang mit

* Heute findet man eine bekannte Umgangsweise mit Schrift als illustratives Zeichnen von Buchstabenformen in der ,Kalligrafie‘ oder auch im Bereich des ,Letterings‘.



REGEL 11 63

Typografie und Schrift macht seine Handschrift als Gestalter klar erkennbar. Es hat viele Imitationsversuche gegeben, aber Carson war der Pionier auf dem Feld des dekonstruktiven Designs. Und damit befinden wir uns im 21. Jahrhundert. Die Entwicklungen in den ersten zehn Jahren kรถnnen nur ein Vorgeschmack dessen sein, was noch kommen wird.



DAS EXPERIMENT IN DER GESCHICHTE 13 63

Typografie

Meine Reise durch die experimentelle Geschichte der Typografie – oder die Reise durch die Geschichte der experimentellen Typografie könnte man auch sagen – beginnt an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die im Laufe der europäischen Buchkultur kaum je unterbrochenen, stets weit über „Typografie“ hinausreichenden Versuche, den bildhaften Aspekt der Textgestalt zu illustrieren, verdichten sich im 19. Jahrhundert zu künstlerischen Programmen. Bereits hier möchte ich auf zwei herausragende Persönlichkeiten aus dieser Zeit verweisen. Stephane Mallarmé mit seinem „Un Coup de Dés“ aus dem Jahr 1897 und Guillaume Apollinaires „Il pleut“ aus seinen Calligrammes (1918). Jugendstil Der Jugendstil ist es gewesen, der die Alleinherrschaft der Götzen der statischen Symmetrie gebrochen und die bewegte und bewegend-dynamische Asymmetrie – nicht entdeckt, wohl aber in ihr Recht eingesetzt hat. […] Die Balken- und Blickfangtypografie, vor wenigen Jahren noch ein starkes, weil unverbrauchtes Mittel typografischer Wirkung, ist heute bereits neidlos Privileg der Provinz.¹⁸ Bekannt aus dieser Zeit sind vor allen Dingen die verschnörkelten, verschlungenen Muster und spielerisch-ornamental eingesetzte Schrift. Auch im öffentlichen Raum sind noch heute Fragmente

¹⁸ S.Georg Schmidt: imprimatur, Kunstmuseum Basel, 1931. Aus 6 Essays – S.131

über den Metro-Eingängen in Paris zu sehen. Der Jugendstil breitete sich weltweit stets unter einem anderen Namen aus und tat dies nicht nur im Grafikdesign, sondern auch im Industriedesign, der Architektur und der Kunst. Diese Epoche bereitete die Avantgarde in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts vor. Avantgarde Unter den Begriff Avantgarde zählen viele der bekanntesten Ismen des 20. Jahrhunderts. Im Folgenden werde ich mich mit den wichtigsten unter ihnen beschäftigen. Die avantgardistische Kunst tritt vor allem als antibürgerliche, bewusst provokante, betont innovative sowie stark selbstreflexiv orientierte Kunst auf. ¹⁹

¹⁹ Wikipedia: Avantgarde in der Bildenden Kunst, 11:45 30.04.2010



DAS EXPERIMENT IN DER GESCHICHTE 15 63

Die antibürgerliche Einstellung zeigt sich in dem Antrieb, das Bildungsbürgertum mit ihrer Ausdrucksweise zu schockieren. Den Schock versuchten sie darüber zu erreichen, dass sie etwas Neues, Unerhörtes taten oder jenseits des allgemeinen guten Geschmacks arbeiteten. Provozierend war vor allen Dingen der Dadaismus. Der Innovationsdrang der Avantgarden hat dafür gesorgt, dass die Radikalität von damals kaum mehr überboten werden kann: Kasimir Malewitschs „weiße Leinwand“, die Nonsens-Gedichte der Dadaisten, das Schweigen der Musik in John Cages Stück 4'33'' sind nicht wesentlich überbietbar. ²⁰

²⁰ Wikipedia: Avantgarde in der Bildenden Kunst, 11:56 30.04.2010

Avantgarde, Futurismus und Dadaismus Die Selbstreflexion der Avantgarden ergibt sich aus der Erklärungsbedürftigkeit der Werke. Sie sollten nicht zum unreflexiven Betrachten einladen, sondern Fragen zum Kunstbegriff an sich aufwerfen. 1909 begründete der italienische Jurist und Dichter Filippo Tommaso Marinetti mit seinem futuristischen Manifest den Futurismus. Zeitlos aktuell bleibt hingegen Marinettis Methode, Ideen und Kunstwerke einerseits multimedial, andererseits mittels Provokation einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren.²¹ 1916 folgte die künstlerische und literarische Bewegung des ,Dada‘, die von

²¹ Wikipedia: Futurismus, 12:18 30.04.2010

Hugo Ball, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und Hans Arp in Zürich gegründet wurde. In Abgrenzung zu den Kunststilen, die durch Ismen bezeichnet wurden, sprachen sie selbst von sich nie als Kunstrichtung. Der Begriff „Dada(ismus)“ steht im Sinne der Dadaisten für totalen Zweifel an allem, absoluten Individualismus und die Zerstörung von gefestigten Idealen und Normen. Man ersetzte die durch Disziplin und die gesellschaftliche Moral bestimmten künstlerischen Verfahren durch einfache, willkürliche, meist zufallsgesteuerte Aktionen in Bild und Wort. Die Dadaisten beharrten darauf, dass „Dadaismus“ nicht definierbar sei.²² Zu den berühmtesten Vertretern gehören neben dem Begründer Hugo Ball, Kurt Schwitters in Hannover, John Heartfield in Berlin und Max Ernst in Köln. Audrucksformen der dadaistischen Bewegung waren u.a. das Lautgedicht, in dem auf sprachlichen Sinn ganz oder zu einem erheblichen Teil verzichtet und versucht wird – analog zur abstrakten Malerei – die Sprache nicht in abbildender, beziehungsweise inhaltlich-bezeichnender Funktion,

²² Wikipedia: Dadaismus, 12:35 30.04.2010



DAS EXPERIMENT IN DER GESCHICHTE 17 63

sondern rein formal als Lautmaterial anzuwenden.²³ Diese wortlose Darstellung ermöglichte die Konzentration auf die Laute oder die Buchstaben,

²³ Wikipedia: Lautgedicht, 12:46 30.04.2010

die die lautmalerischen Worte darstellten. Es wurde auch mit Schriftarten, -größen und -graden gespielt, die zur Untermalung des Lautgedichtes eingesetzt wurden. Konkrete Poesie Hier müssen die Zeichen nicht bloß Mittel zum Zweck (einer bestimmten Mitteilung) sein, sondern können selbst als Ausdrucksmittel gesetzt werden. Denn Zeichen haben unabhängig von ihrer Mitteilungsfunktion eine eigene Realität: man sieht sie oder hört sie. Löst man sie von den Begriffen los, folgt man ausschließlich ihren eigenen materiellen Gesetzmäßigkeiten. Es entstehen ,Schriftbilder‘ oder ,Lautkompositionen‘. Auch wenn der semantische Bereich erhalten bleibt, drängt sich so eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen ,Lesetexten‘ und ,Hörtexten‘ auf. Der Informationsgehalt des Textes kann durch verschiedene Schrifttypen und -größen, Anordnung auf dem Blatt usw. oder durch Betonung, Klangfarbe, Schallrichtung, Lautstärke usw. bereichert und differenziert werden. Die schriftliche oder phonetische Fixierung hat nicht nur eine konservierende, sondern vielmehr eine konkrete informative Funktion. Form und Inhalt werden damit identisch – der ,Konkrete Text‘ beschreibt nicht, er zeigt. ²⁴ Vorläufer dieser Auseinandersetzung mit Worten, die Bild werden, war Guillaume Apollinaire (1880–1980). In seinen Ideogrammen oder Bildge-

²⁴ Gerhard Rühm: Lesetexte – Hörtexte S.34 Aus Schrift und Bild in Bewegung – S.78

dichten aus dem Jahr 1914 – von ihm als ,Caligrammes‘ bezeichnet – legt er das Gedicht so auf der Seite an, dass die Schrift Bilder formt. Nach seiner Meinung muss sich der schöpferische Vorgang aus der Phantasie, der Intuition ergeben, die Grundlage der Kunst müsse das wahrhafte Gefühl und der spontane Ausdruck sein. Daraus ergibt sich auch seine Forderung nach ständiger formaler Erneuerung. ²⁵ In den 50er Jahren erkannten die Dichter der konkreten Poesie, dass

