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Umwelt, Soziales und Unternehmensführung

Operationalisierung von ESG in der Cannabis-Industrie

Während der Cannabissektor heranreift, muss er sich auf den Schock der breiteren institutionellen Anforderungen einstellen. Seit der Verabschiedung der Proposition 215 in Kalifornien sind nun 27 Jahre vergangen. Vor fünf Jahren hat Kanada Cannabis für Erwachsene legalisiert und aktuell befinden sich mehrere europäische Länder in unterschiedlichen Phasen des Legalisierungsprozesses.

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Von Leonid Kotlyar

Vor vier Jahren engagierte sich Constellation Brands mit 4 Mrd. CAD in der kanadischen Cannabisindustrie, und vor weniger als einem Jahr schrieb das Unternehmen 1,1 Mrd. CAD dieser Investition in Canopy Growth (CGC) ab. Die Aktie von CGC bewegt sich derzeit oberhalb der 1 CAD-Marke und ist von einem Allzeithoch von 56,89 CAD heruntergekommen. Die Gründungsjahre von Cannabis haben viele Fälle von unternehmerischem Versagen hervorgebracht. Negative Schlagzeilen machten unter anderem kanadische multinationale Unternehmen, USamerikanische Multi-State-Operatoren, medizinische Start-ups aus der EU und nicht zu vergessen ein saftiger (Juicy) Finanzskandal. Fragwürdige Wachstumsprognosen, aufgeblähte Bewertungen, fehlerhafte Annahmen, mangelnde Sorgfaltspflicht und ein gewisses Maß an Fehlverhalten waren die Zutaten. Der übliche Cocktail von Problemen, den man in sich entwickelnden Sektoren erlebt, aber mit einer schwerwiegenden Wendung zusätzlicher Komplexität, denn Cannabis ist eine seit dem frühen 20. Jahrhundert verbotene Ware. Eine Prohibitionspolitik, die eine starke rassistische und diskriminierende Komponente aufwies, was zu einer fabrizierten gesellschaftlichen Stigmatisierung und zum Verlust von Generationen durch den „Krieg gegen Drogen“ führte.

Cannabis ist eine seit dem frühen 20. Jahrhundert verbotene Ware. Eine Prohibitionspolitik, die eine starke rassistische und diskriminierende Komponente aufwies, was zu einer fabrizierten gesellschaftlichen Stigmatisierung und zum Verlust von Generationen durch den „Krieg gegen Drogen“ führte. Die unternehmerischen und gesellschaftlichen Herausforderungen, denen sich Cannabis stellen muss, sind einzigartig.

Die unternehmerischen und gesellschaftlichen Herausforderungen, denen sich Cannabis stellen muss, sind einzigartig. Nachdem es die Zyklen des Scheiterns, der Fusionen und Übernahmen und der Konsolidierung durchlaufen hat, sollte sich Cannabis als eine echte Branche begreifen und seinen eigenen Platz und seine eigene Stimme finden. Letztendlich sollte sich der Cannabissektor als Mitgestalter an sich entwickelnden regulatorischen Rahmenbedingungen und als Akteur auf den globalen Kapitalmärkten sehen. Das Rad muss nicht neu erfunden werden, damit der Cannabissektor richtig läuft, es braucht nur ein paar kleine Veränderungen, um ihn zu verbessern. Diese Verschiebungen können direkt auf die Variablen innerhalb der ESG-Kennzahlen und die inhärenten Berichtsanforderungen zurückgeführt werden. ESG als Rahmenwerk befindet sich auf seinem eigenen Weg zur Reife und sucht nach seinen Vorreitern und Modellen, die sektorübergreifend reproduziert werden können. Genau hier kann eine aufstrebende Branche nicht nur einen neuen Weg einschlagen, sondern von Anfang an operative Daten sammeln und nutzen, um langfristige Nachhaltigkeit zu gewährleisten.

Eine kurze Geschichte – Die Genese des Risikomanagements der ESG

Rahmenwerke für Umwelt-, Soziales- und Unternehmensführung, kurz ESG (Environmental, Social, and Governance) gibt es schon seit fast zwanzig Jahren. Bei der Entstehung des Begriffs im Jahr 2004 stellte ESG einen Rahmen für die Unternehmensbewertung dar. Angeregt durch eine Liste von Unterzeichnern, zu denen einige der weltweit führenden Finanzunternehmen gehörten, war ESG ein Vorschlag für ein zukunftsfähiges Risikomanagement nach den Schlagzeilen machenden Unternehmensskandalen der frühen 2000er Jahre.

