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Vergabewesen
TEC21 7/2021
Verletzliche Anonymität Wettbewerbe nach SIA-Ordnung 142 werden in anonymer Form durchgeführt. Die Auftraggebenden, die Mitglieder des Preisgerichts, die Teilnehmenden und die beteiligten Fachleute haben die Anonymität sicherzustellen. Was jedoch, wenn etwas schiefgeht? Text: Jürg Gasche Bühler
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rchitektinnen und Architekten, die sich an Projektwettbewerben beteiligen, wissen es: Die Anonymität der Teilnehmenden muss unbedingt gewahrt bleiben. Ein Projekt, das Hinweise auf die Autorenschaft enthält, wird ausgeschlossen und nicht juriert. Das steht in den kantonalen Submis sionsverordnungen, in der Ordnung für Architektur- und Ingenieurwettbewerbe (SIA 142) und in den Wettbewerbsprogrammen. Bei einem Ausschluss ist aller Aufwand für die Ausarbeitung des Wettbewerbsprojekts vergebens und die Hoffnung auf eine gute Rangierung oder gar auf den Auftrag geplatzt. Es kommt vor, dass Wettbewerbsbeiträge wegen eines Ver stosses gegen das Anonymitätsgebot ausgeschlossen werden. Zudem gibt es nicht nur Justizirrtümer, sondern auch Irrtümer von Preisgerichten, die Wettbewerbsbeiträge mit dem Hinweis «Verletzung der Anonymität» ausschliessen – auch wenn gar keine Verletzung vorliegt. Solche Irrtümer sind Rechtsverletzungen, gegen die sich die Betroffenen wehren können und auch sollen.
Irren ist menschlich? Was ist an einer Geschichte über fragwürdige oder irrtümliche Ausschlüsse interessant? Was ist interessant an einem Einzelfall? Es ist halt passiert, «irren ist menschlich»? Nein, Fatalismus ist nicht angesagt – eher die Frage: Was kann getan werden, um die Anonymität zu wahren? Wie Teilnehmende die Verletzung der Anonymität vermeiden können und welche Möglichkeiten die Veranstaltenden zur Wiederherstellung einmal verletzter Anonymität haben,
hat Klaus Fischli, vormals Sekretär der Kommission SIA 142, in «Der Strichcode der Post» (TEC21 14/2004) und in «Stolperstein Anonymität» (TEC21 47/2005) beschrieben.
Hilfe in Krisensituationen Die Kommission SIA 142/143 für Wettbewerbe und Studienaufträge ist die Hüterin des WettbewerbsKnow-hows – sie vergisst nicht so leicht wie wir Individuen. Statt inkompetent zu handeln und damit Schaden anzurichten, könnten Veranstaltende von Wettbewerben, die unverhofft mit einem «Anonymi tätsproblem» konfrontiert sind, unverzüglich die SIA-Kommission für Wettbewerbe konsultieren. Die Veranstaltenden kennen die Kommis sion, weil sie ihr bereits die Wett bewerbsprogramme unterbreitet haben. Sie könnten die Kommission auch bei der Bewältigung von Krisensituationen beiziehen. Die Ver letzung der Anonymität in einem Wettbewerb ist eine Krisensituation. Sowohl für die Veranstaltenden als auch für die Teilnehmenden – der Schaden sollte bei Verletzungen der Anonymität nicht grösser gemacht werden als nötig und kann durch geeignete Massnahmen begrenzt werden. Das Preisgericht hat im Fall, der Anlass zu diesem Artikel gibt, nicht rechtzeitig kundigen Rat eingeholt. Nun ist bereits viel Geschirr fahrlässig zerschlagen, der rechtswidrige bzw. unnötige Ausschluss mehrerer Wettbewerbsteilnehmenden ist Tatsache und kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Im konkreten Fall zeichnete ein elektronisches Formular, das im Wettbewerb eingereicht werden
musste, in der Fusszeile «automatisch», ohne Dazutun der Person, die das Blatt bearbeitete, den Pfad zum elektronischen Speicherplatz im jeweiligen Architekturbüro auf – eine Verletzung der Anonymität. 42 von 53 Wettbewerbsteilnehmern bemerkten diese Falle und löschten die Fusszeile. Damit vermieden sie, «erkannt» zu werden. Elf Teilnehmende löschten die Fusszeile nicht. Sie übersahen die Fussangel in den einzureichenden Unterlagen. Eine dieser Fusszeilen lässt keinen Rückschluss auf die Verfasser des Wettbewerbsbeitrags zu. Von den zehn Wettbewerbseingaben, deren Autorinnen und Autoren erkennbar waren, wurden nur fünf ausgeschlossen. Ob es die Vorprüfenden waren, die bei der Jury den Antrag auf Ausschluss nur für fünf oder für alle zehn Büros, die sich per Fusszeile erkennbar gemacht hatten, stellten und ob die Jury bei der Hälfte streng und bei der anderen Hälfte mild urteilte, wissen nur Insider. Das Gericht kommentierte diesen Vorgang im Urteil: «Hin zuweisen bleibt darauf, dass der Beschwerdegegner [d. h. der Wett bewerbsveranstalter, der Verf.] beim Ausschluss der Wettbewerbsteilnehmer nicht konsequent vorging, weshalb seiner Verfügung etwas Willkürliches anhaftet und diese den Anspruch der Beschwerde führerin [und aller Wettbewerbs teilnehmer, der Verf.] auf gleiche Behandlung ihres Beitrages (vgl. SIANorm 142, S. 4) verletzt.» Die beiden Ausgeschlossenen, die die besten Aussichten hatten, in einem juristischen Verfahren erfolgreich zu sein, gelangten ans Gericht. Sie hatten die Anonymität