Preview #9 Disobedient Futures

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eigene Körperlichkeit plötzlich als problematisch erfahren. Die pandemischen Krise betrifft den eigenen Körper und verdeutlicht dessen Verbundenheit mit den Körpern jenseits nationalstaatlicher Grenzen und deren Marktlogiken. Unter globaler Betroffenheit verstehe ich so die (körperliche) Betroffenheit des Einzelnen in seinem Alltag, die sich durch die Logik globaler Verbundenheit als eine Betroffenheit aller erweist. Das Ausmaß globaler Verbundenheit haben wir noch nie so sehr am eigenen Leib erfahren wie heute.

Die Abschottung der Nationalstaaten in Krisen Die Reaktion staatlicher Abschottung aufgrund der Herausforderungen globaler Vernetzung ist keinesfalls ein neues Phänomen. Der Krise folgt der Abschottungsreflex. Das zeigte sich sowohl in der Corona-Krise als auch in anderen Krisen. Auch in der sogenannten „Flüchtlingskrise 2015“ erlebten wir die ständige Überforderung der Nationalstaaten und ihre damit einhergehende Abschottung. So klingt ein „Wir schaffen das!“ heute noch viel zynischer als noch vor fünf Jahren. Anstatt dass sich Nationalstaaten in Europa und darüber hinaus verbündeten, um ein Sterben im Mittelmeer zu beenden, wurde Europa zu einer Festung gemacht. Menschen ließ man vor den Grenzen europäischer Kapitalakkumulation ertrinken, Retter*innen wie Carola Rackete wurden verurteilt. Im Zuge der Corona-Krise hat sich die Lage für Geflüchtete insbesondere in den Lagern durch die zunehmende Abschottung der Nationalstaaten zugespitzt. Infektionsschutzmaßnahmen wie Abstand halten und Händewaschen sind in Moria kaum möglich und aufgrund der Grenzschließungen wurden ohnehin zähe Asylverfahren erschwert. In Ländern wie Österreich hat das Innenministerium die Zulassung zu Asylverfahren während der Krise sogar vollständig eingestellt. Ob dies verfassungsrechtlich möglich ist, war kaum Diskussionsgegenstand. Derzeit befinden sich mehr als 40.0000 geflüchtete Menschen unter unmenschlichen Bedingungen in Lagern auf den griechischen Inseln. Im April dieses Jahres beschloss die Europäische Union 1.600 Minderjährige nach Europa zu holen. Man wolle die Kinder „nicht auf Müllbergen“ (Asselborn 2020) zurücklassen. Zwei Monate später ist dieser Versuch an den Nationalstaaten gescheitert. Wer ist das schützenswerte Volk der Pandemie? Kinder in griechischen Lagern sind es anscheinend nicht.

Auch in der Klimakrise stehen staatliche Entscheidungen und die Tatsache globaler Betroffenheit im Widerspruch. Die globale Betroffenheit geht hier in gewisser Weise noch weiter, denn die Klimakrise betrifft nicht nur die Menschen, die jetzt leben, sondern auch die, die noch geboren werden. Spätestens ab den 70er Jahren war klar, dass der Klimawandel eine Gefahr für Mensch und Natur überall auf der Welt bedeutet. Ohne Zweifel gab es hier Kommunikation über Staatsgrenzen hinweg und ein Bewusstsein globaler Betroffenheit wuchs sowie das Bewusstsein, dass es internationale Zusammenarbeit braucht, um handlungsfähig zu sein. Der Druck auf Regierungen erhöhte sich und seit den 90er Jahren wurden eine Vielzahl internationaler Klimaschutzabkommen, Ziele und Versprechungen formuliert, die eine starken Willen für die Bewältigung der Klimakrise bekundeten. Es gab große Zusammenkünfte, wie den Erdgipfel von Rio de Janeiro, das Kyoto-Protokoll und zuletzt das Pariser Abkommen, in dem sich 195 Staaten auf eine Begrenzung der Erderwärmung von 1,5 Grad einigten. Es wäre wohl nicht richtig zu sagen, dass nichts passiert ist. Das würde auch dem Engagement von Klimaaktivist*innen unrecht tun, die heute und Jahrzehnte zuvor die notwendige, aber äußerst undankbare Arbeit verrichtet hatten, Druck auszuüben. Gleichzeitig macht sich heute verständlicherweise ein große Frustration gerade unter den Aktivist*innen, wie denen von Fridays for Future oder Extinction Rebellion, breit, die bereit sind, klimapolitische Verantwortung zu übernehmen und dies auch von anderen einfordern. Es ist nicht genug passiert. Es passiert noch immer nicht genug. Nicht selten sind es staatliche Akteure, die die Einhaltung von Klimazielen behindern (vgl. Boran et al. 2019, 3). US-Präsident Trumps Rückzug aus dem Pariser Abkommen ist beispielgebend. Obwohl die Notwendigkeit zu raschen klimapolitischen Maßnahmen in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren breit (zumindest breiter als noch vor einem Jahrzehnt) diskutiert wurde und deren Dringlichkeit nur von den ignorantesten Politiker*innen vollständig geleugnet wird, verfehlen die meisten Nationalstaaten doch regelmäßig ihre (meist auch nicht unbedingt ehrgeizig gesteckten) Klimaziele. Heute erinnern uns Kinder und Jugendliche daran, Verantwortung in Hinblick auf eine zunehmende Zerstörung des Planeten zu übernehmen. Und noch immer wird die Bekämpfung der Klimakrise aufgrund der Grenzen nationa-


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