Als Rentengelder aufgrund unternehmerischer Nachlässigkeit verloren gingen, war eine öffentliche Abrechnung unausweichlich. Und so nahm der Governance-Teil der heute akzeptierten ESG-Rahmenwerke aus den Folgen des Sarbanes-Oxley Act von 2002 Gestalt an.

Mit der Unterzeichnung des Pariser Klimaabkommens (PKA) im Jahr 2015 richtete sich die weltweite Aufmerksamkeit auf Umweltziele. Dies beinhaltete eine erneute Konzentration auf Ziele zur Reduzierung der Kohlenstoffemissionen (CO2e) und den Mechanismus, mit dem die Bemühungen auf globaler Ebene über die Märkte koordiniert werden können. Das Ergebnis war die Verbreitung von Märkten für Emissionsgutschriften sowie die Umweltbilanzierung von Unternehmen, um Szenarien für eine globale Erwärmung von weniger als 1,5 °C zu erfüllen. Das „E“ von „ESG“ nahm allmählich Gestalt an.

Die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG), die im selben Jahr veröffentlicht wurden, sorgten für maximale Unruhe. Während die Unterzeichnerstaaten des PKA und der SDG-Verpflichtungen an die UNO gebunden waren, wuchs der öffentliche Druck auf die Unternehmen, ihren Teil beizutragen, welcher durch die sozialen Medien noch verstärkt wurde. In diesem Zusammenhang erwiesen sich die ESG als ein geeignetes Instrument, um den Grad der Reaktion der Unternehmen auf die zunehmenden Bedenken der Öffentlichkeit zu messen, hinsichtlich der Klimakrise, sozialer Ungerechtigkeiten und der Verantwortung der Unternehmen in diesen Fragen.

Klimakrise, soziale Ungerechtigkeiten und Verantwortung der Unternehmen

ESG-konforme Unternehmen „schaffen“, um die ESG-Kapitalallokation zu berücksichtigen – ESG-Ratings & Greenwashing

Börsennotierte multinationale Unternehmen waren die ersten, die die Einhaltung der ESG-Richtlinien nachwiesen. Im Jahr 2021 veröffentlichten 86 % der S&P-500-Unternehmen regelmäßig eine Art von ESG-Bericht, 2010 waren es noch 35 %. Der Finanzsektor war führend, da er bereits gesetzlich zur Einhaltung des Sarbanes-Oxley-Gesetzes verpflichtet war, das einen Rahmen für die Messung und Offenlegung von ESG-Aspekten enthält. Als der Druck auf die Kapitalmärkte zunahm, die Portfolios gemäß den neu eingeführten ESG-Informationen zu verwalten, gab es einen raschen Anstieg der ESG-konformen und -ausgerichteten Anlagemöglichkeiten, d. h. ESG-konforme Unternehmen, Wertpapiere und ETFs (Exchange Traded Fund/börsengehandelter Indexfonds). Infolgedessen entwickelten sich „ESG-Ratings“ zu einem entscheidenden Bindeglied zwischen Kapital und ESG-konformen Investitionen. Die Ratings haben die Aufgabe, das ESG-Risikoprofil und die Leistung eines Unternehmens oder Portfolios zu quantifizieren und gleichzeitig den Kapitalmärkten eine Anlageempfehlung zu geben.

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ESG-Ratings können oft als Deckmantel für Greenwashing dienen oder zumindest zukünftige Übergangspläne mit der aktuellen ESG-Leistung verwechseln. Nehmen wir als Beispiel Pepsico, das auf der Yahoo Finance Top ESG-Rangliste für 2022 auf Platz 11 steht. Pepsico führt die Ausweitung der regenerativen Landwirtschaft an und plant, bis 2040 zu 100 % recycelbaren/biologisch abbaubaren und CO2-neutralen Produkten überzugehen. Aber so wie es aussieht, hat Pepsico 2019 57 Millionen Tonnen CO2e emittiert und plant, bis 2029 weitere 26 Millionen Tonnen zu emittieren.

