#1 Unruhe bewahren

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engagée | politisch-philosophische Einmischungen

UNRUHE BEWAHREN.

politisch-philosophische Einmischungen

Unruhe bewahren

# 1 | 2015

1 | 2015 | 8 € | www. engagée.org

engagée

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é



Festen Tritts brechen wir ständig ein.


Inhalt.

engagiert spielen. 4

Prolog.

8

Loslassen. Streik.

furchtlos widerstehen.

Vom engagierten Spiel zum furchtlosen Widerstand

30

protestmelody

Dramatisierte Fassung von Franz Kafkas „In der Strafkolonie“ und dem Fluchthilfeprozess

40

Tableau vivant.

16

Look at your privileges

42

Plötzlich Philosoph_in?

18

Von Kamelen, Löwen und Kindern

45

Manifesto

47

Rloveution.

50

ICH-STREIK

10

22

engagée ist ein Kind ihrer Zeit!

Skizze einer Philosophie der Befreiung.

Sätze über übersetzte Gerechtigkeit

Share!

Wie kann der Schritt von der Empörung zur Rebellion vollzogen werden; von der Revolution, die in einem selbst stattfindet zur radikalen Umwälzung der Verhältnisse?

Unruheschwingsystem

Meine etwas absonderliche, ja kafkaeske Verwandlung hält an.

26

Plädoyer für einen lustvollen Widerstand. Vom medialen Protestbild zur artifiziellen Beweisführung. Unruhige Körper.

Plötzlich Künstler_in? philosophy unbound

Eine andere Welt ist möglich. Prekarität. Arbeit und Alltag.


sensibel aufspüren. 54

Engagement als ewiger Irrtum?

Aufhören, loslassen, sich kümmern um das Sein an und für sich, das einzig nötig ist, wenn es auch sinnlos bleibt. Für Immer.

staunend denken. 72

Nackt im Museum

75

Die doppelte Vertrauenskrise.

Ist partizipative Kunst noch politisch?

Ökonomische und soziale Probleme des Euro.

Ich hab angefangen, deinen und meinen Körper auseinanderzuschneiden.

80

Markt und Moral.

61

Zerreißprobe

67

Warum wir uns nicht empören

55

Ein Blick zurück in mich hinein

Im Kreislauf verschwinden.

Über die Notwendigkeit einer Politik des Unmöglichen

81

Colin Crouch im Gespräch mit Peter Engel mann [Rezension]

Wirtschaft denken ohne Geländer

In Zeiten der multiplen Krise muss neu vermessen werden, was an Anpassung erlaubt und an Widerstand geboten ist.

85

Philosophie und die Idee des Kommunismus.

Alain Badiou im Gespräch mit Peter Engelmann [Rezension]

89

call for action: Ekstase

91

Autor_innen & Künstler_innen

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prolog.

engagée engagée ist ein Filter für politisch-philosophische Einmischungen. Mit kritischen Reflexionen über gesellschaftliche Zusammenhänge fordert engagée zu mutigen Einmischungen heraus. Ziel ist es, Bedeutungen zu verschieben und kritische Öffentlichkeiten zu erzeugen, um neue Denkweisen möglich zu machen. engagée ist theorieaffin und praxisvernarrt und niemals verlegen, unterschiedliche Standpunkte zu verhandeln. engagée ist „work in progress“. Alle Einmischungen sind natürlich unfertig, weil sie sich in vielen unserer Gespräche und Handlungen fortsetzen; auf der Suche nach neuen Perspektiven einer zukünftigen Gesellschaft.


é-Ton … macht Unerhörtes hörbar. Politisch-philosophischen Einmischungen wird eine Stimme verliehen und ihre Texte zum Schwingen gebracht und das Gedruckte hör-sinnlich erfahrbar. Schallwellen stoßen immer etwas an. Lebendig, sinnlich, nahbar – é-Ton bringt die Originaltexte durch Vorleser_innen zu Wort. Alle mit dem oben stehenden Symbol gekennzeichneten Texte wurden vertont und können auf www.engagée.org angehört werden.

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engagiert spielen.


é NG AG

IER TSPI ELEN

Loslassen. Streik. Skizze einer Philosophie der Befreiung. Murat Ates

Sätze über übersetzte Gerechtigkeit Jakob Frühmann, Cristina Yurena

Look at your privileges Von Kamelen, Löwen und Kindern Markus E. Hodec, Rahel Sophia Süß

Unruheschwingsystem Marcus Hawel

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engagiert spielen.

Sätze über übersetzte Gerechtigkeit Dramatisierte Fassung des Fluchthilfeprozesses. Die Zitate basieren zu einem Gutteil auf persönlichen Erinnerungen und Gerichtsprotokollen von Blogeinträgen. Im Gerichtssaal Wr. Neustadt findet kurz vor Mitternacht nach stundenlangem Warten die Schuldsprechung statt. Anwesend sind die Richterin, Staatsanwältin, Verteidigung, die Angeklagten, Polizei, Medien und zusehende Personen. Dramatisierte Fassung von Franz Kafkas „In der Strafkolonie“. Um den Exekutionsapparat stehen bei sengender Hitze der Offizier, der Reisende, der Soldat und der Angeklagte. Der Offizier ist bemüht, seiner Begeisterung angesichts der ausgefeilten Maschine Ausdruck zu verleihen; der Reisende versucht zu verstehen.

Die Richterin tritt ein, es kommt zur Urteilsverkündung. Nur wenige stehen auf. Der Reisende sieht flüchtig auf den Angeklagten hin; dieser hält den Kopf Die Richterin: Vernehmen Sie das Urteil, im Namen der Republik. Der


gesenkt und spannt alle Kraft seines Gehörs an, um etwas zu erfahren. Die Bewegungen Erst-, der Zweit-, der Dritt-, der Fünft-, der Sechst-, der Siebt- sowie der Achtangeklagte sind schuldig. seiner wulstig aneinandergedrückten Lippen zeigen, dass er Die Verteidigung wirft ein: Aber Euer Ehren, die Angeklagten verstehen Eure Urteilsverkündigung nicht. nichts verstehen kann. Der Reisende will mehrmals eine Frage formulieren. Sie sprechen eine andere Sprache. Der Reisende: Kennt er sein Urteil? Die Richterin ignoriert den Einwurf und fährt fort: Sie haben in Traiskirchen und Der Offizier: Nein. Er will in seinen Erklärungen fortfahren, wird aber vom Reisenden unterbrochen. Wien die rechtswidrige Ein- und Durchreise in und durch Mitgliedsstaaten der EU, Der Reisende: Er kennt sein eigenes Urteil nicht? insbesondere von Ungarn, nach insbesondere Deutschland und Italien gefördert, um sich und Dritte zu bereichern. Der Offizier: Nein. Die Angeklagten sehen sie mit erwartungsvollen Blicken an; einige von ihnen lächeln von Zuversicht gequält. Er stockt einen Augenblick, als verlange er eine nähere Begründung vom Die Richterin: Dabei ist die Anzahl der Personen in den meisten Reisenden, antwortet dann aber: Es wäre nutzlos, Fällen nicht mehr feststellbar, zumindest aber in zwei Fällen und das Zielland es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib. nicht selten ein unbekanntes Land der Europäischen Union. Der Reisende wollte schon verstummen, als er vom fragenden Blick des Verurteilten getroffen wird.

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Beim Wort „Europäische Union“ heben die Angeklagten ihre Köpfe und blicken abwechselnd zur Der Reisende: Aber dass er überhaupt verurteilt wurde, das weiß er doch? Richterin und zur Verteidigung, die zwar zu Einwürfen anheben will, Der Offizier: Auch nicht. Er lächelt den Reisenden an, als erwarte doch aufgrund der unbeirrten Rede der Richterin davon abgehalten wird. Anerkennendes Nicken der Staatsanwältin. von ihm noch einige sonderbare Eröffnungen. Die Richterin: Die Erst-, Fünft- und Siebtangeklagten haben die Tat gewerbsmäßig, Der Reisende streicht sich über die Stirn: Nein? Dann weiß also der Mann auch die Erst-, Zweit-, Dritt-, Fünft-, Sechst- und Siebtangeklagten diese hinsichtlich einer jetzt noch nicht, wie seine Verteidigung aufgenommen wurde? größeren Anzahl von Personen und die Erst-, Zweit-, Dritt-, Fünft-, Sechst- und Siebtangeklagten Der Offizier spricht ins Abseits, als rede er zu sich selbst und wolle die Tat als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung begangen… den Reisenden durch Erzählung dieser ihm selbstverständlichen Dinge nicht beschämen: Die Verteidigung unterbricht: … eine kriminelle Vereinigung, die an ihrem Geschäft verliert, Euer Ehren. Er hat keine Gelegenheit gehabt, sich zu verteidigen. Die Richterin scheint die Verteidigung nicht gehört zu haben und fährt fort: Der Reisende: Er muss doch Gelegenheit …beim Achtangeklagten liegt nur der Grundtatbestand, ohne weitere Qualifikationen vor. gehabt haben, sich zu verteidigen. Dem Zweitangeklagten wird zusätzlich zu §114 FPG noch die Sachbeschädigung einer Krawatte vorgeworfen. Der Reisende steht von seinem Sessel auf. Eine dem Prozess beiwohnende Zuseherin von den Rängen ruft: Übersetzen Sie doch! Die Richterin fährt unbeeindruckt weiter, daraufhin erhebt sich die


Reisende. Der Offizier scheint angesichts des Aufstandes der Reisenden etwas irritiert zu sein, kratzt sich am Hinterkopf und murmelt in seine Krawatte: Es ist immer bedenklich, in fremde Verhältnisse entscheidend einzugreifen. Sie sind weder Bürgerin der Strafkolonie, noch Bürger des Staates, dem sie angehört. Auch wenn Ihnen die Ungerechtigkeit des Verfahrens und die Unmenschlichkeit der Exekution zweifellos erscheint, sind sie doch eine Fremde und haben still zu sein. Die Zuseherin schüttelt ungläubig den Kopf und zeigt auf den Exekutionsapparat: Sie betreiben ein unlauteres Verfahren. Die Angeklagten können nicht schuldig gesprochen werden, sie haben sich bereits entschuldigt. Jeder einzeln. Der Offizier fasst sich, geht im Gerichtsaal ein paar Mal auf und ab, hält inne und sagt: Der Grundsatz nach dem ich entscheide, ist: Die Schuld ist immer zweifellos. Sie wollen diesen Fall erklärt haben? Es ist ein ganz einfacher Fall. Die Richterin, weiterhin unberührt von den Zwischenfällen: Die Angeklagten werden schuldig gesprochen, Menschen begleitet, verpflegt, beherbergt und ihnen Übernachtungsmöglichkeiten verschafft zu haben. Es kommt zu Tumulten; Menschen verlassen den Gerichtssaal, Türen knallen, von außerhalb des Gerichtssaals drängen Rufe nach innen. Der Zweit-, Viert-, Fünft-, Sechst-, Siebt-, und Achtangeklagte bleiben still. Der Erst- und Drittangeklagte protestieren lautstark: Wir akzeptieren dieses Urteil nicht. Daraufhin werden die Angeklagten vom Offizier auf den Exekutionsapparat gezerrt und mit den Riemen befestigt. Die Nadeln der Maschine beginnen auf ihre Rücken das Urteil zu schreiben. Daraufhin starren die zusehenden Personen sprachlos auf den Apparat. Die Richterin fühlt sich das erste Mal in ihrer Rolle bedrängt und sieht sich in Erklärungsnot. Etwas zögernd sucht sie Kontakt zu den anwesenden Personen und deutet auf die Maschine. Die Richterin (stammelnd): Ihr alle wisst, hier geschieht Gerechtigkeit. | Jakob Frühmann, Cristina Yurena

gesprochen von Claudia Kottal

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Schlepperprozess

§ 114 FPG*

Im August 2013 wurden acht Personen auf Grundlage des sogenannten „Schlepperei“Paragraphen (§114 FPG) in Wien festgenommen. Nach einer monatelangen U-Haft begann im März 2014 das Verfahren. Im Dezember des gleichen Jahres wurde dieses mit einem Schuldspruch für sieben der Angeklagten beendet. Der Prozess wird von vielen Seiten als Repression und Delegitimation der RefugeeProteste gesehen, da einige der Angeklagten an diesen beteiligt waren.

(1) Wer die rechtswidrige Einreise oder Durchreise eines Fremden in oder durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder Nachbarstaat Österreichs mit dem Vorsatz fördert, sich oder einen Dritten durch ein dafür geleistetes Entgelt unrechtmäßig zu bereichern, ist vom Gericht mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu bestrafen.

www.solidarityagainstrepression.noblogs.org

* Fremdenpolizeigesetz


EU-Grenzpolitik

Watch the Med - Notruf

Unser Meer hat sich gewandelt. Bis Oktober 2014 nahm die italienische Regierung auf eigene Initiative im Rahmen der Operation Mare Nostrum das Mittelmeer und die darüber flüchtenden Menschen als in ihrem Verantwortungsbereich liegend wahr. Es ist unser Meer, in dem es gilt, Hilfe zu leisten, es ist unser Meer, das nicht zum Friedhof werden darf. Die EU stellte in Folge Fördergelder lediglich für das Nachfolgeprogramm Triton als Teil der EU-Grenzagentur Frontex zu Verfügung. Der Fokus von Seenotrettung verschob sich auf die Sicherung der Außengrenzen vor illegaler Einwanderung. Die Festung Europa beansprucht das Meer für sich. Aus unserem Meer, für das Verantwortung getragen wurde, wurde unser Meer, das uns gehört und in das wir bestimmte Menschen nicht lassen.

Seit dem 10. Oktober 2014 nimmt ein von Freiwilligen organisierter 24-Stunden-Telefondienst Notrufe von in Seenot geratenen Flüchtlingen entgegen und alarmiert die zuständige Küstenwache. www.watchthemed.net


LOOK

Check your privileges

AT YOUR


SHARE YOUR

white, male, class, able-bodied, heterosexual …

PRIVILEGES


engagiert spielen.

