Elbphilharmonie Magazin – Tanzen | 1/2024

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4<BUBALT=a gfa >:l;W 1 | 2024 Euro 6,50

KLANG UND KÖRPER

Tanzprojekte mit Sasha Waltz und CocoonDance

DER TRAUMTÄNZER

Eine Woche des Staunens mit André Heller

HINREIẞEND UNGEFÄLLIG

Luigi Nono und seine Musik

ANDRÁS SCHIFF

Meister der Spielfreude


WER SAGT, DASS SICH EIN BERUF NACH ARBEIT ANFÜHLEN MUSS? Wie wir heute investieren, so leben wir morgen. juliusbaer.com

JULIUS BÄR IST PRINCIPAL SPONSOR DER


HERZLICH WILLKOMMEN!

L

iebe Leserin, lieber Leser,

bis ins Titelbild hinein bringt diese Ausgabe des Elbphilharmonie Maga­ zins die Verhältnisse zum Tanzen. Marie Emmermann hat für uns aus Architekturfotos von der Elbphil­ harmonie Collagen entworfen, für die sie vertraute Ansichten und bauliche Details des Hauses aus ih­ rem Kontext gelöst und auf s­ pielerische Art neu zu­ sammengesetzt hat. Das passt programmatisch gut in die kommenden Winterwochen, in denen bei uns choreo­ grafische Bereicherungen musikalischer Werke in zwei sehr unterschiedlichen Produktio­nen zu erleben sind. So kehrt die Berliner Choreografin Sasha Waltz, die mit ihrer Kompanie 2017 noch vor dem eigentlichen Er­ öffnungskonzert der Elbphilharmonie die Foyers einweih­ te, mit Terry Rileys Minimal-Music-Klassiker »In C« zu uns zurück, und die in Bonn ansässige CocoonDance Com­pany tanzt das Stück »Hauch#2« unserer diesjähri­ gen Residenzkomponistin Rebecca Saunders. Wie Sie es von diesem Magazin gewohnt sind, bieten solche Pro­ grammpunkte Anlass zu grundsätzlicheren Gedanken und zu musikhistorischen Erkundungen (Seiten 4 und 8). Auch unser Künstlerinterview streift das Titelthema: Der tschechische Dirigent Jakub Hrůša, der nach jahre­ langer ausgezeichneter künstlerischer Arbeit in Bamberg eine internationale Bilderbuch-Karriere hinlegt, offen­ bart im Gespräch, welchen Stellenwert das Tänzerische in seinem Verständnis von Musik einnimmt (Seite 28).

Ein schönes Porträt gilt unserem diesjährigen Residenz­ künstler András Schiff, dessen Konzerte mich nun seit über vierzig Jahren immer wieder aufs Neue begeistern (Seite 44). Schiff ist im besten Sinne des Wortes ein Diener der Musik; sein Spiel besteht, wie der Mann selbst, aus Geist, feinem Humor und musikalischer Noblesse. In der Elbphilharmonie ist der große ungarische Musiker im Frühjahr sechs Mal zu erleben. Lesegenuss bereitet auch Albrecht Selges eminent kenntnis­reicher Artikel über Schiffs Landsmann Béla Bartók, dem der NDR im Februar ein Festival widmet. Der Wiener Allroundkünstler André Heller gestaltet im März eine ganze Woche in der Elbphilharmonie. Das Motto dafür, »Fremd in der Fremde«, hat er von dem Münchner Dada-Komiker und Weisen Karl Valentin ausgeliehen, über den Kurt Tucholsky einmal schrieb, er führe auf der Bühne einen »Höllentanz der Vernunft zwischen beiden Polen des Irrsinns« auf. Zum Wesen des Tanzes gehört ja auch, dass dabei die Perspektive stän­ dig wechselt, weil man sich immer in Bewegung befindet. Nichts bleibt, wie es ist. Das kann doch auch etwas Be­ ruhigendes haben. Ich wünsche Ihnen eine anregende, ja, beschwingte Lektüre!

Ihr Christoph Lieben-Seutter Generalintendant Elbphilharmonie und Laeiszhalle


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ZIEMLICH BESTE FREUNDE

LU I G I N O N O

HINREIßEND UNGEFÄLLIG

Ein Annäherungsversuch an den venezianischen Komponisten VON TOM R. SCHULZ

Ohne Musik kein Tanz? Über die schönste aller Kunstsymbiosen

E N G AG E M E N T

VON DORION WEICKMANN

ICH BIN EIN FAN VON CLAUDIA SCHILLER

8 M U S I KG E S C H I C H T E

KLANG UND KÖRPER

Vier Schlüsselszenen aus der Be­ ziehung zwischen Musik und Tanz VON VOLKER HAGEDORN

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M A X I M E M E LYA N YC H E V

DER VORTÄNZER

TANZSCHNITTE

Der Dirigent spielt sich von Vergleichen frei.

VON MARIE EMMERMANN

VON SIMON CHLOSTA

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MUSIKLEXIKON

STICHWORT »TANZEN«

U M G E H Ö RT

Es gibt nichts, wozu die Musik nichts zu sagen hätte.

Eine Frage, sieben Antworten

VON CLEMENS MATUSCHEK

VON IVANA RAJIC

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G LO S S E

BEWEG–GRÜNDE

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DIE GRASWURZELBEWEGUNG

WIR BRAUCHEN EIER

Béla Fleck und Rhiannon Giddens erneuern die Roots Music der USA.

Und zwar, um dazwischen zu tanzen. VON TILL RAETHER

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BANJO

VON STEFAN FRANZEN

ANDRÁS SCHIFF

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E D U CAT I O N

MEISTER DER SPIELFREUDE

FEINE GESTEN, GROẞE BILDER

Bei ihm scheint die Musik aus sich selbst zu schöpfen.

M I TA R B E I T E R

Bewegung, Musik und Education VON DOMINIK BACH

VON MARTIN MEYER

Die Guides der Elbphilharmonie kennen alle Winkel des Hauses.

FÜHRT UNS HINAUF!

VON FRÄNZ KREMER

28 50 INTERVIEW

B É L A B A RTÓ K

»OHNE TANZ IST DIE MUSIK ARM«

DIE MASKEN DES REINEN BLICKS

Der Dirigent Jakub Hrůša im Gespräch

Leben und Kunst des ungarischen Komponisten

VON BJØRN WOLL

VON ALBRECHT SELGE

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­FÖRDERER UND ­SPONSOREN

­IMPRESSUM


16 ANDRÉ HELLER

DER TRAUMTÄNZER

»Fremd in der Fremde«: André Heller kuratiert in der Elbphilharmonie eine Woche des Staunens. VON ROBERT ROTIFER

60 JAZZ

GELIEBTE MENSCHENFRESSERIN

Cécile McLorin Salvant bringt eine dunkle ­Jazz-Oper auf die Bühne. VON JAN PAERSCH

74 R E P O RTAG E

DIE SEELE TANZT MIT

Tanzen kann heilen, innerlich stark machen und mit der Heimat verbinden. Drei Beispiele aus Hamburg VON STEPHAN BARTELS UND ANDREA THOLL


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ZIEMLICH BESTE FREUNDE Ohne Musik kein Tanz? Nicht ganz … Über die schönste aller Kunstsymbiosen. VON DORION WEICKMANN

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amit hatte nun wirklich nie­ mand gerechnet: Vierzig Vor­ hänge, nicht enden wollen­ der Applaus für eine deutsche Kompanie im russischen Eldorado des Tanzes – die Gäste des Stuttgarter Bal­ letts konnten es nicht fassen. Der Ju­ bel, der sich da 1972 im Parkett des Leningrader Maly­Theaters abspielte, nahm solche Ausmaße an, dass die Orchestermusiker das Weite suchten. Also beschlossen die Tänzer Marcia Haydée und Richard Cragun, als Zu­ Bewegungskunstwerk in allen Farben: Sasha Waltz & Guests mit Terry Rileys »In C«

gabe den letzten Pas de deux aus John Crankos »Der Widerspenstigen Zäh­ mung« auf ihre ganz eigene Weise zu präsentieren – in die Stille hinein, nur begleitet von ihren eigenen Stimmen: »One, two, three …« Szenenwechsel. Das reine Infer­ no: Der Saal tobte, und aus dem Or­ chestergraben drang eine Musik, wie sie noch keines Menschen Ohr gehört hatte. Monatelang hatten die Tänzer geprobt, und doch schien es kaum mög­ lich, zur Premiere die Orientierung zu behalten. Zu überwältigend die Klang­ maschine, zu revolutionär die Bewe­ gungssprache – eine Herausforderung für alle Künstler, die an diesem Expe­ riment beteiligt waren. Und erst recht für das Publikum. Indes stand der Mann, der dieses Tohuwabohu als Choreograf entfesselt hatte, auf einem Stuhl in der Kulisse und schrie aus Lei­ beskräften gegen den akustischen Orkan an. Vaslav Nijinsky baute den Tänzern

der Ballets Russes, die an diesem Früh­ sommerabend 1913 Igor Strawinskys »Le sacre du printemps« zur Urauf­ führung brachten, ein Zahlengeländer: »Ras, dwa, tri … un, deux, trois …« Jahrzehnte und Lichtjahre schei­ nen die beiden Episoden aus dem eins­ tigen Maly­, dem heutigen Michailow­ ski­Theater in Sankt Petersburg und dem Pariser Théâtre des Champs­Ely­ sées voneinander zu trennen. Bei ge­ nauer Betrachtung jedoch ergibt sich eine geradezu zwillingshafte Verbin­ dung: Hier wie da ist das Metrum, der Takt, die Zahl das Fundament, auf dem die Tanzenden halbwegs sicher balancieren können. Was die wichtigste Voraussetzung alles Tanzens ist: Ob auf der Bühne, im Club, als Kunstform, Kulturtechnik, Sport oder Zeitver­ treib – der Rhythmus macht’s. Bis ins 20. Jahrhundert hinein haben Kom­ ponisten musikalische Architekturen grosso modo so organisch gebaut, dass Tanzende sich ihnen fast blindlings an­ vertrauen konnten. Die Avantgarden brachen diese Echoräume auf und setz­ ten die Bruchstücke neu zusammen. UNIVERSELL UND UBIQUITÄR

Am Anfang indes regierte harmoni­ sches Miteinander – Musik und Tanz, Ohr und Auge in einvernehmlichem


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Austausch. Selbst wenn man einander kontrapunktisch, synkopisch oder in agitiertem Tempo begegnete. Die aka­ demische Tanzgeschichte beginnt ge­ gen Ende des 17. Jahrhunderts mit Lud­ wig XIV., selbst ein enthusiastischer Ballerino, dem etliche Werke auf den sonnenköniglichen Leib geschrieben und choreografiert wurden. Inmitten seiner Höflinge, die das Tanzen ebenso zu beherrschen hatten wie Fechten, Reiten und gepflegte Konversation, produzierte sich Frankreichs Herrscher vorzugsweise als antiker Gott – und der Komponist Jean­Baptiste Lully sorgte für die musikalische Cadrage. Nicht schwer, denn die barocke Musik ist im Grunde eine einzige Einladung zum Tanz. Keine Oper ohne Tanzein­ lage, die Gattung der Opéra­ballets verschmilzt die Sphären, ja selbst Kon­ zerte, Oratorien und reine Instrumen­ talkompositionen scheinen sich an die Rhythmen und Schwingungen zu schmiegen, die durch den tanzenden Körper strömen. Der Reiz inspiriert noch Jahrhun­ derte später Choreografen aller Cou­ leur. Wer zuletzt Anne Teresa De Keersmaekers intimes Duo mit Boris