Welche ESG-Implementierungsstrategie bietet den besten Weg zu Kapital und nachhaltigem Wachstum für mein Unternehmen

Das alte Händlersprichwort „Aktien sind zukunftsorientiert, während die Anleihemärkte die Geschichte der aktuellen Wirtschaft erzählen“ scheint in diesem Fall sicherlich zuzutreffen, doch sind die sogenannten grünen Anleihen nicht unumstritten. Der gesamte Lebenszyklus der Projekte, die grünen Anleihen zugrunde liegen, wird selten untersucht, und es gibt auch keine festgelegten Standards für die Definition oder die Sorgfaltspflicht bei der Zeichnung von grünen Anleihen. Mangelnde Transparenz und Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen haben die Branche ebenfalls geplagt, wobei Experten darauf hinweisen, dass man sich zu sehr auf die Bewertungen Dritter verlässt. Aufstrebende Branchen wie Cannabis, die nicht an etablierte Kapital- und Einflussquellen gebunden und in der Lage sind, neue Grundlagen zu schaffen, sind am besten positioniert, um maximalen Nutzen aus der Einführung von ESG-Kennzahlen zu ziehen. Sie können Daten nutzen, um weit über die Einhaltung von Vorschriften hinaus einen tatsächlichen Wandel und einen systemischen Paradigmenwechsel zu erreichen.

Screening von Anlageportfolios vs. Unternehmensmanagement – Top Down vs. Bottom Up Anwendungen von ESG

Bei der Untersuchung der Entstehung und Entwicklung von ESG werden zwei Druck- und Anwendungspunkte deutlich, die die Operationalisierung von ESG beeinflussen. Einerseits der Druck von oben, der von den Märkten, Investoren und Regulierungsbehörden ausgeht, um Kapitalbewegungen in Richtung von Vermögenswerten zu beeinflussen, die neben positiven Finanzergebnissen auch eine positive nichtfinanzielle Bilanz aufweisen. Andererseits entsteht der Druck von unten nach oben durch die Umsetzung von ESG durch die Unternehmen selbst.

Aus Unternehmenssicht sind ESG sowohl eine gesetzliche Anforderung als auch ein wirksames Managementinstrument. Die Frage, die Gründer und Führungskräfte von (Cannabis-)Unternehmen beantworten müssen, lautet, „Welche ESG-Implementierungsstrategie bietet den besten Weg zu Kapital und nachhaltigem Wachstum für mein Unternehmen?“

Der Begriff „nachhaltiges Wachstum“ wird hier in einem weiteren Sinne verwendet, d. h. als langfristiges Wachstum, das die Zeit überdauert, und bezieht sich nicht auf eng gefasste Umweltziele (z. B. Verwendung oder Nichtverwendung von Plastikverpackungen usw.).

Der öffentliche Diskurs zu ESG ist eher auf Top-Down-Überlegungen ausgerichtet, wobei makroregulatorische Themen dominieren. Die Debatte dreht sich größtenteils um Ratings, Portfolio-Performance, Kapitalströme und die Performance von Anlageklassen. Es wird jedoch wenig aus der Perspektive des Unternehmens gesagt – vor allem bei jungen, in Privatbesitz befindlichen Start-ups, w ie es bei den meisten Cannabisunternehmen der Fall ist.

ESG und Cannabis: eine unbequeme Realität

Umweltbelastungen

Die anfängliche Entwicklung von Cannabis zu einer legal produzierten Ware ist zu einem großen Teil den alten Betreibern zu verdanken, die gleichzeitig auf einen staatlich regulierten Anbau umstellten und Gewohnheiten verlernten, die den Anforderungen des illegalen Anbaus unterlagen. Von Bewässerungspraktiken über Standards für die Abwasserentsorgung bis hin zu Auswahl der Genetik, Blütedauer und den damit verbundenen Energieverbrauch – viele Standardabläufe (Standard Operating Procedures SOP) der Branche könnten und sollten unter eine umweltkritische Lupe genommen werden.

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Betrachtet man die Evulotion dieser Entwicklungen in den etablierten Märkten, ergibt sich ein trauriges Bild. Da 80 % des USCannabis in Innenräumen angebaut wird, benötigt diese relativ kleine Branche einen unverhältnismäßig großen Anteil des Energienetzes. Sie verbraucht oft zwischen zwei bis acht Prozent der Energieversorgung eines Staates zu einem beliebigen Zeitpunkt. Multipliziert man dies mit den 37 Bundesstaaten, in denen der Cannabisanbau in irgendeiner Form erlaubt ist, hat man die Grundlage für einen nationalen Notstand.