²⁵ Wikipedia: Guillaume Apollinaire, 13:10, 30.04.2010

konventionelle syntaktische Strukturen nicht mehr ausreichten, um die Prozesse des Denkens und der Kommunikation in dieser Zeit weiterzuentwickeln. In diesem Zusammenhang untersuchte die experimentelle Typografie, wie Sprache auf der Seite funktionierte.²⁶

²⁶ Teal Triggs: Experimentelle Typografie S.146


Originaltext: By the late 20th century, the influence of postmodernism was making itself felt in typographic design. Where typographic modernism was characterized by Bauhaus, De Stijl and Constructivism, and best represented by the work of designers like Paul Rand, Massimo Vignelli and Erik Spiekermann, there was a new school of designers set to take typographic design to new experimental heights. The principle of form follows function , alive in the modernism was being challenged by a new found combination of high and low culture, where elements of the vernacular, ³¹ Nadine Monem: Font. The Sourcebook, p.169

the pastiche and the anti-aesthetic were informing typographic design. The postmodern context encouraged experimentation, diversity and complexity, giving designers the critical distance to judge the results of the modernist typographic age. ³¹ ³⁰ László Moholy-Nagy experimentierte mit den expressiven Qualitäten des Films und ließ damals schon einige der Grundprinzipien der Schaffung von Raum in Kinoproduktionen erahnen. […] Er experimentierte mit kinetischen Kompositionen. 1947: Das „visuell-typografische Design“ ist ein „gleichzeitiges Experiment mit Vision und Kommunikation“


DAS EXPERIMENT IN DER GESCHICHTE 19 63

Robert Massin brachte in den 60er Jahren Zeit und Raum auf die gedruckte Seite, indem er Stile auf der Bühne durch schwarze Seiten wiedergab und mit typografischen Kontrasten und Größenänderungen einen Leserhythmus erzeugte, der der gesprochenen Sprache entspricht. Dies verdeutlichte die symbiotische Beziehung zwischen Wort und Bild. Die Erzählung konnte man zugleich sehen und lesen. […] Dabei änderte er Schriftstärke und Schriftgröße, wiederholte Elemente, verzerrte Inhalte oder ordnete den Text außergewöhnlich an. Dadurch wurde der Dialog intensiviert und die Erzählung anschaulicher wiedergegeben.²⁷

²⁷ Teal Triggs: Über Robert Massin Experimentelle Typografie – S.9

Postmoderne In der Postmoderne steht nicht die Innovation im Mittelpunkt des Interesses, sondern eine Rekombination oder neue Anwendung vorhandener Ideen. Die Welt wird nicht auf ein Fortschrittsziel hin betrachtet, sondern vielmehr als pluralistisch, zufällig, chaotisch und in ihren hinfälligen Momenten angesehen. […] Die postmoderene Denkweise beschäftigt sich u.a. mit Multikulturalismus, zunehmender Zeichenhaftigkeit der Welt und Verlust des autonomen Subjekts.²⁸ Der Moderne wird ein automatisiertes

²⁸ Wikipedia: Postmoderne, 13:25, 30.04.2010

Innovationsstreben und ein totalitäres Prinzip, das auf gesellschaftlicher Ebene Züge von Despotismus in sich trage, vorgeworfen. Maßgebliche Ansätze der Moderne seien eindimensional und gescheitert.²⁹

²⁹ Wikipedia: Postmoderne, 13:40, 30.04.2010

Dekontruktivismus Ende des 20. Jahrhunderts hatte sich neben dem typografischen Modernismus des Bauhauses, De Stijls und Kontruktivismus eine Gegenströmung entwickelt. Die Formel ,form follows function‘ wurde von Elementen des Selbstgemachten, des Grenzwertigen, der Anti-Kunst einmal mehr in Frage gestellt. Der Postmodernismus versuchte mit Experimentierfreude, Vielseitigkeit und einem höheren Grad an Komplexität neue Sichtweisen zu erschließen. (Übersetzung durch den Verfasser) Während auf der einen Seite Persönlichkeiten wie Paul Rand, Massimo Vignelli und Erik Spiekermann der ,guten‘ funktionalen Form nacheiferten, waren es auf der anderen Seite Personen wie Neville Brody oder David Carson aber auch László Moholy-Nagy³⁰, selber Mitglied beim Bauhaus,

³⁰ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.182



DAS EXPERIMENT IN DER GESCHICHTE 21 63

die neue visuelle Wege beschreiten und die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel voll ausreizen wollten. Josef Müller Brockmann drückt es 1980 folgendermaßen aus: Die moderne Typografie fußt in den gestalterischen und theoretischen Überlegungen der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bereiteten Mallarmé, Rimbaud und Apollinaire ein typografisches Verständnis vor. Befreit von konventionellen Vorurteilen und Fesseln ebeneten sie mit ihren Experimenten den Weg für die kommenden Theoretiker und Praktiker, u.a. El Lissitzky, Kurt Schwitters oder László Moholy-Nagy. ³²

³² Josef Müller-Brockmann: Rastersysteme – S.7

Rückblick und Ausblick Geschichtlich gesehen wurde die Typografie schon immer dazu verwendet, die dynamischen Veränderungen in der Gesellschaft zu zeigen. Es ist aber ebenso wichtig, die Unterschiede in der Interpretation zu berücksichitgen, die Sprache widerspiegelt und kreiert […] Die typografische Erfahrung wird sich weiterentwickeln vom virtuellen Raum hin zu den physischen, öffentlichen Räumen, von Werbetafeln über Plakate hin zu Projektionen auf Gebäuden, Installationen und Theateraufführungen. Räumliche Wahrnehmung wird wichtiger werden und so eine einheitlichere Kommunikationserfahrung möglich machen.³³

³³ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.185



DAS EXPERIMENT IN DER GESCHICHTE 23 63

Es ist ein ganz zentrales Qualitätsmerkmal der avancierten Kunst im 20. Jahrhundert (sei es nun Bildende Kunst, Literatur oder Musik), dass sie Inhalte und Botschaften drastisch reduziert, minimalisiert, also übliche Verstehbarkeit, übliche Lesbarkeit absichtsvoll erschwert oder weitgehend (freilich niemals restlos) verhindert. Erst damit kann die grafische Seite von Schrift und Bild, kann die Materialität der Zeichen zum Vorschein kommen, erst im „gestörten“ Gebrauch, erst dann, wenn die Formen im reibungslosen Gebrauch der Inhalte nicht übersehen werden.³⁴

³⁴ Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.137

Zeitgenössisches Grafikdesign Designern und Typografen ist heute die Verbindung zwischen Handwerkskunst und historischem Verständnis, kulturellen und technologischen Themen, Ästhetik und Funktion einer Schrift sowie die Bedeutung, der Sprach- und Informationsgehalt viel bewusster als früher. Gleichzeitig ist das Publikum selbst aufgeschlossener, was die ,Arten des Lesens‘ betrifft, und akzeptiert viel mehr die alternativen Modelle der visuellen Kommunikation, die von Designern und Typografen entwickelt werden.³⁵ Im digitalen Zeitalter, in dem Zeichen per Tastendruck und Computermaus

³⁵ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.17

erzeugt und nicht aus schweren Schubladen mit vorgefertigten Elementen zusammengestellt werden, fließt der Raum und hält sich nicht mehr an konkrete Dimensionen. Die Typografie hat sich von einem beständigen Satz von Gegenständen hin zu einem flexiblen System von Eigenschaften entwickelt.³⁶ Und Lesbarkeit muss im Zusammenhang mit den Potentialen der neueren und neuesten Medien gesehen werden. Hinzu kommen heute

³⁶ Ellen Lupton: Mit Schrift denken S.69

nämlich Begriffe wie „Multimedialität“ und „Hypertext“. Man spricht inzwischen vom Text nicht mehr als strikte, lineare Form, sondern begreift Text als Gewebe mit vielen Vernetzungen. […] „Längst wird sie praktiziert, die konzeptionelle Erweiterung des Textbegriffs durch „Multimedia“, durch Computer, Filme, Fernsehen, Comics, Video-Clips, die zwar nicht nur gelesen werden, aber dennoch (was fast durchweg übersehen wird) einen bedeutsamen, wenn auch gewissermaßen lockeren, offenen Textstatus haben.“³⁷