Charmatz zu Bachs Partita Nr. 2 für Violine oder ihre zeitgenössische Übersetzung der Cello­Suiten in ein formidables Ensemblestück gesehen hat, weiß um die Zeitlosigkeit dieser Tonalitäten. Ob George Balanchines »Concerto Barocco«, John Neumeiers »Weihnachtsoratorium« oder seine »Matthäuspassion« – das Barock ist noch heute ein hell leuchtender Fix­ stern im Kosmos des Tanzes, weil uni­ versell und ubiquitär zu bespielen. Freilich hat schon das Tanzschaf­ fen des Ancien Régime die Engführung von Melodie und Bewegung, Klang­ und Körperinstrument nicht nur ge­ dacht, sondern konzeptionell verankert. Davon legt ein anno 1700 erschienenes Grundsatzwerk das beredteste Zeugnis ab, Raoul­Auger Feuillets »Chorégra­ phie, ou l’art de décrire la danse par caractères, figures et signes démonst­ ratifs« (Choreographie oder die Kunst, den Tanz durch Schrift, Bilder und Zeichen zu beschreiben): Entlang der Notenlinien werden Bodenwege und Bewegungspartikeln aufgezeichnet und so die Verbindungen zwischen Musik und Tanz offengelegt und festgeschrie­ ben. Die frühe Notation markiert einen

Quantensprung, auch wenn nur ein halbes Jahrhundert später die Aufklä­ rung von der Tanzkunst Besitz ergreift und deren absolutistisch­repräsentati­ ven Zuschnitt hinwegfegt. Allen voran bestimmt nun der Reformer Jean­Geor­ ges Noverre die Generallinie und ver­ langt, dass Musik und Tanz gemeinsam seelische Verfasstheiten zum Ausdruck bringen.

Ein Quantensprung im Tanz: Notation aus Raoul-Auger Feuillets Grundsatzwerk »Choreographie oder die Kunst, den Tanz durch Schrift, Bilder und Zeichen zu beschreiben« (Paris, 1700)

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NARRATIV UND DRAMATISCH

Indes bleibt es der Ballettromantik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor­ behalten, den Epochenwandel zu voll­ ziehen: Mit Balletten wie »La Sylphide«, »Giselle« und »La Péri« erobert die Er­ zählung das Tanzterrain. Zugleich ent­ stehen Partituren, die stets im Einklang mit dem Bühnengeschehen narrative und dramatische Register ziehen. Das Orchester bereitet den Boden, auf dem die Szene gedeiht – häufig in enger Ab­

stimmung zwischen Komponist, Lib­ rettist und Choreograf. Ein Pas de deux wird anders gebettet als ein Corps­de­ ballet­Auftritt, was nicht bedeutet, dass die Musik von minderer Güteklasse ist. Im Gegenteil ist etwa die Wahnsinns­ szene, mit der Adolphe Adam 1841 die Winzertochter Giselle aus dem Leben verabschiedet, ein überaus fein gebau­ tes Erinnerungsmosaik, das Klangmo­ tive aus dem ersten Akt zu einer Art Retro­Collage verbindet – ein ziemlich avanciertes Vorgehen. Ihren Höhepunkt erlebt diese Entwicklung in der russischen Neoro­ mantik, rückblickend vor allem mit der Trias der Tschaikowsky­Ballette ›


verbunden: »Schwanensee«, »Dornrös­ chen« und »Nussknacker«. So genial die Werke, so klar formuliert der Auftrag: Der Ballettmeister des Zaren, Marius Petipa, schreibt seinem tonsetzenden Gegenüber Nummer für Nummer Länge, Takt, charakterliche und atmo­ sphärische Färbung vor. Umso erstaun­ licher, dass Piotr Tschaikowsky nicht nur ein hinreißend vitales Opus nach dem anderen gelang, sondern dass er im Umgang mit Leitmotiven und Folk­ lore­Elementen geradezu stilbildend wirkte. Seine Kompositionen skizzieren die dramatis personae mit außerordent­ licher Raffinesse und liefern insofern, was Tänzer jenseits ihrer technischen Fertigkeiten für die Zeichnung einer Rolle benötigen: den Noten­Rahmen, der ihr Tanzen gleichzeitig unterstützt und ideal zur Geltung bringt. EXPRESSIV UND EXPLOSIV

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs öffnet sich mit Igor Strawinskys »Sacre du printemps« schlagartig das Kapitel der Moderne: expressives Pulsieren, explosive Gewalt, innere Spannung und äußere Strapaze bis hin zum tödlichen Stillstand – Merkmale, die »Sacre« als monumentales Menetekel der Zukunft ausweisen. Nicht umsonst gilt Strawins­ kys epochales Werk bis heute als Lack­ mustest für choreografische Karrieren. Kaum ein Tanzmacher kann ihm wi­ derstehen, aber kaum einer bringt auch einen derartigen Geniestreich zustande, wie er 1975 Pina Bausch gelang. Gleich­ wohl steht »Sacre« am Beginn einer Entwicklung, die den Tanz insgesamt erfasst und nicht nur zu schier endlo­ sen Verzweigungen und Variationen seiner Phänomenologie führt, sondern auch zur ebenso unbegrenzten Ausdeh­ nung seiner Tonallianzen. Zu den Handlungsballetten und sinfonischen Körperdichtungen gesel­

Kinetische Körperskulpturen von großer Beredsamkeit: die Kompanie CocoonDance (hier bei Proben zu »Chora«, 2023)

len sich ganz neue Spielarten: von der Perkussion, die 1926 Mary Wigmans »Hexentanz« begleitet bis hin zu Sergei Prokofjews unverwüstlichem program­ matischem »Romeo und Julia«­Epitaph (1938), von gleichberechtigten Avant­ garde­Kooperationen wie die zwischen dem Choreografen Merce Cunningham und dem Komponisten John Cage bis hin zu postmodernen Experimenten, die Minimal Music mit repetitiven Be­ wegungsclustern paaren oder die Ba­ rockkathedrale des Tanzes endgültig sprengen wie William Forsythes »In the Middle Somewhat Elevated« (1987) unter den Bassbeats von Thom Willems.

Diese Vorstöße ebnen den Weg für die Höhepunkte von heute, die Hip­Hop, Techno oder selbstkomponierte Ex­ tremsounds in nicht minder extreme Body Motion verwandeln – so etwa Sharon Eyals durchchoreografierte Raves oder Hofesh Shechters Polit­ parabeln. ERFÜHLEN UND ERFÜLLEN

Was also kann, muss, darf der Tanz von der Musik erwarten? Je nach choreogra­ fischer Vorliebe lassen sich verschiedene Annäherungen skizzieren: Wer das Da­ hinfließen von Erzählung und Ästhetik favorisiert, wird seine Tänzer und Tän­


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zerinnen auf Klangwolken betten, hie und da von Gewittern und Stürmen ge­ zaust oder von Sonneneinstrahlung er­ leuchtet. Das Gros des Ballettschaffens bedient sich deshalb aus dem klassi­ schen Fundus, also eigens geschrie­ benen Partituren, aber eben auch aus Sinfonien, Konzerten, Liederzyklen, sakralen Werken, kammermusikali­ schen oder solistischen Formaten. Ent­ scheidend ist, dass die Tänzer in die Musik hineinatmen, deren Metrik mit der kunstvollen Rhetorik ihres Körpers erfühlen und erfüllen können. Anders operiert die zeitgenössi­ sche Schiene, die freilich über alle Dif­ ferenzen hinweg von einer Konstante gehalten wird: Hier rhythmisiert das Atmen jeden Tanz, besonders auffällig, wenn ringsum Stille herrscht. Nichts Eindrucksvolleres als ein Ensemble, das hörbar Luft holt, anhält, ausstößt – ganz und gar unisono. Die kollektive Respi­ ration zieht sich wie ein Leitmotiv auch durch leisere, sanfte und leichtfüßige Choreografien, die musikalischen und tänzerischen Minimalismus zusam­ menziehen. Zu früher Meisterschaft haben es hier US­amerikanische Ak­ teurinnen wie Lucinda Childs und Trisha Brown gebracht, in Europa ist

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Anne Teresa De Keersmaeker die unge­ krönte Königin des Genres. Ein herausragendes Beispiel der Gattung ist auch zu bestaunen, wenn nun Sasha Waltz & Guests die Elbphil­ harmonie mit Terry Rileys »In C« flu­ ten. Die Choreografin, die gerade das 30. Jubiläum ihrer Kompanie begeht, hat Rileys Opus von 1964, das die Ge­ burtsstunde der Minimal Music mar­ kiert, in ein strahlendes, in allen Farben des Regenbogens schillerndes Bewe­ gungskunstwerk verwandelt. Waltz hat die 53 Module aus Rileys musikali­ schem Tableau in ebenso viele Tanz­

ren. Vielmehr hat sich der Akzent auf wechselseitige Erkundung und leben­ dige Interaktion verschoben. Vor allem live begleitete Inszenierungen schaffen Freiräume für Spontaneität und Im­ provisation, die im akademischen Tra­ ditionstanz allenfalls als Betriebsunfall vorkommen. Spätestens seit Merce Cunningham, dem 2009 verstorbenen Erfinder der Zufalls­Choreografie, haben sich Tanzdesigner auf das Spiel mit dem Unvorhersehbaren eingelas­ sen. Mitunter werden nur noch Zeichen verabredet, um den Wechsel von Sze­ nen und Sequenzen einzuleiten, wäh­

passagen transferiert, die sich nicht nur Profis einverleiben können, sondern Menschen auf der ganzen Welt. Von daher ist »In C« weit mehr als ein ge­ tanztes Artefakt: Es ist ein gesellschaft­ liches Projekt und damit auf der Höhe des 21. Jahrhunderts. Gleiches lässt sich für Cocoon­ Dance aus Bonn formulieren, die mit »Hauch#2 – Musik für Tanz« eine Kom­ position von Rebecca Saunders nach Hamburg bringen (siehe das SaundersPorträt im letzten Elbphilharmonie Magazin). Saunders ist eine Komponistin, die bereits etliche Brückenschläge aufs Tanzterrain unternommen hat, nicht zuletzt auch mit Sasha Waltz. Sie ar­ beitet dezidiert mit Auslassungen und den Vibrationen der Stille – eine Her­ ausforderung für die Choreografin Rafaële Giovanola, die kinetische Kör­ perskulpturen von großer Beredsamkeit modelliert, bisweilen zu durchaus schwergewichtigen und eigens ange­ fertigten Soundschleifen.

rend ein Zufallsgenerator die Klänge steuert. Heute Digitalexperten, morgen KI – ist das die Zukunft für die Musik zum Tanz? Teils, teils. Ein nicht unmaßgeb­ liches Quantum des Gegenwartstanzes wird sich weiter in analogen Sphären bewegen und mit leibhaftigen Musikern zusammentun. Musik ohne Tanz ist leichter zu denken als Tanz ohne Mu­ sik. Es handelt sich demnach um ziem­ lich beste Freunde – und ganz sicher um eine der schönsten Wahlverwandt­ schaften im Kunstuniversum überhaupt.