Von Kamelen, Löwen und Kindern In Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ werden eingangs drei Verwandlungen des Geistes thematisiert. Erstens jene zum Kamel, zur Unterwürfigkeit und Leidensfähigkeit; zweitens jene zum Löwen, zum Mächtigen und Bestimmenden; schließlich jene zum Kind, zur radikalen Neuerschaffung von Welt. Wie kann der Schritt von der Empörung zur Rebellion vollzogen werden; von der Revolution, die in einem selbst stattfindet zur radikalen Umwälzung der Verhältnisse? Die Frage „Was ist der Mensch?“ ist eine politische, weil jeder Mensch werden kann. Handeln ist nicht einfach selbst- oder fremdbestimmt. Diese Gegenüberstellung ist bereits problematisch und kann nur ideologisierend wirken. Gleichwohl bleibt der Handlungsbezug von Selbst- und Fremdbestimmung unterbelichtet – denn ebenso gut könnte formuliert werden: Selbst- und Fremdbestimmung sind handlungsbestimmend. Was aber folgt daraus? Anders als diese Formulierung vielleicht nahe legt, handelt es sich dabei nicht um einen Rückzug in die Beliebigkeit, sondern um ein Plädoyer, die gesellschaftliche Bedingtheit und die eigene Freiheit als das Ermöglichende zu denken. Bin ich alles, was ich mir vorstellen kann zu sein? Was ist, wenn die Möglichkeit besteht, das zu werden, was ich noch nicht bin? Wer über das Subjekt nachdenkt, befindet sich rasch mitten in der Diskussion über individuelle Handlungsfreiheit. Dabei ist der lateinische Begriff subiectum (das Daruntergeworfene) selbst hochgradig problematisch, da er suggeriert, dass wir immer und zuallererst Unterworfene sind. Wie können wir aber handeln, wenn jede Anstrengung, etwas zu sein und zu werden, den herr-


schenden Verhältnissen unterworfen ist? Und welchen Sinn hätte es dann noch, unter dieser Voraussetzung auf eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse hin zu drängen? Die tiefe Notwendigkeit liegt im Handeln selbst. Handeln selbst ist der Sinn. Denn der Mensch ist nichts. Will er sein, muss er handeln. Es gibt keinen Sinn außerhalb der Gesellschaft. Der Sinn beginnt dort, wo die Präsenz nicht rein statische Präsenz ist, sondern sich bewegt, verzweigt und auf ein Anderes trifft. Es gibt also keinen Sinn, wenn dieser nicht geteilt wird. Die menschliche Praxis zueinander macht das Sein aus. Da diese Praxis nur intersubjektiv sein kann, lässt sich schließen: das Handeln bestimmt das Sein. Dieser Aphorismus ist allerdings wertlos, wenn er ähnlich einem Psalm seine Selbstgenügsamkeit aus dessen ewigem Herunterleiern zieht, denn Handeln verpflichtet stets zu fragen: Wie erfahre ich mich als Subjekt durch meine Handlungen? Wie sind meine Erfahrungen, mein Denken und meine Gefühle durch gesellschaftliche Verhältnisse strukturiert? Wie verlaufen deren Vermittlungsprozesse? Handlungen sind gesellschaftlich bestimmt: Wir schaffen gesellschaftliche Verhältnisse, lassen sie zu und handeln in ihnen. So bringt jede Gesellschaft ihre eigene Gefühlskultur hervor – und damit spezifische Denk- und Handlungsweisen. Ebenso bedingen unsere Handlungsweisen (und damit auch Denkweisen) eine spezifische Gesellschaft mit ihrer Gefühlskultur. Die Gegenwart ist gekennzeichnet durch das Gefühl intensiv leben zu müssen. Die dazugehörige Strategie lautet Selbstoptimierung. Der Blick richtet sich mikroskopisch auf die kontinuierliche Arbeit am Selbst und dessen Repräsentation, während makroskopische Panik vor

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engagiert spielen.

dem Scheitern lauert. Wir finden keine Ruhe, tauchen ab ins Digitale und arbeiten bis zur Erschöpfung – vor allem an uns selbst. Kein Ausdruck von Neugierde in unseren kontrollierten Gesichtern. Einzig der Gedanke an die Geldvermehrung hält uns in einem langen Fieber. Am Ende bleibt nur die Flucht in die kollektive Einsamkeit. Vereinzelt, narzisstisch und abgekämpft tragen wir vielleicht noch einen letzten Rest verdrängter Sehnsucht in uns – nach alltäglicher Subversion. Aber diese vermeintliche Revolution hat einen fahlen Geschmack – sie will keine sein. Die Unbestimmtheit wird uns zur Qual und die Überzeugung sitzt zu tief, dass der Status quo nicht veränderbar ist. Herrschaft und Knechtschaft (so althergebracht diese Begriffe scheinen, so viel lassen sie bereits von den Formen ihrer Hierarchisierungen erahnen) stellen eben keine Leiter dar, die von ebener Erde in den ersten Stock reicht; vielmehr bezeichnen sie ein Netz vielfältiger Machtbeziehungen. Wenn wir Gesellschaft als jene Summe von Beziehungen begreifen, in denen Individuen zueinander stehen, dann können wir sagen, dass Konsument_in sein und Besitzbürger_in sein Ausdruck von Individuen in ganz bestimmten Beziehungen ist. In einer Gesellschaft, die wesentlich auf Verwertungslogik basiert, heißt In-beziehung-sein dann auch, auf ein Mittel reduziert zu sein, um den Zweck zu erfüllen, der selbst nichts anderes mehr ist als ein Selbstzweck. Die Handlung der Konsumption, die Handlung des Besitzens wird zum Zweck. Handeln ist also gesellschaftlich zu denken; und Gesellschaft lässt sich bestenfalls als ein Akt-Ensemble fassen. Damit wäre das Handeln der gesellschaftliche Akt, und vice versa. Jede Handlung, im intersubjektiven Sinne, weist gesellschaftliche Momente auf; und in jeder Gesellschaft werden diese Handlungen getätigt – egal wie unsolidarisch, revolutionär oder lethargisch-konservativ diese (Handlungen bzw. Gesellschaften) sein mögen. Aber die bloße Existenz der gesellschaftlichen Handlungsbedingungen – der Begrenzungen, Möglichkeiten oder Freiheiten – reicht noch nicht aus, es kommt darauf an, die gegebenen Grenzen zu erkennen und mit der Möglichkeit ihrer Überschreitung zu experimentieren, sich ihrer bedienen zu wollen. Handlungsfreiheit heißt dann, sich zum Wollen zu entschließen; zu insistieren, zu widerstehen, zu widersprechen und zu intervenieren. Denn frei sein heißt nicht, tun und lassen was man will, sondern wollen was man kann. Erst mit dem Bewusstsein, dass wir die jeweils unsrige Gesellschaft aus unseren Handlungen erschließen müssen und dass sich unsere Handlungen (zumindest deren Motivation) von unserer Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit her bestimmen, können wir versuchen neue Wege der Politik, neue Wege der Partizipation und des Miteinanders zu finden. Ein Schelm, wer denkt eine Kultur der Partizipation, welche Neues fordert, könne aus dem Alten paradoxiefrei abgeleitet werden. Übrig bleibt die Frage, ob wir Kinder werden und eine radikale Neuerschaffung der Welt wagen wollen – dies kann keine Frage menschlichen Vermögens sein, haben wir es doch vollbracht gar Götter zu schaffen. | Markus E. Hodec, Rahel Sophia Süß


Worte zum Trocknen aufhängen.

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engagiert spielen.

Unruheschwingsystem Eines Morgens wachte ich gegen meine Gewohnheiten sehr früh auf und fand mich in einem stahlharten Gehäuse wieder. Ich entdeckte an meinem Körper lauter Federn. An den Enden meiner Arme und Beine, wo sonst Hände und Füße waren, befanden sich Unruhreife, so dass ich bei dem geringsten Schubs zu schwingen anfing und für längere Zeit nicht mehr zur Ruhe kam. Jemand hatte an meiner Aufzugskrone gedreht und die Federn gespannt. Die fortdauernde Unruhe machte mich beschwingt, und ich zählte unentwegt bramarbasierend vor mich hin und her immer wieder von eins bis sechzig. Ich spürte aber auch deutlich die Hemmung, die mich in wechselnden, exakt gleichmäßigen Abständen antrieb und blockierte. Derart geräuschvoll wollte ich mich eigentlich nicht unter Menschen begeben. Aber ich konnte gar nicht anders. Es tickte und taktete. Mit jedem Schritt machte ich das Geräusch der Pflicht und zählte aufschneidend immer wieder von eins bis sechzig. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, woher plötzlich diese gebändigte Energie kam. Später ließ ich mir von einem Fachmann den Sachverhalt erklären. In der Fachsprache wird das verantwortliche Bauteil, welches die Energie regelt, Hemmung genannt, weil es verhindert, dass ein Aufzugsgewicht einfach zu Boden rasselt oder sich eine Aufzugsfeder abrupt entspannt. Ein Unruhschwingsystem wird gehemmt, damit es sich nicht entspannt, sondern in permanenter Unruh gleichmäßig schwingt. Es gibt ganz unterschiedliche Hemmungen, habe ich mir sagen lassen. Eine weitverbreitete ist die sogenannte ruhende Hemmung; sie ist von der Arbeit befreit, das Räderwerk zurückdrehen zu müssen oder einen einheitlichen Takt zu schaffen. Das Schwingsystem ist in einem solchen Fall allerdings nicht arbeitslos. Auch ist es dem Schwingsystem nicht freigestellt, einer kreativen, schöpferischen und selbstbestimmten Tätigkeit nachzugehen, gleichsam »frei« zu schwingen. Es muss vielmehr die Ruhereibung, die durch den Kontakt des Gangreglers mit dem Räderwerk entsteht, überwinden. Mit anderen Worten, das Schwingsystem ruht, um sich zu regenerieren. Unruheschwingsysteme mit ruhenden Hemmungen sollen die besten Gangergebnisse zeigen. Diese ergeben sich insofern, als der Hemmradzahn weit genug auf Ruhe fällt, jedenfalls nicht zu viel und nicht zu wenig. Äußerliche Faktoren, wie etwa Aufstellbedingungen, sind maßgeblich entscheidend. Ist das Schwingsystem häufig irgendwelchen Erschütterungen ausgesetzt, bedarf es mehr Ruhe an der Hemmung, damit das Unruheschwingsystem sicher und präzise tickt. Erschütterungen sind jedoch nicht gleichzusetzen mit äußerlichen notwendigen Antrieben. Es gibt auch sogenannte rückführende Hemmungen, die das Schwingsystem in einen Ergänzungsbogen treiben, in dem das Räderwerk gegen seinen Willen zurückgedreht wird. Schwingsysteme sind von Natur aus faul. Ohne äußeren Impuls – etwa einen Schubs – machen sie nichts. Und ein Recht auf Faulheit wird ihnen nicht zugestanden. Ein Unruheschwingsystem muss unentwegt und vor allem präzise und verlässlich im Takt ticken. So verhielt es sich bei mir seit diesem Morgen. Meine etwas absonderliche, ja kafkaeske Verwandlung hält an. | Marcus Hawel

gesprochen von Veronika Glatzner


Unruheschwingsystem Eines Morgens wachte ich gegen meine Gewohnheiten sehr fr üh auf und fand mich in einem stahlharten Gehäuse wieder. Ich entdeckte an meinem Körper lauter Federn. An den Enden meiner Arme und Beine, wo sonst Hände und Füße waren, befanden sich Unruhreife, so dass ich bei dem geringsten Schubs zu schwingen anfi ng und fü r längere Zeit nicht mehr zur Ruhe kam. Jemand hatte an meiner Aufzugskrone gedreht und die Federn gespannt. Die fortdauernde Unruhe machte mich beschwingt, und ich zählte unentwegt bramarbasierend vor mich hin und her immer wieder von eins bis sechzig. Ich spürte aber auch deutlich die Hemmung, die mich in wechselnden, exakt gleichmäßigen Abständen antrieb und blockierte. Derart geräuschvoll wollte ich mich eigentlich nicht unter Menschen begeben. Aber ich konnte gar nicht anders. Es tickte und taktete. Mit jedem Schritt machte ich das Geräusch der Pfl icht und zählte aufschneidend immer wieder von eins bis sechzig. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, woher plötzlich diese gebändigte Energie kam. Später ließ ich mir von einem Fachmann den Sachverhalt erklären. In der Fachsprache wird das verantwortliche Bauteil, welches die Energie regelt, Hemmung genannt, weil es verhindert, dass ein Aufzugsgewicht einfach zu Boden rasselt oder sich eine Aufzugsfeder abrupt entspannt. Ein Unruhschwingsystem wird gehemmt, damit es sich nicht entspannt, sondern in permanenter Unruh gleichmäßig schwingt. Es gibt ganz unterschiedliche Hemmungen, habe ich mir sagen lassen. Eine weitverbreitete ist die sogenannte ruhende Hemmung; sie ist von der Arbeit befr eit, das Räderwerk zurückdrehen zu müssen oder einen einheitlichen Takt zu schaff en. Das Schwingsystem ist in einem solchen Fall allerdings nicht arbeitslos. Auch ist es dem Schwingsystem nicht fr eigestellt, einer kreativen, schöpferischen und selbstbestimmten Tätigkeit nachzugehen, gleichsam »fr ei« zu schwingen. Es muss vielmehr die Ruhereibung, die durch den Kontakt des Gangreglers mit dem Räderwerk entsteht, überwinden. Mit anderen Worten, das Schwingsystem ruht, um sich zu regenerieren. Unruheschwingsysteme mit ruhenden Hemmungen sollen die besten Gangergebnisse zeigen. Diese ergeben sich insofern, als der Hemmradz ahn weit genug auf Ruhe fällt, jedenfalls nicht zu viel und nicht zu wenig. Äußerliche Faktoren, wie etwa Aufstellbedingungen, sind maßgeblich entscheidend. Ist das Schwingsystem häufi g irgendwelchen Erschütterungen ausgesetzt, bedarf es mehr Ruhe an der Hemmung, damit das Unruheschwingsystem sicher und präzise tickt. Erschütterungen sind jedoch nicht gleichzusetzen mit äußerlichen notwendigen Antrieben. Es gibt auch sogenannte rückfü hrende Hemmungen, die das Schwingsystem in einen Ergänzungsbogen treiben, in dem das Räderwerk gegen seinen Willen zurückgedreht wird. Schwingsysteme sind von Natur aus faul. Ohne äußeren Impuls – etwa einen Schubs – machen sie nichts. Und ein Recht auf Faulheit wird ihnen nicht zugestanden. Ein Unruheschwingsystem muss unentwegt und vor allem präzise und verlässlich im Takt ticken. So verhielt es sich bei mir seit diesem Morgen. Meine etwas absonderliche, ja kafkaeske Verwandlung hält an. Marcus Hawel |

gesprochen von Veronika Glatzner

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furchtlos widerstehen.


los

Furcht.

widerstehen Vom engagierten

Spiel zum furchtlosen Widerstand. Cristina Yurena

protestmelody Verena Titze

Tableau vivant.

.

Unruhige Körper Carola Fuchs

Rloveution. Eine andere Welt ist möglich.

Daniel Buschmann

ICH STREIK Plötzlich Künstler_in? Plötzlich Philosoph_in? Lilly Valerie Kroth

Manifesto

philosophy unbound

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furchtlos widerstehen.