Mit der Verabschiedung strenger Auslegungen der GACP- und EU-GMP-Produktionsstandards tappt die europäische medizinische Cannabisindustrie in die gleiche Falle. Protektionistische nationale Wirtschaftspolitiken im sonnenarmen Nordeuropa haben ebenfalls das Potenzial, tickende Zeitbomben für die Energienetze ihrer Länder darzustellen, da Deutschland, Dänemark und die Niederlande einen größeren Anteil an der europäischen Cannabisproduktion haben.

Gesellschaftliche Gefährdungen

Die fragmentierte regulatorische Realität der Cannabisbranche hat Bedingungen geschaffen, die eine durch Fusionen und Übernahmen getriebene Expansion gegenüber organischem Wachstum begünstigen. Curaleaf, einer der größten internationalen Akteure in der Cannabisbranche, war in den letzten zehn Jahren an nicht weniger als 14 M&A-Transaktionen beteiligt. Bei Canopy Growth waren es im gleichen Zeitraum sage und schreibe 17 Transaktionen. Solche rasanten Expansionsraten in Verbindung mit einem Mangel an angemessenen Ressourcen für die Integration und unzusammenhängenden regionalen Lieferketten führten zu einem Abwärtsrennen bei den sozialen Aspekten. Kurze Unternehmensberichtszyklen und eine auf Umsatzwachstum ausgerichtete Vergütung der Führungskräfte lassen die Arbeitnehmer oft die Hauptlast der Versäumnisse tragen. Grundsätzlich besteht das Risiko darin, dass eine Trennung zwischen der Entscheidungsfindung im Unternehmen und dem Personal entsteht. Eine solche Fragmentierung kann zu Problemen mit der Mitarbeiterbindung, „Burnout“ und der allgemeinen Arbeitsmoral führen. Im schlimmsten Fall können die Risiken zu Sammelklagen und Anzeigen wegen widerrechtlicher Tötung durch die Strafverfolgungsbehörden führen.

Obwohl viele dieser Risiken durch die bestehenden europäischen Rahmenbedingungen für die pharmazeutische Industrie gemildert werden können und sollten, müssen die Aufsichtsbehörden in dem Maße, in dem die Lieferketten globalisiert werden und Pilotprogramme für den Gebrauch durch Erwachsene in Europa beginnen, ihre Aufsichtspflicht stets im Auge behalten.

Undurchsichtige Unternehmensführung

Aufgrund des oben genannten Drucks, der sich aus den alten Ursprüngen der Branche und der schnellen, durch Fusionen und Übernahmen getriebenen Expansion ergibt, fehlt es vielen Cannabisunternehmen an den notwendigen Führungsstrukturen, die von reifen Branchen erwartet werden. Beispiele hierfür sind: unattraktive Cap-Tabellen mit einer endlosen Liste von Anbietern, Freunden oder Darlehensgebern; undurchsichtige Verhältnisse in Bezug auf wirtschaftlich Berechtigte (Ultimate Beneficial Ownership) und fehlende Legitimationsprüfungen (KYC due diligence), um diese Variablen genau zu erfassen; und asymmetrische Aktienklassen, die zu Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen Interessengruppen führen.

Da viele börsennotierte Cannabisunternehmen bereits den Druck der ESG-Compliance spüren, war es aufschlussreich, ihre Reaktion zu beobachten. Die meisten lizenzierten Produzenten (LP) haben sich dafür entschieden, die Karten der Unternehmensführung nicht zu offen zu legen und sich stattdessen darauf zu konzentrieren, gute soziale Arbeit in der Gemeinschaft zu betonen und sich mit der zunehmenden Umweltverantwortung zu brüsten. Der Schlüssel zur erfolgreichen Umsetzung der ESGStrategie ist jedoch die Rechenschaftspflicht. Ohne die Verankerung von ESG in der Entscheidungs- und Verantwortungsmatrix des Führungsteams und des Verwaltungsrats kann keine sinnvolle Veränderung der Unternehmenstätigkeit oder -kultur erwartet werden.

