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C Bemessung
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Aussteifungsscheiben aus unbewehrtem Mauerwerk – Analyse und Bewertung von Berechnungsmodellen und Bemessungsmethoden Thomas Kranzler, Bonn
1 Einleitung 1.1 Motivation Die Bemessung von Aussteifungsscheiben aus unbewehrtem Mauerwerk spielt bei der Realisierung von Bauprojekten eine maßgebliche Rolle. Der Bedarf der Analyse zur Tragfähigkeitsberechnung von Aussteifungsscheiben aus unbewehrtem Mauerwerk zeigt sich darin, dass Gebäude mit der allgemein üblichen Vorgehensweise nach „reiner Lehre“ rechnerisch oftmals nur schwer nachzuweisen sind, obwohl sie sich in der Praxis bewährt haben. Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis konnte anschaulich im Rahmen des europäischen Forschungsprojektes ESECMaSE (Enhanced Safety and Efficent Construction of Masonry Structures in Europe) [1] aufgezeigt werden: Zunächst wurde die Tragfähigkeit des in Bild 1 dargestellten Gebäudes anhand eines „Großversuches“ ermittelt [2, 3]. Anschließend wurden die zugehörigen rechnerisch nachzuweisenden Erdbebenlasten nach DIN 4149 [4] sowie die rechnerischen Tragfähigkeiten auf Basis der in Deutschland üblichen Vorgehensweise mit den Berechnungsmodellen nach DIN 1053‑1 [5] ermittelt und den Versuchsergebnissen gegenübergestellt [6, 7].
Bild 2 zeigt, dass die rechnerisch nachzuweisende Gesamterdbebenkraft bei Annahme der ungünstigsten Kombination aus Erdbebenzone (3), Baugrundklasse (C) und Untergrundklasse (R) mit 183 kN deutlich unter der im Großversuch ermittelten Horizontalkraft von 250 kN liegt. Sie liegt sogar noch unter der Last, bei der im Großversuch erste erkennbare Risse im Gebäude aufgetreten waren (190 kN). Die Ermittlung der rechnerischen Tragfähigkeit erfolgte an der rechnerisch maßgebenden Einzelwand. Die Aufteilung der Gesamtlasten auf die Einzelwände erfolgte horizontal in Abhängigkeit deren linearen Biegesteifigkeiten und vertikal aus den zugehörigen Lasteinzugs flächen. Rechnerisch untersucht wurden neben dem „üblichen“ Kragarmsystem (A) auch das System mit der Annahme einer geschossweisen Lastzentrierung (B) sowie die Annahme „Volleinspannung der Wände in den Geschossdecken“ (C). Bild 2 zeigt deutlich, dass eine Berechnung mit dem in der Praxis üblichen Ansatz eines linearen Kragarmmodells (A: 69 kN) die real vorhandenen Tragfähigkeiten von Mauerwerksbauten nicht annähernd abbilden kann. Auch unter Annahme der Modelle (B: 104 kN) und (C: 166 kN) liegen die rechnerischen Tragfähigkeiten noch deutlich auf der sicheren Seite. Dabei ist zu
Bild 1. Grund- und Aufriss des Prüfkörpers (Reihenhaushälfte) [7]
Mauerwerk-Kalender 2016: Baustoffe, Sanierung, Eurocode-Praxis. Herausgegeben von Wolfram Jäger. © 2016 Ernst & Sohn GmbH & Co. KG. Published 2016 by Ernst & Sohn GmbH & Co. KG.