R. May: Schalenkrieg. Ein Bauingenieur-Drama in neun Akten
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Schalenkuppel im Glaswerk Schott & Gen., Jena, während der Bauphase, 1924 Dome of the Glaswerk Schott & Gen., Jena, under construction, 1924
mathematischen Berechnungen als sehr versiert erwies“ [6], konnte zeitgleich auch das ähnlich gelagerte Problem der Ränder von Tonnenschalen hinlänglich geklärt werden. Kurzerhand änderte man daraufhin die Planung des bereits im Bau befindlichen Gebäudes 23 im Jenaer ZeissSüdwerk und versah dieses nun mit einem ersten Tonnenschalendach [9]. Nach gut einem Jahr endete die von BAUERSFELD rückblickend als „exzellentes Beispiel für team work“ charakterisierte Zusammenarbeit, in der ihn insbesondere DISCHINGERS „Fähigkeiten, sein Wissen und sein liebenswürdiger Charakter“ beeindruckt hatten [6]. Während sich BAUERSFELD und GECKELER wieder ihren eigentlichen Aufgaben bei Zeiss zuwendeten, wechselte F INSTERWALDER nach Biebrich in eine eigens unter DISCHINGERS Leitung bei Dywidag eingerichtete Schalenabteilung. Neben der Planung von Kuppeln für Planetarien widmeten sich die beiden Ingenieure in der Folge insbesondere der Entwicklung praxistauglicher Tonnenschalen. Im Anschluss an Versuche mit Papp- und Blechmodellen wurden im Sommer 1925 auf dem Biebricher Fabrikhof der Dywidag mehrere Eisenbeton-Versuchstonnen erbaut. Sie bestätigten die Vermutung, dass das Eigengewicht der Randglieder nur unwesentliche Biegemomente verursachte (Bild 5). Ermutigt von diesem Ergebnis, errichtete man im folgenden Jahr mit der Dywidag-Halle auf der Düsseldorfer „Gesolei“-Ausstellung das erste öffentliche Bauwerk mit einem Dach aus Tonnenschalen [11]. Da DISCHINGER unterdessen zur Einsicht gelangt war, dass herkömmliche Holzschalungen und Eiseneinlagen ausreichten [9], wurde das kostspielige Zeiss-Netzwerk bei den sechs 11,5 m weit gespannten und bis zu 23 m langen Schalen erstmalig nicht mehr einbetoniert. Es diente nun lediglich noch der Formgebung und konnte so anschließend wiederverwendet werden. Aufgrund der Erfahrungen beim Bau der Schottkuppel, wo sich das Netzwerk während des Aufbaus zwischenzeitlich stark verformt 702
Beton- und Stahlbetonbau 107 (2012), Heft 10
Bild 5
DISCHINGER und FINSTERWALDER während eines Belastungstests ihrer ersten Versuchstonnenschale in Biebrich, 1925 DISCHINGER and FINSTERWALDER sitting together on their first cylindrical test shell, 1925
hatte, wurde diese Hilfskonstruktion nun aber gedoppelt, wodurch sie eine deutlich größere Steifigkeit erhielt.
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Konfrontation
Die erfolgreiche Ausführung der Dywidag-Halle war neben der ökonomischen Konkurrenzfähigkeit mit Eisenkonstruktionen der entscheidende Faktor dafür, dass sich die Stadt Frankfurt am Main noch Ende desselben Jahres zur Ausführung ihrer neuen Großmarkthalle in Schalenbauweise entschied. Dywidag musste hierbei allerdings nicht nur die gemeinsame Ausführung mit der konkurrierenden Massivbaufirma Wayss & Freytag hinnehmen, die vorsichtigen Bauherren verlangten darüber hinaus noch die Errichtung einer Probetonne im Maßstab 1:3 vor Baubeginn. Nachdem diese die nötigen Belastungstests zur Zufriedenheit der Gutachter HEINRICH SPANGENBERG und ADOLF KLEINLOGEL bestanden hatte, konnte 1927 mit dem Bau begonnen werden. Die vom Frankfurter Hochbaudezernenten MARTIN ELSAESSER kongenial architektonisch bearbeitete Großmarkthalle verfügte über 15 jeweils nur 7 cm starke Quertonnen mit 14,10 m Spannweite und 36,90 m Trägerlänge. Diese überdachten mittels schräggestellter Pfeiler eine stützenfreie Grundfläche von insgesamt 50 × 220 m2 (Bild 6). Als seinerzeit größte Hallenkonstruktion in Stahlbeton machte die Großmarkthalle die Zeiss-Dywidag-Schalenbauweise auf einen Schlag weltbekannt und verhalf so dem bis dahin hochgradig defizitären Bausystem zum Durchbruch. Unbemerkt von der Öffentlichkeit wurde jedoch die Querschnittsform der Tonnenschalen zum Anlass eines heftigen Streits zwischen DISCHINGER und F INSTERWALDER. Um Biegemomente längs der Schalenränder zu vermeiden, war ursprünglich abermals eine Überhöhung gegen-