Speziell mit Blick auf die bald vorgeschriebenen TCFD (Task Force on Climate Related Financial Disclosures) -Offenlegungen, die sich auf mehrere Börsen auswirken, darunter auch auf kanadische und britische Notierungen, wird die Unternehmensführung zunehmend zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Die Übertragung der Verantwortung für das Management der Klimarisiken eines Unternehmens auf die Führungskräfte ist ein wichtiger regulatorischer Schritt, um die Rechenschaftspflicht mit der Entscheidungsfindung zu verknüpfen.

ESG und Cannabis: Wo entsteht der Druck?

Top Down – Öffentliche Märkte, TCFD, SEC & CSRD

Regulierungsbehörden und Börsen haben weitreichende Pläne für verpflichtende ESG- oder klimabezogene Angaben angekündigt. Da sich die kanadischen und britischen Börsen für die TCFD entschieden haben und die US-Börsen sich an den neuen SEC-Anforderungen orientieren, werden alle börsennotierten Cannabisunternehmen, die die Mindestkapitalisierungsanforderungen erfüllen, bald in der Pflicht sein.

Die Verabschiedung der Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (CSRD) im November 2022 durch das Europäische Parlament bringt die ESG-Berichtsanforderungen noch näher an die Cannabisbranche heran. Während die TCFDund SEC-Offenlegungen börsennotierte Unternehmen betreffen, sind die CSRD-Richtlinien auf eine breitere Untergruppe von Unternehmen ausgerichtet, die die Anforderungen an Größe und Kapitalisierung erfüllen. Wenn zwei der folgenden Bedingungen erfüllt sind, sind Nicht-EU-Unternehmen mit EU-Beteiligungen an die CSRD-Berichtspflicht gebunden: eine Bilanzsumme von mehr als 20 Millionen Euro, ein Nettoumsatz von mehr als 4 Millionen Euro und mehr als 250 Beschäftigte im Durchschnitt des Geschäftsjahres. Angesichts des Umfangs der Fusionen und Übernahmen von europäischen Cannabisunternehmen mit nordamerikanischen Unternehmen in den letzten fünf Jahren kann man davon ausgehen, dass viele multinationale Unternehmen bald in gewissem Umfang berichtspflichtig sein werden.

Gründer, die ein schrittweises Vorgehen bei der Mittelbeschaffung anstreben, müssen ESG-Risiken früher berücksichtigen, um die Anforderungen der Investoren zu erfüllen. Während die Kosten und der Zugang zu Kapital weiterhin die wichtigsten Faktoren für die Einführung von ESG sind, sollten die einfache Einhaltung von Vorschriften und die schrittweise Integration nicht unterschätzt werden. Die meisten Gründer in der Cannabisbranche dürften den Ehrgeiz haben, zwei der drei CSRD-Schwellenwerte in relativ kurzer Zeit zu erreichen, was den Aufbau ihres Unternehmens auf einer soliden ESG-Basis gewährleistet.

Wie gestaltet beispielsweise ein dänischer Hersteller von Medizinprodukten seine Umstellung von HPS auf LED angesichts der steigenden Energiepreise? Die Grenze zwischen einer effektiven datengestützten Entscheidungsfindung und der obligatorischen Berichterstattung über Scope-1- und Scope-2-Emissionen ist oft sehr schmal.

Bottom Up und sektorspezifisch – Physische Risiken, Betriebskosten, Zielpublikum und Übergänge

Die mit dem Klimawandel verbundenen physischen Risiken sind allgegenwärtig. Die sich ändernden Wettermuster wirken sich auf die Niederschlagsmengen, die Luftfeuchtigkeit, die Häufigkeit extremer Wetterereignisse und vieles mehr aus. Verantwortungsbewusstes Management hängt zunehmend von der Modellierung von Unternehmensdaten im Hinblick auf Klimaszenarien und die damit verbundenen physischen Risiken ab. Während sich die Befürwortung globalisierter, voneinander abhängiger Lieferketten positiv auf die Verringerung physischer Risiken für die Cannabisbranche auswirken kann, fördert das derzeitige uneinheitliche Rechtssystem die Lokalisierung, bei der physische Risiken unvermeidlich sein können.