Vom engagierten Spielen zum furchtlosen Widerstand Plädoyer für einen lustvollen Widerstand

If I can’t dance, it’s not my revolution! Emma Goldman

Es gibt, so Foucault (1983: 96), „nicht den einen Ort der Großen Weigerung - die Seele der Revolte, den Brennpunkt der Rebellionen, das reine Gesetz des Revolutionärs. Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände.“ Und es gibt lustvollen Widerstand; kreative Formen von Protest – humorvoll, künstlerisch, chaotisch, spaßvoll und verwirrend. Im Folgenden werden zwei Beispiele aus vielen Formen des kreativen Straßenprotests vorgestellt.

im subversiven Spiel hinterfragt werden. Autorität wird abgelehnt, jedoch wird damit gespielt – Grenzen werden verschoben und aufgebrochen. Es wird eskaliert und deeskaliert, gelacht, gestaunt, verunsichert und verwirrt. Die Rebel Clowns bewegen sich in ihren Aktionen „zwischen Kunst, Selbsterfahrung, politischem Aktivismus und zivilem Ungehorsam“ (Amman 2011:214). www.kreativerstrassenprotest.twoday.net

Rebel Clowns

Theater der Unterdrückten

Widerstand soll Spaß machen, soll ein Fest sein, ein „Tanz der Freiheit“ (Amann 2011:9). Die Clandestine Insurgent Rebel Clown Army beteiligt sich seit 2003 bei unterschiedlichsten globalisierungskritischen Protestbewegungen weltweit. Sie besetzten Musterungsbüros in England, nahmen an den G8 Protesten in Heiligendamm teil, marschierten bei den Blockupy Protesten auf, und wollten beim Wiener Korporationsball in der Hofburg das Tanzbein schwingen. Politische Clownerie ist eine Aneignung von herrschenden Strukturen, die

„Das Theater der Unterdrückten gibt uns das Recht, unsere Meinung zu sagen und, indem es die Kraft der Kunst für sich nutzt, die Möglichkeit, Lösungen für unsere Probleme zu finden. Durch das Theater entdecken wir, dass wir fähiger sind als wir dachten und dass wir in der Lage sind, uns von unseren Unterdrückungen zu befreien.“ Augusto Boal, Kolkata 2006


Das Theater der Unterdrückten (TdU) ist eine weltweite, friedliche, ästhetische Bewegung, die sich mit kreativen und lustvollen Mitteln für eine andere Welt einsetzt. Das Theater der, von und für Unterdrückte(n) wird als kollektiver und partizipatorischer Prozess verstanden, der auf Ungerechtigkeiten hinweist und die „Unterdrücken“ dazu ermächtigen soll, sich aus ihrer Situation zu befreien. Theater wird als kollektive Handlung, als Raum für Auseinandersetzung und Dialog, als Ort des Lernens verstanden: Das Theater als Probe für die Revolution, jedoch nicht die Revolution selbst. Aus der Reflexion der Theaterarbeit soll die Kraft und der Mut geschöpft werden, das Gelernte in größere Zusammenhänge zu stellen und weiterzugehen: Aus dem Theaterraum raus in die reale Welt – dort soll Widerstand gegen Unterdrückung geleistet werden. Die Zuschauer_innen werden bei der Methode des Forumtheaters aus ihrer passiven Rolle zu Protagonist_innen gemacht, zu handelnden Subjekten, die das Geschehen beeinflussen können. Indem sie „Stopp“ schreien, wird das Stück angehalten und sie treten auf die Bühne um ihren Lösungsvorschlag anzubieten. Der Platz der Bühne wird bis zum letzten Zuschauenden ausgeweitet, die Grenze von Spiel und Wirklichkeit wird aufgehoben. Der Mensch wird somit zum Akteur seiner eigenen

Geschichte. Dabei soll niemals für eine andere Person mit anderen Unterdrückungserfahrungen (aufgrund des Geschlechts, der Herkunft, des Aussehens etc.) gesprochen werden. Die Ermächtigung aus der persönlich erfahrenen Unterdrückung ist das Ziel – so kann zum Beispiel eine weiße Frau nicht in die Rolle einer schwarzen Frau steigen, da sie Rassismus nie persönlich erfahren hat. Ausgangspunkt für die Stücke sind immer die eigenen Erfahrungen als Unterdrückte_r und Unterdrücker_in. Die Erkenntnis, in diesem Machtgefälle Teil beider Positionen zu sein, ist dabei wesentlich. So bin ich nie nur Unterdrückte_r, sondern in einem anderen Kontext auch Unterdrücker_in. | Cristina Yurena

Nächste Revolutionsproben? www.tdu-wien.at Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. Amman, Marc (Hrsg.) (2011): go.stop.act! Die Kunst des kreativen Straßenprotests. Geschichten – Aktionen – Ideen. Trotzdem Verlagsgenossenschaft, Frankfurt a.M.

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Patrick Borchers: protestmelody, Wien 1 - Zeichnung - Grafit-Buntstift auf Zeichenpapier - 70 Ă— 100cm - 2011


furchtlos widerstehen.

protestmelody Vom medialen Protestbild zur artifiziellen Beweisführung über die Installation protestmelody von Patrick Borchers

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Seit drei Jahren verfolgt Patrick Borchers die Medienreflexion internationaler Protestbewegungen, indem er Bilder aus den Nachrichten sammelt und eigene Videoaufnahmen fertigt. Seine Motive sind Szenen und Bilder von Aufmärschen, Sitzblockaden, Kundgebungen und Demonstrationen, deren Proteste politisch, sozial, ökologisch oder karitativ sein können, sich friedlich oder gewalttätig äußern und auf der Straße oder im Internet stattfinden. Borchers Werkserie protestmelody dokumentiert und bezeugt eine gegenwärtige Entwicklung und Ausführung gemeinschaftlicher Interessen. [...] In seinen Beobachtungen ist der Künstler zwei Gedanken auf der Spur: erstens der enormen Reflexion der Medien und deren Verbleib im Gedächtnis sowie zweitens einem möglichen universellen Prinzip von Massenbewegungen. Systematisch hinterfragt Borchers die Motive, Farben, Symbole, und das Verhalten der Menschen wie das Erklimmen von Straßenlaternen oder das Abführen von Demonstranten. Seine Methode lehnt sich dabei an der dem Thema eigenen Zurschaustellung an – dem Vorführen, denn die lateinische Bezeichnung „demonstrare“ bedeutet hinweisen, zeigen. Protestmelody übernimmt keine politische Haltung und schließt Polemik aus, dennoch ist der Künstler offensiv, wenn er mit Dekonstruktionen faktische Bildräume vor Augen führt. Medienbilder eignet er sich en detail an. Unkonventionell nutzt er Pressefotos, verfremdet die Zeichen der Atomkraftgegner und befreit Flaggen und Wimpel von ihrer Definition, deren Farben je nach politischer, religiöser und sozialer Ausrichtung variable Konnotationen besitzen können.

| Verena Titze


Patrick Borchers: protestmelody, Megafondemonstrant - Zeichnung - Grafit-Buntstift auf Zeichenpapier - 35 Ă— 50cm - 2011


Patrick Borchers: protestmelody, Ukraine 1 - Zeichnung - Grafit-Buntstift auf Zeichenpapier - 70 × 100cm – 2011


Patrick Borchers: protestmelody, Ukraine 2 – Zeichnung - Grafit-Buntstift auf Zeichenpapier - 70 × 100cm – 2011


Patrick Borchers: protestmelody, Ukraine 3 - Zeichnung - Grafit-Buntstift auf Zeichenpapier - 70 × 100cm – 2013


Patrick Borchers: protestmelody, LĂźbeck - Zeichnung - Grafit-Buntstift auf Zeichenpapier - 35 Ă— 50cm - 2011



Patrick Borchers: protestmelody, Wien 1 - Zeichnung - Grafit-Buntstift auf Zeichenpapier - 70 Ă— 100cm - 2011


Patrick Borchers: protestmelody, Libyen 2 - Zeichnung - Grafit-Buntstift auf Zeichenpapier - 70 Ă— 100cm - 2011


Patrick Borchers: protestmelody, Libyen 1 - Zeichnung - Grafit-Buntstift auf Zeichenpapier - 70 Ă— 100cm - 2011


Tableau vivant Unruhige Körper

furchtlos widerstehen.

Körper performen laut Judith Butler ständig. Wir affirmieren also laufend ein bestimmtes Bild, eine Identität. Die Eigenwahrnehmung und die Fremdwahrnehmung spielen hierbei eine essentielle Rolle. Es geht nicht nur um die Konstruktion von Identität, sondern auch um die Projektion diverser Dinge oder Ideen auf uns selbst und auf andere, die wiederum unsere Perzeption beeinflussen. „Performativity is thus not a singular act, for it is always a reiteration of norms or set of norms, and to the extent that it acquires an act-like status in the present, it conceals or dissimulates the conventions of which it is a repetition.” (Butler 1993: 12). Wir sind also Produzent_ innen und Konsument_innen einer Realität, die aus Normen besteht, die wir übernehmen. Dabei wollen wir auch ein bestimmtes Bild von uns manifestieren und dieses konstruieren wir mittels virtueller Plattformen und im Rahmen bestimmter Diskurse. Dies alles kommt einer mise en abyme gleich, dem Bild im Bild, der Geschichte in der Geschichte. Performen wir also unsere Identität? Wird Identität zu einer Performance? Laut Judith Butler ist das Performative, die diskursive Praxis, die das produziert, was genannt wird. Durch das ständige Zitieren der Konventionen und Ideologien der Welt um uns herum bestätigen wir diese Realität. Durch den performativen Sprechakt inkorporieren wir diese Realität durch unsere Körper. Trotzdem bleibt diese Realität eine soziale Konstruktion. Durch das Performen der Konventionen dieser Realität und durch das Verkörpern dieser Erzählungen werden diese Konventionen zur Realität und erscheinen als notwendig und natürlich. Laut Judith Butler existieren wir nicht einfach nur als Körper, aber in gewisser Weise „machen“ wir unsere Körper, sie unterscheiden sich schließlich auch von unseren Zeitgenossen durch ihre individuelle Form und unser körperliches Auftreten. So ist, laut Butler, auch unsere Subjektivität konstruiert. Und unsere Subjektivität ist schließlich die Quelle für alle unsere Aktionen. “Gender cannot be understood as a role which either expresses or disguises an interior ’self ’, whether that ’self ’ is conceived as sexed or not. As performance which is performative, gender is an ’act’, broadly construed, which constructs the social fiction of its own psychological interiority.“ (Butler 1998). Meine Performance stellt eine intermediale Auseinandersetzung mit den oben genannten Fragen dar. Dabei funktioniert eben jenes Medium, der Körper, als aktives Organ. In Bezug auf das Tableau vivant werden Bilder körperlich nachgestellt, die als historische und also

auch sozio-kulturelle Fragmente Geschichte abbilden und so auch damalige Identitätskonstruktionen wiedergeben. Dabei werden Bilder aus allen Jahrhunderten bis hin zur Gegenwart dargestellt, die zeigen, wie stark Bilder aktuelle Identitätskonstruktionen mit beeinflussen und beeinflusst haben. Der Körper ist zunächst ruhig, er dient als reine Projektionsfläche, Zuschreibungen von außen, im tatsächlichen Wortsinne, Projektionen von außen, schreiben ihm seine Bedeutung und also seine Identität zu. Projektionen von Bildern aus der Kunstgeschichte, die unsere Wahrnehmung prägen und prägten werden auf den Körper projiziert. Der Körper wird selbst zur Leinwand und also Abbildung seiner selbst und anderer Bilder, anderer Projektionen. Gleichzeitig geht es um eine Performance in der Performance, da das Performative selbst ja ebenso in Frage gestellt wird. Anschließend „erwacht“ der Körper zum Leben, indem er sich der Projektionsfläche entzieht und selbst inszeniert und in Bewegung setzt, so als wolle er diesen Konventionen Einhalt gebieten und sich ihnen widersetzen. Der Tanz, manifestierter Ausdruck, soll, indem er den Körper als Medium verwendet, Sprache sein, Form und Ausdruck. Es bedarf also eines sich bewegenden Körpers, um den Raum lebendig zu machen und das Narrativ zu brechen. Ein lebendiger Körper auch im Sinne eines widerstandsfähigen Körpers. Zusätzlich werden Textfragmente aus Judith Butlers „Bodies that matter“ und ihre Ideen zur Performativität zu hören sein. Diese entstammen dem theoretischen Hintergrund für das Stück. Während der Text immer langsamer und langsamer zu hören ist, werden die Bildprojektionen immer schneller und schneller, bis der Körper schließlich zusammenbricht, so als könne er den sozialen Konventionen und dem künstlichen Narrativ keinen Widerstand mehr leisten. | Carola Fuchs

Butler, Judith (1988): Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist: In: Theory, Theatre Journal, Vol. 40, No. 4, Dezember, 1988, 519 – 531. Judith Butler (1993): Bodies that matter. On the Discurive Limits of Sex. New York/ London: Routledge Chapman & Hall.


Performativität Judith Butlers (1956*) Erkenntnisinteresse gilt der systematischen Herausarbeitung der Mechanismen kultureller Destabilisierung von Subjektidentitäten. Ihre Analytik zielt darauf ab, die Bedingungen alltäglicher „Subversion“ von Subjektformen freizulegen und fixe Identitäten (insbesondere fixe Geschlechteridentitäten) aufzubrechen. Wie können Subjekte der Reproduktion des immer Gleichen entgegenstehen? Und inwiefern werden in Prozessen der Unterwerfung widerständige Subjekte hervorgebracht? Butler begreift Widerständigkeit als Möglichkeit der performativen Verschiebung symbolisch-normativer Kategorien. Mit ihrem Konzept der Performativität richtet sie den Blick mikroskopisch auf die performative kontinuierliche Selbstarbeit und Selbstpräsentation des Subjekts „at work“. é | Buchtipp: Athena Athanasiou und Judith Butler (2014): Die Macht der Enteigneten. Das Performative im Politischen. Diaphanes. Zürich.

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Plötzlich Künstler_in? Plötzlich Philosoph_in? Collage. Lilly Valerie Kroth



Manifesto

philosophy unbound 1. Philosophy unbound organizes a regular open stage for performative philosophy. 1.1 Why should open stages only be for Musicians? 1.2 The events will be held in two parts. 1.21 in the first part, we will have two to three selected acts, which are announced in advance. 1.211 We are very open to proposals of any kind - please send your ideas to philosophyunbound@inbox.com. 1.22 In the second part, we will open up the stage for spontaneous and un-announced performances, wild discussions, love-ins, riots or whatever. 1.3 This will slowly and if desired turn into a party, attempting a smooth transition of Nietzschean ‚dancing within thought‘ to literal dancing with our bodies. 2. Philosophy unbound provides a space for philosophy outside its domestic habitat of academia. 2.1 Where has the Agora gone? 3. If you ask yourself „is it philosophy what I do?“ we want to meet you. 3.11 We would like to make philosophy less elitist and more accessible to a wider public. 3.12 www.youtube.com/watch?v=-2gJamguN04. 4. We want philosophers to dance. 4.1 We have discussed Of Grammatology in Berghain. 4.2 We envy musicians. 4.21 The projects‘ main inspiration is the topography of so called ‚underground‘ or ‚alternative‘…


music scenes. To us, it seems, philosophy is currently situated in our society, like it would be if music were only performed in the opera or huge concert halls - governmentally controlled and funded institutions. Whereas - for a musician - it is comparatively easy to gain access to an audience, networks, performances and touring possibilities, for a ‚philosopher‘ it feels awkward to even call oneself like that without having at least a doctorate from some university. This is sad, restraining and impeding a lot of potential within young and more experimental philosophy. 5. We celebrate philosophy‘s ancient plurality of form and media. 5.1 Juicy philosophical ideas exceed scientific standards and the scope of the medium of paper. 6. In the future we hope philosophy unbound will be geographically unbound. 6.1 We plan to connect to several like-minded structures in various cities and various countries to develop an international network for unbound or ‚underground‘ philosophy - to enable touring, ex- and interchange. 6.2 We are also open for other, similar ideas within our agenda or to alliances with other like-minded projects - contact us here: philosophyunbound@inbox.com 7. Explosophy