ERKUNDUNG UND INTERAKTION

Anders als das klassische ist das zeit­ genössische Tanz­Idiom weniger darauf fixiert, in einer Klangwelt aufzugehen oder, umgekehrt, diese zu konterkarie­

SASHA WALTZ So, 7.1.2024 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal sasha Waltz & guests (kompanie) the Young gods (Band) terry riley: in c COCOONDANCE Mi, 28.2.2024 | 19:30 Uhr Elbphilharmonie Kleiner Saal ensemble Modern cocoondance company rafaële giovanola (choreografie) rebecca saunders: hauch#2 – Musik für tanz


KLANG UND KÖRPER

Vier Schlüsselszenen aus der jahrhundertelangen Beziehung zwischen Musik und Tanz. VON VOLKER HAGEDORN


Musikgeschichte

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»Hier wird in Romanischen habit die pas Corrente mit hüpscher bewegung der Arme, deß Haubts und des Leibs gedantzt.« (Kupferstich, Nürnberg 1716)

WAS BACH VOM SONNENKÖNIG ÜBERNAHM

Als die Leipziger am Karfreitag 1727 die neue »große Passion« hörten, die ihr Thomaskantor geschrieben hatte, die Passio Secundum Matthaeum, konnten sie sich noch wundern über die neue Musik, und vielleicht freute es sie in all dem Neuen auch, hie und da eine Tanzform wieder­ zuerkennen: eine Gigue in der wütenden Chorfuge »Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?«, ein Me­­ nuett in der Arie »Ach, nun ist mein Jesus hin«, eine Sara­ bande im Schlusschor »Wir setzen uns mit Tränen nie­ der« … Zumindest das gehobene Bürgertum kannte diese ursprünglich französischen Tänze nebst ihren Bewegun­ gen sehr gut – sie wurden längst nicht mehr nur an den Höfen getanzt. Bach und Tanz? Das liegt für uns so nahe wie fern. Nahe, weil wir gerade bei diesem Komponisten immer wieder auf die Namen von Tänzen stoßen, in Suiten und Partiten höchsten Ranges: Allemande, Bourrée, Courante, Gavotte … In weite Ferne entrückt aber ist uns das Universum der Formen und Bewegungen hinter diesen Namen, das einst nicht nur den Leipzigern (mit immer­­ hin einem Dutzend Tanzmeistern auf 30.000 Einwohner) nahe war. »Ganz bewusst«, schreibt der Bach-Experte Christoph Wolff, habe Bach für die Matthäuspassion »Ele­ mente aus allen gängigen Gattungen der geistlichen und weltlichen Musik« herangezogen. Dieses Sakralwerk über­ bot alles Dagewesene an Vielfalt. Dass wir dabei nicht an höfische Tänze denken, liegt auch daran, dass Bach­ rezeption und Bachforschung in diesem Punkt deutlich

verkniffener sind, als es die Lutheraner des frühen 1­ 8. Jahr­ hunderts waren. Gegen die »wahre Tantz-Kunst« hatten sie im Gegen­ satz zu Calvinisten und Pietisten nichts einzuwenden. ­Es war der Leipziger Tanzmeister Johann Pasch, der mit seiner »Beschreibung wahrer Tantz-Kunst« 1707 die Kunst aus Versailles »ins deutsche protestantische Bürger­ tum vermittelte« (Silke Leopold), und in Leipzig er­ schien 1717 Gottfried Tauberts »Rechtschaffener Tantz­ meister« mit der Übersetzung eines bahnbrechenden Werks aus Frankreich: 1700 hatte Raoul-Auger Feuillet die Tanz­­notation publiziert, die am Hof des Sonnenkönigs ent­wickelt worden war (s. S. 5). Ganz gleich, wie viele Städte Louis XIV hatte niederbrennen lassen, seine Hofkultur war maßgeblich für ganz Europa, und mit Feuillets »Choréographie« eroberte die für ihn zen­trale Kunst auch das Bürgertum. Es ist ein Vokabular von Bewegungen, dessen Diffe­ renziertheit einem Unkundigen den Atem verschlägt. Was da an Positionen, Fußstellungen und Schrittfolgen auf­ gezeichnet ist, nimmt sich aus wie eine grafische Partitur neben den Tönen. Kniebeugen, Erheben auf die Fußbal­ len, Drehen, Gleiten, Springen, Armbewegungen, für ­alles gibt es Hieroglyphen. Bach dürfte all das schon früh kennengelernt haben. Als 15-jähriger Lüne­burger Sti­ pendiat hatte er, so Wolff, über den Ballett­meister Thomas de la Selle vermutlich Zugang zum herzoglichen Schloss und konnte dort »aus erster Hand genuin französische Mu­ sik hören und sich in französischen Aufführungsmanieren ›


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Musikgeschichte

bilden«, zur selben Zeit, als er von Georg Böhm in die Komposition stilisierter Tänze eingeführt wurde. Spä­ ter freundete sich Bach mit zwei be­deutenden Tanzmeis­ tern in Sachsen an, mit Jean-Baptiste Volumier und Pantaleon Hebenstreit. Es ist unwahrscheinlich, dass er bei den Bällen, die die Leipziger Bürger und ihre Tanzmeister veranstal­ teten, nur am Rande stand und zusah. Ganz sicher aber hatte er bei den hunderten von Tänzen, die er explizit oder implizit komponierte, eine Körpersprache vor sich, die heute nur noch Experten kennen – und die doch für die Euro­päer mehrerer Generationen zum Leben ge­ hörte. Allein im »Wohltemperierten Klavier« haben Meredith Little und Natalie Jenne (»Dance and the Music of J. S. Bach«, 1991) zwölf Tänze gefunden. »Wenn man die Übung im Kom­ponieren charakteristischer Tänze ver­ nachlässigt«, schrieb Bachs Schüler Johann Philipp Kirnberger 1777, »wird man nur mit Schwierigkeiten oder gar nicht zu einer guten Melodie kommen. Vor allem ist es unmöglich, eine Fuge zu schreiben oder zu spielen, wenn man nicht jede Art von Rhythmus kennt.« MOZART UND SEIN SPRENGSATZ AUS TÄNZEN

1787, zwei Jahre vor der Französischen Revolution. Ein vermögender Adliger, immer auf der Jagd nach Affären, lädt zur Party in sein Schloss, Leute von Stand und eine Hochzeitsgesellschaft von Bauern. »Viva la libertà!«, ruft er, dann lässt er von drei verschiedenen Kapellen drei Tänze gleichzeitig spielen. Menuett für den Adel, Kon­ tretanz für die Bauern, unter die er sich mischt, weil er sich so an die Braut heranmachen kann. Eine dritte Kapelle spielt einen »Deutschen«, die Vorform des Walzers, ein für die Zeit unanständiger und daher sehr beliebter Tanz mit enger Berührung – und ausgerechnet zu dem nötigt der Diener des Gastgebers den Bräutigam, um ihn ab­­­ zulenken. Unnötig zu sagen, dass sich unter den Menuett tanzenden Maskierten zwei Damen befinden, die mit

dem Hausherrn auch schon Erfahrungen gemacht haben und ihn endlich aus dem Verkehr ziehen wollen. Unnö­ tig deshalb, weil Sie natürlich schon Mozarts Oper »Don Giovanni« erkannt haben, erster Akt, erstes Finale, Szene 20. Mozart und sein Librettist Lorenzo da Ponte siedeln die Geschichte im Sevilla des 17. Jahrhunderts an, aber die Oper ist vom ersten Wort bis zum letzten Ton auf der Höhe des Tages, und das betrifft auch die Tänze. Von all den Hoftänzen, mit denen – dank Feuillets Tanzschrift – Versailles in ganz Europa präsent war, ist im späten ­18. ­Jahrhundert der jüngste geblieben, das Menuett, in den 1650ern von Louis XIV entwickelt, einfachster Tanz, aber doch kompliziert genug mit vier Schritten auf sechs Zähl­ zeiten, nobler Haltung, absoluter Kontrolle. Die Beherr­ schung des Menuetts wurde zum bürgerlichen Bildungs­ nachweis und seine einfache musikalische Struktur ein Einstieg ins Komponieren. Mozart dachte sich sein erstes Menuett mit fünf Jahren aus, und ­Silke Leopold (»Tanz und Macht im Ancien Régime«, 2007) schließt aus dem Thema, dass er da auch schon wusste, wie man es tanzte. Er wurde ein sehr guter Tänzer und verließ 1777 ent­ täuscht einen Ball, »dann es ware, unter 50 viell Frauen­ zimmer, eine einzige welche auf dem tact Tanzte«. Da ließ es schon nach mit der Finesse, und zur Zeit des »Don Giovanni« war das Menuett so angekratzt wie die Ord­nung der Stände, für die es in dieser Oper noch steht. Der­weil wurde der Kontretanz – Frauen und Männer ein­ander ge­ genüber, einfache Bewegungen – zum Modetanz, bald auch der »Deutsche«, bei dem sich die Geschlechter tan­ zend so nahe kamen wie nie zuvor. Alle drei stapelt Mozart beim Fest aufeinander. Das Menuett im 3/4telTakt beginnt, es kommt die »Contradanza« im 2/4telTakt dazu und schließlich die »Balla la Teitsch«, der »Deut­ sche«, im 3/8tel-Takt – ein Chaos der Betonungen und Motive, das dem Beziehungswirrwarr entspricht, in das alle verwickelt sind. Die Party wird im Zeitraffer – 63 Takte

Im »Don Giovanni« stapelt Mozart drei Tänze aufeinander. Das wirkt bis heute wie taufrische Gegenwart.

