TEC21 7/2021
Die Fassaden der Casa agli Orti und der Überbauung Radice, um noch einmal auf diese beiden Werke zurückzukommen, scheinen von der italienischen Nachkriegsarchitektur beeinflusst, was sich besonders an der Keramikverkleidung zeigt. Was sie unterscheidet, ist die Art, wie sie das Tragwerk sichtbar machen: Während bei der Überbauung von Remo Leuzinger die Position der Decken mit Gurtgesimsen aus vorgefertigten Betonelementen ablesbar ist und so den horizontalen Charakter des lang gestreckten Gebäudekomplexes hervorhebt, behält Francesco Buzzi für die Casa agli Orti die Einheit des keramischen Baustoffs bei und setzt Lisenen und Gesimse ein, um das im Innern sichtbare Tragwerk an der Fassade abzubilden. Rhythmisiert wird Buzzis Fassade von zwei Komplementärfarben, dem Grün der Keramik und dem Orange der Fensterlaibungen. Diese Materialisierung, die in den letzten Jahren vor allem in der Deutschschweiz viele Neubauprojekte inspiriert hat, scheint nun wieder in Richtung Süden zu wandern. Die beiden Werke nehmen also zwei unterschiedliche Einflussrichtungen auf, sind einmal von Mailand und einmal von Zürich her inspiriert. Man könnte sagen, es handelt sich um einen Einfluss, der aus der Lombardei übers Schweizer Mittelland ins Tessin zurückfedert.
Mögliche Lösungsansätze Als Alternative zum Genossenschaftsmodell, das sich im Tessin immer noch nicht durchsetzen kann, erscheint es sinnvoll, zunächst die Qualität privater Immobilienprojekte zu fördern. Wenn vermehrt Architekturbüros in die Überlegungen zur Verbesserung der baulichen Umgebungen einbezogen werden würden, könnte in der Folge das Interesse an derartigen Investitionen durch die öffentliche Hand steigen. Heute stellen aus dem Kontext gelöste Wohnbauten, die durch eine private Grünfläche, den «fazoletto verde», abgeschottet sind, immer noch den Standard dar. Dabei könnten die Erdgeschosse als Kommunikationsbereich zwischen Öffentlichkeit und Rückzug die Gebäude ins städtische und soziale Gefüge einbinden. Wie die Beispiele zeigen, gibt es dafür keine pauschalen Lösungen. Sie müssen in den Besonderheiten der jeweiligen Situation gesucht werden. Die drei Projekte, die auf verschiedenen Massstabsebenen und mit unterschiedlichen Ansätzen in die Stadt eingreifen, sind gute Beispiele dafür, wie der städtische Raum und das gemeinschaftliche Leben bereichert werden können und welche Bedeutung den Architektinnen und Architekten beim Bau von Mehrfamilienhäusern in diesem Zusammenhang zukommt. Alle drei Beispiele rufen uns den berühmten Lehrsatz des kürzlich verstorbenen Luigi Snozzi in Erinnerung: «Baust du einen Weg, ein Haus, ein Quartier, dann denke an die Stadt.» • Pablo Valsangiacomo, Architekt ETH SIA OTIA, Lugano; info@valsangiacomoboschetti.ch Aus dem Italienischen: Wulf Übersetzungen
Made in Ticino
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Vorwärts zur Landschaft! Die Parameter, an denen ein gelungenes Wohngebäude gemessen wird, umfassen zunehmend die Aufenthaltsqualität des umgebenden Freiraums. Ein Kommentar zum wachsenden Interesse an der Landschaftsarchitektur im Tessiner Wettbewerbswesen. Text: Stefan Rotzler
‹Un primo sud› hat Hermann Hesse diese Sehnsucht beschrieben, gleich hinter dem schneebedeckten Gotthard blühende Kamelien anzutreffen. Wer hat sie nicht, diese Lust, ein bisschen näher ans Mediterrane und an südliche Unbeschwertheit zu rücken? Meine persönliche Sehnsucht nach ‹Sud› führte zur beruflichen Neugier. Es folgten zwei Wettbewerbsgewinne und dann eine erste Jury in Lugano. Sie war dann eine harte Probe! Die Land schaftsarchitektur im Tessin – wo Landschaft so ausdrucksstark, so nah, so augenfällig ist – war in vielen Architekturprojekten schlicht inexistent. Inzwischen haben Juryteilnahmen als echtes Engagement für eine klare Positionierung der Landschaftsarchitektur im Tessin für mich eine gewisse Regelmässigkeit. In der deutschen Schweiz ist diese durch das Wirken einer ganzen Generation von Berufskolleginnen und -kollegen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Sie haben das Metier von einer dienenden zu einer selbst- und eigenständigen Fachdisziplin gemacht, die viel mehr beinhaltet als Begrünung und Umgebungsgestaltung. Die Seepromenade von Paradiso, der Parco Viarno, die Scalinata degli Angioli, die Revitalisierung des Laveggio: In all diesen abgeschlossenen Wettbewerbsverfahren spielte die Landschafts architektur eine tragende Rolle. Weitere Verfahren sind in Vorbereitung. Und siehe da, das zarte Pflänzlein beginnt zu spriessen und schlägt langsam seine Wurzeln! Schritt für Schritt scheint auch im Tessin der Einbezug von Landschaftsarchitektur zu einer ganz selbstverständlichen Sache zu werden. Mit den Ausschreibungen kommt die Nachfrage; aus Wett bewerbsgewinnen entsteht ein gewisses Auftrags volumen; mit Publikationen kommt ein Nachdenken und ein Sprechen über Landschaftsarchitektur.