Rloveution

Eine andere Welt ist möglich. Liebe Sophie, ich wollte dir schon lange wieder schreiben. Du kennst das, der Alltag ist wie immer viel zu voll für ausführliche Gedanken und Gespräche. Erst gestern bin ich wieder mit dem Fernbus in Wien angekommen – 26 Stunden Fahrt, da hat man viel Zeit nachzudenken. Ich habe während der Fahrt ein altes „ZEIT Geschichte“ Magazin über die Anfänge der 68er in Deutschland gelesen. Dabei musste ich wieder an die Diskussion denken, die wir schon öfter hatten: Was können wir tun?

engagée | 47


Der Blick der ZEIT auf die 68er war zwar eher nüchtern und distanziert, allerdings gut recherchiert, mit vielen verschiedenen Kommentaren, mit historischen ZEITungsartikeln, Interviews und vielen Hintergrundinformationen – von Berkeley bis zum Ende der Kommune 1. Es war ziemlich entmystifizierend das zu lesen, aber trotzdem spannend und gar nicht hoffnungslos – und ich werde dir auch sagen warum. 68 ist kein unerreichbarer Mythos. Wenn man sich anguckt wie 68 abgelaufen ist, erscheint das alles erstaunlich normal. Das Brisante war die politische und gesellschaftliche Lage. Es war einfach Pulver in der Luft – genau wie heute, woran man sich von vielen der Zeitdokumente erinnert fühlt. Es bedurfte jeweils nur einer Hand voll Leute, um kurzfristig eine extrem breite Bewegung hervorzurufen, die sich dann schnell aufspaltete und wieder verlief, nachdem die wenigen Hauptbeteiligten ihre Energien verbrannt hatten. Ein paar Monate, ein Jahr, länger hat es oft nicht gedauert – aber wir reden heute noch davon. Ich denke da beispielsweise an die Sache mit der Anti-Schah Demo vor der Deutschen Oper, bei der Benno Ohnesorg von einem Polizisten in Zivil erschossen wurde und die gewissermaßen der Auftakt der 68er in Deutschland war. Das alles ist unglaublich schnell passiert. Ulrike Meinhof liest einen Artikel über den Schah im Iran und dessen gewalttätige Herrschaft; in wenigen Wochen ist der Schah zum Staatsbesuch in der BRD geladen. Sie organisiert zusammen mit der Kommune 1 eine Veranstaltung an der FU Berlin, zu der Hunderte kommen. Ein Schriftsteller aus dem Iran spricht, der Iranische Botschafter versucht vergeblich zu beschwichtigen. Am nächsten Tag basteln die acht Bewohner_innen der Kommune 1 Papiermasken und rufen zur Demo gegen den Staatsbesuch des Schahs auf. Wenige Tage später stirbt auf dieser Demo Benno Ohnesorg und die ganze Republik fängt an aufzubegehren. Ich meine, wir reden hier von Tagen, in denen sich diese gravierenden Ereignisse entwickelt haben – nichts davon war geplant. Es gab eine Ausgangsstimmung, einen Anlass und dann fehlte nur noch ein winziger Funke. Und heute? Denk nur mal an die Nachrichten von gestern. Gründe für Widerstand gibt es doch mehr denn je. Also ja, ich glaube wir können und sollten was machen. Wenn wir ein Ziel vor Augen haben und Überzeugungen und beides verbreiten, gibt es die Chance, dass sich viele andere anschließen. Dass das nicht unrealistisch ist, zeigt

68. Jetzt wirst du vielleicht sagen: „Das ist mir auch klar, aber was können wir machen?“ Und auch dazu habe ich mir ein paar Gedanken gemacht. Die wesentliche Erkenntnis aus 68 für mich ist, dass die Hippiebewegung die Gesellschaft mehr verändert hat als die (teilweise gewaltsame) Student_innenbewegung, die radikalen neuen Parteien oder die intellektuellen Gruppen. Viele tradierte Konventionen sind durch die Hippiebewegung grundlegend verändert worden und mit ihnen Herrschaftsverhältnisse: zum Beispiel in der Ehe, im Sexleben, in der Kleidung oder im Verhalten im öffentlichen Raum generell. Die meisten dieser emanzipatorischen Errungenschaften sind heute so normal, dass sie uns gar nicht auffallen. Und gerade das ist ja der Clou einer erfolgreichen Revolution! Alle anderen Strömungen der „68er“ – die ihren Anfang ja weit in den 50ern hatten, mit Bewegungen gegen die Wiederbewaffnung der Bundeswehr, gegen Atomwaffen uvm. – wie die Student_innenbewegungen, die politisch radikalen K-Gruppen, die Zeitungen, alle sind ein Phänomen von wenigen Jahren geblieben und haben kaum Spuren in die heutige Zeit hinterlassen. Sie haben sicherlich die Beteiligten selbst verändert, aber nicht die gesellschaftlichen (Herrschafts-)Verhältnisse. Und das finde ich schon eine ganz zentrale Feststellung für die Frage nach „Was können wir tun?“. Ich glaube immer mehr, dass wir davon eine Menge lernen können für den Weg in eine ökologisch nachhaltige und sozial gerechte Gesellschaft. Der Widerstand muss von innen kommen, aus dem Alltag – weder durch alte und neue Parteien, noch durch gewaltvolle revolutionäre Umstürze, noch durch den intellektuellen Masterplan oder gesetzliche Reglementierungen. „Das Private ist politisch“ war eine der wichtigsten Losungen dieser Zeit. Und: Das Politische ist öffentlich. Es reicht nicht, im Privaten radikal anders zu leben, der Alltag muss öffentlich politisiert werden. Das geht zum Beispiel über widerständige Interventionen in den Alltag. Diese Interventionen können künstlerisch sein, Verwirrung stiften und müssen kein klar festgelegtes Ziel haben. In diesem Sinne wäre guerilla gardening wichtiger als privater Veganismus, wäre politische Musik wichtiger als Demonstrationen und wäre gemeinschaftliche Nutzung von Eigentum wichtiger als Öko-Konsum oder eine


„grüne“ Partei. Wir müssen Formen des Widerstands finden, die nicht gewaltvoll sind und trotzdem konfrontativ, die den Alltag politisieren und verändern. Ich denke da beispielsweise an Gandhis Salzmarsch. Dabei geht es nicht in erster Linie um eine direkte Konfrontation mit den Herrschaftsverhältnissen, sondern um ein subversives Unterlaufen ihrer Macht. Gleichzeitig geht es darum, nicht den belehrenden Finger zu heben und Menschen ein anderes Leben vorzuschreiben, sondern es vorzuleben! Nur wenn die Alternativen zur jetzigen Gesellschaft öffentlich gelebt werden, können sie eine positive Strahlkraft entwickeln, zum Mitmachen anregen, zum Nachdenken auffordern und widerständige Praxen verallgemeinern. Das ist eine friedliche Revolution. Alles, was wir dafür brauchen, haben wir bereits. Wir brauchen kein akademisch formalisiertes Wissen, keine ökonomische oder politische Macht. Wir brauchen nur Mut und Lust voranzugehen und dadurch die Gesellschaft, die wir wollen, schon mal für alle sichtbar vorzuleben. Das kann einhergehen mit vielen kleinen politischen Aktionen, darf sich aber nicht darauf beschränken. Und es muss einhergehen mit einem individuellen Lebensstilwandel, darf sich jedoch auch darin nicht erschöpfen. Das Private ist politisch und das Politische gehört öffentlich. Und gerade weil dieser Widerstand anders ist, ist er einfach. Weil wir weder Geld noch Macht brauchen, weil wir nicht die ganze Gesellschaft auf einmal verändern müssen, weil wir keine Gewalt ausüben müssen, weil wir Menschen Mut und Hoffnung geben. Und weißt du was, gerade weil das Leben vieler Menschen gegenwärtig so paradox ist, weil sie arbeiten um leben zu dürfen, ihr Leben aber füllen mit nutzlosem Besitz und inhaltsleerer Unterhaltung, gerade deshalb kann diese Form von Widerstand funktionieren und sich verallgemeinern. Wann ist dir denn das letzte Mal jemand begegnet, der mit sich und seinem Leben zufrieden war? Da musst du nachdenken. Und das ist doch krass, oder? Aber das ist genau das, was unser Widerstand anzubieten hat: ein schönes Leben. Und ich glaube dieses Ziel hat so viel positive Kraft, dass es Menschen dazu bringen kann, freiwillig ihren Besitz zu teilen, auf Besitz zu verzichten und ihre Lebensstile grundlegend zu ändern. Das passiert ohne dass es ihnen irgendwer vorschreiben muss und mit gleich zwei positiven Effekten: einer sozial gerechteren

Gesellschaft und einer ökologisch nachhaltigeren Gesellschaft. Und das ist es doch was wir wollen! Her mit dem schönen Leben! Ich glaube die Zeit ist heute mehr als reif für Veränderungen. Aber was ist der Unterschied zwischen damals, als die Stimmung in der Luft lag, die Geschichte verändern zu können, und heute? Mit meinen Mitbewohner_innen – übrigens auch ein Erbe der Hippiebewegung – habe ich oft darüber gesprochen und alle sind etwas resigniert, dass wir ja doch nichts machen können; sie fühlen sich ohnmächtig. Ich habe versucht sie davon zu überzeugen, dass genau diese Resignation das eigentliche Problem ist, dass wir uns nicht ins spießbürgerliche Privatleben zurückziehen dürfen, sondern unsere gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen müssen. Aus den Erfahrungen der 68er ziehe ich den Schluss, dass Gewalt eine Gesellschaft nur sehr wenig verändert, dass Widerstand deshalb den Alltag zum Gegenstand haben muss und dass Veränderung immer möglich ist. Wenn wir nichts tun, müssen wir unseren Frieden schließen mit dem Bestehenden oder darauf hoffen, dass andere für uns handeln. Aber wer? Und im Rückblick würden wir uns ärgern, dass wir es nicht wenigstens versucht haben, dass wir uns mitschuldig gemacht haben an den Verbrechen unserer Zeit, weil wir zu bequem waren das Zuschauen zu beenden. Ich würde mir das nie verzeihen können, ich würde mir vorwerfen im Leben versagt zu haben. Und du? Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Liebe Grüße, Johannes

| Daniel Buschmann

gesprochen von Anna Kramer

engagée | 49


furchtlos widerstehen.

ICH STREIK. grrr! wie streike ich als arbeitslose? bitte stören. danke. grundlos geld. neurosen aller prekären vereinigt euch. grrr! wir evozieren! wofür arbeitest du? systemfehler. stadt neu starten…

| www.image-shift.net


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MayDay Poster

Der erste Maifeiertag ist im Europäischen Raum bekannt als der „Tag der Arbeit“ oder „Kampftag der Arbeiter_innenbewegung“, an dem traditionellerweise Demonstrationen, Paraden und Feiern veranstaltet werden, um das Thema Arbeit in den Mittelpunkt zu stellen. Seit 2001 gibt es nun auch einen Europäischen Tag der Arbeit, den sogenannten EuroMayDay. Mit Protesten und Aktionen wird seit 2006 der zunehmenden Prekarisierung von Arbeiter_innen sowie der Diskriminierung von Migrant_innen im Europäischen Raum, und darüber hinaus, der Kampf angesagt. Dieser Widerstand nimmt besonders in Zusammenhang mit dem „modernen Arbeitsplatz“ stetig an Bedeutung zu. Der Wechsel von unbefristeten Arbeitsverhältnissen hin zu Zeitverträgen, Freelancer-jobs und andere Instrumenten flexibler Arbeitsplatzgestaltung sind diesem Aufbegehren zugrundeliegend. Die Existenz der Arbeitnehmer_innenschaft ist mittlerweile stark geprägt von Unsicherheiten, die sie sowohl materiell als auch psychisch betreffen. Wer glaubt Stress, Burnout oder arbeitsbedingte Krankheiten in der modernen Arbeitswelt als Einzelschicksal zu erleben, der irrt. Gerade die Auseinandersetzung des persönlichen Arbeitsalltags darf nicht auf den eignen Freundeskreis oder auf die private Partnerschaft beschränkt bleiben, sondern gehört in den öffentlichen Raum.

engagée | 51


sensibel aufspĂźren.


sensibel A U F

Engagement als ewiger Irrtum.

aws

S P Ü R

Ein Blick zurück in mich hinein. Lisa-Maria Rakowitz

E N

Zerreißprobe.

Dominik Wetzel

Warum wir uns nicht empören. Rahel Sophia Süß

engagée | 53


sensibel aufspĂźren.

Engagement als ewiger Irrtum?


Wenn wir uns ontologische Realität als eine physische vorstellen, so sind wir schon an einem Ende angelangt. An einem Anfang und einem Ende, das in sich, mit sich ist, darüber und darunter nichts kennt. Der Anfang kongruiert mit dem Ende, sie lösen sich auf, bestehen nur als Kategorien in Gehirnen ewig zeitnaher Wesen, die ihrem Unverständnis darüber, dass ihr Anfang auch ihr Ende ist, schon immer mit furchtbarem, um sich greifendem Furor Raum verschafft haben. Leben, das durch Gedanken Form und Prozess darstellt, kann sich nicht vorstellen, dass schon alles war, was ist und sein wird, und zur gleichen Zeit ist, was immer sein muss, und es selbst nur partiell dazugehört. Wer das Universum nicht stets mitdenkt ist bewusstlos, somit bleibt den meisten nichts anderes, als Sinn auf dieser, unserer Heimat, der einzig möglichen, zu suchen. Aber wozu führt das? Metaphysischer (Un-)Sinn, der sich soweit er es sich einbilden kann, von der physischen Realität entfernt, treibt uns an, tagtäglich, in irgendeine

Idee hineinzulaufen, sie als Lebensinhalt, auf der unsere Ambitionen Fuß fassen können, zu akzeptieren. Manchmal adaptieren wir unsere Pläne, selten verwerfen wir sie und verschreiben uns einer neuen Idee. Dabei sind wir unausweichlich und schon immer der Idee, der einzigen, die nicht Idee werden muss, weil sie alles ist, verschrieben. Wir wachsen aus ihr und wachsen in sie, sind sogar darin, wenn wir uns nichts mehr bewusst sind. Warum aber dann diese Worte, wenn das einzige, auf das es hinausläuft, das Alles und das gleichzeitige Nichts ist? Ein solcher Text muss nicht geschrieben werden, wenn der Autor annimmt, dass religiöse, politische, philosophische, ökonomische und andere Ideologien, darunter auch sein eigenes Dogma, alle Irrwege, über das Physische hinweg, repräsentieren. Ein Hinweg als Illusion. Somit, was will der Autor? Einerseits alles akzeptieren was ist: Universum, Natur, Mensch, Leben und Tod, Liebe und Hass, Ideo-

engagée | 55


sensibel aufspüren.

logie, Gulag und KZ. Und ihre Nichtigkeit feststellen, solange sie als Ideen und Narrative betrachtet werden, denen nachzugehen oder entgegenzuwirken ein Irrtum bleiben muss. Oder: Das alles beiseite zu schieben und zumindest einen Moment anzuerkennen, dass der Impuls, welcher alles antreibt, nicht vorüber ist, nicht kleiner und nicht größer ist als etwas anderes, keine Idee ist, sondern Zustand, auch wir Zustand sind, physischer, damit beschreibbar aber nicht greifbar sind. Dann müssen wir wieder weitermachen, um handfeste Ideen zu finden, die solche unmöglichen Zustände unserem, von allen Phänomenen überforderten Verstand erklärbar machen, als Ideen, die von der eigentlichen Realität ablenken und neue antagonistische Realitäten schaffen, die uns nicht in die physische Ursache, in einem Paradigma des Seins festhalten, sondern vorwärts in die Abschaffung anderer oder uns aller. Im Sinne der Egalität unter den physischen Entitäten ist es aber gleichgültig, ob ich der Gegner, die Unwissende, der Wissende, die

Unterstützerin, der Wärter, die Täterin oder das Opfer im Prozess der Massenverschiebungen bin. Mein Engagement ist in jedweder Hinsicht ein Irrtum. Aufhören, loslassen, sich kümmern um das Sein an und für sich, das einzig nötig ist, wenn es auch sinnlos bleibt. Für Immer. Da wir immer nur Subjekte bleiben werden, nicht objektiv sein können, bleibt auch der angeführte, pseudo-objektive Diskurs eine Illusion. Jedes Engagement ist aufgrund der Unmöglichkeit, falsch zu liegen, solange wir uns im metaphysischem Raum, unserem Verstand, befinden, gerechtfertigt, oder lässt sich von jeder physischen Faktizität, die es da draußen gibt, abschirmen. Somit: Engagiert euch!

| aws


Ein Blick zurück in mich hinein

Ich hab angefangen, deinen und meinen Körper auseinanderzuschneiden. Kopf an Kopf, Schulter an Schulter. Ich mag dich gern zu einem eigenen Menschen machen und ich mag mich gern zu einem eigenen Menschen machen. Zwanzig Jahre lang ein Herz und eine Seele sind zwanzig Jahre lang ein Herz und eine Seele zu wenig.