»Reich mir die Hand, mein Leben / Komm auf mein Schloss mit mir«: Don Giovanni bezirzt Zerlina, das Volk tanzt (Kreidelithografie von Julius Nisle, 1841)


Musikgeschichte

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Tanz, keine zwei Minuten – zur Weißglut gebracht und bricht mit dem entsetzten Schrei Zerlinas ab, die vom Gast­geber gewaltsam ins Abseits gezerrt wird. Es ist nicht das erste Mal in der Musikgeschichte, dass unterschied­ liche Ebenen von Aktionen und Gefühlen zugleich erklin­ gen – aber hier riskiert es ein Komponist, die Struktur daran zerbrechen zu lassen. Der Drei­vier­teltakt des Menu­ etts als Grundgerüst kann die Ver­dichtung und Irregu­ larität kaum noch tragen. Mozart geht mit dem Takt, »der doch stets die letzte, unantastbare Kategorie darstellt, so um (…), als ob sich Taktarten so kombinieren ließen wie Stimmen oder Motive«, stellt Stefan Kunze fest (»Mozarts Opern«, 1984). Freilich tut er das mit einem unfassbaren Schwung, die Energie des Ganzen springt uns mühelos an, und die Tänze, aus denen Mozart seinen Sprengsatz baut, wirken nach 236 Jahren wie taufrische Gegenwart. Zwei Jahre nach der Uraufführung begann die feudale Ordnung in Europa zu zerbrechen. WALZER VON INNEN BEI MAHLER, BERLIOZ, ­TSCHAIKOWSKY

Es gibt bei Gustav Mahler 23 Walzertakte, die könnte man herauslösen und damit Leute hereinlegen, vielleicht sogar solche, die seine Fünfte Sinfonie schon mal gehört haben. »Das ist aber ein schöner Walzer«, würden sie sagen und hätten recht. Nichts stört diesen sanften Schwung der Streicher, dem leise gezupfte Töne das Metrum geben. Hie und da sekundiert eine Oboe, ein Fagott, von Bre­ chung keine Spur, das bisschen Kontrapunktik ist nicht der Rede wert. Und all das mitten in einem Satz, der der polyphonste in Mahlers Fünfter Sinfonie ist, das längs­ te Scherzo aller Zeiten, Mahlers erstes vollkommen kon­ trapunktisch durchgearbeitetes Werk. Dieses Scherzo ist seinerseits eine Art kosmischer Walzer voller Aufbrüche und Abgründe, die gerade deswegen so deutlich werden, weil der Tanzrhythmus alles zusammenhält, auch dort, wo er in wilden Fugati und apokalyptischen Bläserschreien untergeht oder mit Pau­ kenschlägen untanzbar gemacht wird. Und mittendrin – formal eine Art »Trio I« – Walzer pur und schön, wie ein Rückblick oder eine Liebeserklärung oder beides, vor jenem letzten Takt abgebrochen, den man nach einer or­ dentlichen Periode erwartet. Hier kommt der Walzer noch einmal so zu sich, dass man förmlich seine Sinnlich­ keit spürt, die Nähe, die er in aller Öffentlichkeit möglich macht. Wie ein Séparée hat Mahler ihn in die riesige Partitur gesetzt, intim instrumentiert. Und so – aber eben nur so, nicht herausgelöst – ist es eine der erotischsten Passagen, die er je schrieb. Walzer sind in Sinfonien so selten wie in anderen Genres häufig. In Mode kam der Tanz, der einfach auszuführen war, schon in den 1790ern, und die meisten Komponisten des 19. Jahrhunderts – nicht nur die für den Vergnügungsmarkt schreibenden – griffen in In­stru­ men­tal­werken den populären Dreier auf, von Beethoven, Schubert, Webern über Chopin, Liszt, Brahms bis hin zu

Piotr Tschaikowsky war nicht nur in seinen Balletten ein Meister des Walzers: Szene aus »Dornröschen« (Théâtre des Champs-Elysées, 1950)

Saint-Saëns. Natürlich sind auch Ballette, Operetten, Opern voller Walzer, selbst in Richard Wagners »Parsifal« wird gewalzert, von den Blumenmädchen. Wagner bewun­ derte Johann Strauß (den Älteren) ebenso, wie Hector Berlioz das tat – der widmete Strauß und seinem Orchester eine fulminante Besprechung, als die Wiener Musiker 1837 erstmals in Paris gastierten. Da hatte Berlioz selbst den Walzer schon explizit in eine Sinfonie eingebaut, als Erster. Unter dem Blickwinkel »absoluter Musik« gehörten Allerweltsklänge nicht in Sinfonien, Sonaten, Streichquartette. Das Menuett – letz­ ter Rest der französischen Hofkultur, als dritter Satz in die Sinfonie gewandert – war zum Scherzo geworden und wusste nichts mehr vom Tanzen. Nur die ABA-Form war geblieben, als mitunter qualvolle Pflichtübung, auf die Mozart schon in seiner Prager Sinfonie verzichtet hatte. Berlioz setzte sich in seiner erzählerisch konzipierten »Symphonie fantastique« als 27-Jähriger über diese eher deutschen Dogmen hinweg und führte die idée fixe ein, das Thema einer ersehnten Frau, die in unterschiedlichen Umgebungen und Gestaltungen auftaucht, bis hin zum dämonischen Hexensabbat. Im zweiten Satz, »Un bal«, wird die Angebetete noch in heiteren Situationen imagi­ niert, für die das Gewirbel eines Balls steht – mit eben der Musik, zu der damals, 1830, vornehmlich getanzt wur­ de. Berlioz blendet von diesem Walzer (der ihn als Kenner des Genres ausweist) zur Erscheinung der Ersehnten, ver­ bindet beide Ebenen raffiniert, trennt sie wieder … ›


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Musikgeschichte

Wie bei Mahler, der dieses Werk oft und gern dirigierte, gewinnt das Walzerglück seine tiefere Bedeutung durch das Drama (bei Mahler eher: den »Roman«) der ganzen Sinfonie. Etwas anders ist es bei Piotr Tschaikowsky, der nach einer schönen »Valse« in seiner Fünften Sinfonie (und Walzern in seinen Bühnenwerken) ein letztes Mal auf die­ sen Tanz zurückkommt, als er die »Pathétique« schreibt, seine Sechste Sinfonie, mit einem Programm, »das jeder­ mann stets ein Rätsel bleiben soll«. Ein Schlüssel zu diesem Rätsel liegt vielleicht im zweiten Satz, einem Wal­ zer im Fünfvierteltakt, mit einem derartig organischen Thema, dass man nie finden kann, es seien zwei Viertel zu viel im Takt – es bleibt ein sanftes Kreisen. Ein ungetrüb­ tes nicht, man hört auch Schatten, die sich im Trio ver tie­ fen. Tschaikowsky schrieb nicht nur Ballette, er tanzte selbst, und sein geheimer Pas de deux mit dem Kollegen Camille Saint­Saëns 1875 in Moskau ist nicht nur in der LGTB­Community legendär. Es mag schon sein, dass er im Fünf­Viertel­Walzer souverän ein Abweichen von der gesellschaftlichen Norm aufs Podium brachte, das im Uraufführungsjahr 1893 nicht ohne Gefahr gelebt werden konnte. So gehört, ist dieser Walzer seiner Zeit um etliche Jahrzehnte voraus. LIGETI UND DIE AUTONOMIE DER VOLKSTÄNZE

1949 begibt sich György Ligeti, 26 Jahre alt, Absolvent der Budapester Musikakademie, in seine rumänische Heimat (in der seine Eltern zur großen ungarischen Ethnie gehör­ ten), um Volksmusik aufzuzeichnen, Tänze und Lieder – so, wie das mehr als drei Jahrzehnte zuvor auch der von ihm verehrte Béla Bartók getan hatte (s. S. 50). Es sind Exkur­ sionen des neu gegründeten Bukarester Folklore­Instituts, an denen er teilnimmt. Von den Wachsrollen und Schall­ platten dieses Instituts schreibt sich Ligeti weitere Themen herunter – und aus all dem wird ein wunderbares Stück, mit dem man jeden Kenner der Musik des 20. Jahrhunderts verwirren kann: das »Concert Românesc« für kleines Or­

chester. Vier miteinander verbundene Sätze, 15 Minuten, von denen – zunächst – niemand vermuten würde, dass sie von Ligeti stammen. Die folkloristischen Quellen von Melodik, Rhythmik, Harmonik (uns vertraut durch die lange so genannte »Zigeunermusik« der Sinti und Roma) sind offenkundig, mehr noch, die Wehmut der Lieder, die Rasanz der Tänze werden geradezu herausgestellt, und doch wird schnell klar, dass es hier nicht um ein back to the roots wie zu Anfang des 20. Jahrhunderts geht. Die Virtuosität der Instrumentierung, verblüffende Farben, imitatori­ sche Verdichtungen zeigen einen auch zu Witzen aufgeleg­ ten Geist, der Bartók schon hinter sich hat. Am Ende spielt eine Sologeige in schwindelnder Höhe rasende Neunachtelketten, einen verselbstständigten Rest des Tanzes zuvor, und das Orchester versucht sie mit einzelnen Hieben gleichsam zu erschlagen wie eine

In jedem Volkstanz steckt weit mehr als nur ein harmloses Vergnügen: Traditioneller Tanz im rumänischen Siebenbürgen (Bistriț a, 1. H. 20. Jhd.)


Musikgeschichte

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Bei Ligeti schießt die kinetische Energie der siebenbürgischen Tanzweise über den Schlussstrich hinaus.

lästige Mücke. Das gelingt nur scheinbar – die kinetische Energie der siebenbürgischen Tanzweise schießt über den Schlussstrich hinaus. Ligetis Gestaltungslust macht die Musikantenweisen keineswegs zu Souvenirs, sie erschließt ihr Potenzial. »Das ›Concert Românesc‹«, schrieb der Komponist später, »spiegelt meine tiefe Liebe zur rumäni­ schen Volksmusik und zur rumänischsprachigen Kultur schlechthin wieder.« So gesehen, ist sein Werk vielleicht das letzte Exempel einer künstlerischen »Aneignung« kollektiv tradierter Tanzmusik am Ende einer mehrhundertjährigen Geschichte solcher Adaptionen, die den Hintergrund, auch den politischen, für György Ligetis Bekenntnis zu Rumänien bildet. Diesen Hintergrund beleuchtet ein Blick auf die Polonaise, die sich im 17. Jahrhundert aus dem polnischen Volkstanz polonez – sechs Achtel, auf der zweiten Achtel zwei Sechzehntel – zu einem Tanz der gehobenen Klassen entwickelt und am Ende des Jahrhunderts schon so euro­ päisiert ist, dass sie selbst in Polen den französischen Na­ men trägt. Es folgt eine zweigleisige Geschichte: Zum einen verselbstständigt sich eine musikalische Form, J. S. Bach, Telemann, Couperin bauen Polonaisen in ihre Suiten ein, in der Generation danach weist vor allem Wilhelm Friedemann Bach schon auf die Romantik voraus. Aus einem Modeartikel im Dreivierteltakt wird bei Bachs ältestem Sohn ein intimes Tagebuch. Persönlicher lässt sich nicht komponieren. Einsame Träumereien am Cembalo schreibt Friedemann, mit denen er schon an die Seite Frédéric Chopins gerät. Es ist kein Wunder, dass diese zwölf Stücke in zwölf Tonarten die ersten aus seiner Feder sind, die im 19. Jahrhundert gedruckt wer­ den; schon vorher kursieren sie in Abschriften. Zugleich, das andere Gleis, wird die Polonaise in dem Maße renationalisiert, in dem eine autarke polnische Nation von europäischen Großmächten verhindert wird.

Eine Folge davon ist Chopins Pariser Exil, in dem beides zusammenkommt: die Polonaise in extrem individualisier­ ter Form, als kompositorisches Labor, und daneben als Ausdruck polnischer Identität (wie auch die Mazurka). Die Zeit der »Nationalkomponisten« bricht nun an in Nationen, die um ihre Autonomie ringen. Eine Musik, in der »die tschechische Seele ihren Widerhall finden würde«, erträumt sich Bedřich Smetana und realisiert sie mit böh­ mischen Bauerntänzen im Zyklus »Mein Vaterland«. Ver­ gleichbare Tendenzen gibt es von Finnland (Jean Sibelius) bis Spanien (Isaac Albéniz). Und eben in Ungarn von Bartók und Kodály bis hin zu György Ligeti, der mit seinem »Concert Românesc« keineswegs auf das Wohlwollen der kommunistischen, letztlich stalinistischen Kulturpolitik stieß. 1950 wurden in Ungarn selbst wichtige Werke von Bartók als »bourgeois« aus Rundfunksendungen ausgeschlossen. Ligeti hatte an­ genommen, die insgesamt moderate Musiksprache seines Konzerts werde als »Camouflage« den Maßgaben des Sozi­ alistischen Realismus standhalten. Aber nach nur einer Probe wurde 1951 das Stück verboten mit Hinweis auf Dis­ sonanzen – »z. B. fis innerhalb von B­Dur«, wie er schreibt. Möglich auch, dass zwei Jahre vor dem Tod Stalins allein schon die Verwendung rumänischer und ungarischer Volks­ musik von bedenklichen Autonomiegelüsten zeugte. Die brachen sich 1956 in Budapest bekanntlich Bahn und wurden von der Sowjetunion blutig niederge­ schlagen. Das »Concert Românesc« wurde erst 1971 uraufgeführt, 1996 fand es nach einer Überarbeitung durch den Komponisten den Weg ins Repertoire. In jeder Hin­ sicht zeigt dieses Stück aus der Mitte des vorigen Jahrhun­ derts, dass in jedem Volkstanz weit mehr steckt als nur ein harmloses Vergnügen.