³⁷ Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.136



DAS EXPERIMENT IN DER GESCHICHTE 25 63

Schrift

Auch in dem Bereich der Schrift beginnt meine Geschichtsstunde mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Vor der Avantgarde kam es zu einer Vielzahl handgemachter Schriftentwürfe und höchst kreativen und ästhetischen Schriftkompositionen. Die damals beliebteste Technik für Plakatgestaltung war die Flachdruck-Technik der Lithografie. Mal wurde Schrift, wie beim Wiener Secessionsstil, grafisch auf wenig Raum vedichtet, mal freier angeordnet, wie bei Jules Chéret oder Alfons Mucha. Avantgarde In der Avantgarde-Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wollte man sich von der zweidimensionalen Seite befreien und von einer grammatikalischen Syntax zu einer räumlichen Syntax kommen. Man wollte die akustischen und bildhaften Qualitäten der Texte betonen und lehnte Grammatik, Interpunktion und Orthografie ab. Dies war eine Reaktion auf die Fortschritte neuer Technologien, und ein Ausdruck der Auseinandersetzung mit den inhärenten kulturellen und gesellschaftlichen Kräften.³⁸

³⁸ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.144

Postmodernismus Die Postmoderne, die wiederum von der Avantgarde des 20. Jahrhunderts beeinflusst worden war, suchte nach individuellen Lösungen mit besonderem visuellen Vokabular. Die Bilder und Zeichen wurden um ,ihrer selbst willen‘ konsumiert und nicht wegen ihrer ,tieferen Werte‘. Auf dem Bildschirm wurde auf Texte willkürlich und in nicht hierarchischen Folgen zugegriffen, während im Druck der Gestaltungs- und Herstellungsprozess bewusst durch die Anordnung von Texten auf mehreren Ebenen sichtbar gemacht wurde.³⁹ Schon in den 70er Jahren gab es viele Schriften, die auf der Punktmatrix und Digitaltypografie basierten. Hier fallen vor allem die von Zuzana Licko für Emigre entwickelten Bitmapschriften für niedrig auflösende Drucker auf. Davor wurde mit den Rubbelbuchstaben von Letraset zum ersten Mal der breiten Öffentlichkeit der Zugang zu professioneller Typografie ermöglicht, bevor der Personal Computer jedem, der sich einen leisten konnte, den Gebrauch von digitalen Schriftsätzen möglich machte.

³⁹ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.23


Original: With the advent of technologies like the super fast grid system internet and Artificial Intelligence, type design is continually butting up against new challanges, and the age-old typographic demands of readability, elegance and proportion are finding new expression through digital media. While parchments replaced papyrus, books replaced scrolls, printing replaced handwritten books and digital replaced metal, the development of traditional values of typography will always reinforce a sense of beauty and authority in whatever media it finds itself expressed. ⁴¹

⁴¹ Nadine Monem: Font. The Sourcebook p.199


DAS EXPERIMENT IN DER GESCHICHTE 27 63

Rückblick und Aublick Mit dem Aufkommen fortschrittlicher Techniken und Künstlicher Intelligenz sieht sich das Schriftdesign täglich neuen Herausforderungen gegenüber. Die jahrealten Anforderungen an die Typografie wie Lesbarkeit, Eleganz und Proportion werden in den neuen Medien gänzlich anders ausgedrückt. Während Papier das Papyrus ersetzte, Bücher die Papierrollen und der Druck die Handschrift, so ersetzten die digitalen Medien den Bleisatz. Typografie wird immer einen hohen Stellenwert haben und einen Sinn für Schönheit und Autorität erwecken, in welcher Form auch immer sie präsentiert wird. (Übersetzung durch den Verfasser) Heute Die Schriften und Bilder der Städte erscheinen im eiligen Vorüberziehen als fragmentiert; dem entspricht die urbane Kunst der neuen Medien. In der von vornherein intendierten Flüchtigkeit entstehen „Lückentexte“, in denen die einzelnen Elemente jetzt in neue und offene Beziehungen zu einander treten können. Von hier aus sind spielerische Neukonstruktionen möglich, und Lesen ist nun kein reglementiertes Nachbuchstabieren mehr, sondern eine Rekonstruktion und Dekonstruktion der vielfältigen Bilder und Schriften, die uns allseits umgeben.⁴⁰

⁴⁰ Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.138



DAS EXPERIMENT IN DER GESCHICHTE 29 63

Bewegtbild

Die Entwicklung des Films zum Massenmedium Bereits 1791 gelang Robert Barker das erste Rundpanorama in der Geschichte der Fotografie. 1840 war die Welt zu großen Teilen vernetzt. Die Eisenbahn bot den Menschen die Möglichkeit, das Land zu durchreisen und gleichzeitig durch große Fenster den Ausblick zu genießen. Diese Animation der Umwelt wurde dann sozusagen für das Heimkino mittels Rollbildern im verdunkelten Raum simuliert. Diese Erfindung könnte man als Vorstufe zum Kino bezeichnen. 1880 gelang es Edward Muybridge und Etienne-Jules Marey fotografische Bewegungsbilder von Menschen und Tieren mit Hilfe von sehr kurzen Verschlusszeiten aufzuzeichnen. 1895 schließlich erfanden die Gebrüder Lumière das Kino.⁴² 1928 griff der Konstruktivist El Lissitzky das Prinzip von Robert Barker in seinem Leporello für den Ausstellungskatalog der „Pressa“ in Köln noch einmal auf. Er nannte es „typografische Kinoschau“. Der Leporello

⁴² Hans-Rudolph Bosshard: Die Demontage der Regel, Vortrag, gehalten 1993 am „Tag der Typografie“, Zürich aus 6 Essays – S.129f

sollte den Inhalt wie bei einem Rundgang durch die Ausstellung „filmisch“ festhalten.⁴³ Diese filmische Technik schlug sich in Collagen, z.B. für Schutzumschläge und Plakate nieder. Die zuvorderst eingesetzten gestalterischen Mittel sind dabei: Größenverschiebung (Menschen in unterschiedlichen Maßstäben), Wechsel von Detail- und Gesamtaufnahmen, verschie-

⁴³ Hans-Rudolph Bosshard: Die Demontage der Regel, Vortrag, gehalten 1993 am „Tag der Typografie“, Zürich aus 6 Essays – S.142f

dene Perspektiven (Vogelperspektive, Froschperspektive, Frontalansicht). Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit „Die sowjetischen Fallschirmspringer“ (1935) von Alexander Rodtschenko. Dieses Werkstück zeichnet sich durch komplizierte Faltungen und integrierte Faltblätter, wie Szenen aus einem Film aus. Es gibt Schnitte, Einbettungen und mehrere parallele Ebenen. Der Film ist die einzige moderne Kunstform, die auf den Begriff Avantgarde nicht verzichten kann, um sich von seinen anderen kommerziellen wie künstlerischen Erscheinungsformen zu unterscheiden. Verwirrend ist die synonyme Verwendung des Begriffs Experimentalfilm. Der experimentelle Kurzfilm wurde besonders in den 1950er Jahren als Vorstufe zum Spielfilm verstanden.⁴⁴ László Moholy-Nagy experimentierte vor allem in den 40er Jahren mit dem Medium Film.⁴⁵ Der Film kann seit dem 20. Jahrhundert als eines der wichtigsten Massenmedien überhaupt angesehen werden, sowohl in Form des Kinos als auch in Form des Fernsehens. Er ist

⁴⁴ Wikipedia: Avantgarde in der Bildenden Kunst, 11:38, 30.04.2010 ⁴⁵ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.182



DAS EXPERIMENT IN DER GESCHICHTE 31 63

damit zugleich eines der wichtigsten Elemente der modernen Kultur überhaupt geworden. So sind fiktive Filmfiguren, filmtypische Verhaltensweisen, Klischees und Stereotype, aber auch die Auslotung neuer bildhafter Wahrnehmungs- und Erfahrungsräume im Zeitalter der massenhaften Verbreitung des Films zu einem festen Bestandteil der Populärkultur avanciert und prägen diese entscheidend mit.⁴⁶ Fast Forward ist heute unser Standardgebet und bewegte Typografie ist der Ausdruck davon.⁴⁷

⁴⁶ Wikipedia: Film, 16:30, 30.04.2010 ⁴⁷ Harald Taglinger: Klik, Schrift im Netz. Aus Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.22