Bin das noch ich oder bist das schon du? Ich stoße meinen Kopf immer wieder gegen Mauern. Ich möchte spüren, wo ich aufhöre und wo du anfängst. Die Augen wie du, die Lippen wie du, die Haare wie du bist ja wie deiner Mutter aus dem Gesicht geschnitten. Manchmal beschleicht mich das Gestern. Manchmal drängt sich die Kindheit nah an mich heran und etwas Dunkles kriecht in meine Brust. Ich kann nicht sagen, was ist. Mein Körper weiß mehr als ich bleibe ahnungslos und unbeholfen.

engagée | 57


sensibel aufspüren.

Ich stolpere. Ich nehme mich bei der Hand und strukturiere meinen Tag. Ich stehe früh auf, arbeite viel und hoffe, dass ich am Abend müde bin. Ich stolpere. Ich nehme mich bei der Hand und strukturiere meinen Tag. Ich stehe früh auf, arbeite viel und hoffe, dass ich am Abend müde bin. Zur Ablenkung gehe ich in eine Gärtnerei und schaue mir stundenlang Pflanzen an. Das Leben beruhigt. Ich lasse mir erklären, wie die Pflanzen heißen und wie sie zu pflegen sind. Es entspannt mich, dass jemand alle Antworten auf meine Fragen weiß. Daheim dünge ich die Dahlien, Kosmeen und Lobelien, die üppig wuchern, und überschütte sie mit Wasser und mit Liebe. „Er gibt mir Ruhe“, „Er tut mir gut“, so höre ich mich in letzter Zeit über meinen Garten sprechen. Ein Freund sagt: „Solange du noch nicht das Bedürfnis hast, dir eine Katze zuzulegen, ist alles in Ordnung. Sollte es aber dazu kommen, so wäre das ein beunruhigendes Zeichen.“ Als Kind stieß es mich immer ab, wenn meine Großmutter das Fell ihrer Katzen nach Zecken durchsuchte und diese - sobald sie sie zu fassen bekam - mit einer flinken Drehbewegung aus dem Fleisch entfernte, um sie anschließend am Boden zu zertreten oder auf einem Fingernagel zu zerdrücken. Mit einem leisen, knackenden Geräusch zerplatzte die prall gefüllte Zecke, während sich das Blut in alle Himmelsrichtungen verteilte. Ich habe gänzlich damit aufgehört, Katzen und andere Tiere zu streicheln. Zu groß ist der Ekel. Wann immer ich mit einem Tier in Berührung komme, drängt es mich augenblicklich dazu, meine Hände zu waschen. Ähnliches erlebe ich in Beziehungen mit Männern. Wenn ein Mann neben mir einschläft, habe ich am nächsten Morgen das dringende Bedürfnis, mich zu waschen. Allein die Anwesenheit eines Mannes, der auf irgendeine Art und Weise romantische Gefühle hegt, und mit seinem Geruch und seiner Körperbehaarung sämtliche Räume meiner Wohnung penetriert, führt zu einem konstanten Gefühl der Beschmutzung. Nähe löscht aus. Ich rieche nicht mehr nach mir und meine Wohnung riecht nicht mehr nach mir. Ich atme jedes Mal auf, wenn mir ein Mann erklärt, warum es zwischen uns nicht funktionieren kann. Endlich. Ich liebe dich, aber ich kann es dir nicht sagen. Am Ende drehst du mir noch einen Strick daraus. „Heute würde ich mich scheiden lassen, aber damals waren es noch andere Zeiten“,


sagt meine Großmutter. Auf dem Totenbett hatte sie ihrer Mutter das Versprechen abnehmen müssen, dass die Füße ihres Leichnams nicht zusammengebunden werden sollten, denn, „wenn ich einmal auf der anderen Seite bin, möchte ich hingehen, wo ich will.“ Mitgehangen mitgefangen. Ich bin an meinem Kindheitsort. Die Kindheit frisst sich schnell und kalt an mich heran. Eine Schwere nistet sich ein, etwas Dunkles zieht. Nach langem und beschwerlichem Krebsleiden hat sich meine Großtante und Nachbarin „auf die Gleise gelegt“. Der erste Selbstmord ebnet dem zweiten Selbstmord den Weg. Der zweite Selbstmord ebnet dem dritten Selbstmord den Weg. Neben Büscheln von Thymian, Salbei und Kamillen beginnt nun auch das Johanniskraut zu verdorren und zu vertrocknen. Ich beziehe meine Energie aus dem Grün der Pflanzen und der Anzahl der Blüten. Ich möchte jemand eigenes werden und dabei bleiben. Der Wald meiner Kindheit ist ein Urwald, er wuchert tief und dunkelgrün. Manchmal bleiben meine Gedanken an Ästen und Sträuchern hängen wie an Spinnenweben. Ich versuche mich an eine Zeit heranzuschreiben, die ich nicht weiß. Ich umkreise taubstumme Flecken. Im Dunkeln suche ich nach einem Faden, der mich an den Anfang führt. Die Erinnerung ist kalt, das Wort finster. Ich schaue nach vorn und denke nach hinten. Im Wald kommt das Dunkel schnell. Die Zeit tropft langsam und kalt. Das Wasser fließt langsam und kalt den Fluss hinunter. Im Elternhaus meiner Großmutter wurden einst die Leichen der Selbstmörder und Unfalltoten aus der Drau aufgebahrt. Der Wassermann wohnt bei der Drau, er frisst die Kinder, die allein zum Fluss gehen. Noch heute glaube ich, dass mich eine kalte, nasse Hand packen wird, wenn ich nur lange genug ins dunkle Grün hineinschau. Das Schilf bewegt sich leise im Wind, Mücken tummeln sich auf der Wasseroberfläche, im Gestrüpp knackt es. Ich suche eine Flaschenpost.

engagée | 59


Der Geruch von Wasser und von Meer. Gleich wird eine glitschige, schwarze Hand aus der Tiefe des trüben Wassers emporschießen und mich an meiner Kehle packen. Es gibt tausend Wege in die Kindheit hinein und keinen Weg aus der Kindheit hinaus. Der Fährmann hat einmal die verlorenen Seelen ans andere Ufer der Drau gebracht. Er konnte niemanden sehen, er konnte nur hören. In Wassergläsern bilden Setzlinge Wurzeln aus. Nachdem sich der Ginkgo und die Zamioculcas zamiifolia drei Jahre lang denselben Topf geteilt haben, wobei vor allem der Ginkgo unter dem exzessiven Wachstum der Zamioculcas zu leiden hatte und seit zwei Jahren keine Blätter mehr trug, habe ich die beiden Pflanzen voneinander getrennt. Die Wurzeln eng umschlungen. Nach 10 Tagen in einem eigenen Topf begann der Ginkgo wieder auszutreiben und eigene Blätter zu entwickeln. Hier ist so viel Luft und ich kann trotzdem nicht atmen. Die Heimat kriecht mir aus jedem Augen-Winkel entgegen. Es wird still und eng. In einem Pappkarton sammelt meine Großmutter die Gegenstände - vornehmlich Bücher, Fotografien und Postkarten - die sie mir nach ihrem Tod vermachen will. „Damit nichts verloren geht, wenn ich einmal meine Augen zugemacht habe.“ Ihre Rezepte hat sie in einem Notizbuch aufgeschrieben. Im Mai Holunderblütensirup. Im Juni Erdbeermarmelade. Im Juli Marillenmarmelade. Salbei und Thymian hängen zum Trocknen im Stiegenhaus. Jedes Jahr erschreckt es mich zu Tode. „Wer rückwärts läuft, schaufelt seiner Mutter das Grab.“ Der Weg entlang der Drau ist schmal. Rechts Akazien, Holler und Brennesselstauden. Links Akazien, Holler und Brennesselstauden und eine Ahnung von Wasser. Über mir ziehen schwarze Vögel ihre Kreise. Ich bleibe stehen und höre nichts. Aus Angst flüchte ich mich in ein Geräusch. Mutterseelenallein. Ich bitte dich, gib mir nicht deine Schuld. Ich habe eine solche Angst, wenn ich in die Landschaft hineinschau, aus der ich hervorgegangen bin. Etwas Dunkles zieht mich. Zurück. Immergrüner Efeu fasst mich an Armen und Beinen, schlingt sich mir um meinen Hals und kriecht durch meine Adern. Eine blaue Aster wächst aus meinem Mund. Wenn ich nur lange genug den Samen der Königskerze an meine weiße Brust halte, wird sie wie eine gelbe Fackel aus meinem Herzen emporwachsen. Fleisch ist geduldig. Die überlebenden und verstorbenen Soldaten des ersten Weltkriegs schauen aus grünstichigen Augen auf den Mittagstisch herab. Eine Spinne hat im Herrgottswinkel ihr Nest gebaut. Für euch bin ich geboren worden, für euch lebe ich und für euch werde ich sterben. Ich versuche, die Menschen bei ihrem Wort zu nehmen und nicht bei meinem. Ich gehe davon aus, dass du die Wahrheit sprichst. | Lisa-Maria Rakowitz

gesprochen von Lilly Valerie Kroth


ZerreiĂ&#x;probe

mich selber wollen


Angst schauen

unsicher sein


im Kreislauf verschwinden

Zukunft sichern


Verzweiflung finden Hoffnung anders Freu(n)de selbsticherer Weg GlĂźck bleiben




Warum wir uns nicht empören Über die Notwendigkeit einer Politik des Unmöglichen In Wien hat man keine große Lust die Revolution zu machen. Die Menschen begegnen ihr mit Gleichmut und Resignation, wie der Berg dem Sturm. Sie wacht auf, wäscht sich und kleidet sich an, ohne Eile.

engagée | 67


sensibel aufspüren.

In den letzten fünf Jahren hat sich alles für dich verändert. Die Sehnsucht verwelkt, unter einem stillen Brüllen der Widersprüche, die immer alberner, verwirrter und wilder wurden. Die Straßen sind leer. Die Vögel haben die Stadt verlassen. Damals, als der letzte Kirschbaum gefällt worden ist. Es gibt nichts Ungefähres und Zartes mehr in dieser gräulichen Leere der Stadt. Damals, als du nicht deutlich zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen Wahrheit und Fantasie, zwischen Beobachtung und Vision unterschieden hast, schien alles so einfach zu sein. Wie du dich täuschen solltest. Von einer Kraft bewegt, die in keinem Verhältnis zu deinem Körper stand, träumtest du davon, die Welt zu verändern. Mit den ersten Schritten in die Welt der Erwachsenen hast du das Träumen verlernt. Irgendwo auf diesem Weg hast du verloren, was du sorgfältig suchtest – den Mut, deine Träume zu leben. Du, eine Künstlerin, deren Aufgabe es ist Neues zu schaffen, hast dich von der Wahrheit der Lüge überzeugen lassen. Davon, dass die Welt so ist wie sie erzählt wird und du daran nichts ändern kannst. Die Verführung zur Einsicht und Erkenntnis blieb aus und du hast deine Neugierde unter einem zustimmenden Nicken begraben. Die Menschen erzählen über dich, dass das Rot auf deinen Wangen vor der Blässe flieht und deine Augen mit jedem neuen Tag kleiner werden. Für sie bist du das traurigste Mädchen, dem sie jemals begegnet sind. Sie sagen, alle jungen Leute seien traurig und dass das vorbei gehen werde. Aber dass jemand verwelkte Blumen pflückt und an den blühenden vorbei geht erschreckt sie. In Wahrheit hat die Wirklichkeit deinen Träumen nicht standgehalten. „Ich bereue nichts in meinem Leben“, denkst du. Falsch. Du bereust, dich niemals gefragt zu haben, womit du dein Leben verbringen möchtest. Kannst du denn sagen, wonach du dich sehnst? Natürlich nicht. Du weißt so wenig über dich. Du bist nicht müde vom Tag, sondern vom Leben und von seiner vorgeblichen Aussichtslosigkeit und das in deinem jungen Alter.


Entmutigt und ohnmächtig vor Wut, glaubst du nicht mehr daran, etwas verändern zu können. Wie auch, wenn dieselbe politischen Kultur, die so inbrünstig und wortreich und mit so vielen Übertreibungen ihre Notwendigkeit und Alternativlosigkeit schreit, verhindert, etwas bislang Unsichtbares, Unmögliches sichtbar zu machen. Irgendwo auf diesem Weg verlieren wir, was wir eigentlich gesucht haben – den Wohlstand für alle. Wie es dir damit geht? „Nicht gut“. Aber die vorhandene Demokratie ist wie ein Filter der sicherstellt dass sich nichts wirklich verändert. Aus einer verzweifelten Schüchternheit heraus hast du niemals versucht Möglichkeiten zu kreieren, die in der bestehenden Welt ganz und gar unmöglich erscheinen. Du träumst von Freiheit und Gerechtigkeit und glaubst den großen Leuten blind, die dir versichern, das sei nicht möglich. Niemals hast du die geringste Andeutung gemacht, dass du mit deinem Leben nicht zufrieden bist. Wie auch, du kennst ja schließlich nur das eine. Ob du zufrieden bist? Nein. Du, eine Liebhaberin des Fremden, wurdest menschenscheu, unnahbar. Wirst du weiter machen wie zuvor? Auf keinen Fall. Sie nimmt einen Biss von der roten Frucht und wischt mit ihrem Ärmel die Brotkrümel vom Tisch. Ein Seufzer der Erleichterung fließt über ihre Lippen. Sie steht auf, geht zur Tür hinaus, hinein in die Morgenkühle, auf die Straße. Ihre Schritte tauchen ein in die Stadt, barfuß auf dem Tau über die Wiese hinauf zum Baum. Dort setzt sie sich in den Schatten ihrer Worte. Sie beobachtet das Ende der Täuschung. Eine Politik des Unmöglichen beginnt mit einer Ent-Täuschung.

| Rahel Sophia Süß

engagée | 69


staunend denken.