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Musikle xikon

Es gibt nichts, wozu die Musik nichts zu sagen hätte. Diesmal …

­STICHWORT: »TANZEN« VON CLEMENS MATUSCHEK ILLUSTRATIONEN LARS HAMMER

JOSEPH HAYDN: STREICHQUARTETT OP. 33/5

Wenn es ein klingendes Sinnbild für das Vorurteil der verzopften Klassik gibt, dann wohl das Menuett. 150 Jahre lang dominierte dieser gestelzte Tanz im Dreiertakt die Bälle des Adels und der gehobenen Gesellschaft und trip­ pelte von dort auch in die Konzertsäle: Der dritte Satz einer Sinfonie oder eines Streichquartetts war traditionell ein Menuett. Jedenfalls bis Joseph Haydn 1781 die Nase voll davon hatte und in seinen sechs Quartetten op. 33 das obligatorische Menuett kurzerhand durch ein »Scherzo« ersetzte. Der neue Name war gut gewählt, denn tatsächlich strotzen die Werke vor musikalischen Witzen. Im fünften Quartett etwa beginnt das Scherz-Menuett im Dreiertakt, kippt aber nach wenigen Tönen in einen Zweier, verschlei­ ert die Tonart durch gleitende Chromatik und stolpert nach einer unerwarteten Generalpause in den Schlussak­ kord. Komplett untanzbar.

JACQUES OFFENBACH: HÖLLEN-CANCAN

GASPAR SANZ: LA TARANTELA

Wie von der Tarantel gestochen aufspringen – dieses Schicksal kann einen in Süditalien bis heute ereilen, denn rund um die Stadt Tarent sind die eindrucksvollen Giftspinnen heimisch. Früher glaubte man, ihr Biss führe zu einer Art Tanz-Wut, wie sie im Mittelalter tat­ sächlich mehrfach als hysterische Massenbewegung beobachtet wurde: Menschen tanzten so lange, bis sie er­ schöpft oder gar tot zusammenbrachen. Als Gegen­gift sollte angeblich Musik helfen, genauer: die Tarantella, ein schmissiger Volkstanz im 6/8-Takt. Notiert wurde er un­ ter anderem 1674 vom Gitarrenvirtuosen Gaspar Sanz; später griffen Komponisten quer durch alle Länder und Genres auf die Form zurück, wenn es fetzig und/oder süd­ ländisch werden sollte. Medizinisch betrachtet war das natürlich Unsinn, denn was spornt mehr zum Tanzen an als eine flotte Melodie?

Skandal! Jahrhundertelang konnte der Rock einer Frau gar nicht lang genug sein, um lüsterne männliche Blicke ab­zuwehren – respektive, so die moralapostolische Lesart, nicht in Versuchung zu führen. Der Cancan pfiff darauf. Ursprünglich ein konventioneller Gesellschaftstanz, wur­ den die Schritte immer gewagter, flogen die Beine immer höher, hinweg über sittenpolizeiliche Zensur-Versuche, bis der Sinn hauptsächlich in der möglichst akrobatischen und animierenden Präsentation weiblicher Unterwäsche in der Varieté-Revue bestand. Den Soundtrack dazu liefer­ te Jacques Offenbach 1858 mit seinem Ohrwurm-Cancan aus der Operette »Orpheus in der Unterwelt«, einer Persiflage, die ihrerseits die Doppelmoral und Vergnü­ gungslust der Zeit aufspießte (und zu Silvester in der Elbphilharmonie zu erleben ist). Die Melodie wurde derart populär, dass Camille Saint-Saëns im »Karneval der Tiere« eine besonders schöne Persiflage imaginierte: in Zeitlupe, getanzt von Schildkröten.


Musikle xikon

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ARAM CHATSCHATURJAN: SÄBELTANZ

DAVE BRUBECK: UNSQUARE DANCE

Eine attraktive blonde Sekretärin im gepunkteten Kleid tanzt auf dem Tisch eines heruntergekommenen Hotel­ restaurants, angefeuert von drei besoffenen, liebestoll mit­ klatschenden Russen – diese legendäre Szene aus Billy Wilders Screwball-Komödie »Eins, Zwei, Drei« (1961) ist aus mehreren Gründen in die Kinogeschichte eingegan­ gen. Wegen der Performance von Lilo Pulver natürlich, die fortan als Inbegriff des deutschen »Fräuleinwunders« galt. Und wegen des feurigen »Säbeltanzes« des Komponisten Aram Chatschaturjan, inspiriert von dessen armenischer Heimat, der hier förmlich die Luft brennen lässt. Durch den riesigen Erfolg dieses One-Hit-Won­ ders geriet völlig in den Hinter­ grund, dass der Tanz eigentlich Teil eines ganzen Balletts ist: »Gayaneh«, komponiert 1942. Gemäß den Vorga­ ben des sozialistischen Realismus ist die Titelheldin allerdings keine säbel- oder beinschwingende Ama­ zone, sondern eine aufrechte KolchoseArbeiterin, die ihren Mann als Klassenfeind denunziert.

»Eine Herausforderung für all die Fuß-Klopfer, Finger-Schnippser und Mitklatscher«, beschrieb Dave Brubeck feixend seinen »Unsquare Dance«. Schon mit dem All-TimeHit »Take 5« vom Album »Time Out« hatte er ja bewiesen, dass auch ein Stück im 5/4-Takt zur meistverkauften Jazz-Single aller Zeiten taugt. Wie er es überhaupt liebte, mit krum­ men Taktarten zu experimentieren, die swingend dahin­ fließen und sich gleichzeitig jedem Mitwippen verweigern. Auf dem Folgealbum »Time Further Out« von 1961 sind die Tracks sogar systematisch nach ansteigenden Taktzah­ len sortiert. Darunter ist auch diese kalkulierte Frechheit im 7/4-Takt, durch das Wortspiel im Titel und das simple harmonische Blues-Schema erkennbar ein Seitenhieb auf den musikalisch eher unterkomplexen amerikanischen Nationaltanz Square Dance. Das erleichterte Lachen des Drummers am Ende der geglückten Aufnahme blieb auf der Platte – so viel Selbstironie durfte schon sein.

MAURICE RAVEL: LA VALSE

»Wie durch Wolkenschleier sind Walzer tanzende Paare zu erkennen. Allmählich lichtet sich der Nebel und gibt den Blick frei auf einen Festsaal mit einer wirbelnden Menschenmenge. Kronleuchter verströmen helles Licht. Ein Kaiserhof um 1855.« So beschreibt Maurice Ravel das Setting seines Orchesterstücks »La Valse«. Eigentlich hätte das Auftragswerk über den Wiener Walzer eine hoffnungslose Retro-Idylle werden sollen. Doch im Jahr 1919 erschien das dem politisch wachen Komponisten nicht mehr zeitgemäß: Als Armee-Lastwagenfahrer hatte er das Elend des Ersten Weltkriegs und den Zerfall der alten Welt hautnah miterlebt. Also ließ er das Stück – zum Entsetzen seines Auftrag­ gebers, des Ballett-­ Impresarios Sergej Djagilew – allmäh­ lich kippen, mit zunehmend ver­ zerrten Rhythmen und dissonanten Harmonien, bis es in Chaos und Gewalt mündet. Ausgetanzt.

CHIC: GOOD TIMES

In den 1970er Jahren fegte die Disco-Welle um den Globus, eine grellbunte Schneise aus Glitzerkugeln, Föhn­ frisuren und exzentri­ schen Klamotten hinter sich herziehend. Das Saturday Night Fever grassierte, angeheizt durch Tracks, die den Funk eines James Brown in massen­ kompatible Dancefloor-Beats überführten. Mittendrin: der Gitarrist, Songschreiber und Produzent Nile Rodgers. 1977 gründete er die Band Chic, die mit »Good Times« den wohl einflussreichsten Hit der Disco-Ära landete. Seine groovige Basslinie wurde zigfach gesampled (etwa für den ersten Rap-Song überhaupt, »Rapper’s Delight« der Sugar Hill Gang) oder geklaut (Queen: »Another one bites the dust«). In der Folge avancierte Rodgers zu einem der gefragtesten Produzenten überhaupt und arbeitete unter anderem mit Prince, David Bowie, Diana Ross, Grace Jones, Madonna, Beyoncé und Daft Punk (»Get Lucky«). Mehr als 500 Millionen Mal verkauften sich die Alben, an denen er beteiligt war – und unzählbar ist die Zahl der Beine, die er zum Zucken brachte. ­M DIE PLAYLIST ZUM LEXIKON FINDEN SIE UNTER: ELPHI.ME/PLAYLIST


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André Heller

André Heller kuratiert in der Elbphilharmonie eine Woche des Staunens. VON ROBERT ROTIFER

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ir leben in einer Zeit, in der die Versuchung groß ist, in allem das Letzte seiner Art zu erspähen. Die letzte urige Kneipe, den letz­ ten Spatz der Nachbarschaft, die ­letzte Politikerin von echter Überzeugung und so weiter. André Heller ist auch so einer, dem man dieses Prädi­kat um­ hängen würde, und zwar gleich mehrfach: der letzte Geschichtenerzähler, der letzte Dandy, der letzte echte Universalist, der letzte große Selbsterfinder, der letzte lebende Draht zu einem verloschenen Wien. Bis man versucht, die Gesamtheit seiner Vita zu erfassen, die waghalsigen Kunst- und Showprojekte, die Musik, die Bücher, die Gärten, die Schauspielerei, die Selbstinszenierung, die Politik, die Reisen, auch den Jour­ nalismus, alles jeweils bis zum äußersten Rand des Be­ griffs. Dann erst versteht man, dass die Kombination all jener Dinge sich realistisch eigentlich gar nicht ausge­ hen kann, und wenn überhaupt, dann nur in der surrealen, »wirklich ein Forellenkleid« tragenden Wirklichkeit dieser mittlerweile 76-jährigen Person. Mehr als sechs Jahrzehnte ist es her, dass ein 14-jähriger André Heller mit einem Spazierstock mit Sil­ berknauf das von altvorderen Literaten wie Heimito von Doderer, Hilde Spiel oder H. C. Artmann fre­quen­ tierte Wiener Künstler-Café Hawelka betrat und sich dort als »Dichter« vorstellte. Knapp 50 Jahre sind es, seit der indessen vom selbst­ erklärten Poeten zum Schauspieler, zum Radiostar, zum erfolgreichen Chansonnier gewandelte, immer noch in sei­ nen mittleren Zwanzigern steckende Mann seine ›