Der Filmtitel Der Einsatz von Typografie im Filmtitel leitet den Betrachter bei der Interpretation des Inhalts oder versucht bewusst dem Verständnis entgegen zu wirken. Außerdem kann Typografie eine bestimmte Atmosphäre aufbauen und die Absichten, die der Regisseur mit dem Film hat, verdeutlichen. Zu Beginn der Geschichte des Titel-Vorspanns im Kino nutzten die Filmemacher den Vorspann um alle nötigen Informationen zu den Akteuren und Beteiligten darin zu verpacken, den Film dem Publikum zu verkaufen oder die richtige Stimmung in Vorbereitung auf den Film zu erzeugen. Als Grafikdesigner begannen, Konzepte für Filmvorspänne zu entwickeln, war es auf einmal möglich, den Vorspann als eigenen Film anzusehen, unabhängig von dem Hauptfilm. Einschneidende Momente in der Geschichte des Film-Vorspanns sind die 70er Jahre und die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. In dieser Zeit krempelte Wolfgang Weingart das rigide Schweizer Design – mit seiner Lesbarkeit und Konstruktion – um, und vertraute auf das Konzept. Der zweite Schwung wurde von den Ikonen des modernen Designs angeführt: Neville Brody und David Carson. Mit ihrem „New Wave“-Design schlugen sie eine alternative Sichtweise zu den Regeln des „guten Designs“, nach der Meinung von Jan Tschichold und dem Bauhaus, ein. Was daraus entstand war der sog. ,Typografische Dekonstruktivismus‘. Ihre Entsprechung findet diese Entwicklung in aktuellen, einflussreichen Persönlichkeiten wie dem Designer Kyle Cooper und Anderen. Es war die erste Welle von Filmen, die den Vorspann als wichtigen Bestandteil des Films selbst etabliert hat.⁴⁸ Beispiele aus der Geschichte der Filmtitel-Gestaltung zeigen, dass Typografie ein wichtiger Bestandteil von Filmen ist und sie als Informationsträger Bedeutung hat. Anzuführen wären die Vorspänne von Saul Bass aus den 50er Jahren, die Arbeiten von Robert Brownjohn aus den 60er Jahren und

⁴⁸ Peter Hall aus Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.183



DAS EXPERIMENT IN DER GESCHICHTE 33 63

ebenfalls in dieser Zeit entstanden sind Eröffnungssequenzen von Pablo Ferro. In der Nachfolge sind es noch viele andere Agenturen und Designer, die sich der ästhetischen und funktionalen Präsentation von Typografie im bewegten Bild verschrieben haben.⁴⁹ Besondere Vertreter sind Kyle Cooper, der für R/Greenberg Associates arbeitete und dann Imaginary Forces gründete, Tomato oder Jonathan Barnbrook.

⁴⁹ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.183



DAS EXPERIMENT 35 63

„Unser Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung ändern kann.“ Der Reiz des Neuen, Modischen oder die Erregung von Aufmerksamkeit durch Schocks, Provokation und Ungewohntes ist nicht zu unterschätzen, wenn man nach Methoden sucht, die übersättigten Menschen zum Lesen bringen sollen.¹⁴ Die Herausforderung des Experimentierens ist es, das ab-

Francis Picabia, 1879–1953

¹⁴ Hans-Rudolph Bosshard: Die Demontage der Regel, Vortrag, gehalten 1993 am „Tag der Typografie“, Zürich. 6 Essays – S.130

lehnende Publikum zu einem empfänglichen zu machen, ohne diese Akzeptanz zu erzwingen.¹⁵ „Ein Experiment ist eine Arbeitsfolge, die unter kontrollierten Bedingungen ausgeführt wird, um eine unbekannte Wirkung oder ein unbekanntes Gesetz zu

¹⁵ Nadim Matta: E-Mail an die Autorin, 2001. Aus Experimentelle Typografie – S.57

entdecken, eine Hypothese zu prüfen oder aufzustellen oder ein bekanntes Gesetz zu veranschaulichen.“

Lucinda Hitchcock

Das Ziel des Experimentierens ist es, ein neues visuelles und theoretisches Vokabular der Typografie zu entwickeln.¹⁶ Mit dem Experiment will man die Möglichkeiten des Ausdrucks und

¹⁶ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.7

des Mediums ausreizen, Dinge auf eine Weise sehen oder tun, wie sie zuvor nicht gesehen oder getan wurden. Die Kreativität ermöglicht, neue Formen, Kombinationen und Perspektiven zu entwickeln.¹⁷

¹⁷ Wikipedia: Das Experiment in der Kunst // 21:15, 29.04.2010


Original: The constant search for new forms results in designers experimenting with the limits of typographic recognition and legibility. Individual letters may initially appear as purely abstract forms. However when they are assembled together with other characters, familiar shapes begin to emerge.⁵³

⁵³ David Jury: New Typographic Design – p.121


DAS EXPERIMENT 37 63

Typografie

Experimentelle Typografie beschreibt, wie wir Dinge betrachten. Es ist die Art und Weise, wie wir eine neue Sprache finden, ein Infragestellen dessen, wie wir Information präsentieren und interpretieren.⁵⁰ Am Beginn des Experiments liegt zunächst einmal die Zerstörung des

⁵⁰ Peter Anderson: Experimentelle Typografie – S.67

schon immer Dagewesenen. Es beginnt mit der Ablehnung vorhandener Normen und dem Willen über einen anspruchsvollen Weg der Untersuchung zu einem völlig neuen oder zumindest stark veränderten Ergebnis kommen zu wollen. Diese Denkweise beschreibt der Dekonstruktivismus. Eine Studie über Typografie und dekonstruktivistische Texte müsste Strukturen untersuchen, die das Eindringen der visuellen Form in den sprachlichen Gehalt des Textes dramatisieren, das Eindringen grafischer Zeichen, Lücken und Differenzen in die Vorstellungswelt.⁵¹ Für Ellen Lupton ist der Dekonstruktivismus ein Prozess, ein Akt des Infrage-Stellens und spiegelt sich in fragmentierten Formen, extremen Winkeln und aggressiv-asymmetrischen Formen wider. Die kontinuierliche Suche nach neuen Formen führt Designer dazu,

⁵¹ Hans-Rudolph Bosshard: Lesbarkeit, Lesefreundlichkeit und typografische Gestaltung, „Typografische Monatsblätter“, Zürich, Heft 3/4, 1995. Aus 6 Essays – S.48

mit den Grenzen der typografischen Wiedererkennbarkeit und Lesbarkeit zu experimentieren. Einzelne Buchstaben mögen auf den ersten Blick als abstrakte Formen erscheinen, entpuppen sich dann aber zusammen mit anderen Buchstaben zu einem identifizierbaren Gefüge und ein Schema scheint sich herauszubilden. (Übersetzung durch den Verfasser) Beispiele hierfür wären u.a. das Buch und das Musikvideo von Underworld „mmm…Skyscraper I Love You“ aus dem Jahr 1996 oder diverse Fanzeitschriften aus der Punk-Bewegung. Unter dem Motto ,Do it yourself ‘ schnitt man Buchstaben aus und setzte daraus im Stil von Erpresserbriefen Texte zusammen, man verwendete Rubbelbuchstaben […], man kritzelte Passagen per Hand und klaute hier und da ein paar Medienbilder. Der Fotokopierer wurde das Mittel für billigen und schnellen Druck.⁵² Designer wie David Carson und Jonathan Barnbrook sollten diese Darstellungsweise weiterführen. Gemäß den Prämissen der Bewusstseinsveränderung bei dem Zielpublikum forderten Franz Roh und Jan Tschichold 1929 die Reduzierung des Alphabets auf das der Kleinbuchstaben.

⁵² Teal Tiggs: Experimentelle Typografie – S.109



DAS EXPERIMENT 39 63

„warum vier alphabete (großes lateinisches, kleines lateinisches, großes deutsches, kleines deutsches), wenn sie alle gleich ausgesprochen werden? warum vier verschiedene klaviaturen, wenn jede genau dieselben töne hervorbringt? warum hauptwörter groß schreiben, wenn es in england, frankreich und amerika auch ohne das geht? warum satzanfänge zweimal signalisieren (punkt und großer an-

⁵⁴ Hans-Rudolph Bosshard: Wahrnehmung und Lesbarkeit von Schrift im Stadtbild, „archithese“,Sulgen, Heft 1, 1995. Franz Roh, „fotoauge“, 1929. Aus 6 Essays S.109

fang) statt die punkte fetter zu nehmen? warum überhaupt groß schreiben, wenn man nicht groß sprechen kann? […]“ ⁵⁴ Ein wichtiges Moment bei der Lesbarkeit ist auch die Gewöhnung. So wehren wir uns gefühlsmäßig noch heute gegen auch nur gemäßigte Kleinschreibung, selbst wenn wir bei rationalem Überlegen dafür sind.⁵⁵ Neben diesem radikalen Vorstoß gibt es noch eine andere erwiesene Studie, die besagt, dass Vokale die Sprache „tragen“ und die Konsonanten den Sinn vermitteln.⁵⁶ Das typografische Experiment kennt auch seine Grenzen. So gibt es Konventionen, Traditionen, Wahrnehmungsphysiologische Grenzen oder die bewusste Einschränkung.

