A. Meier · Der späte Zwang als unterschätzter – aber maßgebender – Lastfall für die Bemessung
– d1 = 60 mm (oben und unten); – angestrebte rechnerische Rissbreite wk = 0,15 mm. Eine Bemessung auf Temperaturunterschiede erfolgte nicht, da die Stahlbetongründungsplatte im 3. Untergeschoss lag. Dies ist aus Sicht der Tragwerksplanung, die auftragsgemäß zumeist lediglich den Endzustand des Bauwerks berechnen soll, richtig. Eine Berechnung, die beispielsweise einen Bauzustand berücksichtigt, müsste extra beauftragt und vergütet werden. Ein derartiger, oft in der Praxis auftretender Bauzustand ist z. B. der witterungsbedingte Einfluss einer Abkühlung vom Zeitraum Oktober bis April. Das oder die Untergeschosse wurden vor Beginn des Winters fertig gestellt, mit dem Bau der Obergeschosse wird aber erst nach dem Winter wieder richtig begonnen. Ohne Beheizung der Untergeschosse kühlen die dortigen Bauteile (auch bis in das unterste Geschoss) stark aus und wollen sich verkürzen. Es entsteht der Lastfall Zwang. In diesem Beispiel ergab sich bei einer „normalen“ Berechnung für den Lastfall früher Zwang nach [9] eine erforderliche Bewehrungsmenge von ca. as,o = as,u ≈ 10,1 cm²/m, welche durch Listenmatten mit Doppelstäben ∅ 8, t = 10 cm (entsprechend 10,0 cm²/m) abgedeckt wurde. Der Grundriss der Tiefgarage stellt sich aber in der Ortsbesichtigung als langgestrecktes Rechteck mit Abmessungen von ca. b/l = 30 m/150 m dar. Zur Abtragung der Vertikal- und Horizontallasten des sechsstöckigen Gesamtgebäudes sind Verdickungen für Einzel- und Streifenfundamente notwendig, die biegesteif und monolithisch an die 0,30 m dicke Gründungsplatte angeschlossen sind. Zusätzlich sind ca. in den Drittelspunkten der Längsachse Aufzugsunterfahrten angeordnet, deren Unterkanten ca. 1,3 m tiefer liegen als die Unterkante der Gründungsplatte. Dadurch entsteht der oben beschriebene Effekt der Verhakung des Bauwerkes mit dem Baugrund, also der Lastfall später Zwang. Die Berechnung für späten Zwang nach [9] ergibt in diesem Fall eine erforderliche Bewehrungsmenge von ca. as,o = as,u ≈ 14,3 cm²/m, also ca. 42 % mehr erforderliche Bewehrung. Da diese nicht eingelegt worden war, entstanden Trennrisse quer zur Bauteillängsachse mittig in den Feldern zwischen den Einzelfundamenten der aufgehenden Stützen (Bild 11). Als zweites Beispiel soll an dieser Stelle die oftmals praktizierte Deckelbauweise genannt werden. Dabei werden z. B. bei schlechten Baugrundverhältnissen zuerst Schlitzwände (und ggfs. im späteren Bauteilinneren Bohrpfähle) erstellt. Im Anschluss wird die spätere Decke über dem 1. Untergeschoss betoniert, die somit eine Kopfhalterung für die Schlitzwände bieten kann. Während nach Erreichen einer definierten Festigkeit nach oben weitergebaut wird, kann zugleich nach unten hin abgegraben werden. Nach dem Erreichen der geplanten Aushubtiefe unter der Stahlbetondecke über dem 1. Untergeschoss wird dann die Gründungsplatte im Bauteilinneren betoniert. Oft sind solche Bauten als wasserundurchlässige Bauwerke nach [1] bzw. [2] zu realisieren, sodass die Gründungsplatte z. B. mit Bewehrungsanschlüssen an die Schlitzwände angeschlossen wird. Die Stahlbetongründungsplatte ist dadurch an Bauteilen fixiert, die ihrerseits bereits Lasten aus dem aufgehenden Bauwerk abtragen und nicht mehr wirklich „verformungswillig“ sind. Sowohl der Lastfall früher Zwang aus abfließender Hydratationswärme als
Bild 11. Beispiel für eine durch späten Zwang gerissene Stahlbetongründungsplatte (Risse zur Verdeutlichung nachgezeichnet) Fig. 11. Example of anreinforced foundation slab cracked by late restraint (cracks marked for clarification)
auch der Lastfall später Zwang werden daher eine so hergestellte Gründungsplatte beanspruchen. Dadurch besteht zum einen die Gefahr von neuen Rissbildungen nach dem Abfließen der Hydratationswärme, also zu einem Zeitpunkt an dem eigentlich keine Rissbildung mehr erwartet wird. Zum anderen werden auch Risse, die bereits früh (während des Abfließens der Hydratationswärme) entstanden sind oder auch nur angelegt wurden, aufgeweitet werden. Hierbei werden Rissbreiten, die bislang unter dem Rechenwert der rechnerischen Rissbreite geblieben waren, eine messbare Rissbreite aufweisen, die über dem Rechenwert der rechnerischen Rissbreite liegt. Ein weiterer, oftmals in der gutachterlichen Tätigkeit auftretender Fall sei hier als drittes Beispiel angeführt, und zwar der klassische, statisch eigentlich nicht tragende Industriefußboden. Unabhängig von der Konstruktionsart und der Form der statischen Berechnung gelten für derartige Bauteile ganz allgemein vor allem die beiden folgenden Konstruktionsgrundsätze (vgl. [12]), die aus den bislang dargelegten Gründen auch auf den Lastfall späten Zwang abzielen. Zur Vermeidung von Rissen in eigentlich statisch nicht tragenden Bodenplatten sollten: – in der Regel Fugen ausgeführt und konsequente Trennungen der Bodenplatten von allen festen Einbauten (Stützen, Wände, Schächte, Fundamente) z. B. durch Raumfugen vorgenommen werden; – die Bodenplatten ausreichend „verschieblich“ auf dem Untergrund gelagert werden.
7 Zusatzaspekt Ein weiterer rissauslösender Aspekt, auf den in der Tragwerksplanung nicht eingegangen wird bzw. werden kann, ist die End(zug)festigkeit des Betons. Heute übliche Betone liegen mit ihren End(druck)festigkeiten oft deutlich über den nach DIN 1045:2008 geforderten Mindest(druck)festigkeiten. Größere Betondruckfestigkeiten haben aber auch größere Betonzugfestigkeiten zur Folge, was wiederum die entstehende Zugkraft in die Höhe treibt (vgl. Gleichung (127) in [10] bzw. Abschn. 5). Der Tragwerksplaner muss heute meistens die statische Berechnung sehr weit vor der eigentlichen Ausfüh-
Beton- und Stahlbetonbau 107 (2012), Heft 4
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