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André Heller

RUMMELPLATZ IM REGEN

Volksbelustigung auf der Moorweide: Heller auf Keith Harings Karussell bei »Luna Luna« (Hamburg 1987)

erste Deutschland-Tournee mit dem herrlich überheblichen Titel »Eine Legende geht auf Reisen« unternahm und dabei im Feuilleton bereits als »maliziöser Narziss« mystifiziert wurde. 40 Jahre, seit er mit seinem »Feuertheater« den ­Hafen von Lissabon vor offiziell geschätzten 900.000 Menschen zum Schauplatz eines gigantischen pyrotechnischen Ex­ periments machte, das völlig außer Kontrolle, aber in diesem Scheitern erst recht zum Triumph geriet. Ein Jahr später sollte Heller das gleiche Spektakel vor dem damals noch hart an der deutsch-deutschen Grenze gelegenen Berliner Reichstag abhalten und durch seine Lichtskulptu­ ren im Namen von Frieden und Ideenfreiheit metapho­ risch den Mauerfall vorwegnehmen. 1985, noch ein Jahr darauf, brachte er mit seiner Show »Begnadete Körper« – ersonnen nach einer augen­ öffnenden Reise ins damals verschlossene China – die hohe Kunst der chinesischen Akrobatik nach Europa. Und nebenbei: Wenn wir heute über »kulturelle Aneignung« debattieren, dann tun wir das mit dem Luxus einer von Akten wie diesem erweiterten Weltsicht. Es war übrigens auch Hellers Idee, jene über Jahrzehnte hinweg erfolg­ reiche Show schließlich als »Chinesischer Nationalzirkus« selbstständig zu machen.

Aber bleiben wir doch im Jahr 1985, denn irgendwie fand Heller noch während des Anlaufens von »Begnadete Körper« Zeit für erste Sondierungsgespräche mit den PopArt-Künstlern Roy Lichtenstein, David Hockney und Keith Haring über seine Idee eines großen Rummelplatzes der Kunst. Hier wiederum kommt die Stadt Hamburg als zentraler Schauplatz von Hellers Werk ins Spiel. Nachdem er zwischenzeitlich unter anderem sein zwölftes Studio-Album »Narrenlieder«, seinen ersten Roman »Schattentaucher« veröffentlicht und als Gruß aus Wien fantastische Heißluftballon-Skulpturen über den Städten der Welt sowie den Niagarafällen hatte schweben lassen, stieg André Hellers Rummelplatz-Premiere näm­ lich 1987 ausgerechnet auf der Hamburger Moorweide unter dem klingenden Namen »Luna Luna«. Lichtenstein gestaltete dafür ein Spiegelkabinett, Hockney einen »Wunderbaum«, Haring ein Karussell. Der in Deutschland noch weithin unbekannte Jean-Michel Basquiat dekorierte ein Riesenrad, Jörg Immendorff eine Schießbude, Daniel Spoerri die Toiletten, im »Palast der Winde« des Karikaturisten Manfred Deix wurden Furzkonzerte abgehalten. Und wo wir grade von Hellers Hang zu den Letzten ihrer Art sprachen: Der damals 94-jährige Art-déco-Grafiker Erté kreierte die Schaubude »Mysterium Cagliostro«, Salvador Dalí, damals 83, erschuf einen Dom, und das Eingangstor folgte einem Entwurf von Sonia Delaunay, die Heller 1977 als 92-Jähri­ ge, zwei Jahre vor ihrem Tod kennen gelernt hatte. All diese Attraktionen und mehr wurden damals in Hamburg – pikanterweise finanziert von der »Neuen Revue« – unter freiem, manchmal verregnetem Himmel zur Volksbelustigung dargeboten. Nachdem die Kunst­ werke über Dekaden in Containern schlummerten, soll »Luna Luna« übrigens demnächst in den USA eine Neu­ auflage erfahren, und zwar auf Initiative des Rappers Drake, der laut »New York Times« 100 Millionen Dollar in das Restaurationsprojekt investiert hat. Damals dagegen musste sich Heller am Abend nach der Rummelplatz-Premiere in der NDR Talk Show vor dem Moderationsduo Wolf Schneider und Holde Heuer verantworten. Schneider hatte zu diesem Zweck einen ­Verriss des anti-elitären Kunstprojekts zum Verlesen vor­ bereitet, doch Heller kam ihm vor laufenden Kameras zuvor: Heller: »Eine schlechte Kritik ist erschienen in ganz Europa, eine einzige, in der ›Münchner Abendzeitung‹. Wie ich hierherkomme, liegt die hier, gelb unterstrichen, denn er (deutet auf Schneider) wollte die schlechte Kritik vorlesen.« Schneider: »Sie haben sie mir geklaut!« Heller: »Ich hab sie ihm weggenommen natürlich. (Gelächter und Applaus) Hier ist sie! (wedelt mit dem Zeitungs­ausschnitt) Die schlechte Kritik der ›Münchner Abendzeitung‹« Schneider: »Das ist mein Eigentum!« Heller: »In der Kritik steht, ich bin ›der schlechteste


André Heller

Künstler der Welt‹! Und das Wichtige ist daran, das muss ich auch sagen, das habe ich am Weg erfahren: Sie sind Ausbildner an einer Journalistenschule, nicht?« Schneider (damals Leiter der Henri Nannen-Schule für Journalismus): »Ja?« Heller: »Und Sie bringen dort den jungen Jour­ nalisten bei, offensichtlich, wie man mit Wahrheit und Wahrhaftigkeit umgeht. Aus 240 guten Kritiken sagen Sie: ›Da ist mir keine drunter, die ich vorlese. Die schlechte hol’ ich mir.‹« Heute würde André Heller wohl kaum mehr solch eine Einlage hinlegen, aber die Anekdote sagt doch ei­niges, nicht nur über sein Selbstverständnis, sondern auch seine zwischen Bewunderung und Feindseligkeit schwan­ kende Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit. Man erkennt Hellers dünne Haut hinter seinem auftrumpfen­ den Exterieur. Kritische Anerkennung war ihm von Anfang an lebenswichtig, darin reflektiert sich schließlich seine kreative Hingabe. Denn bei all dem Heller oft unterstellten Kalkül ist er ein gänzlich unzynisch ­Schaffender. Jenes Kalkül wiederum unterstellt man ihm nicht zuletzt, weil er nebenher eben nicht nur ein Künstler, sondern auch ein alter Medienprofi ist, der bei Bedarf spontan eine Talk-Show zu kapern versteht. Schließ­ lich ­ereichte Heller seine erste Berühmtheit 1967 als äu­ ßerst meinungsstark moderierender DJ beim damals frisch gegründeten österreichischen Pop-Sender Ö3, der unter anderem Brian Jones, Frank Zappa und John & Yoko interviewte (erstere im Studio, letztere in ihrem Ho­ telbett). Ein Künstler wie Heller jedenfalls, der neben seiner Kunst auch das Handwerk des Kritikers beherrscht, ist letzterem naturgemäß suspekt. KITSCH UND BOMBAST

Die Kritiker-Aggressionen, die Heller vor allem in seiner Heimatstadt Wien seit je hervorruft, haben aber auch noch andere Gründe. Etwa seine provokant luxuriöse Un­ bescheidenheit, die sich gar nicht ziemt in einer Stadt, die von ihren Künstlern immer schon demütige Dankbar­ keit für das Privileg ihrer Existenz erwartet. Aber auch seine fehlende Scheu vor dem großen Gefühl. Oder wie es Hans Magnus Enzensberger in seiner Festschrift zu Hellers Sechziger formulierte: »Vor dem Sentiment, das die Priester der Nüchternheit scheuen wie die Teufel das Weihwasser, hat er keine Angst; das Ornament, das die Puritaner abschaffen wollen, ist ihm heilig; und selbst was

»Vor dem Sentiment hat er keine Angst. Das Ornament ist ihm heilig. Und selbst der Kitsch scheint ihm ein geringeres Übel als die Entsagung zu sein.«

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den Kitsch angeht, scheint er ihm ein geringeres Übel als die Entsagung zu sein. Die Grenzen des guten Geschmacks zu respektieren, fällt ihm, wie allen Träumern, nicht ein.« Und das ist gerade in Wien ein schweres Vergehen. Denn dort herrscht eine aus historischen Gründen durch­ aus fundierte Phobie vor Kitsch und Bombast, der man in der nirgendwo graueren Nachkriegszeit auf künstlerisch wertvolle Weise entweder durch noch mehr Düsterkeit oder katholisch-schuldgetränkte Katharsis zu begegnen hatte. Bezeichnenderweise fiel es in den Siebzigerjahren ausgerechnet dem großbürgerlich aufgewachsenen Heller und dem ihm in Unähnlichkeit ver­bundenen Helmut Qualtinger zu, das in seiner Rührseligkeit gleichermaßen verachtete wie hemmungslos ver­schlagerte, volkstüm­ liche Wienerlied als eine sowohl dem wissendsten Kunst­ lied als auch dem besten Popsong ebenbürtige, genuine Form zu rehabilitieren. Doch zurück zur katholischen Schuld: Nicht, dass Heller jene fremd gewesen wäre. Große Teile seines textlichen Schaffens – vom »Angstlied« aus dem Album »Verwunschen« (1980) bis hin zu seinem von Rupert Henning 2019 verfilmten autofiktionalen Buch »Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein« – behandeln das Trauma seiner Schulzeit in einem Jesuiten-Internat. Aber Hellers Überwindung dieses Missbrauchs war zumindest in seinem Werk immer eine offensiv farben­ frohe und liebevolle. Und ja, die Tatsache, dass sein groß­ teils abwesender Vater, der Süßwaren-Fabrikant Stephan Heller, zwar leidenschaftlich katholisch assimiliert, aber als Jude geboren war, inspirierte ebenfalls nicht nur Hellers Werk, sondern wohl auch so manche bewusst oder unbe­ wusst antisemitische Antipathie gegen ihn. ›

Kein Widerspruch zwischen Kunst und Kunstfertigkeit: Heller im Circus Roncalli (1976)


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André Heller

Das Bewusstsein des verdrängten Judentums in seiner Familie und seine damit zusammenhängende Empathie für Verfolgte äußerte sich immer wieder in Hellers politischem Engagement. Ob bei den Friedensdemos der frühen Achtziger oder beim »Lichtermeer« 1993 auf dem Wiener Heldenplatz, einer von 300.000 Men­ schen besuchten Demonstration gegen den zuneh­ mend aggressiven Rechtspopulismus. Oder zwei Jahre später beim »Fest der Freiheit« zum Protest gegen eine ­Serie von rechtsextremen Bombenattentaten, der unter anderem im burgenländischen Ort Oberwart vier Roma zum Opfer gefallen waren. Als Zeichen der Unerschrockenheit erschien Heller zu dieser Kund­ gebung mit Salman Rushdie, der damals unter der Be­ drohung der Fatwa im Verborgenen lebte. IMMER GERN VORAUS