Makroelemente wie die Geopolitik und sich verändernde Arbeitsmarktmuster zwingen die Unternehmen ebenfalls zu einem umsichtigeren und datengesteuerten Management. Wenn Sanktionen gegen ausländische Energieunternehmen die Betriebskosten in die Höhe treiben, kann eine ESG-Datenstrategie den Unterschied zwischen Überleben und Konkurs ausmachen. Ähnliche Lehren lassen sich aus den Arbeitsstatistiken ziehen und für eine vorausschauende Entscheidungsfindung nutzen. Man denke an einen Unterschied von 1000 % bei den Arbeitskosten zwischen der Schweiz und Nordmazedonien und die Auswirkungen dieser Variable auf die Kosten pro Gramm EU-GMPzertifizierter Blüten. Diese Ungleichheiten und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Ergebnisse stehen im Mittelpunkt der Datenanalyse, die von ganzheitlichen Rahmenwerken wie ESG erfasst wird.

Ein kürzlich veröffentlichter Headset-Bericht zeigt, dass die Mehrheit der Cannabiskonsumenten in Nordamerika Millenials und Gen Zs sind ( ca. 70 %). Diese demografische Gruppe gilt als der Verbraucher mit dem größten sozialen Bewusstsein und treibt die persönlichen Ausgaben auf der Grundlage der Wahrnehmung einer wertorientierten Ausrichtung an. Da die Cannabisbranche zusammen mit ihrem Kundenstamm heranreift, ist es für Unternehmen ratsam, die Übergangsrisiken, die diese einzigartige Branche mit sich bringt, genau zu messen und sich darauf einzustellen.

Operationalisierung der ESG: eine Vision für messbare Auswirkungen

Im Kern ist ESG ein Rahmen zur Messung von Übergangsrisiken – sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene. Einige Risiken sind offensichtlicher als andere. Das erhöhte Risiko von Wirbelstürmen und die Verunreinigung von Süßwasserbecken könnte einige Cannabisanbauanlagen in Florida unbrauchbar machen. Wie viel des Unternehmenswertes ist durch dieses Klimarisiko gefährdet? Wie viele Mitarbeiter müssen evakuiert werden und welche Haftung besteht für das Unternehmen? Die gleiche Frage könnte man auch den niederländischen Erzeugern mit ihrem erhöhten Überschwemmungsrisiko oder den Erzeugern in Oklahoma mit ihrem Hurrikanrisiko stellen. Wenn Daten eine Veränderung bestimmter Umweltbedingungen bestätigen, ist ein Unternehmen dafür verantwortlich, dieses Risiko zu messen und seine Interessengruppen transparent zu informieren. Wie gestaltet beispielsweise ein dänischer Hersteller von Medizinprodukten seine Umstellung von HPS auf LED angesichts der steigenden Energiepreise? Die Grenze zwischen einer effektiven datengestützten Entscheidungsfindung und der obligatorischen Berichterstattung über Scope-1- und Scope-2-Emissionen ist oft sehr schmal.

Die Risiken des gesellschaftlichen Wandels sind ebenso folgenreich. Wie passt ein Unternehmen seine Kultur an die gesellschaftlichen Veränderungen an, um Talente zu halten und anzuziehen, Resonanz bei den Kunden zu erzeugen und in der öffentlichen Meinung auf der positiven Seite zu bleiben? Ein beliebtes Thema für diese Debatte in der Cannabisbranche ist die Position eines Unternehmens zum Recht auf Eigenanbau. Allein dieses polarisierende Thema birgt ein erhebliches Risiko, sowohl interne Mitarbeiter als auch potenzielle Kunden zu verprellen. ESG und die damit verbundene Notwendigkeit, bestimmte Parameter zu verfolgen und zu messen, ist ein natürlicher Sammeltopf für Daten, die optimal für die Entscheidungsfindung des Unternehmens genutzt werden sollten. Der Einsatz einer konsistenten datengesteuerten ESG-Strategie ermöglicht es einer Organisation, physische Risiken und Übergangsrisiken zu antizipieren, anstatt auf sie zu reagieren, sobald sie sich entwickeln. Eine konsistente Strategie setzt ein ESG-Toolkit ein, das hauptsächlich aus folgenden Elementen besteht:

• Wesentlichkeitsanalysen (interne, externe, doppelte Wesentlichkeit)

• Analyse des physischen Risikos und des Übergangsrisikos

• Kartierung der Lieferkette

• Lebenszyklus-Analysen (LCAs)

• Mechanismen der Rechenschaftspflicht der Unternehmensführung (Rechenschaftspflicht des Verwaltungsrats in Bezug auf nicht-finanzielle Ergebnisse)

• Konsistente KPI (Key Performance Indicators)-Berichterstattung.