Nackt im Museum. Ist partizipative Kunst noch politisch? Johannes Siegmund.Die doppelte Vertrauenskrise. Ökonomische und soziale Probleme des Euro.Jenny Preunkert und Georg Vobruba. Colin Crouch: Markt und Moral. Im Gespräch mit Peter Engelmann.(Rezension) Bastian Zwölfer. Wirtschaft denken ohne Geländer.Felix Wittmann.

staunend denken.

Alain Badiou: Philosophie und die Idee des Kommunismus. Im Gespräch mit Peter Engelmann.(Rezension)Dona Barirani.

engagée | 71


staunend denken.

Nackt im Museum Ist partizipative Kunst noch politisch?

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Meine Freundin und ich schlappen in Badelatschen und weißen Bademänteln durch eine Ausstellung im Wiener Augarten. SchlippSchlapp. Die paar anwesenden Besucher_innen schauen uns mit diesem abwesenden Voyeurismus der Kunstkontemplation an. „So etwa müssen sich all die Badenden von den Bildern im kunsthistorischen Museum fühlen.“, sage ich. „Das geht ja noch hier.“, sagt sie, „Du müsstest mal eine Frau in der Sauna sein. Wir stehen vor einem zwei Meter hohen Metallgerüst auf dem ein großer Plastikquader steht. Eine Treppe führt hoch zu einem winzigen Duschbereich neben einer Eingangsluke. Wir duschen und steigen durch die Luke. Drinnen ist es schwül. Wir legen uns ins Wasser und: Es trägt. Egal ob auf dem Bauch, dem Rücken oder der Seite, in der schweren Salzlauge gehen wir unter. Wir drehen uns, paddeln herum, gurren und kichern in der höhlenartigen Akustik.

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staunend denken.

In Carsten Höllers „High Psycho Tank“ baden wir unter dem Label Partizipationskunst im Museum. Formate der Partizipation haben sich nicht nur in der Politik sondern auch in der Kunstwelt durchgesetzt. Partizipation verspricht zunächst politische Emanzipation: Die Anteilslosen erheben ihre Stimme und fordern ihren Anteil. In der Politik geschieht das über Demonstrationen, Petitionen oder Wahlen, während sich die Kunst an der Passivität der Kunstbetrachter_in abarbeitet. Höllers oben beschriebener „High Psycho Tank“ ist eine Maschine zur Aktivierung des kontemplativen Publikums: „Mitmachen statt Zuschauen!“, ist die Devise. Als meine Freundin und ich frisch geduscht vor dem Tank stehen, fällt uns auf, dass der Plastikcontainer recht durchsichtig ist. Unser Spielen im Wasser war von Außen also gut zu beobachten. „Ein bisschen wie Dschungelcamp für Akademiker_innen“, sagt meine Freundin und trifft damit den Nagel auf den Kopf: Besitzt Partizipationskunst in Zeiten von Reality-Shows und Social Media überhaupt noch ein emanzipatives Potential? Partizipative Formate sind ubiquitär. Kein Event, ob Fernsehen oder Kunstbiennale, kommt ohne Mitmachformate aus. Überall gibt es Kommentarfunktionen und jede innere Regung kann in der Social Media geteilt werden. Partizipation vermittelt Zustimmung und Legitimität, doch das allein reicht nicht als Erklärung für ihren Erfolg, sie kann mehr: Partizipation ist authentisch, lebendig und sexy und genau das lässt sich gut verwerten. Menschen werden aktiviert an etwas Teil zu nehmen, das sie noch nicht kennen, etwas, das ihnen fremd ist. Die Partizipierenden machen selbstvergessen ihre Erfahrung und das Publikum schaut live dabei zu. Lebendigkeitskonsum nennt das Diedrich Diederichsen. (Diederichsen 2008: 275) Es ist genau dieser Lebendigkeitskonsum, mit dem die Reality-Shows und die Social Media ihr Geld verdienen. Über partizipative Formate wird Authentizität und Lebendigkeit hergestellt, indem die Partizipierenden ein Moment von Es-könnte-immer-etwas-Unvorhergesehenes-passieren erzeugen. Eine ganze Welle der Partizipation spült seit zwanzig Jahren durch die zeitgenössische Kunst. Im Zuge

der Relational Art wurde in den Kunsträumen gekocht und gelebt. Es wurden Rituale in sozialen Brennpunkten durchgeführt und historische Ereignisse nachgestellt. Theaterbesucher fanden sich bei Inszenierungen des Kollektivs SIGNA in einem Nachtclub wieder und Tino Seghal hat eigentlich alle einmal tanzen lassen. Laut Claire Bishop haben der Zusammenbruch des Kommunismus und der Rückzug der Sozialstaaten diese Welle ausgelöst. (Bishop 2012) Die Kunst hinterfragt demnach einerseits die Eigenschaften, die der Lebendigkeits- oder Biokapitalismus einfordert: die Aktivierbarkeit, die Anschlussfähigkeit und den Willen zur Expression. Sie antwortet aber auch auf das Bedürfnis nach Nähe, Gemeinschaft und Ritual. Die Kunst steht dann dort ein, wo sich der Staat oder die Ökonomie zurückziehen, wo kulturelle Vakuen entstehen. Dann ist Partizipationskunst weniger Badespaß im Augarten, sondern arbeitet an sozialen Brennpunkten. Partizipationskunst besitzt ein emanzipatives Potential, wenn sie die Verwertungsstrukturen der Lebendigkeit sichtbar macht. In Höllers „High Psycho Tank“ wird das passive Treiben im Wasser mit der Aktivierung der Partizipierenden und dem Blick der Museumsbesucher_ innen verschränkt; Die milchigen Tankwände und das Baden spielen mit Voyeurismus und Event. Zwei Fragen nehme ich mit, an jedes Kunstwerk, dessen Material die Lebendigkeit von Partizipierenden ist: Wie gelangt die Partizipationskunst über die Geilheit und den Voyeurismus des Lebendigkeitskonsums hinaus? Wer verdient an der Authentizität der Partizipierenden?

| Johannes Siegmund

Diederichsen, Diedrich 2008: Eigenblutdoping, Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Bishop, Claire 2012: Artificial Hells, Participatory Art and the Politics of Spectatorship, London und New York:


Die doppelte Vertrauenskrise. Ökonomische und soziale Probleme des Euro.

I.

Ohne Vertrauen keine Gesellschaft. Warum? Interaktionen lassen sich ohne ein gewisses Maß an Vorleistung erst gar nicht in Gang setzen. Vorleistungen erfordern Vertrauen. Denn Vertrauen bedeutet, dass man erwarten kann, dass die eigene Vorleistung nicht ausgenützt wird. Vertrauen ist also im Kern das Zutrauen in die eigenen Erwartungen. Die Fähigkeit, sich in der Gesellschaft zu bewegen, ja die Konstitution von Gesellschaft selbst erfordert ein Minimum an Vertrauen. Vertrauen ist insbesondere für ökonomisches Handeln konstitutiv. Man macht kein Angebot, wenn man damit rechnet, dass es angenommen, aber ohne Gegenleistung bleiben wird. So lange potentielle Tauschpartner von der reziproken Erwartung geleitet sind, dass ihre Vorleistungen ausgebeutet werden, scheitern ökonomische Beziehungen. Vertrauen ist konstitutiv für die Ökonomie, denn es ermöglicht den potentiellen Teilnehmern an ökonomischen Austauschprozessen, in Vorleistung zu gehen. Aber das Risiko bleibt immer: Vorleistungen können ausgenützt, Erwartungen einer Gegenleistung können enttäuscht werden. Man kann auch zu viel und unrealistisch Vertrauen haben. Das nennt man “vertrauensselig” - nicht gerade ein Kompliment.

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II.

Aber das allgemeine Verständnis der Eurokrise als Vertrauenskrise erfasst nur die eine Hälfte: das Vertrauensproblem der Gläubiger. Die geläufigen Krisendiagnosen und das dominante Krisenmanagement sind darum in hoch problematischer Weise einseitig. Wie sieht die zweite Hälfte der Eurokrise aus? Bis zum Ausbruch der Subprime Krise in den USA herrschte auf dem Kapitalmarkt ganz offensichtlich Vertrauensseligkeit. Diese Vertrauensseligkeit manifestierte sich in der Konvergenz der Kapitalmarktzinsen innerhalb der gesamten Eurozone von den späten 1990er Jahren bis zum Beginn der internationalen Finanzkrise 2007. Rückblickend ist das Kapitalmarktversagen, das sich in den niedrigen Zinsen für drittklassige private und öffentliche Schuldner dokumentierte, schwer zu erklären. Es kann sein, dass die überwiegende Mehrheit der Gläubiger eine Angleichung der Wettbewerbsfähigkeit der Ökonomien aller Mitglieder der Eurozone erwartete; sei es, dass sie immer schon von einer de facto gesamtschuldnerischen Haftung aller Euromitglieder – entgegen der bail-out Klausel – ausgingen. Jedenfalls bildete der beinahe einheitliche Zinssatz die unterschiedlichen Rückzahlungsrisiken der Euroländer nicht ab – im Rückblick ein gigantisches Kapitalmarktversagen. Als man sich des Risikos bewusst wurde, führten die faulen Kredite zu einer weltweiten Finanzkrise und zur Krise des Euro. Das Vertrauen der Gläubiger in ihre Schuldner und das Vertrauen der Banken untereinander brachen zusammen. Nun zeigte sich, wie wichtig Vertrauen für die Ökonomie ist: Die Bereitschaft zur Vergabe von Krediten aller Art nahm rapide ab, mit erheblichem Schaden für die Wirtschaft (fast) weltweit. Seitdem konzentrieren sich Diskussion und Krisenpolitik darauf, das Vertrauen der “Märkte”, oder konkreter: potentieller Gläubiger, wiederherzustellen. Es kann kein Zweifel bestehen, dass dies ohne Alternative ist, so lange Staaten und Private auf Kredite vom Kapitalmarkt angewiesen sind. Als Maßnahmen zur Wiederherstellung des Vertrauens wurden den schwächeren Euroländern öffentliche Kredite und Bürgschaften gewährt, welche an Haushaltskonsolidierung als Bedingung geknüpft wurden, sowie Staatsschuldenpapiere durch die Zentralbanken gekauft. Und tatsächlich zeigen die sinkenden Zinsen, dass das Vertrauen der Gläubiger langsam zurückkehrt.


III.

Aber das allgemeine Verständnis der Eurokrise als Vertrauenskrise erfasst nur die eine Hälfte: das Vertrauensproblem der Gläubiger. Die geläufigen Krisendiagnosen und das dominante Krisenmanagement sind darum in hoch problematischer Weise einseitig. Wie sieht die zweite Hälfte der Eurokrise aus? Infolge der niedrigen Zinsen strömte billiges Kapital in die wettbewerbsschwächeren Euromitglieder und erzeugte dort Wohlstandsniveaus, die deutlich über deren ökonomischer Leistungsfähigkeit lagen. Mit der abrupten Unterbrechung dieser Kapitalzufuhr – sei es über Staatsoder über Privatkredite – musste sich das ökonomische Aktivitätsniveau absenken. Staats- und Privatausgaben in den Eurokrisenländern gingen zurück, ihre Wirtschaften schrumpften, die Arbeitslosigkeit und insbesondere Jugendarbeitslosigkeit nahmen dramatisch zu. Mittlerweile zeichnen sich in den Eurokrisenländer Entwicklungen ab, die deutlich machen, dass es längst nicht nur um Gläubigervertrauen geht. Vielmehr führen Negativwachstum, Wohlstandsverluste und Arbeitslosigkeit zum Abbau von Vertrauen der Bevölkerungen in die politischen Institutionen und in die Zukunft ihrer Gesellschaft. Die als Niedergang der ökonomischen und politischen Leistungsfähigkeit wahrgenommenen Probleme zeitigen klassische Reaktionen: Loyalität wird abgebaut, unterschiedliche Versionen von Exit-Strategien (Verlassen des Landes) und Voice-Strategien (Protest) nehmen zu. Exit-Strategien wählen insbesondere junge und hochqualifizierte Arbeitskräfte. Sie verlassen in großer Zahl ihr Land. Im Jahr 2012 waren es beispielsweise rund 55.000 Spanier_innen, was einen Anstieg von über 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr darstellte. Die Arbeitslosenquote bei jungen Menschen unter 25 Jahren liegt in Italien bei 36,6 %, in Portugal bei 38,3%, in Spanien bei 55,6 %, und bei “eye watering” (The Economist) knapp 60 % in Griechenland. In Im Zuge der Kampagne “Os Portugeses em 2030” der Fundacao Francisco Manuel dos Santos las man schon im Sommer 2012 auf Plakaten in der Innenstadt von Lissabon: “Emigrar vai fazer parte do curriculum?” „Voice“-Strategien bleiben all jenen, die „Exit“ entweder nicht wählen wollen oder wählen können. Zu diesen Strategien zählt Wahlverhalten, das sich in Wahlerfolgen europakritischer Parteien, meist mit Neigungen zu Rechts- oder Linksextremismus manifestiert; Massendemonstrationen in den urbanen Zentren und vielfältige Proteste gegen reale und vermeintliche Verursacher und

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Verstärker der Krise, sowie gegen die Verschlechterung der Lebensverhältnisse generell. staunend denken.

IV.

In Abwandlung einer griffigen Formel kann man sagen: In der Eurokrise ist Exit eine Sache der jungen, transnational mobilen Hochqualifizierten, Voice dagegen die Reaktion der gefährdeten, an den Rand gedrängten Schichten. Darum ist nicht zu erwarten, dass sich die Resultate von Exit und Voice wechselseitig verstärken; insbesondere ist nicht zu erwarten, dass mit zunehmendem Exit die Voice-Option der in ihren Ländern Verbliebenen europapolitisch wirkungsvoller wird. Im Gegenteil, die Verluste an Qualifizierten durch Exit fügt den Krisenländern ökonomisch und politisch Schaden zu. Ökonomisch führt dies zu einem Mangel an hoch qualifizierten Arbeitskräften mit weit reichenden Effekten für ihre zukünftige Wettbewerbsfähigkeit. Politisch nimmt mit dem Exit der Hochqualifizierten der Einfluss jener Teile der Bevölkerungen zu, welche für eine nationenbezogene, defensive Politik eintreten, zugleich aber auf sozialpolitische Unterstützung angewiesen sind, welche ihr Staat nicht mehr zu leisten vermag. Gegenwärtig manifestiert sich dies in dem charakteristischen Einstellungssyndrom, einerseits zwar gegen das „Diktat“ aus Brüssel, Berlin oder der Troika zu opponieren, andererseits aber einen Austritt aus der gemeinsamen Währung abzulehnen. Zukünftig wird dies in Enttäuschung über nationale Politik resultieren, deren Versprechen sich als uneinlösbar herausstellen. Die Gefahr, dass der politische Einfluss der aggressiven nationalistischen Rechten weiter zunimmt, ist dort am größten, wo die Linke die stärksten Hoffnungen auf die Schutzfunktion des Staates und Leistungsfähigkeit der Sozialpolitik im nationalstaatlichen Rahmen erhält.