An dieser Stelle sollte ich wohl endlich auch meine Befan­ genheit anmelden, kenne ich André Heller doch seit 13 Jahren. Als Koproduzent nahm ich mit ihm gemeinsam sein Album »Spätes Leuchten« (2018) auf, naturgemäß eine der letzten Plattenproduktionen ihrer Art. Im Herbst 2021, als die Welt langsam den Lockdown hinter sich ließ, konnte ich mit ihm und dreizehn anderen Musikerin­ nen und Musikern in seinem Wiener Salon (wahrschein­ lich dem letzten, den es gibt) sein erstes und vermutlich letztes Hauskonzert spielen. Vor Kameras und wechseln­ dem Publikum, drei Nächte lang. Wobei ich nach der ersten (wir hatten über drei Stunden am Stück gesungen und gespielt) auf der Straße vor seinem Haus vor Er­ schöpfung kollabierte. Er dagegen selbstverständlich nicht. Ich bin hinter André Heller durch die Straßen von Wien und Marrakesch gelaufen (er geht immer gern voraus), habe beobachtet, wie die Leute diese Erscheinung mit dem schlohweißen Haar an- bzw. ihr nachsehen. Manche erkennen Heller als Heller, andere denken wohl, sie sollten ihn erkennen und fragen sich woher. Beide wissen mit ziemlicher Sicherheit nur einen Bruchteil vom Obenstehenden oder von den vielen anderen Abenteuern, die aus André Hellers Kopf in die Realität entsprungen sind. Etwa dass er als Mitbegründer des den Widerspruch zwischen art und artistry auflösenden »Zirkus Roncalli« schon Mitte der Siebziger eine Grundlage nicht nur für spätere Projekte wie sein Kunst-Varieté »Flic Flac« oder eben »Luna Luna« schuf, sondern auch dafür, was geschäftstüchtige Naturen später zum »Cirque du ­Soleil« ausbauen sollten. Oder dass er erst im italienischen Gardone, dann in Marokko mit seinem Garten Anima veritable botanische Wunder-Oasen erschaffen hat. Der Autor Christian Seiler hat in seiner 2012 er­ schienenen Heller-Biographie »Feuerkopf« versucht, die schwindelerregende, manische Vielfalt dieses Lebens­ werks zwischen zwei Buchdeckel zu stopfen. Freilich fehlt darin naturgemäß bereits das gesamte letzte Jahrzehnt, einschließlich etwa der Konferenz »Now!«, bei der Heller 2015 in Wien Menschenrechtsorganisationen und Lokal­ politiker europäischer Länder zusammenbrachte, um die

Lage aus Not Geflüchteter zu bessern. Oder seiner acht Staffeln langen TV-Interview-Reihe »Menschenkinder« (2013–2016, u. a. mit Conchita Wurst, Arnulf Rainer, Michael Haneke). Oder des Erscheinens seines gro­ ßen Lebensromans »Das Buch vom Süden« (2016), der berührenden Beschäftigung mit seiner greisen Mutter »Uhren gibt es nicht mehr« (2017), des erwähnten Al­ bums »Spätes Leuchten« (2018) und so viel mehr. Es ist wohl wahr, Heller war immer schon ein Traum­ tänzer, beseelt vom, wie Seiler schreibt, »tiefen Glauben, dass die eigene Wahrnehmung identisch mit der Welt ist«. Aber sein mindestens ebenso großes Ausnahmetalent ist seine durch die schiere Menge und Vielfalt seines Le­ benswerks belegte Fähigkeit zur Verwirklichung dieser Träume. Was immer André Heller also in der Elbphilhar­ monie auf die Bühne stellen wird, in seiner Essenz wird dieses Programm die Erfahrung all dieser Dinge in sich tragen. Eine Erfahrung der ersten und letzten ihrer Art.

REFLEKTOR ANDRÉ HELLER Sa, 16.3. – So, 24.3.2024 Elbphilharmonie »Fremd in der Fremde«: eine Woche des Staunens mit Jimmy Webb, Voices of Yemen, Camilla Nylund, Angélique Kidjo, Louis Cole, Oum, Ernst Molden, Der Nino aus Wien u. v. a. Das genaue Programm finden Sie unter: ­ www.elbphilharmonie.de

Manische Vielfalt: Heller in der Musikhalle (Hamburg, 1979)


André Heller

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Glosse

WIR BRAUCHEN EIER Und zwar, um dazwischen zu tanzen. Denn unser Autor macht sich Sorgen, dass alle nur noch mit ihren Ansichten rausplatzen, statt die schöne Tradition des Eiertanzes zu pflegen. VON TILL RAETHER ILLUSTRATION NADINE REDLICH


Glosse

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ir sind ein Haushalt, bei dem Goethes gesam­ melte Werke zwar im Schuber, aber im Keller aufbewahrt werden. Dies liegt zum einen am Platzmangel, zum anderen an Goethe und daran, dass niemand hier bei uns zu Hause seine Werke lesen möchte. Dass sie jemand für uns ge­ sammelt hat, reicht uns. Ich habe lange mit mir ge­rungen, ob ich in den Keller hinuntersteige und in Goethes Ro­ man »Wilhelm Meisters Lehrjahre« (1796) die Szene nach­ lese, auf die unsere Redewendung »einen Eiertanz auf­ führen« zurückgeht. Dann war eigentlich keine Zeit mehr. Jedenfalls tanzt, das entnehme ich dem griffbereiteren Internet, die Figur Mignon mit verbundenen Augen zwi­ schen auf dem Boden ausgelegten rohen Eiern, ohne eins davon zu beschädigen. Es ist ein Kunststück, sie ist Gauklerin. Später wird sie Wilhelm Meisters Dienerin. Dann geraten die Dinge außer Kontrolle. Es ist eine lange Geschichte. Sie steht im Keller. Meine Kinder wissen nicht, was es bedeutet, einen Eiertanz aufzuführen. In jeder Hinsicht. Sie kennen die Redewendung nicht, und sie kennen das Verhalten nicht. Wir sind bei meinem Vater zu Besuch, und auf seine Frage, wann wir zurück nach Hamburg müssten, druckse ich ein bisschen herum. Einerseits will ich bald los, an­ dererseits möchte ich nicht den Eindruck erwecken, ich hielte es nicht mehr bei ihm aus. Eine klassische Eier­tanzSituation, die von meinem Vater auch so benannt wird: »Du brauchst keinen solchen Eiertanz aufzuführen«, sagt er, »ich wollte mich sowieso gleich hinlegen.« Im Auto fragen die Kinder, was Opa mit Eiertanz ge­ meint hat. Und mir wird klar, dass man in ihrer Generati­ on (Z) entweder deutlich sagt, was man will, oder Themen, die einen Eiertanz erfordern, zur Vermeidung desselben komplett ausweicht. Und es ist nicht nur ihre Generation, es ist ein ganzer Zeitgeist. Wenn ihnen etwas nicht passt, sagen Leute entweder gar nichts mehr, fressen ihren Ärger in sich rein und lassen ihn dann im Straßenverkehr bzw. auf Twitter raus. Oder sie springen einem sofort mit dem nackten Arsch ins Gesicht (auch dies in meiner Erinnerung ein Goethe-Zitat; ich verifiziere es beim nächsten Keller­

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gang). Jedenfalls ist das, was in Band 2 von Dudens »Das große Wörterbuch der deutschen Sprache« als »sehr vorsichtiges, gewundenes Ver­halten« erklärt wird, quasi ausgestorben. Der Eiertanz ist die Fortbewegungsart auf dem Mittelweg zwischen brutaler Offenheit und komplettem Ignorieren. Und gerade das Vorsichtige, Gewundene ist das Schöne daran: Man ist mit dem eigenen Empfinden vorsichtig, man forscht und umkreist, schont aber auch die Gefühle des Gegenübers, indem man sich windet, um an möglichen Verletzungspunkten vorbeizuschlüpfen. Ein Freund möchte sich Geld von mir leihen, etwas mehr, als ich, falls er nie zurückzahlt, verschmerzen könnte? Klar könnte ich unumwunden »Auf gar keinen Fall« sagen, aber ist es nicht menschenwürdiger für uns beide, wenn er in seiner Notlage nun auch mich in meiner sehen kann? Warum soll er nicht mitbekommen, dass es mir unange­ nehm ist, ja oder nein zu sagen?

H

ans Magnus Enzensberger hat den Eiertanz in seinem Buch »Einzelheiten I« als »das tägliche Versteckspiel mit der Wahrheit« beschrieben. Mir gefällt daran, dass man seine persönlichen Wahrheiten eben auch mal verstecken kann, statt mit »Ich muss los«, »Von mir kriegst du kein Geld« und »Deine Meinung ist Müll« rauszuplatzen. Vor allem mag ich das Spielerische in Enzensberger Defi­ nition. Mein Gegenüber und ich spielen gemeinsam, der Eier ­tanz braucht eine Person, die tanzt, und eine, die zuschaut. Wer einen Eiertanz aufführt, denkt, zögert, zwei­ felt vor Zeugen, ungeschützt und menschlich. Meine Kinder werden immer älter, ihre Fragen wer­ den immer unangenehmer, immer schwieriger zu be­ antworten. Ich werde mich in Zukunft noch viel mehr vor ihnen vorsichtig winden, damit sie fürs Leben lernen, wie der Eiertanz geht.

TILL RAETHER lebt und arbeitet als freier Journalist und Autor in Hamburg.


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E d u c at i o n

FEINE GESTEN, GROẞE BILDER

Musik ist Bewegung: Probe mit dem Chor zur Welt

Tanz, Bewegung und Musik können sich gegenseitig bereichern, zeigen zwei Beispiele aus dem Education-Programm der Elbphilharmonie. VON DOMINIK BACH


E d u c at i o n

­W

ie versetzt man einen ganzen Klangkörper in Bewegung? Wie lässt sich durch die Verbin­ dung von Musik mit Gestik und Mimik das künstlerische Ausdrucksspektrum auf der Konzertbühne erweitern? Lassen sich dadurch womöglich neue Sinnesdimensionen für Ausführende und Publikum eröffnen? Lars Scheibner und Stephan Lutermann kennen sich mit solchen Fragen bestens aus. Scheibner ist gelern­ ter Tänzer und arbeitet seit über 20 Jahren als Choreograf mit verschiedenen Chören und Ensembles zusammen. Gemeinsam mit dem Sänger und Chorleiter Stephan Lutermann gründete er 2013 ein eigenes Ensemble, das auf die Inszenierung von Chormusik spezialisiert ist. Beide sind überzeugt: »Musik ist Bewegung und Bewe­ gung ist Musik.« In der vergangenen Saison setzten Lutermann und Scheibner den Chor zur Welt – eines der sechs Mit­ mach-Ensembles der Elbphilharmonie – in Szene. In einem Konzert mit Opernchören aus drei Jahrhunderten beleuchteten sie die Rolle des Individuums innerhalb der Gesellschaft und bereicherten die Musik mit feinen Gesten, großen Standbildern und kurzen Tanzeinlagen. Der dramaturgischen Idee des Verbindenden folgend, tra­ ten Tanz und Bewegung nicht als bloße Diener der Mu­ sik in Erscheinung, sondern als ebenbürtige Ausdrucks­ formen, sodass sich erst im Zusammenspiel aus den Klängen der Musik und den Bildern der Choreografie eine kohärente Geschichte entspann. »Die Elemente ergänzten sich nicht nur hervorragend, sondern bedingten sich geradezu gegenseitig.« Die Kommunikationswissenschaft geht davon aus, dass in einem Gespräch mehr als die Hälfte aller In­ formationen nonverbal über die Körpersprache transpor­ tiert wird. Warum also diese Erkenntnis nicht auch auf den Konzertsaal übertragen und der Musik eine visuelle Bedeutungsebene zur Seite stellen? Wer sich im Proben­