Die Grundsätze eines soliden Managements, die Erfassung von Kennzahlen und die kontinuierliche Überprüfung und Bewertung sind die Eckpfeiler der ESG-Strategie. Aber sind dies nicht die Eckpfeiler eines jeden modernen, gut geführten, datengesteuerten Unternehmens – eines Unternehmens, das die Erfassung von Daten standardisiert und sie als Grundlage für künftige Entscheidungen nutzt? Ist dies nicht deckungsgleich mit den formell anerkannten Grundsätzen von ISO und GMP?

Es stimmt, dass ESG-Rahmenwerke Überlegungen einbeziehen können, die bisher nicht in den Bereich der Unternehmensbeobachtung fielen. Angesichts moderner Systeme und Datenerfassungsmechanismen sollte dies jedoch nur wenig zusätzliche Ressourcen erfordern. In der Praxis ist es so einfach wie das Hinzufügen zusätzlicher Module und Dashboards zu einer bestehenden ERP-Software.

Die Akronyme, die zur Bezeichnung dieser Initiativen und ihrer Berichtsstrukturen verwendet werden, haben sich geändert und werden sich wahrscheinlich auch weiterhin ändern. Selbst das mächtige „ESG“ wird eines Tages weichen! Das älteste derzeit anerkannte ESG-Rahmenwerk, die SASB-Standards, wurden erst 2011 veröffentlicht, und es lässt sich nicht sagen, ob diese Standards weiterhin führend sein werden. Die Kernprinzipien des KPI-gesteuerten Managements, das auf kontinuierlicher Beobachtung und Analyse beruht, werden jedoch zweifelsohne bestehen bleiben. Unter dem einen oder anderen Titel.

Schlussfolgerung: Medizinische LPs und Distributoren haben bereits einen Vorteil bei wertbasierten ESG-Ansätzen

Die Anpassung der Cannabis-Wertschöpfungsketten mittels ESGzentrierter Datenerfassungspraktiken wird sich langfristig positiv auf den Geschäftsbetrieb auswirken. Von unmittelbaren Zusammenhängen zwischen aktuellen Erträgen und Qualitätsparametern bis hin zu den genauen Energie-, Arbeits- und Gesamtressourcen, die für die Produktion eines Gramms Blüte verwendet werden – diese Branche ist bereit für eine GreenTech-Revolution! Stellen Sie sich den Aspekt der Berichterstattung über die ESG als gesunden Nebeneffekt einer soliden Geschäftstätigkeit vor, nicht als Endziel, auf das es sich lohnt hinzuarbeiten. Dies gilt bereits für Hersteller mit medizinischer Zulassung. Unternehmen, die die GACP-, EU-GMP-, ICU-, ISO- und andere Regulierungsstandards einhalten müssen, sind bereits auf eine fortschrittliche Datenerfassung und -aufzeichnung vorbereitet. Die Erweiterung dieses Datensatzes eröffnet ein zusätzliches Fenster der Möglichkeiten. Angesichts knapper werdender Margen in der gesamten Branche und steigender Kapitalkosten wäre es ein erhebliches Risiko für die Nachhaltigkeit eines jeden Cannabisunternehmens, diese Chance nicht zu nutzen. ↙

Leonid (Leo) Kotlyar

Leonid (Leo) Kotlyar ist Mitbegründer und Geschäftsführer von DéWarrior Unlimited B.V., einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Unternehmensberatung mit Hauptsitz in den Niederlanden. DéWarrior (www.dewarrior.com) bietet seine Beratungsdienste in den Bereichen ESG, Fusionen und Übernahmen sowie Unternehmensberatung an und nutzt dabei umfassende Datenerhebungen und fortschrittliche Modellierungstechniken, um integrierte Entscheidungsprozesse zu fördern. Vor der Gründung von DéWarrior war Leo zwölf Jahre lang im Bereich der institutionellen Aktienderivate tätig, wo er die ersten Eckpfeiler von ESG für seinen Kundenstamm aus Pensionsplänen, Versicherern und Staatsfonds entwickelte und bereitstellte.

Aufmacher: pixardi/stock.adobe.com

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