Man sieht: Der Euro und die EU stecken in einer doppelten Vertrauenskrise. Die zweite Hälfte der Eurokrise besteht darin, dass zur Wiederherstellung des Gläubigervertrauens finanz- und sozialpolitische Maßnahmen für notwendig gehalten werden, die das Vertrauen der Bevölkerungen in Politik und Gesellschaft nachhaltig erschüttern. Diese zweite Hälfte der Krise ist schwieriger fassbar, gleichwohl real und von entscheidender Bedeutung. Es besteht kein Zweifel, dass die Krisenpolitik in der Bevölkerung breit geteilte Gerechtigkeitsgefühle verletzt. Aus den reichen Kernländern der Eurozone kommen Garantien und Geld für die Rettung von Banken und die Wahrung der Gläubigerinteressen. Diese Garantien und Transfers gehen an den Bevölkerungen der Eurokrisenländer vorbei, und doch sehen sie sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie würden den Steuerzahlern im Norden auf der Tasche liegen. Das kann nur zur Empörung führen. Die gefährlichste Entwicklung aber besteht darin, dass sich der Vertrauensvorschuss verbraucht, welcher der Politik von der Bevölkerung in der Frühphase der Krise noch zugebilligt wurde. Einschneidende Maßnahmen, Einkommensverluste, verschlechterte Lebensverhältnisse konnten eine Zeit lang hingenommen


werden im Vertrauen darauf, dass sich die Verhältnisse in einem überschaubaren Zeithorizont wieder verbessern würden, dass mit offensichtlicher Misswirtschaft und Korruption aufgeräumt werde. In breiten Bevölkerungsschichten sah man in den betroffenen Ländern den individuellen Verzicht als Investition in eine bessere kollektive Zukunft an. Nun macht sich nur noch Enttäuschung breit. Ein Bündnis der Politik der reichen Kernländer mit den Bevölkerungen der ärmeren Länder gegen deren teils korrupte Oberschichten kann sich kaum im Ansatz entwickeln. Im Gegenteil, die Gefahr wächst, dass es eben diesen Oberschichten gelingt, Mehrheiten der Bevölkerung in eine Allianz gegen jene Reformen zu locken, die ihre illegalen Praktiken zu beenden und ihre illegitimen Privilegien zu gefährden drohen. Am Horizont einer solchen Entwicklung drohen Politiker des Typs Berlusconi. Zugleich führt die Krisenermüdung im reichen EU-Kern dazu, dass die Probleme der südlichen Euro-Länder zunehmend als nur noch lästig angesehen werden und durch die Fokussierung auf den Vertrauensverlust der Finanzmärkte die Krise als weitgehend überwunden gilt.

V. Fasst man beide Hälften der Eurokrise ins Auge, so sieht man, dass das Eurokrisenmanagement in ein schwer lösbares Dilemma geraten ist. Die Politik, die das Vertrauen der Gläubiger stabilisieren soll, hat, je länger sie anhält, verheerende Folgen für die Bevölkerungen.

Die Vertrauensgewinne der einen werden mit Vertrauensverlusten und zunehmendem Zorn der anderen erkauft. Das ist der Kern der Eurokrise als Vertrauenskrise. Die eine Hälfte der Vertrauenskrise besteht in der Zurückhaltung potentieller Gläubiger, Kredite zu vergeben. Dieser Teil des Problems ist mittlerweile etwas entschärft. Die andere Hälfte der Vertrauenskrise droht zu inneren Kündigungen des gesellschaftlichen Grundkonsenses durch immer größere Teile der Bevölkerungen zu führen. Das Bedrohungspotential dieser zweiten Hälfte der Eurokrise nimmt zu. Bedrohlich sind nicht so sehr die Proteste am Syntagmaplatz in Athen und sonst wo, bedrohlich ist der stille Kooperationsentzug von Bevölkerungsmehrheiten mangels Vertrauen in die Zukunft ihrer Länder. Wenn aus Vertrauensverlusten Wahlergebnisse werden, die zu instabilen politischen Verhältnissen führen, beginnt die zweite Hälfte der Vertrauenskrise auf ihre erste Hälfte zurückzuwirken. Dann droht die soziale Hälfte der Krise ihre ökonomische Hälfte zu verstärken. In solchen Rückwirkungen liegt am ehesten eine Chance, dass sich an der gegenwärtigen Misere in den Eurokrisenländern etwas ändert. Unruhe allein wird nicht reichen. | Jenny Preunkert und Georg Vobruba Jenny Preunkert, Georg Vobruba (Hg.). Krise und Integration. Wiesbaden 2015: Springer VS.

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staunend denken.

Markt und Moral

Zwei Gespräche gegen die Ohnmacht Das Buch Markt und Moral gibt eine Unterhaltung zwischen zwei ebenbürtigen Geistesarbeitern wieder, dem britischen Politikwissenschaftler und Soziologen Colin Crouch und dem Leiter des Passagen-Verlags Peter Engelmann. Crouch ist Professor für Governance und Public Management an der Universität von Warwick und sorgte u. a. mit seinem Buch Postdemokratie für Aufsehen, Engelmann ist Philosoph, Herausgeber und Verleger. Das Buch erschien in der Reihe Passagen Gespräche, in denen Engelmann schon mit Philosophen wie Alain Badiou oder Angelo Bolaffi sprach. In zwei Gesprächen wird die politische und sozioökonomische Situation unserer Gegenwart reflektiert und diskutiert. Beginnend bei den Problemen der derzeitigen Form des Neoliberalismus, unterhalten sich die zwei befreundeten Kollegen über eine Fülle von Themen und zeigen die Komplexität unserer Zeit auf. Im ersten Gespräch wird schnell ersichtlich, dass es sich um zwei Denker der „Postmoderne“ handelt. Ausgehend von einer Kritik am Neoliberalismus, spricht sich Crouch für die „Differenz als die Grundlage von allem“1 aus, und grenzt sich insofern von marxistischen Geschichtsauffassungen, sowie der Idee einer aufgeklärten „habermasschen Welt“ ab. Er will das kapitalistische System nicht umstürzen, sondern „akzeptiert und versteht“ die Werte der Märkte, erkennt deren Grenzen an, aber plädiert (eben deshalb) für eine stärkere Kontrolle der neoliberalen Märkte durch Sozialdemokratie und einer starken Zivilgesellschaft. Das zweite Gespräch beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Markt und Moral. Crouch übersetzt dafür einleitend den Kategorischen Imperativ Kants in die Sozialpolitik: „eine Handlung ist eine gute Handlung, wenn sie hilft, die Fähigkeiten von Menschen zu erweitern, vorausgesetzt, sie schadet nicht anderen.“2 Davon ausgehend werden die Bedeutung von Sozialdemokratie und Zivilgesellschaft als Kontrollelement besprochen, sowie im Zusammenhang mit Korruption und Globalisierung erörtert. Markt und Moral ist ein gut lesbares Buch, das zum nach- und weiterdenken anregt. Die Gesprächs- teilnehmer schaffen es, komplexe Themengebiete einfach zu erklären und weisen den Leser, die Leserin auf die Vorteile, Risiken und Nebenwirkungen einer neoliberalen Marktwirtschaft hin. | Bastian Zwölfer Peter Engelmann (2014): Colin Crouch. Markt und Moral. Im Gespräch mit Peter Engelmann. Passagen. 136 Seiten.


Wirtschaft denken ohne Geländer Die Gegenwart ist alternativlos? Unser Wirtschaftssystem ein Naturzustand? In Zeiten von multiplen Krisen muss neu vermessen werden, was an Anpassung erlaubt und an Widerstand geboten ist.

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staunend denken.

Anfang September fand die vierte internationale Degrowth Konferenz in Leipzig statt. Degrowth. Décroissance. Postwachstum. Das sind die Schlagworte einer wachsenden gesellschaftlichen Strömung, die sich derzeit europaweit formiert. Inhaltlich geprägt durch die Diskussion um die „Grenzen des Wachstums“ geht es im Kern um eine grundlegende Frage: Wie sieht eine Wirtschaft aus, die tatsächlich sozial-gerecht, ökologisch-nachhaltig und demokratisch ist? Ziel ist eine Wirtschaft, die allen ein gutes Leben ermöglicht und die Grenzen unseres Planeten respektiert. Klingt nicht neu, sagen viele. Und tatsächlich ähneln viele Argumente von heute denen aus früheren Diskussionen. Neu ist der Kontext, in dem das Thema Degrowth (auf Deutsch „Entwachstum“ oder „Wachstumsrücknahme“) Gestalt annimmt. Heute gibt es keine „Systemalternative“ mehr – die freie Marktwirtschaft gilt seit Anfang der 1990er Jahre als das Gewinnermodell, wenn es um die grundsätzliche Ausrichtung der Wirtschaft geht. Das Problem: Auch und gerade diese Art des Wirtschaftens scheint es nicht zu schaffen grundlegende Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Weltweit leben heutzutage immer noch mehr als 3 Milliarden Menschen - fast jede_r Zweite unter der offiziellen Armutsgrenze von US $ 2,5/Tag. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise gibt es nur Wenige, die gewinnen und Viele, die verlieren: In Spanien und Griechenland liegt die Jugendarbeitslosigkeit beispielsweise noch immer bei über 50%. Auch die Schere zwischen den Armen und den Reichen geht immer weiter auseinander, wie der jüngste Armutsbericht der deutschen Bundesregierung zeigt. Außerdem haben wir heute handfeste Beweise dafür, dass der Mensch entscheidend dazu beiträgt, unser Ökosystem zu zerstören. Der Klimawandel ist dabei nur ein Problem unter Vielen – wenn


auch vielleicht das Drängendste. Es reift die Erkenntnis, dass ein einfaches „weiter so, aber dafür ein bisschen grüner“ nicht funktionieren wird. Trotzdem passiert nur sehr wenig. Die Programme, die Politiker_innen entwerfen, versuchen krampfhaft das Wirtschaftswachstum wieder anzukurbeln. Das ergibt aus einer sozial-ökologischen Perspektive keinen Sinn:

Wir brauchen keine Wirtschaft, die unsere Umwelt zerstört, Ungleichheit fördert und uns obendrein nicht einmal glücklicher macht! Es gibt eine Gruppe von Menschen, die das nicht hinnehmen will. Diese lebt nicht nur in Gallien, sondern verstreut sich auf der ganzen Welt. Und das Gute ist, dass diese Leute nicht nur reden, sondern bereits jetzt damit beginnen eine andere Wirtschaft zu leben. Was heißt das konkret? Diese Menschen leben oft in Häusern, die ihnen zusammen mit anderen gehören und zahlen deshalb Mieten, die sie sich leisten können. Vielleicht gehen sie einer Erwerbsarbeit nach, bei der sie darüber mitbestimmen können, was wie wo produziert wird und wie viel sie arbeiten und wie das Einkommen verteilt werden soll. Vielleicht wissen sie wo ihr Gemüse herkommt, wer es

anbaut und gärtnern selbst auch mal mit - im Gemeinschaftsgarten oder einem Landwirtschaftsprojekt. Oft versuchen sie ihre kaputten Sachen selbst zu reparieren oder lassen sich von Freund_innen dabei helfen. Vielleicht nutzen sie Open Source Software, die ein Schwarm unbekannter Menschen programmiert und zur Verfügung gestellt hat. Es sind Menschen, die die Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Wünsche nach anderen Werten organisieren: Solidarität statt Konkurrenz, Lebensqualität statt Konsum, Beteiligung statt Repräsentation, Freiheit der Entscheidung statt dem Zwang immer zu funktionieren, Wachsen der eigenen Fähigkeiten statt Wachsen des Egos und Befriedigung gemeinsamer Bedürfnisse statt eigener Interessen. Sie zeigen auf unterschiedliche Weise, dass eine andere Wirtschaft funktioniert. Diese Gruppe unterscheidet sich von Menschen, die sich selbst häufig als Vorreiter_innen einer grünen Ökonomie wahrnehmen, aber in ihrer Lebenspraxis bisher nur das „wie“ aber nicht das „ob“ hinterfragen. Als Ergebnis konsumieren sie andere Marken, fahren vielleicht ein Elektroauto und kaufen im Bioladen ein. Was ist es, das diese beiden Gruppen unterscheidet? Ich denke es geht um grundlegenderes Hinterfragen der Gesellschaft und des eigenen Lebensstils. An der Erwerbsarbeit kann man diesen Unterschied gut erkennen. Es gibt viele Gründe dafür, den einen oder den anderen Job zu machen. Neben Einkommen und Aufstiegschancen spielen Erfüllung und Anerkennung eine große Rolle für die Jobwahl. Es geht auch um das Gefühl, gebraucht und gewertschätzt zu werden. Im Job arbeite ich dann auf diese Sachen hin: Anerkennung durch meinen Chef oder von Teammitgliedern. Ein Bonus. Eine Beförderung. Aufwertung meines sozialen Status: „Ich bin wer, weil ich ‚Menschen unter

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mir habe‘, weil ich viel Geld verdiene und weil ich mich selbst erfülle.“ Es geht oft weniger um den Inhalt meiner Arbeit oder um das, was ich eigentlich produziere. Oft steht im Vordergrund wie viel Anerkennung, Status, Geld und Selbsterfüllung ich durch meine Arbeit anhäufen kann.

ternehmen sie den Versuch nach neuen Werten zu leben. Was so einfach klingt ist harte Arbeit. Es geht um nichts weniger, als tief verinnerlichte Einstellungen und Handlungsmuster zu verändern; in Harald Welzers Worten: Es geht um die Veränderung der mentalen Infrastrukturen (2011).1

Demgegenüber stehen Menschen für die Erwerbsarbeit etwas ganz anderes bedeutet. In diesem Jahr haben wir in Leipzig ein Projekt durchgeführt, in dem es um soziale, ökologische und demokratische Unternehmen (SÖDU) ging. Dazu haben wir einige Unternehmer_innen interviewt. Auffällig waren der Enthusiasmus und die Leidenschaft, die diese Menschen versprühen. Dabei machen sie oft nichts anderes, als andere Menschen auch: sie stehen im Laden und tippen Preise ein, nähen Stoffe oder mischen Farben. Und sie verdienen auch nicht mehr. Dennoch haben sie ein anderes Verhältnis zu ihrem Job. Es scheint, als ob ihr Job ein Teil von ihnen ist. Sie entwickeln eine aktive Beziehung zum Produkt ihrer Arbeit und zu den Menschen, die diese Produkte kaufen. Oft verschwimmt die Grenze zwischen Produzent_innen und Konsument_innen. Letztere werden in den Prozess mit einbezogen. Es entsteht eine Beziehung, die über ein geschäftliches Verhältnis hinaus geht. Ähnlich verhält es sich mit den Materialien und Rohstoffen, die für die Produkte verwendet werden. Dadurch, dass sich die interviewten Unternehmer_innen dafür interessieren, unter welchen ökologischen und sozialen Bedingungen die Materialien ihrer Produkte hergestellt werden, entwickeln sie ein aktives Verhältnis zu den Hersteller_innen und vielleicht auch zur Natur.