⁵⁵ Hans-Rudolph Bosshard: Wahrnehmung und Lesbarkeit von Schrift im Stadtbild, „archithese“,Sulgen, Heft 1, 1995. Aus 6 Essays S.109 ⁵⁶ Hans-Rudolph Bosshard: Wahrnehmung und Lesbarkeit von Schrift im Stadtbild, „archithese“,Sulgen, Heft 1, 1995. Aus 6 Essays S.120



DAS EXPERIMENT 41 63

Schrift

Im Magazin ,Speak‘ untersucht Venezky, wie Buchstabenformen konstruiert werden, und verwendet dabei gleichermaßen LowTech- und HighTechMethoden: Nähen, fotografische Reproduktion, Schablonen, Collagen. Seine Buchstabenformen entstehen aus gefundenen Objekten – Stoff, Spritze, Seife, Draht – wobei die fertigen Skulpturen per Scannen in den Computer übertragen werden und so der zweidimensionalen Seite eine dynamische Raumqualität verleihen. […] Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird auf die tatsächliche Rolle der Buchstabenformen gelenkt, auf ihre formellen Eigenschaften und folglich auf die Konstruktion von Sprache und Bedeutung selbst. ⁵⁷ Die Aufnahme von Elementen aus der Pop-Art in die Visualisierung

⁵⁷ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.29

von Text ist nicht nur ein Verfahren, um das Kommunikationsmodell (Kommunikatior – Medium – Rezipient) schneller funktionieren zu lassen, sondern zugleich der Versuch einer leichten Störung der bisherigen Seh- und Aufnahmegewohnheit von Text und Bild. Dies ist als ein Anstoß zu verstehen, die Phantasie, Kombinationslust und Spielfreude des Publikums zu aktivieren.⁵⁸ Im Folgenden trage ich einige Persönlichkeiten der Designgeschichte zusammen, die mit Schrift experimentiert haben. Vilmos Huszár zeichnete 1917 für die Zeitschrift „De Stijl“, die Theo van Deosburg herausgab, die Kopfschrift. Von 1929 stammt auch sein Entwurf des Umschlags zum Heft über den mexikanischen Maler Diego Riviera der Zeitschrift „Wendingen“. Beide Arbeiten basieren auf einem Raster, der senkrechte und waagrechte Linien zulässt, diagonale und runde aber ausschließt. Der zeitbedingte ornamentale Charakter ist offensichtlich, ebenso die Ähnlichkeit der beiden Schriften mit den frühen Schriftentwürfen für maschinelle Lesbarkeit und die Wiedergabe mit Kathodenstrahl. Die Amerikaner Epps und Evans schufen für „National Physical Laboratory, Division of Computer Science“ eine Schrift für maschinelle Lesbarkeit ohne Rundungen und Diagonalen. Der Grafiker Wim Crouwel, Holländer wie Huszár, zeichnete 1967 ein „neu alphabet“, zu dem er selber in „neu alphabet, eine möglichkeit für die neue entwicklung“ schrieb:

⁵⁸ Klaus-Peter Dencker: Zitiert nach Christian Weiss, zu Begriffserklärung: konkretvisuell. Aus Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.48



DAS EXPERIMENT 43 63

„Wir reihen die Texte in unseren Büchern noch immer aus Zeichen aneinander, die wir kennen.[…] Der Unterschied ist nur der, dass unsere Vorfahren wirklich in Ruhe anreihten, Buchstaben hinter Buchstaben, und dass wir dies mit schwindelerrgender Schnelligkeit werden tun müssen, sogar ohne hinzublicken. […] Die Präzision des menschlichen Auges, verbunden mit dem menschlichen Gefühl, wird niemals durch eine Maschine ersetzt werden können. […] Dieser Versuch eines neuen Alphabets will nur der Ausdruck einer Richtung sein, in der etwa gesucht werden kann. Als Ausgangspunkt ist die Reproduktionsmethode über den Kathodenstrahl genommen worden. […] Das hier wiedergegebene Alphabet ist als Rumpf-Alphabet gedacht, wie das dem Gedächtnis der Maschine eingeprägt wird.“ Ein interessantes Experiment stellt die Schrift Brian Coes dar, der untersuchte, wieviel vom unteren Teil eines Buchstabens weggelassen werden kann, ohne die Lesbarkeit wesentlich zu beeinträchtigen. Coe ging davon aus, dass die obere Hälfte einer Zeile für die Lesbarkeit wichtiger ist als die untere. Nur die Buchstaben g, j, p, q, y, die auch in der normalen Schrift in der unteren Hälfte eindeutiger erkannt werden, versah er mit Unterlängen. Es ist erstaunlich, wie gut diese Zeilen zu lesen sind, und selbst ihr ästhetischer Ausdruck ist besser als der mancher […] „neuen“ „System-“ oder „Weltschriften“. Coe wollte aber offensichtlich keine neue Schrift schaffen, sondern nur die Grenzen der Lesbarkeit untersuchen. Iwan (Jan) Tschichold schuf zwischen 1926 und 1929 eine Skelettschrift: „Versuch einer neuen Schrift“ in zwei Versionen, eine für orthografisch reguläre und eine für phonetische Schreibweise. In der Reformversion werden keine Doppellaute und Dehnungen geschrieben. Das w wird als v geschrieben, x als ks und z als ts; es gibt ein langes und ein kurzes u sowie eine betontes und ein unbetontes e, ferner neue Zeichen für ng, ch und sch. Der (fette) Punkt steht auf der Mittellängenhöhe, dort, wo das Auge primär die Zeilen abtastet. Dass diese Ein-Alphabet-Schrift als formal nicht ausgearbeiteter Entwurf betrachtet werden muss, liegt bei Tschicholds ästhetischer Sensibilität auf der Hand. Die Probleme wurden eben unmittelbar angegangen, das Ästhetische würde später schon noch dazu kommen. Um 1927 beschäftigte sich der dadaistische Künstler, Dichter und Typograf Kurt (Merz) Schwitters mit einer neuen Schrift, die er „Systemschrift“ nannte. Optophonetik – schreiben, wie man spricht – wird bei Schwitters zum Gestaltungsprinzip.



DAS EXPERIMENT 45 63

Das Programm dieser Systemschrift heißt nicht Neuformung der sechsundzwanzig Buchstaben, die nur Symbole der zugehörigen Klänge sind, sondern Übersetzung aller Laute in exakte, eindeutige optische Entsprechungen. […] Schwitters musste jeden einzelnen Buchstaben sorgfältig zeichnen, da keine Schriftgießerei bereit war, die Schrift in ihr Programm aufzunehmen. (Mit der weniger umständlichen und weniger aufwendigen Digitalisierungstechnik und bei dem nostalgischen Geschmack von heute, der auch die absurdesten Schriften aus dem 19. Jahrhundert wieder hervor holt, erreichte er sein Ziel wohl leichter.) Die Vokale sind breit, fett und rund, die Konsonanten mager, schmal und eckig; das Majuskel-I wird zu J. Schwitters' Systemschrift ist, wie viele andere Schriften jener Zeit auch, eine Ein-Alphabet-Schrift. Zu seiner Schrift meinte Schwitters 1927 selber: „Man liest jetzt besser und vor allen Dingen plastischer, weil man die klangvollen Laute breit und deutlich sieht, die klanglosen matt. Das Bild der Schrift ähnelt schon viel mehr dem Klange. […] Meine Systemschrift ist, soviel ich es beurteilen kann, konsequenter und systematischer als alle mir bekannten Schriften. Ich weiß aber sehr gut, dass man noch daran arbeiten kann und werde das sogar

⁵⁹ Aus einem Aufsatz in der in Amsterdam erschienenen Zeitschrift „i10“, 1927

selbst in aller Ruhe tun.“ ⁵⁹ Die „National Roman“ – 1964 von Reginald Piggott gezeichnet – verzichtet auf Ober- und Unterlängen und damit auf die Lebendigkeit des Vier-Linien-Schriftsystems mit Schriftlinie, Mittellänge, Oberlänge und Unterlänge. Alle Zeichen haben zudem die gleiche Dickte. Der Zeichensatz dieser EinAlphabet-Schrift besteht aus Majuskeln und Minuskeln. Die Buchstaben A, G und I haben spezielle Formen, das N ist seitenverkehrt und das W ist ein gespiegeltes M (beide sind um 90 Grad gedreht). Die Ansätze sind nicht uninteressant, obwohl alle diese Versuche, eine elementare, funktionelle, kurz: eine völlig neue Schrift zu schaffen, im ganzen gesehen misslungen sind. Wir sehen heute Schriften der Bayer, Buchartz, Cassandre, Huszár, Schwitters oder Tschichold nur noch als Dokumente einer zwar ruhelosen, unsicheren, aber geistig ungeheuer regsamen Zeit, als typischen Ausdruck einer Epoche, die den Dadaismus, den Surrealismus, die neue Sachlichkeit und noch einige andere „Kunstismen“ in der bildenden Kunst, der Fotografie und in der Literatur hervorbrachte. ⁶⁰ Weitere typografische und schriftgestalterische Experimente kommen u.a. aus der Cranbrook Academy, wo Katherine McCoy und ihre Studenten sich von den formalistischen Prinzipien des Schweizer Modernismus entfernten

