Berichte DOI: 10.1002/best.201108262
Wieland Ramm
Über die Anfänge des Eisenbetonbaus in Deutschland und die Pioniere der ersten Jahre 1 Einführung 1.1 Vorbemerkung
1.2 Zeitgenössisches technisches Umfeld
Die Anfangszeit der Eisenbetonbauweise in Deutschland ist ein außerordentlich faszinierender Abschnitt der Technikgeschichte, der rund zwei Jahrzehnte umfasst. Fünfzehn Jahre davon fallen noch in das auslaufende 19. Jahrhundert, und in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende wurde ein gewisser Abschluss dieser Anfangsphase erreicht. Getragen wurde diese Entwicklung von vier unternehmerischen Männern, die mit ihrem zähen Einsatz als Pioniere der Eisenbetonbauweise in Deutschland anzusehen sind. Sie kamen mehr oder weniger zufällig miteinander in Verbindung. Trotz ihrer sehr unterschiedlichen Charaktere wirkten sie im Hinblick auf die Einführung der damals in Deutschland neuartigen Bauweise tatkräftig und erfolgreich zusammen, wenn auch nicht immer ganz reibungslos.
Um die Schwierigkeiten zu verstehen, mit denen sich diese Männer auseinanderzusetzen hatten, ist es nützlich, sich den am Ende des 19. Jahrhunderts bereits recht fortschrittlichen Stand der Bautechnik bewusst zu machen. Das Eisen als innovativer Baustoff war seit rund hundert Jahren zu den klassischen Baustoffen Holz und Stein hinzugekommen, und der Eisenbau hatte bereits großartige Leistungen aufzuweisen. Beflügelt wurde diese Entwicklung durch die Eisenbahn: In nur zwanzig Jahren war von 1840–1860 ein beachtenswertes Streckennetz in Mitteleuropa entstanden, das in der Folgezeit weiter komplettiert und verdichtet wurde. Die Verwirklichung der Eisenbahnstrecken erforderte wegen der verhältnismäßig steifen Trassierungselemente und zur Querung von Flüssen und Tälern zahlreiche Brücken,
Bild 1. Alte Weichselbrücke in Dirschau (Tczew in Polen), heutiger Zustand. (Drei der ursprünglichen sechs Felder von 1857 sind nach der Sprengung am Beginn des Zweiten Weltkriegs im Originalzustand erhalten). (Aufnahme des Verfassers).
und da die Eisenbahnlasten im Vergleich zu denen des damaligen Straßenverkehrs mit Pferdefuhrwerken und Kutschen wesentlich höher waren, erwies sich der Eisenbau als prädestiniert – insbesondere für die notwendigen Großbrücken. Den Anfang machte die Alte Weichselbrücke von 1857 in Dirschau (heute Tczew in Polen), die mit ihren sechs Feldern von 130 m Spannweite die erste weitgespannte eiserne Balkenbrücke auf dem Kontinent war (Bild 1), [3]. In der unmittelbaren Folgezeit entstanden zahlreiche bedeutende Brücken, so z. B. über den Rhein, beginnend mit der 1859 vollendeten sogenannten Dombrücke in Köln an der Stelle der heutigen Hohenzollernbrücke (Bild 2). In diesem Zusammenhang ist ebenfalls an beeindruckende eiserne Hallenbauten, wie z. B. große Bahnhofshallen zu denken, und auch für den gewöhnlichen Hochbau von Wohn- und Geschäftshäusern waren durch den Einsatz von eisernen Stüt-
Bild 2. Dombrücke in Köln von 1859. Der Dom war zum Zeitpunkt der Aufnahme des Fotos noch nicht fertiggestellt. (Sammlung des Verfassers).
© 2012 Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Beton- und Stahlbetonbau 107 (2012), Heft 5
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