Was diesen Prozess kennzeichnet, ist ein Übergang von Passivität zur Aktivität. Die Aufgabe: „Denken ohne Geländer“, wie Hannah Arendt es beschrieb. Ich schaffe einen neuen Bezug zu mir und zur Welt, indem ich über meine Beziehungen zu mir, meinen Freund_innen, meiner Partner_in, meiner Arbeit, etc. nachdenke. Das ist der erste Schritt. Die Aufgabe könnte lauten: Wie lassen sich die unterschiedlichsten Beziehungen im Leben so gestalten, dass sie gut sind? Dazu was „gut“ ist gibt es keine immerwährenden, klaren Antworten. Aber es gibt welche, die mehr Sinn ergeben als andere. Um heraus zu finden welche diese sind und insbesondere welche für mich zutreffen, muss ich mich auf die Suche machen. Für Hannah Arendt war die Suche nach diesen Antworten nicht etwas, was man still für sich im Kämmerlein ausmacht, sondern draußen im öffentlichen Raum bespricht. Mit Freund_innen und Bekannten und Fremden. Auf das Denken folgt das Handeln: Menschen gestalten gemeinsam ihre Gesellschaft nach ihren Regeln neu!

Die Menschen, die wir interviewt haben, sind zwar Überzeugungstäter_innen, aber keine Öko-Freaks. Sie haben unterschiedliche Hintergründe, nutzen Laptops und manchmal auch Smartphones. Aber sie nehmen sich selbst als aktive Gestalter_innen ihres eigenen Lebens wahr. Nicht im oberflächlichen Sinne, indem sie Karriereweg A, B oder C einschlagen können und immer höhere Ansprüche an die Arbeitgeber_innen stellen, wie es der Generation Y nachgesagt wird. Nein, sie sind Gestalter_innen in dem Sinne, dass sie grundsätzliche Fragen für sich neu beantworten. Wie möchte ich leben? Was bedeutet Arbeit für mich? Was ist das überhaupt, das gute Leben? Um diese Fragen zu beantworten gibt es kein Gerüst aus Werten und Normen, auf das sie sich stützen wollen. Die Regelangebote aus der Gesellschaft sprechen sie nicht an - im Gegenteil - sie versuchen sich zu befreien von den sexistischen, hierarchischen und patriarchalischen Wertevorstellungen unserer Gesellschaft. Hedonistische Lebensweisen sind ihnen zu sinnfrei. Außerdem wollen sie keine Wirtschaft unterstützen, dessen soziale und ökologische Übel überwiegen. Deshalb un-

Was meiner Meinung nach also das Lebensgefühl in einer neuen Wirtschaft ausmacht, ist eine völlig neue Art von Beziehungen - zu mir selbst, zu allen anderen Menschen und zur Natur. Menschen, die es jetzt schon schaffen solche Beziehungen aufzubauen, tun dies unter sehr schwierigen Bedingungen. Denn das Regelwerk, das unsere Handlungen beschränkt, bekommt man immer dann zu spüren, wenn man etwas macht, was nicht normal ist. Ein gutes Beispiel dafür sind wieder die von uns interviewten Unternehmen: Einige haben es sehr schwer auch nur eine geeignete Rechtsform zu finden, die auf sie passt. So etwas wie ein Unternehmen, das sich am Gemeinwohl orientiert oder ein Kollektiv als Eigentümer_in hat, scheinen unsere Wirtschaftsregeln nicht einzuplanen. Gerade deswegen ist es wichtig, sich für diese Freiräume einer neuen Wirtschaft und Gesellschaft einzusetzen. Was dabei hilft ist gute Gesellschaft - andere Menschen, die ähnliche Vorstellungen davon haben, wie ein gutes Leben aussehen könnte und dies bereits jetzt leben.

| Felix Wittmann

1

Welzer, Harald (2011): Mentale Infrastrukturen: Wie das Wachstum in die Welt und in die Seele kam. Berlin: Heinrich Böll Stiftung.


Alain Badiou: Philosophie und die Idee des Kommunismus. Im Gespräch mit Peter Engelmann. Passagen Gespräche 1.

Zum 25. Geburtstag des Passagen-Verlags diskutiert der Passagen-Verleger Peter Engelmann in einem eindrucksvollen zweiteiligen Gespräch mit dem Mathematiker und Philosophen Alain Badiou (*1937) im gleichnamigen Buch über die ‚Philosophie und die Idee des Kommunismus’. Eine zentrale Unterscheidung, die selten so deutlich ausgedrückt wird, betrifft die Person Marx: Badiou differenziert zwischen dem Geschichtsphilosophen, dem ökonomischen Analysten und dem politischen Menschen. Dabei kommt es, dass sich beispielsweise die Idee der zyklisch wiederkehrenden Krisen der Überproduktion in der kapitalistischen Gesellschaft bereits bei Adam Smith finden lässt, womit Marx in dieser Hinsicht als Analytiker und nicht als Dialektiker verstanden werden kann. Und der politische Mensch Marx ist jener, der die Internationale gegründet hat und in den Klassenkampf in Frankreich intervenierte. Marx war eben weder nur das eine noch das andere. Entsprechend hatte er auch drei Ziele. Die Herstellung einer geschichtlichen Evolution, die Bereitstellung einer Analytik der Mechanismen der Gesellschaft seiner Zeit sowie die Konstruktion eines Werkzeugs, mit dem die alteingesessene Ordnung umgestürzt werden kann. Diese Unterscheidung der Person ermöglicht ein verfeinertes Verständnis der Idee des Kommunismus. In diesem Sinne ist sie eine Idee, die weder dialektisch noch analytisch ist. Jedoch gibt es eine „dialektische Version“ von ihr, wie Badiou es ausdrückt. Diese findet sich beispielsweise im Marx des Manifests der Kommunistischen Partei. Doch vor allem handelt es sich um eine formale Idee im doppelten Sinn, da sie hilft, die allgemeine Form der „laufenden politischen Bewegung zu bezeichnen“ (46) und zugleich normativ ist. Ferner von der Idee und näher am Historischen ist Badious Feststellung wesentlich, dass der Kommunismus keine Macht sein kann, sondern eine Bewegung ist. Somit sind Formen wie Staat, Partei oder Staatspartei davon ausgeschlossen. Doch der Realsozialismus sah anders aus. Es gab sowohl das Gebilde des Staates, die Staatspartei und auch die Arbeitsteilung wurde weiter ausgebaut. Und die Demokratie? Ja, sie verkörpert vor allem die hegemoniale Macht, „das Protokoll, das Legitimation schafft, das die Vorherrschaft ausmacht“ (54). Scharf schießt Badiou gegen den Kapitalismus, der nicht selten in Zusammenhang mit demokratischen Staaten steht. Nichts an den kapitalistischen Staaten, mit ihren imperialistischen Zügen und schlagkräftigen Armeen, die Afrika ausplündern und im Irak Menschen töteten, geht in Richtung Gemeinschaftlichkeit oder Gleichheit. Badiou hält sie für einen „Krankheitszustand“ (56). Die Demokratie als Repräsentation und die Repräsentation als Verfälschung des Universalen. Wer den Ex-Maoisten Badiou und seine Kritik am Repräsentativen verstehen will, muss dieses Buch lesen. Es lohnt sich. | Dona Barirani

Engelmann (2014): Alain Badiou. Philosophie und die Idee des Kommunismus. Im Gespräch mit Peter Engelmann. Passagen. 112 Seiten.

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es darf ein wenig


mutiger sein.


Trau dich. Pflanz mich.

Trau dich. Pflanz mich.

ich. Pflanz mich.

u dich. Pflanz mich.

flanz mich.


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Eckdaten Beitragsformen: Politisch-philosophische Essays und andere Ausdrucksformen wie Prosa, Lyrik, Fotografie, Zeichnung etc. Textlänge: 900 - max. 10.000 Zeichen inkl. Lz. Frist: 31. August 2015 An: redaktion@engagee.org

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Autor_innen & Künstler_innen Murat Ates ist unter anderem Dozent am Institut für Philosophie der Universität Wien, Aktionskünstler im Ruhezustand und Redakteur der Zeitschrift Polylog. Im Passagen Verlag erscheint sein Buch: Philosophie des Herrschenden – Eine einführende Schlussbemerkung.

8, 2010- 2013: Tanzperformances in Paris und Wien, Improvisation zu elektro- akustischer Musik, Solo- Performance “Tableaux vivants”, 2014: Doktorat an der Akademie der Bildenden Künste Wien: http://carolafuchs.tumblr.com

Dona Barirani promoviert ab Herbst 2015 am Institute for Environmental Studies der VU Amsterdam zum Thema International Environmental Governance. Ursprünglich aus dem Ruhrgebiet stammend, absolvierte sie Ihren Master an der Universität Wien im Fach Politikwissenschaft. Aus Liebe zur Politik, Philosophie und Kunst unterstützt sie engagée von Beginn an als Prozesskreatorin. Zu ihren Aufgaben gehören die allgemeine Koordination von engagée, Vernetzung und Kommunikation mit Autor_innen, Pressekommunikation sowie die Organisation der Projektförderung.

Jakob Frühmann verbringt sein Leben studierend, arbeitend, bei Wein philosophierend in Gasthäusern und Bibliotheken in Wien. Mit der Vermischung der Studiengänge Internationale Entwicklung und Theologie wie Germanistik auf Lehramt, baut er eine Brücke zwischen politischem Engagement und dem Glauben an eine andere mögliche Welt für heute. Er selbst träumt schon seit Jahren davon mit dem Segelschiff in diese Utopie zu fahren. Die Welt der Literatur ist dabei eine große Inspirationsquelle, die diese aktive Hoffnung nährt.

Patrick Borchers lebt und arbeitet in Hagen und Dortmund. Neben seiner eigenen künstlerischen Tätigkeit ist er als künstlerischer Mitarbeiter im Bereich Graphik an der TU Dortmund, Institut für Kunst und Materielle Kultur, tätig: http://www.patrickborchers.de Daniel Buschmann studierte Politikwissenschaft und Philosophie in Leipzig und Vilnius und beendet derzeit den Master Politikwissenschaft in Wien. Er forscht momentan zu sozial-ökologischen Transformationen und mischt sich dabei immer wieder in die Hochschul- und Umweltpolitik ein. Carola Fuchs ist Tänzerin, Choreographin und Forschende. Ausbildung in zeitgenössischem Tanz seit 2000 (Tension and release technique nach Martha Graham) 2006- 2010: Studium der Komparatistik in Wien und Dänemark, 2011- 2013: Master of Arts in Tanz an der Université Paris

Marcus Hawel hat Soziologie, Sozialpsychologie und Literaturwissenschaften studiert und lebt in Berlin. Er ist Mitherausgeber des politischen Online-Magazins www.sopos.org und arbeitet als Referent bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Veronika Glatzner ist Schauspielerin und Theatermacherin. Sie war fixes Mitglied am Schauspielhaus Wien. Seit dem Jahr 2014 initiiert sie mit dem Verein „Tempora – Verein für vorübergehende Kunst“ Theaterprojekte an der Schnittstelle von Theater/Literatur/Urbanismus in Räumen die temporär zur Zwischennutzung freigegeben sind. Markus E. Hodec ist Student der Philosophie und Politikwissenschaft in Wien und Prag; Redakteur und Lektor bei engagée. Claudia Kottal lebt und arbeitet als freie Schauspielerin in verschiedenen Theater-, Film- und Fernsehproduktionen in Wien.


Anna Kramer ist in Deutschland geboren, hat ihre Kindheit in Ungarn verbracht und arbeitet derzeit als Schauspielerin in Wien.

Norman Schroeder studiert Architektur in Aachen und ist Layouter bei engagée.

Lilly Valerie Kroth ist Schauspielerin, Projektentwicklerin und studiert Philosophie an der Universität Wien. Sie wirkt bei engagée als Koordinatorin, Sprecherin und Vernetzerin mit.

David Starzl ist kreativer und ausführender Teil von é-Ton, der auditiven Abteilung bei engagée. Er ist DJ und Musikproduzent. Außerdem studiert er Psychologie an der Universität Wien.

Jan Müller ist freischaffender Bühnenbildner und diplomierter Filmregisseur.

Georg Vobruba, Professor für Soziologie an der Universität Leipzig. Gastprofessor an der Universität Wien.

Philosophy unbound ist ein Kollektiv junger Philosoph_innen und Künstler_innen.

Dominik Wetzel ist Fotograf und lebt in Wien: http://www.dominikwetzel.com

Jenny Preunkert, Akademische Rätin am Institut für Soziologie der Universität Leipzig.

Felix Wittman ist absolvierter Politikwissenschafter und seit Anfang 2013 beim Konzeptwerk aktiv. Besonders interessiert er sich für Wohlstandskonzepte, sozial-ökologisches Unternehmertum, Degrowth und Klimagerechtigkeit.

Lisa-Maria Rakowitz studiert Germanistik in Wien. Als Preisträgerin zahlreicher Lyrikpreise schreibt sie Gedichte und Kurz-Theaterstücke. Für die erste Ausgabe von engagée schrieb sie die wortgewaltige Bilderstrecke “Ein Blick zurück in mich hinein”. Johannes Siegmund, studierte Philosophie und Kulturreflexion in Witten und Critical Studies in Wien, Teil des Kollektivs philosophy unbound. Interessen: Philosophie, zeitgenössische Kunst, Literatur, Performance, Theater. Blog: https://lieberweltgeist.wordpress.com Rahel Sophia Süß unterstützt engagée als Prozesskreatorin. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation zu aktueller Wachstumskritik und ihrem Subjekt. Sie studiert Philosophie und ist Lektorin an der Universität Wien. Bei Turia + Kant ist ihr Buch erschienen „Kollektive Handlungsfähigkeit“.

Cristina Yurena sieht unsere Gesellschaft als getöpfert an, wundersam und zerbrechlich zugleich. Sie findet aber, dass an vielen Stellen der Ton noch lange nicht gebrannt ist und greift daher munter ein. Als kritische Studierende, politischer Clown und engagierter Mensch – z B. beim Verein KAMA - gestaltet sie die nasse Erde unserer Welt in kreativer Unermüdlichkeit mit. Bastian Zwölfer, seit 2009 Student an der Universität Wien, Germanistik und Geschichte (LA).

engagée | 91



engagée | politisch-philosophische Einmischungen

UNRUHE BEWAHREN.

politisch-philosophische Einmischungen

Unruhe bewahren

# 1 | 2015

1 | 2015 | 8 € | www. engagée.org

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Autor_innen Künstler_innen

1min
pages 90-92

Philosophie und die Idee des Kommunismus

2min
pages 84-87

Markt und Moral

1min
page 79

call for action: Ekstase

2min
pages 88-89

Wirtschaft denken ohne Geländer

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pages 80-83

Die doppelte Vertrauenskrise

7min
pages 74-78

Ein Blick zurück in mich hinein

8min
pages 54-59

Nackt im Museum

3min
pages 71-73

Manifesto

1min
pages 44-45

Warum wir uns nicht empören

3min
pages 66-70

Rloveution

6min
pages 46-48

Vom engagierten Spiel zum furchtlosen Widerstand

3min
pages 25-28

Tableau vivant

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pages 39-40

Von Kamelen, Löwen und Kindern

4min
pages 17-20

Sätze über übersetzte Gerechtigkeit

5min
pages 9-14
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