⁶⁰ Teal Tiggs: Experimentelle Typografie – S.109



DAS EXPERIMENT 47 63

und die Beziehungen zwischen Bild und Text erforschten, wobei sie sich auf symbolische Codes und deren Interpretation konzentrierten und auf die Bedeutung, die zwischen Publikum und dem gestalteten Werk aufgebaut wird. Sie waren daran interessiert modernistische typografische Paradigmen zu dekonstruieren und ein selbstkritisches Bewusstsein zu entwickeln und führten zu diesem Zweck eine Reihe formeller typografischer Experimente durch. Als Reaktion auf die Postulate des Postmodernismus entstanden zwei Hauptrichtungen der experimentellen Typografie: Betonung der Ironie und historische Erneuerung. Eines dieser Schriftexperimente aus den 90er Jahren stellt die 1992 von Jonathan Barnbrook entwickelte „Mason“-Schrift dar. Sie kann als eine Mischung aus mittelalterlichen und postmodernen Formen angesehen werden. Durch diesen ungewöhnlichen Umgang mit den Elementen aus verschiedenen Schriftepochen rückt Barnbrook die Schriftkomponente der Typografie in den Vordergrund und will all jene wachrütteln, die verträumt der alten Typografie nachhängen und von ,goldenen‘ Buchstabenformen sprechen, die zu ,wunderschönen‘, ,poetischen‘ Texten gesetzt werden. Einen vergleichbaren Ansatz wagt P. Scott Makela, indem er die Designgeschichte für ,tot‘ erklärt und seine Schrift „Dead History“ 1990 entwickelte. „Can you…?“ wurde vom britischen Typografen Phil Baines für das Publikationsexperiment ,Fuse 1: Invention‘ kreiert. Er geht von der Clarendon aus und reduziert die Buchstaben auf ihr absolutes Minimum, um zu zeigen, wie wenig Form eigentlich nötig ist, um einen Buchstaben zu erkennen. Eine neue Version dieser aus dem Jahr 1991 stammenden Schrift wurde unter dem Namen „You Can Read Me“ 1996 veröffentlicht.⁶¹ In dem Magazin „Fuse“ ging es um die Wiederbelebung der magischen Kraft des Buchstabens. Dies wollten Neville Brody und John Wozencroft v.a. durch Arbeiten außerhalb traditioneller, typografischer Anforderungen erreichen. David Carsons Arbeit zeichnet sich durch die Thematisierung der Beziehung zwischen Text und Bild und die Art, wie Text häufig als Bild behandelt wird, aus. Wörter können ihren eigentlichen Inhalt verloren haben (was auf die Autoren der Magazine, die er gestaltete, immer sehr beunruhigend wirkte), aber im Rahmen seiner typografischen Experimente hat Carson die Formen immer wieder in neue und unterschiedliche Codierungen eingebettet (ganz ähnlich wie die CalArts-Studenten, die mit Bedeutungs-

⁶¹ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.14f



DAS EXPERIMENT 49 63

inhalten experimentiert haben). Die Seite mit dem Inhaltsverzeichnis hatte für Carson oft eine ähnliche Bedeutung wie andere redaktionelle Seiten in den Magazinen, die er gestaltete, und so wurden viele dieser Seiten einfach austauschbar.⁶² Sophie Capes Vorspann für „Masterpiece“ (2001) sollte grafisch anspre-

⁶² Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.38f

chend sein und einen guten Erinnerungswert haben. Er sollte die Aufmerksamkeit der Zuschauer so fesseln, dass sie diese Sendereihe über Meister der Musik, Kunst, Literatur, Tanz und Architektur noch einmal sehen wollten nachdem sie die Erstausstrahlung gesehen hatten. Cape präsentierte ein Ergebnis, das sie durch ,endloses Experimentieren‘ geschaffen hatte. Der Prozess selbst und die daraus entstandenen Zeichnungen wurden (inklusive aller Fehler) in den letzten Vorspann eingebaut und für den Film adaptiert, behielten aber ihren ,temporalen und spontanen‘ Charakter. Ein Großteil der ursprünglichen Arbeit wurde mit konventionellen Techniken fertig gestellt, nicht am Computer. Die Typografie verankerte die Zeichen und verlieh der Arbeit Konsistenz. Die von Todd Brei entworfene Schrift „Cropped“ ist eine Adaption von Times New Roman und vermittelt sowohl ein klassisches als auch modernes Gefühl.⁶³ In vielen von Fumio Tachibanas Arbeiten wird eine Spannung zwi-

⁶³ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.93

schen Massenproduktion und Kommunikationsprozessen der modernen Industriewelt und den handwerklichen Elementen handgemachter Buchstabenformen aufgebaut. Seine Design-Strategie des Ausschneidens und Einfügens bedeutet, das Text aus seinem ursprünglichen Kontext herausgenommen und von seiner wörtlichen Bedeutung getrennt wird. Die Sprache wird schon im Aufbau dekonstruiert.⁶⁴

⁶⁴ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.134f.



DAS EXPERIMENT 51 63

Bewegtbild

Die Bewegung „dynamischer Zeichen“ wird zum einen technisch auf vielfältige Weise realisiert, z.B. Handschrift, Filmskript, Fotogramm, VideoTextanimation, Computergrafik, Hologramm. Zum anderen vollzieht sich Bewegung konzeptuell als mentale oder körperliche Aktivität, als Verschieben, Überqueren oder Durchkreuzen von Grenzen, sowohl im System als auch bezüglich der Geschichtlichkeit der Medien.⁶⁵

⁶⁵ Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.37f

Das Musikvideo In vielen Musikvideos hat Schrift längst eine künstlerisch bedeutsame Rolle erreicht. Schrift lebt hier nicht nur munter fort, sondern Schrift ist jetzt durch filmische und elektronische Mittel, durch die vielen Grafikund Animationsprogramme in ungeahnter Weise beweglich und lebendig geworden.⁶⁶ Das Musikvideo plündert alle vorhandenen Kunstformen, Kultur-

⁶⁶ Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.43

geschichte und Literatur, nutzt alle Formen des Kinos, enthält Stories, Dramen, Witze und ist zu einer simultanen Ansammlung von Images komprimiert. Dokumente, Studioaufnahmen, Zeichentricksequenzen, Computerbilder, Szenen aus alten Filmen, kunstgeschichtlich überlieferte Bilder, mythische Inszenierungen werden mit einem ständigen Charakter des Flüchtigen montiert. Dabei eignen sich die Macher der Clips jede neue Technik sofort an, denn das Risiko, Neues zu probieren, ist nie so groß, wie in der Werbung oder bei Spielfilmen. ⁶⁷ Musikvideos sind eine Mischung aus Werbung, experimentellem Film

⁶⁷ Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.47f

und Metamorphosen des Surrealismus. Sie zeichnen sich durch eine rhythmisch stilistische Beschleunigung der Bildfolgen aus und sind dabei kaum raum-zeitlich geordnet.⁶⁸ Der Werbespot In Werbefilmen schafft eine ausgeklügelte Schriftrafinesse einen spielerischen Umgang mit Zeit und Raum, mit Traum und Wirklichkeit. In dieser neuen, irritierenden und offenbar immer noch provokanten Filmästhetik der beschleunigten Schnitte und der durchaus ungewohnten Tonfolgen er-

⁶⁸ Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.48


Because of the nature of the film, title-creators can work with motion as well as still graphics. The letters fade, shift, move – indeed, they rarely stand still. For the viewer there are no lengthy strings of text to digest; rather small bites are shown in succession. Most importantly, since the types are made for specific use, the team has a great deal of freedom with each idea. They can rely on auxiliary data available to the viewer (either in the visual plane itself, or as background information) to facilitate legibility and comprehension. The audiences are often already familiar with the title and names, which means that the creators are no longer constricted by the need to make the typography easily legible, allowing more freedom to play. ⁷²

⁷² Ivan Vartanian: Typographics – p.94


DAS EXPERIMENT 53 63

scheinen Musikvideos und Werbespots nicht länger als Anhängsel der hohen Kunst, sondern als Avantgarde (wäre eine solche Metapher nicht schon längst obsolet). Sie sind eine Absage der traditionellen Grenzen zwischen Bildkultur und Schriftkultur, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Meist dient der Einsatz von Schrift nicht der wörtlichen Interpretation des Inhalts, des Textes oder der Geschichte.⁶⁹ Die Schrift agiert unabhängig von ihrer Mitteilungsfunktion als grafisches Mittel.

