Beton- und Stahlbetonbau 4/2012

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A. Meier · Der späte Zwang als unterschätzter – aber maßgebender – Lastfall für die Bemessung

peraturunterschieden für das gesamte Bauteil sein oder auch die Folge eines nicht optimalen Bauablaufes und einer daraus resultierenden ungünstigen Betonierreihenfolge. Ebenfalls ursächlich können ungleichmäßig über den Bauteilquerschnitt verteilte Temperaturen, das Schwinden des Betons oder auch Setzungen wie z. B. eine Stützensenkung sein. Zwang gehört somit zur Gruppe der indirekten Einwirkungen. Diese entstehen (s. o.) durch den Bauteilen aufgezwungene Verformungen, die in diesen und/oder anderen Bauteilen Spannungen verursachen (Reaktionen), wenn diese Verformungen behindert werden. Man spricht in diesen Fällen von Zwang als Ursache und Zwangsspannungen als Folge. Zwangsbeanspruchungen werden im Detail weiterhin in verschiedene Formen unterschieden, zum einen in inneren und in äußeren Zwang und zum anderen in frühen und späten Zwang. Innerer Zwang entsteht aus der Verformungsbehinderung von im Bauteil wirkenden indirekten Einwirkungen (z. B. Dehnungen bzw. Stauchungen infolge Temperaturveränderungen oder infolge zeitabhängiger Veränderungen des Betons wie Schwinden und Kriechen). Äußerer Zwang entsteht aus der Verformungsbehinderung indirekter Einwirkungen, die von außen auf das Bauteil einwirken (z. B. unterschiedliche Bauwerkssetzungen). Zwang wird außerdem unterschieden in frühen und späten Zwang. Im Unterschied zu den Folgen direkter Einwirkungen hängt die Größe der verursachten Spannungen im Bauteil bei indirekten Zwangseinwirkungen von der Steifigkeit und Festigkeit der Bauteile zum Zeitpunkt der aufgezwungenen Verformungen ab. Mit anderen Worten: Bei gleich großer aufgebrachter Verformung entstehen im Bauteil umso höhere Zwangskräfte, je fester (steifer) das Material ist. Zwang in frühem Betonalter (früher Zwang) wird deshalb unterschieden, weil in der frühen Erhärtungsphase des Betons die Betonzugfestigkeit noch relativ gering ist. Die Zwangskräfte, die nötig sind, den Betonquerschnitt zum Reißen zu bringen, sind folglich auch relativ gering. In grafischen Darstellungen der Zugfestigkeitsentwicklung von Beton (Bild 1) ist zu erkennen, dass die Betonzugfestigkeit ca. drei bis fünf Tage nach dem Erhärten erst ca. 50 % bis 65 % ihres Endwertes erreicht hat. Dieser Zeitraum fällt zusammen mit einer in der Regel unvermeidlichen frühen Zwangsursache, dem Abfließen der Hydratationswärme. Die Erhärtung des Zements („Hydratation“) beginnt mit einer ausgeprägten exothermen chemischen Reaktion, d. h., es entsteht dabei Hydratationswärme. Diese Wärme führt zur Ausdehnung des frisch betonierten Bauteils. Abhängig von verschiedensten Faktoren wie z. B. der Zementart, der Bauteildicke, den Außentemperaturen ist die exotherme Reaktion innerhalb von ca. drei bis fünf Tagen abgeschlossen und das inzwischen erstarrte Betonbauteil kühlt wieder ab. Durch die Abkühlung will sich das Bauteil wieder verkürzen. Wird diese Verkürzung behindert (z. B. durch Festhaltungen an den Bauteilrändern) entstehen Zwangszugspannungen im Bauteilquerschnitt. Im Verlauf der Zeit erhärtet der Beton weiter und soll in der Vorstellung der meisten Tragwerksplaner 28 Tage nach dem Betonieren den geplanten Zielwert, d. h. 100 %

Bild 1. Qualitativer Verlauf der Entwicklung der Betonzugfestigkeit unter Laborbedingungen (Normwert 100 % nach 28 Tagen) (aus [4]) Fig. 1. Quanitativeprogress of the development of the tensile strength of concrete under laboratory conditions (standard value 100 % after 28 days, from [4])

seiner Betondruckfestigkeit und Betonzugfestigkeit erreicht haben. Es sei der Vollständigkeit halber hier ausdrücklich angemerkt, dass diese Annahme jedoch nach Norm nur für die eigens angefertigten und speziell gelagerten Prüfkörper zutreffend ist. Kein reales Bauwerk weist den Prüfkörpern vergleichbare Erhärtungsbedingungen auf. Wird Zwang im späten Betonalter (später Zwang) aufgebracht, sind zur Erzeugung von Rissen im Betonquerschnitt entsprechend größere Zwangskräfte erforderlich bzw. vorhanden. Ein möglicher später Zwang kann dadurch erzeugt werden, dass ein Bauteil gegenüber seiner ursprünglichen Temperatur beim Erhärten z. B. bei Außenluftzugang im Winter abgekühlt wird. Wird das dadurch induzierte Verkürzen z. B. durch Festhaltungen an den Bauteilrändern behindert, entstehen ebenfalls Zwangszugspannungen im Bauteilquerschnitt. In der Literatur existieren viele verschiedene, jedoch keine allgemein gültigen Definitionen bzw. Festlegungen für die verschiedenen Arten von Zwangsbeanspruchungen. Dies ändert sich auch mit der Einführung des EC2 im Jahre 2012 nicht, da hier wie in den letzten Normenänderungen der DIN 1045-1 auch nur sozusagen „Bekanntes“ (vgl. auch Erläuterungen oben) neu dargestellt wird. In der folgenden Tabelle 1 wird daher versucht, für häufig genannte Begriffe solche Definitionen zu geben. Lediglich für die – allerdings mittlerweile unüblichen – Bezeichnungen direkter und indirekter Zwang wurde in den Erläuterungen zur DIN 1045:1988 [5] in Heft 400 des Deutschen Ausschusses für Stahlbeton (DAfStb) [6] eine Definition gefunden, die ebenfalls in Tabelle 1 aufgenommen wurde. Neben der hier unter dem Begriff voller Zwang genannten Definition finden sich im Sprachgebrauch der Ingenieure noch zwei Erklärungsmöglichkeiten, die erwähnt werden sollen. Zum einen kann man vollen Zwang so sehen, dass damit der absolut schlimmste anzunehmende Fall betrachtet wird. Das bedeutet also Zwang, bei dem die entstandenen Kräfte maximal sind und die ein Bauteil be-

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