Beton- und Stahlbetonbau 5/2012

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W. Ramm · Über die Anfänge des Eisenbetonbaus in Deutschland und die Pioniere der ersten Jahre

cherlich allein nicht in der Lage gewesen, die Möglichkeiten, die in der neuen Bauweise schlummerten, in ganz Deutschland auszuschöpfen und zum Erfolg zu bringen. Aus dieser Sicht war es eine glückliche Fügung, als der junge Ingenieur Gustav Adolf Wayss (1851–1917) hinzukam (Bild 19). Er war im Gegensatz zu dem sesshaften Pfälzer Conrad Freytag ein agiler, nicht ortsgebundener Mensch mit schon fast sprunghaftem unternehmerischem Schwung. Und er war ein richtiger „Baumensch“, denn sein Vater war ein schwäbischer Bauunternehmer, und Wayss hatte an der Baugewerkschule und am Polytechnikum in Stuttgart eine Ausbildung zum Ingenieur durchlaufen. Die erste Berufszeit hatte er bei der württembergischen Staatsbahn zugebracht und war dort bereits mit Stampfbeton in Berührung gekommen. Danach wechselte er in die Schweiz, wo er am Bau des GotthardTunnels mitwirkte [13]. 1879 machte er sich in Frankfurt a. M. selbstständig und gründete mit einem Partner die kleine Baufirma Wayss & Diss, die hauptsächlich Bürgersteige aus Beton herstellte. Als Diss recht bald aus der Firma ausschied, führte sie Wayss allein weiter. Wayss besuchte 1885 eine Gewerbeausstellung in Antwerpen und sah dort Objekte aus bewehrtem Beton. Diese wurden von der Firma Picha et Frères ausgestellt, die in Belgien bereits Lizenznehmer von J. Monier war [13]. Wayss muss wohl sogleich – nur ein Jahr nach C. Freytag – einen Eindruck davon gewonnen haben, dass in dem neuen Verfahren, Beton mit einer Eisenbewehrung zu versehen, ein großes Entwicklungspotenzial steckte. Seinem Naturell entsprechend begann er sogleich mit vielfältigen Aktivitäten und wurde so zu einem zweiten Pionier der Eisenbetonbauweise in Deutschland. Möglicherweise durch seine Bekanntschaft mit Josseaux in Offenbach kam Wayss in Kontakt mit dem Unternehmen Freytag & Heidschuch in Neustadt a. d. H. Noch im gleichen Jahr 1885 traf man sich in einem Hotel in Ludwigshafen a. Rh. Hier traten Freytag und sein Partner Heidschuch ihr Vorkaufsrecht für Norddeutschland, das sie im Vorjahr mit Monier ausgehandelt hatten, kostenlos an Wayss ab. Diese Entscheidung er-

genden Rechte von Herrn J. Monier käuflich erworben hat“. Freytag & Heidschuch verkauften laut diesem Vertrag an Wayss ihr Patentrecht für das Königreich Bayern, d. h. die sieben rechtsrheinischen Kreise ausschließlich der Rheinpfalz. Schließlich heißt es: „Das von der Firma Freytag & Heidschuch im Oktober 1884 von J. Monier erworbene Patent Eigenthum für das Großherzogthum Baden, die Pfalz und 1 Theil von Hessen inclusive Worms, wird durch diesen Vertrag nicht alteriert“. Die Patentrechte für Schlesien und Posen trat Wayss wenig später an die Gebrüder Huber in Breslau ab.

4 Der Wechsel von Wayss nach Berlin und die Begegnung mit Matthias Koenen Bild 21. Matthias Koenen (1849–1924), [15].

scheint auf den ersten Blick als wenig geschäftstüchtig, aber sie erwies sich auch für das Neustadter Unternehmen als äußerst zukunftsträchtig, denn Wayss ging unmittelbar darauf mit großem Einsatz daran, das gemeinsame Ziel, die neue Bauweise in Deutschland einzuführen, voranzutreiben. Wayss muss alsbald eine direkte Verbindung mit Monier in Paris aufgenommen haben. Es gelang ihm anscheinend, die Rechte an Moniers Patent für ganz Deutschland zu erwerben, wodurch natürlich auch die Vereinbarungen zwischen Freytag & Heidschuch und Monier betroffen waren. Dies machte einen Vertrag zwischen Wayss und der Neustadter Firma notwendig, der am 20. Dezember 1886 in Leipzig abgeschlossen wurde und der bis heute erhalten ist (Bild 20), [12]. Hierin wird Wayss als „Patentinhaber des Systems Monier“ bezeichnet. Als solcher überlässt er Freytag & Heidschuch „das Patenteigenthum von dem Königreiche Würt(t)emberg und dem Rheinlande Elsaß, Letzteres begrenzt durch die Vogesen, kostenlos“. Weiter heißt es: „Die seinerzeitige contrac(t)liche Vereinbarung zwischen J. Monier in Paris und Freytag & Heidschuch über (die) gemeinschaftliche Ausnützung dieser Bezirke ist hiermit aufgehoben, indem Herr G. A. Wayss die hier zu übertra-

Noch im Jahr 1885 hatte Wayss seine Firma in Frankfurt a. M. aufgegeben und war nach Berlin in die Hauptstadt des Reiches gegangen, weil er sich dort die größten Chancen für den Einsatz der neuen Bauweise erhoffte, und damit begann eine spannende Phase von intensiven Aktivitäten und teilweise auch verwirrenden Entwicklungen. Wayss gründete in Berlin sogleich eine eigene Firma „G. A. Wayss & Co.“. Seine Hauptaufgabe bestand zunächst darin, Aufträge zu akquirieren. Bei diesen Bemühungen suchte Wayss auch die Baustelle des Wallot’schen Reichstagsgebäudes auf und traf dort noch Ende 1885 mit Matthias Koenen (1849–1924) zusammen, der als Bauleiter für den Rohbau tätig war (Bild 21). Diesem schlug Wayss vor, Wände aus bewehrtem Beton nach dem System Monier auszuführen. M. Koenen entstammte wie Wayss aus einer mit dem Bauen verbundenen Familie. Im Vergleich zu dem unternehmerischen und manchmal sprunghaften Geschäftsmann Wayss war Koenen ein Ingenieur mit besonderen fachlichen, wissenschaftlich fundierten Kenntnissen und entsprechenden Interessen. Nach seinem Studium hatte er schon ein Ingenieurbüro für schwierige Bauaufgaben geführt und war schon durch etliche Veröffentlichungen und als geschätzter Dozent hervorgetreten. Nach dem zweiten Staatsexamen war er jetzt als Regierungsbaumeister im

Beton- und Stahlbetonbau 107 (2012), Heft 5

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