⁶⁹ Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.45f

Wer einmal Werbespots und Musikvideos genauer studiert hat, wird feststellen, dass die Schrift und die Texte dort eine unübertreffliche Lebendigkeit und auch eine intelligente, sogar selbstreflexive Differenzierung haben. Comics machen Schrift und Bild voneinander abhängig. […] Was zum Verständnis eines Bildes fehlt, wird durch Text verdeutlicht, wie umgekehrt die Texte erst in Kooperation mit den Bildern sinnfällig werden.⁷⁰

⁷⁰ Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.136f

Der Filmtitel Filmtitel sind die gefeierte Mischung aus Typografie und Kino und dienen dazu, den Zuschauer von der langweiligen, aber vertraglich vorgeschriebenen Bekanntgabe aller Rechteinhaber und Autoren eines Films abzulenken. ⁷¹ Es liegt in der Natur des Films, dass Titeldesigner mit Bewegtbild und

⁷¹ Ellen Lupton: Mit Schrift denken

Standbildern arbeiten können. Meist jedoch, blenden die Buchstaben oder Wortbilder aus und ein, verwischen oder bewegen sich frei im Raum. Der Betrachter muss sich nicht mit langen Textpassagen herumplagen, sondern kann auf Hintergrundwissen zurückgreifen oder hat nur kleine Textpassagen zu lesen. Dieses Vorwissen über Darsteller, Handlung und Genre des Films machen eine sehr freie Verwendung von Typografie möglich. Schrift wird zum Bild, wird mit Bildmaterial kombiniert oder bis zur Unkenntlichkeit deformiert. Dies bildet die ideale Vorraussetzung für das filmische Experiment mit der Typografie und Schriftgestaltung. (Übersetzung durch den Verfasser) In den 90er Jahren wurde Bewegung auf einer statischen Seite dadurch dargestellt, dass dreidimensionale Buchstabenformen kreiert wurden, die die Illusion der Navigation schufen und so ein geeignetes filmisches Mittel zur Darstellung sequenzieller Bilder waren. Beim Übergang von Statik zu Dynamik, von Druck zum Bildschirm, wird die Interaktivität im Kontext des ,filmischen Raums‘ immer wichtiger. ⁷³ Hierbei ist Interaktivität als aktive Rolle zu verstehen, die der Betrachter

⁷³ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.183



DAS EXPERIMENT 55 63

oder Leser bei der Herstellung dessen, was gesehen oder gelesen wird, spielt. ⁷⁴ Das digitale Bild ist entkörperlicht und entmaterialisiert, wie die digitale

⁷⁴ Teal Triggs: Experimentelle Typografie – S.182

Techno-Zeit nicht mehr an den Raum und dessen Bewegung gebunden ist: Wellenform statt Baustein. In einem Medium, das Raum durch Zeit darstellt und Zeit durch den binären, digitalen Code, herrscht eine Beschleunigung der Befreiung, im Gegensatz zum photografischen Arrest (der Bilder), der wie der Aufprall eines Autos an einen Baum wirkt. Fotografie und Malerei arretieren. Video und digitale Kunst akzelerieren. ⁷⁵ Diese Entfesselung des Blicks, die dem Blick erstmals eine totale Panoptik erlaubt, wie sie vom Kubismus und dessen Vielseitigkeit des Blicks um die Gegenstände herum schon angestrebt worden war, spiegelt sich in

⁷⁵ Peter Weibel: Die Beschleunigung der Bilder. Aus Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.124

der entfesselten Perspektive wieder, wo Gegenstände, Menschen, Logos (Warenzeichen) aus dem Unendlichen hervorschießen und in jeder nur möglichen Perspektive in einer Art perspektivischer Schleuder, wild herumwirbeln. In dieser Ekstase des perspektivischen Schwindels kulminieren der entfesselte Blick, die losgeschleuderten Fluchtpunkte, die beschleunigte Perspektive und das elektronische Bild. ⁷⁶

⁷⁶ Peter Weibel: Die Beschleunigung der Bilder. Aus Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.128



DAS EXPERIMENT 57 63

Wahrnehmung

Wahrnehmungspsychologische Erkenntnisse sind unter anderem bei der Gliederung von Texten und bei der Farbgestaltung äußerst praktikabel und nützlich. ⁷⁷ Daher widme ich in meiner Thesis diesen Phänomenen auch ein eigenes Kapitel.

⁷⁷ Hans-Rudolph Bosshard: Reflexionen über Lehrerund Schülertypografie, Vortrag, erschienen in „Typografische Monatsblätter“, St. Gallen, Heft 3/4, 1993. Aus 6 Essays S.158

Das Auge Die spektrale Verteilung der Wellenlängen erzeugt im Auge die Farben Rot, Grün und Blau – die Grundfarben der additiven Farbmischung (bzw. Lichtmischung) und bestimmt die Farbtemperatur oder Färbung einer Lichtquelle. Die Farbtemperatur wiederum beeinflusst die Wahrnehmung der Farben: So intensiviert rötliches Licht Farben die Rot enthalten, bläuliches Licht (oft weiß wahrgenommen) intensiviert Farben, die Blau enthalten und Orange auf leuchtendem Rot ergibt Ocker, wobei Orange auf Grau leuch-

⁷⁸ Hans-Rudolph Bosshard: Reflexionen über Lehrerund Schülertypografie, Vortrag, erschienen in „Typografische Monatsblätter“, St. Gallen, Heft 3/4, 1993. Aus 6 Essays – S.68

tend wirkt. ⁷⁸ Im Gegensatz zu Büchern mit 60 bis 70 Buchstaben pro Zeile und einspaltiger Struktur, die langsamer und über einen längeren Zeitraum gelesen werden, werden die Texte in Zeitungen fünf- bis siebenspaltig angelegt, mit nur 35 bis 40 Buchstaben pro Zeile. Der Grund liegt in der Ermöglichung des sog. „Diagonal-Lesens“, dem Phänomen der extremen Beschleunigung der Lesegeschwindigkeit durch Such- und Sprungbewegungen des Auges. Der maximale Blickumfang – also das, was das Auge ohne Augenbewegung scharf stellt – liegt bei drei kurzen, zwei mittellangen Wörtern oder einem langen Wort.⁷⁹ Die ‚Fovea‘ oder Sehgrube ist der Ort des schärfsten Sehens auf der Netzhaut. Ihr Durchmesser und die normale Lesedistanz von 30 bis 50 Zentimetern ergeben die Größe des Wahrnehmungsumfangs. Je kürzer die Lesedistanz ist, umso kleiner das scharfe Sehfeld, da sich Licht geradlinig ausbreitet. Dass Majuskeln weniger gut lesbar sind als Minuskeln hängt laut Wahrnehmungspsychologie mit den längeren Worteinheiten zusammnen, die das Auge erfassen muss.⁸⁰

⁷⁹ Hans-Rudolph Bosshard: Reflexionen über Lehrerund Schülertypografie, Vortrag, erschienen in „Typografische Monatsblätter“, St. Gallen, Heft 3/4, 1993. Aus 6 Essays – S.25f ⁸⁰ Ellen Lupton; J. Abbott Miller: Deconstruction and Graphic Design. Aus Design Writing Research, N.Y. 1996. Aus Experimentelle Typografie – S.24



DAS EXPERIMENT 59 63

Das Gehirn Neueste Arbeiten […] zeigen, dass visuelle Signale nicht innerhalb eines einzigen hierarchischen Systems im Gehirn verarbeitet werden, sondern gleichzeitig in mindestens drei voneinander unabhängigen Systemen. Dabei erfüllt jedes dieser Systeme spezifische, deutlich voneinander abgrenzbare Aufgaben. Das eine System scheint Informationen über die Formwahrnehmung zu verarbeiten. Ein zweites ist zuständig für Farbe, das dritte schließlich für Bewegung, Lokalisation und räumliche Organisation. Es ist nun wahrscheinlich, dass einige der von Künstlern und Designern genutzten visuellen Effekte nur deshalb zustande kommen können, weil die visuelle Information auf diese besondere Weise vom Gehirn analysiert wird. ⁸¹

