M. Fastabend/T. Schäfers/M. Albert/B. Schücker/N. Doering · Fugenlose und fugenreduzierte Bauweise – Optimierung im Hochbau
Gleichgewichtsfeuchte für Bauteile unterschiedlicher Dicken erst nach einigen Jahren erreicht wird [10]. Durch das Austrocknen tritt über den Querschnitt ein Feuchtegefälle auf, das zu einem Eigenspannungszustand mit Zug an der Außenseite und Druck im Inneren des Bauteils führt. Hierdurch wird die effektive Zugfestigkeit des betrachteten Elements reduziert. Die Schwindverformungen werden unter Ansatz des Endschwindmaßes berechnet, das nach Wesche [10] zwischen 0,15 und 0,3 × 10–3 betragen kann (Bild 3). In DIN 1045-1 [5] Tabelle 14 wird das Endschwindmaß für Normalbeton und Innenbauteile bei relevanten Abmessungen von Hochbaudecken (dm zwischen 15 und 40 cm) ungünstig mit 0,6 × 10–3 angegeben. Die Schwindverkürzungen ergeben sich folglich zwischen 0,3 und 0,6 mm/m. Unter Abzug des Frühschwindens kann die Berechnung von Zwangbeanspruchungen für Innendecken ausreichend genau mit 0,4 mm/m erfolgen. Das heißt, Schwindvorgänge aus Austrocknungsprozessen sind für die Zwangbeanspruchungen und für die Beurteilung der Erfordernis von Bauwerksfugen eine relevante physikalische Erscheinung.
2.4 Zwang infolge Temperatur Durch meteorologische Einwirkungen – Außentemperatur, Sonneneinstrahlung – werden in ungeschützten Bauwerken Temperaturbeanspruchungen erzeugt, die Verformungen von Bauteilen und bei deren Behinderungen Zwangbeanspruchungen hervorrufen. Insbesondere die direkte Sonneneinstrahlung führt zu großen thermischen Beanspruchungen, wobei zwischen Temperaturgradient und Mitteltemperatur zu unterscheiden ist. Die Temperaturdifferenz zwischen Ober- und Unterseite der Konstruktion ist im Hochbau bedingt durch die zwangmildernden Rissbildungen aus Eigengewicht und Nutzlasten von untergeordneter Bedeutung [11]. Anders ist die Mitteltemperaturveränderung über den Tag einzuschätzen, die je nach Belag und Dämpfung im Sommerhalbjahr 10 bis 15 K ausmachen kann [11]. Jährlich sind, ausgehend von einer Erstellungstemperatur von ca. 15 °C, Temperaturabfälle bis zu 30 K und Anstiege bis zu 20 K zu erwarten. Bei Temperaturausdehnungskoeffizienten von 10 × 10–6 [1/K] sind aus diesen veränderlichen Mitteltemperaturen bei direkter Sonneneinstrahlung und ungedämmter Konstruktion Horizontalverformungen von 0,15 mm/m täglich und bis zu 0,3 mm/m jährlich anzunehmen. In DIN 1055-7 [12] werden für Hochbaukonstruktionen explizit keine Angaben über rechnerisch anzusetzende Mitteltemperaturen der Konstruktion gegeben. Aus Bild 2 in [12] sind für Konstruktionen des Brückenbaus mittlere Bauteiltemperaturen in Abhängigkeit von den Außenlufttemperaturen abzulesen, die einen Anhaltspunkt für Werte an unmittelbar der Sonne ausgesetzte Hochbaudecken liefern. Zur Verifizierung der für den Hochbau relevanten Mitteltemperaturen bei der Beurteilung von Zwangbeanspruchungen wurden in [11] Berechnungen unter Ansatz von Außenlufttemperaturen und Globalstrahlung vorgenommen. Die im Hochbau in mitteleuropäischen Breiten physikalisch möglichen Temperaturbeanspruchungen bei direkter Sonneneinstrahlung können der Tabelle 1 entnommen werden.
Tabelle 1. Temperaturbeanspruchungen bei direkter Sonneneinstrahlung nach [11] Table 1. Temperature load due to direct sun exposure according to [11] Mittlere Bauteiltemperatur Bauteil
max Tm
min Tm °C
Flachdecke mit 6 cm Asphalt Flachdecke mit 1 cm Kunstharzbeschichtung Plattenbalken mit 6 cm Asphalt
Tm, jährlich K
d = 12 cm
35
–15
50
d = 16 cm
34
–15
49
d = 20 cm
33
–15
48
d = 12 cm
36
–15
51
d = 16 cm
35
–15
50
d = 20 cm
34
–15
49
30
–15
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3 Horizontalbeanspruchungen aus Zwängungen 3.1 Allgemeines Die zu horizontalen Verschiebungen führenden physikalischen Phänomene – Abfließen der Hydrationswärme, Schwinden, Temperatur – erzeugen immer dann Kraftgrößen, wenn ihre zugeordneten Verformungen behindert werden. Bei Hochbauten führen die vielfältigen Festhaltungen aus vertikalen Erschließungs- und Aussteifungselementen stets zu horizontalen Verformungsbehinderungen und erzeugen Zwangschnittgrößen. Hierbei sind die periodisch auftretenden Temperaturbeanspruchungen nur auf thermisch instabile Gebäude – d. h. Gebäude mit wechselnden Bauteiltemperaturen, z. B. Parkhäuser – beschränkt. Für die große Zahl der thermisch stabilen Gebäude mit konstanten Bauteiltemperaturen und gut gedämmten Stahlbetonskelettbauten des Hochbaus treten nur geringe Temperaturverformungen auf –, um so stärker wirken sich die monoton verlaufenden wirksamen Schwindverkürzungen der Deckenscheiben aus. Wollte man für diese Konstruktionen Zwängungen vermeiden, so wäre die Anordnung von Aussteifungselementen nur in den Bewegungsruhepunkten notwendig. Die Funktionalität von größeren Stahlbetonbauten verlangt jedoch oftmals eine Vielzahl von Treppenhäusern und Aufzugschächten, deren Abfugung in der Regel mit erheblichen konstruktiven Problemen behaftet ist und bei größeren Verformungen oft nicht schadensfrei gelingt. Die Schwindverkürzungen führen in den Deckenplatten selbst zu Zugspannungen und beanspruchen die angeschlossenen Aussteifungselemente auf Biegung und Querkraft. Das geschilderte Tragverhalten wurde bereits durch Falkner deutlich beschrieben und in [1] und [2] beantwortet: Wenn durch vielfältige Festhaltungen nur Zwangverformungen mit geringen Dehnlängen auftreten können, so macht es keinen Sinn, diskrete Fugen anzuordnen, die größere Abstände als die Festhaltungen aufweisen würden. Eine weitere wesentliche Überlegung bezieht sich auf die durch Rissbildung reduzierte Steifigkeit der durch Zwängungen beanspruchten Konstruktionen, die zu einer Beschränkung des Betrags der Kraftgrößen führt (Bild 4).
Beton- und Stahlbetonbau 107 (2012), Heft 4
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