Statische Beurteilung historischer Tragwerke / Band 2: Holzkonstruktionen - Holzer, Stefan

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W:/p_3/vc/257vc/9783433030585/c3/c3.3d vom 27.2.2015 APP Unicode9.1;

Bearbeiter:

Ha.

2144611 Holzer insgesamt 40 Seiten Seitenformat: 170,00 x 240,00 mm

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3 Untersuchung historischer Holztragwerke

Bei einem Tragwerk, das schon viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte existiert, kann man davon ausgehen, dass die bemessungsrelevanten zufälligen Belastungen „nahezu sicher“ bereits mindestens einmal eingetreten sind. Die Aussage „nahezu sicher“ kann, wie hier gleich gezeigt werden soll, unschwer durch eine rechnerische Bestimmung der entsprechenden Wahrscheinlichkeiten quantifiziert werden (Bild 3.1). 1 Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Ereignis, das im Mittel alle Jahre eintritt, p während einer Wartezeit von n Jahren tatsächlich mindestens einmal stattfindet (also, statistisch gesprochen, „nicht (k = 0)-mal“), kann statistisch mit Hilfe der Binomialverteilung Bðn; pÞ bestimmt werden (Eintrittswahrscheinlichkeit 1 Fðk ¼ 0ÞBðn; pÞ Þ. Zum Beispiel findet man mit Hilfe der Binomialverteilung (Bild 3.1), dass ein Ereignis, das im Mittel alle 20 Jahre eintritt (p ¼ 0,05), nach einer Wartezeit von n ¼ 100 Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,4 % mindestens einmal eingetreten sein wird. Nach n ¼ 200 Jahren beträgt die Wahrscheinlichkeit schon 99,99 %. Selbst ein Ereignis, das man im Mittel nur alle 100 Jahre erwartet, tritt innerhalb von 200 Jahren Wartezeit schon mit einer Wahrscheinlichkeit von 86,6 % mindestens einmal ein, innerhalb von 300 Jahren mit 95,1 % Wahrscheinlichkeit. Bei den meisten historischen Holzkonstruktionen beträgt die Standzeit bereits mindestens 200 Jahre. Der Ansatz eines „Sicherheitsfaktors“ entsprechend einer 95%-Fraktile der Lasten kann daher bei solchen Bauwerken entfallen, da man mit weitaus höherer Wahrscheinlichkeit annehmen kann, dass die Bauwerke bereits einem experimentellen Test mit dieser Laststufe unterzogen worden sind und man dessen Folgen somit vor Ort besichtigen kann. Auch bei der Ermittlung des Tragwerkswiderstands treten an die Stelle der Auswertung statistischer Verteilungen bei der Untersuchung eines historischen Holztragwerks deterministische Aussagen, da eine optische Begutachtung Aufschluss über Schäden gibt. Am Bauwerk kann geprüft und mit Sicherheit ermittelt werden, ob das betrachtete Bauteil oder der betrachtete Anschluss an der bemessungsrelevanten Stelle tatsächlich eine Überlastung erlitten hat oder nicht, da eine solche Überlastung bleibende Verformungen hinterlässt. Bild 3.2 zeigt als Beispiel den Anschluss einer druckbeanspruchten Strebe mit einem Stirnversatz. An der Versatzstirn sind unter Überlastung ausgeknickte Fasern und ein beginnender Riss in der Scherfuge zu sehen und an der Abbundmarke ist das Maß der gesamten bleibenden Relativverformung des Anschlusses ablesbar, das hier mehrere Millimeter beträgt, also auf jeden Fall mehr, als man aus Sicht des modernen Holzbaus als zulässige Relativverschiebung betrachten würde (nach [Möhler 1986, S. 214] beim Versatzanschluss zulässig 1,5 mm). Die Verbindung hat aus moderner Sicht also versagt. Der Anschluss ist jedoch trotzdem nicht unwirksam, sondern besitzt noch eine erhebliche Resttragfähigkeit. Selbst für die Situation, dass alle gleichartigen Anschlüsse des untersuchten Tragwerks komplett ausfallen, gibt es außerdem möglicherweise noch einen alternativen Lastabtragmechanismus, bei dem die überbelasteten Streben überhaupt nicht benötigt werden. Diese Gesichtspunkte müssen bei der Standsicherheitsbeurteilung einfließen. Die Beurteilung kann nicht lokal und punktuell allein an dem geschädigten Anschluss erfolgen, sondern benötigt einen historischen und statischen


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