⁸¹ Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.110

Die Cambridge University fand heraus das unser Gehirn alle Wörter lesen kann, solange der erste und der letzte Buchstabe an der richtigen Stelle sind. Die Buchstaben dazwischen können dabei frei vertauscht werden. Denn das Gehirn nimmt beim normalen Lesen nur ganze Wörter war und liest nicht jeden Buchstaben einzeln. Bei Kindern, die das Lesen erst noch erlernen müssen wird jedoch meist noch jeder Buchstabe einzeln gelesen. Wahrnehmung in der Typografie Die hohe Mittellänge und der Einsatz von Serifen ist vor allem bei langen Lesetexten von Bedeutung. Damit wird die westeuropäische Leserichtung von links nach rechts und die Verankerung des Blicks in der richtigen Zeile unterstützt und der Text schnell und unkompliziert wahrgenommen. Adrian Frutiger war derselben Meinung, dass der Leser die Schrift mit geringstem Widerstand in größter Geschwindigkeit aufnehmen können

⁸² Adrian Frutiger: Type, Sign, Symbol – S.39

[muss].⁸² Das Auge folgt jedoch grundsätzlich primär der oberen Zeilenhälfte. Serifen haben damit eigentlich keine wirkliche Führungsfunktion. Die Serifen haben einerseits die Aufgabe, den Standort der Buchstaben auf einer exakten Linie – der Schriftlinie – zu definieren, andererseits zwingen sie die Buchstaben, etwas Distanz zu halten. ⁸³ Leser sind so konditioniert, dass sie auf Schrift als Bild reagieren und nicht auf Schrift und Bild. Dieser Problematik wurde in der Designtheorie ein hoher Stellenwert beigemessen. Eine Schrift, die der Betrachter nicht zu lesen vermag, an der er keine semantischen Einheiten unterscheidet, wird vor seinen Augen schnell zu

⁸³ Hans-Rudolph Bosshard: Lesbarkeit, Lesefreundlichkeit und typografische Gestaltung, „Typografische Monatsblätter“, Zürich, Heft 3/4, 1995. Aus 6 Essays S.50, 59



DAS EXPERIMENT 61 63

einem Bild. Ein Bild hingegen, das der Betrachter analysiert und deutet, wird von ihm – Einheit für Einheit – ,gelesen‘. ⁸⁴

⁸⁴ Bernd Scheffer: Schrift und Bild in Bewegung – S.30

Der Film Um das Medium Film zu verstehen, muss man die Funktionsweise des Films, die Wahrnehmungsphänomene, die die Bewegungillusion ermöglichen, die Beschaffenheit des Filmmaterials und die optischen, mechani-

⁸⁵ Peter von Arx: Film + Design – S.6

schen und chemischen Reproduktionsprozesse untersuchen.⁸⁵ So nehmen Auge und Gehirn Bewegung wahr, wenn Einzelbilder in einer schnellen Sequenz gezeigt werden. Üblich sind 24 Bilder in der Sekunde. Dann entsteht eine gleichmäßige Bewegung im Auge des Betrachters. Aus der Einzelbildstruktur des Films wird der visuelle Rhythmus als neues bildnerisches Prinzip entwickelt. [Denn] das Filmbild, das wir auf der Leinwand zu sehen meinen, entsteht während der Projektion im Moment des interwallweisen Filmtransports, indem sich zwei Bilder zu einem dritten, neuen Bild vermischen. Film erweist sich als manipulatorischer Vorgang – er ist das Produkt einer Sinnestäuschung. Film ist mehr als ein bloßes Mittel – er hat seine eigene, konkrete Realität. Film ist optische Synthese.⁸⁶ Es existieren verschieden große filmische Einheiten. Diese sind:

1. Bildvermischung: […] Wenn man beispielsweise zwei verschiedene Farbflächen einzelbildweise abwechselnd auf dem Filmstreifen abbildet, verschmelzen diese bei der Projektion zu einem andersartigen, dritten Farbton. Ähnlich vermischen sich zwei Formen bei der Projektion zu einer neuen Konstellation. Zum Beispiel werden Linien zu einem Karee. Das Phänomen des ‚positiven Nachbildes‘ beschreibt, wie Lichtreize im Auge als sogenanntes Nachbild für eine kurze Zeit weiterwirken. Dies beruht auf dem allmählichen Abklingen der vergangenen Prozesse in der Netzhaut des Auges. Lichtempfindungen (Bildeindrücke) hören also nicht im gleichen Zeitpunkt auf wie der objektive, physikalische Lichtreiz. Werden dem Betrachter Bilder mit kurzen Unterbrechungen dargeboten, so werden daher die Unterbrechungen nicht wahrgenommen. Ein Prinzip, dass im Thaumatrop und den Phänakistikopscheiben (Lebensrädern) vergegenständlicht wurde. Bilder auf Vorder- und Rückseite des Thaumatrops verschmelzen durch schnelles Entzwirbeln des Fadens und

⁸⁶ Peter von Arx: Film + Design – S.6



DAS EXPERIMENT 63 63

folglich schneller Rotation der Scheibe durch Überlagerung zu einem einzigen Bild mit Vorder- und Hintergrund. 2. Zeit: Während die Bildvermischung das ursächliche optische Phänomen darstellt, ist Zeit die primär gestaltbare Dimension des Mediums Film. Die Anzahl der Einheiten ergibt die Dauer einer Filmsequenz. 3. Animation: Wenn die Bilder graduell verschieden geformt sind, entsteht ein Bewegungseffekt. 4. Geschwindigkeit: Der Grad einer Bildveränderung bestimmt die Bewegungsgeschwindigkeit. Große Veränderungen pro Exponierung ergeben in der Projektion schnellere, kleinere Veränderungsstufen ergeben demnach eine langsamere Bewegung. Gleichzeitige, verschiedene Geschwindigkeiten erzeugen optische Räumlichkeit. Was sich schneller bewegt erscheint dem Betrachter näher, das Langsamere ferner. ⁸⁷

⁸⁷ Peter von Arx: Film + Design – S.42

5. Filmkamera: Das filmische Abbild einer realen Bewegung lässt sich durch die Kamera beeinflussen. Beispielsweise durch den Standort, die Neigungsachse, Fahrten und Schwenks der Kamera, durch die Schärfentiefe des Objektivs, die Lichtqualität und -intensität während der Aufnahme. Hier vor allem im Hinblick auf das Verhältnis des Motivs zur Umgebung. ⁸⁸

⁸⁸ Peter von Arx: Film + Design – S. 18, 26, 34, 42, 48-52, 62, 72



fazit V

Aus meinen theoretischen Untersuchungen kann ich schlußfolgern, dass meine praktische Auseinandersetzung mit dem Experiment intuitiv, spontan, kreativ und frei erfolgen muss. Die Arbeitsweise sollte nicht einschränken, sondern eine Vielzahl an Möglichkeiten freisetzen. Überraschende Wendungen sollten möglich bleiben. Die Reaktionen auf mehr oder weniger zufällig Entstandenes sollten in den Ergebnissen erkennbar bleiben. Somit spiegeln sich die vielseitigen Wege, die ich in dem Entstehungsprozess beschritten habe in den Werkstücken wider. Darüberhinaus kann ein übergeordnetes Thema für das tiefere Verständnis der Arbeiten hilfreich sein. Auch um die einzelnen Arbeiten zusammen zu bringen und als große Einheit herauszustellen. Es gilt, viele der experimentellen Pfade zu beschreiten und die experimentellen Spielwiesen abzugrasen, um eine neue Pflanzenart zu finden. Dabei spielt das Endergebnis in sofern ein Rolle, als dass es als Endpunkt einer viermonatigen Auseinandersetzung mit meiner Art zu gestalten zu verstehen ist. Nicht etwa als ein erreichtes Ziel, dem ich mit meiner Vorgehensweise entgegen gestrebt bin. Dieses Spiel birgt Gefahren und Hoffnungen. Man kann sich verlieren in endlosen Versuchen, die zu keinem merklichen Ergebnis führen; Oder man stößt auf etwas, das einem immer wieder die richtige Richtung vorgibt. Ich habe eine Vision. Das Ziel ist jedoch ungewiss. Ich stürze mich in das Experiment.



Bachelor-Thesis von

Fabian A. Simon

Eingereicht am

19. Juli 2010

Studiengang

Kommunikationsdesign Hochschule Augsburg Fakult辰t f端r Gestaltung

Erstpr端fer

Prof. Hans Heitmann

Zweitpr端fer

Prof. Erich Gohl

Abschluss-Semester

Sommersemester 2010

Verwendete Schriften

Gotham

(von Jonathan Hoefler & Tobias Frere-Jones, 2000)

Minion Pro

(i.O. von Robert Slimbach, 1990)



Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.