Stephan Lutermann

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prozess mit dem eigenen Körper und seiner Wirkung auf andere Personen auseinandersetzt, lernt zudem nicht nur sich selbst besser kennen, sondern erfährt zugleich auch eine Menge über die Funktionsweisen zwischen­ menschlicher Beziehungen. Für Stephan Lutermann und Lars Scheibner geht es dabei weniger um die »richtige Darstellung« von Emotionen, sondern vielmehr um die Selbst­erfahrung an sich: »Wo ist in mir der Verliebte, wo der Wütende, wo der Verzweifelte?« Diese Facetten in sich zu entdecken und dann über die Kunst mit anderen zu teilen, erfordert eine Menge Mut und das, was Scheibner »Angstfreiheit« nennt: »Die Chormitglieder bringen sich mit ihrem ganzen Wesen, ihrem ganzen Sein in das Stück ein«, sagt er. Sie überneh­ men Verantwortung für sich und die Gruppe und schaffen mit ihrer Offenheit einen »emotionalen Resonanzraum«, der sie im Konzert mit den Menschen im Publikum ver­ bindet. Verstehe man Kunst nicht als die Befriedigung ästhetischer Bedürfnisse, sondern als das unmittelbare Er­ leben existenzieller Emotionen, so erfülle ebendiese Verbindung zwischen Ausführenden und Publikum eine »menschliche Sehnsucht, gemeinsam zu schwingen und zu resonieren«, sagt Lutermann. So könne ein Konzert zu einem multisensorischen Gesamtkunstwerk avancieren, bei dem sich das Publikum mit dem Geschehen auf der Bühne identifizieren und bereichert daraus hervorgehen könne. ›

Lars Scheibner


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E d u c at i o n

Antje Pfundtner mit dem Ensemble Resonanz

A­llerdings sind inszenierte Konzerte wie das des Chor ­zur Welt verhältnismäßig selten in den Konzertsälen zu finden. Weitaus größer ist die Zahl klassischer Chor-, Sinfonieoder Kammermusikkonzerte, die dem bekannten Muster folgen: Das Publikum nimmt im Saal Platz, die Interpre­ ten betreten die Bühnen, nehmen ihren Auftrittsapplaus entgegen, stimmen gegebenenfalls ihre Instrumente, dann beginnt die Musik. Dass dieses Muster um andere, neue Elemente erweitert werden könne, findet auch Antje Pfundtner. Die gelernte Tänzerin erschafft Konzert­ formate, in denen sie ihre beiden Leidenschaften Tanz und Musik miteinander in Beziehung setzt und die Rituale des Konzertwesens hinterfragt. Für die Elbphilharmonie hat sie zusammen mit dem Ensemble Resonanz das Fun­ kelkonzert »treznoK – rückwärts ins Konzert« entwickelt, das die Gepflogenheiten auf den Kopf stellt.

A

nders als Scheibner und Lutermann setzt Pfundtner keine Sänger in Bewegung, sondern ein Instrumental­ ensemble – immer auf der Suche nach dem Mehrwert für das Publikum. »Musik einfach nur sichtbar zu machen, ist irrelevant«, sagt sie. Vielmehr müsse es darum gehen, den häufig als Metapher aufgefassten Klang-»Körper« wört­ lich zu nehmen, also die Musikerinnen und Musiker mit ihren Instrumenten als physische Klangquellen im Raum zu bewegen und visuell mit der Musik in Interaktion zu setzen. Antje Pfundtner liebt das Spiel mit Erwartungs­ haltungen und scheut auch nicht davor zurück, Extreme unmittelbar zu kontrastieren. So können Musik und Tanz im einen Moment in vollkommenem Einklang zu­

einander stehen, nur um sich im nächsten Moment völlig konträr zueinander zu verhalten und für wohlkalkulierte Irritation zu sorgen. »Die Frage ist: Wo erfüllst du die Sehn­ sucht, und wo nimmst du die Sehnsucht weg?«, erklärt Pfundtner dieses Prinzip, mit dem sich die Aufmerksamkeit des Publikums gezielt lenken lässt. Wenn beispiels­weise alle Instrumentalisten plötzlich in der Bewegungslosigkeit verharren, wirkt die Musik umso stärker; umge­­kehrt könne man selbstverständlich »dem Tanz die Musik neh­ men« und mit Bewegungen in der Stille ausdrucksstarke Bilder kreieren. Solch reizvolle Experimente bringen immer auch besondere Herausforderungen für die Ausführenden mit sich, die sich auf einmal mit außergewöhnlichen spiel­ technischen und logistischen Fragen konfrontiert sehen: Welche Bewegungen kann ein Kontrabassist ohne musi­ kalische Qualitätseinbußen ausführen? Wie bewegt sich eine Flötistin durch den Konzertsaal, wenn sie doch ihre Noten­ständer nicht ständig mit sich herumtragen kann? Welche kreativen Lösungen die Musiker und Musikerinnen des Ensembles Resonanz dafür gefunden haben, zeigen sie bei der neuen Serie von »treznoK«-­ Konzerten im April. Der Chor zur Welt übrigens ist dem Problem mit den Notenständern seinerzeit elegant ausgewichen. Die Sängerinnen und Sänger haben das gesamte Konzert­ programm – immerhin mehr als 60 Minuten Musik in fünf verschiedenen Sprachen – auswendig gesungen. ­M EINE AUSWAHL VON FUNKELKONZERTEN IN VOLLER LÄNGE FINDEN SIE UNTER: WWW.ELBPHILHARMONIE.DE/MEDIATHEK.

TREZNOK – RÜCKWÄRTS INS KONZERT Sa, 6.4., und So, 7.4.2024 | jeweils 11 und 14 Uhr Elbphilharmonie Kleiner Saal Ensemble Resonanz Antje Pfundtner (Regie) Funkelkonzert XL ab 8 Jahren


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»OHNE TANZ IST DIE MUSIK ARM«

Jakub Hrůša mit den Wiener Philharmonikern in der Elbphilharmonie (Mai 2023)


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Der Dirigent Jakub Hrůša über sein tschechisches Erbe, den unerklärlichen böhmischen Klang und die Kunst des Loslassens. VON BJØRN WOLL

E

s war zuletzt eine der spannendsten Berufungen im internationalen Musikbetrieb: Im September 2025 wird Jakub Hrůša neuer Musikdirektor des Royal Opera House Covent Garden in London (in Nachfolge von Antonio Pappano, der dann 23 Jahre lang in diesem Amt gewesen sein wird). Spannend – und durchaus ein wenig überraschend – ist diese Wahl auch deswegen, weil der 1981 im tschechischen Brünn geborene Hrůša vor allem im sinfonischen Repertoire zu Hause ist, zumindest bislang eher selten Oper dirigiert hat. Einen Namen hat er sich vor allem als Chefdirigent der Bamber­ ger Symphoniker gemacht, deren internationales Renom­ mee er entscheidend vorantreiben konnte. Seit 2016 ist er in Oberfranken; die sprichwörtliche Chemie stimmte offensichtlich so gut, dass sein Vertrag vorzeitig bis 2026 verlängert wurde. Vielleicht auch, weil die tschechischen Wurzeln des Dirigenten gut zur Geschichte des Orchesters passen, das sich 1946 aus Mitgliedern des Deutschen Philharmonischen Orchesters Prag und anderen, vom Krieg aus ihrer böhmischen Heimat vertriebenen Musi­ kern gegründet hat. In der aktuellen Spielzeit kommt Hrůša nun gleich dreimal mit seinen Bambergern in die Elbphilharmonie – sowie einmal mit dem Orchestra dell’Accademia Naziona­ le di Santa Cecilia (dem, nebenbei, Antonio Pappano ebenfalls fast 20 Jahre lang vorstand). Es scheint richtig gut zu passen bei Ihnen und den Bamberger Symphonikern. Warum ist das eine so gute Zusammenarbeit mit dem Orchester? Jakub Hrůša: Diese Frage habe ich mir nie stellen müssen, wir verstehen uns einfach. Und ich genieße das sehr, das ist ja viel besser, als sich fragen zu müssen, warum etwas nicht funktioniert. Ist das ein musikalisches Verständnis? Ein gutes menschliches Auskommen? Beides! Es gab von Anfang an eine gemeinsame Ebene, wir haben uns nie finden müssen. Und wir haben uns auch zu einem guten Zeitpunkt getroffen. Ich habe das Gefühl, dass ich im besten Sinn mit diesem Orchester reifen konnte. Und das Orchester wiederum schätzt, was ich mit ihm ausprobiere und welche Impulse ich gebe.

Ich glaube, wir sind uns auch kulturell irgendwie ganz nah, vielleicht auch wegen der besonderen Geschichte des Orchesters. Sie sind der erste tschechische Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, die eine deutsch-böhmische Vergangenheit haben. Bedeutet dieser gemeinsame kulturelle Hintergrund etwas für Sie, oder spielt er eher keine Rolle? Es spielt eine Rolle für das Profil und das Marketing, aller­ dings eine ganz natürliche und keine künstlich gemachte. In der alltäglichen Arbeit spielt es jedoch keine Rolle, denn wir beschäftigen uns mit Musik und nicht mit Geschichte. Aber natürlich geht es auch in der musikalischen Welt darum, auf sich aufmerksam zu machen und sich zu ver­ kaufen. Ob das nun negativ oder positiv ist, lasse ich mal unkommentiert. Und in diesem Sinne hilft uns unsere gemeinsame Vergangenheit, uns mit einer interessanten Geschichte zu präsentieren. Man spricht etwa über den böhmischen Klang. Wir spüren alle, dass wir ihn haben, und schätzen ihn. Aber niemand im Orchester weiß, was genau das ist. Es ist nicht leicht in Worte zu fassen, aber das musikalische Ohr hört gleich heraus, dass die Bamber­ ger Symphoniker einen spezifischen Klang haben. Ich möchte allerdings nicht explizit darüber sprechen. Ich hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich doch nachfrage, was diesen spezifischen Klang ausmacht? Ich glaube, man sollte sich gar keinen besonderen Klang vorstellen, sondern dem Orchester einfach aufmerksam zuhören. Aber wenn Sie mich nach Besonderheiten des Orchesters fragen, sind das ein Mangel an Ego, Freund­ schaft zueinander, Bescheidenheit und Respekt gegenüber der Musik mit all ihren Facetten. Kombiniert mit der Qualität der besten Musiker, die man sich vorstellen kann. Einen spezifischen Klang haben die Bamberger Sympho­ niker, würde ich sagen, ein bisschen eher in den Streichern. Der Bläsersatz klingt ganz ähnlich zu dem, was wir sonst in Deutschland oder den deutschsprachigen Ländern ken­ nen. Die Farbe der Streicher allerdings ist ein bisschen dichter, intensiver. Mache sprechen auch von einem dunk­ len Klang, obwohl das nur eine Metapher ist, denn in der Musik gibt es kein Dunkel oder Hell. Für mich ›


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Intervie w

kommt aber auch noch die große Homogenität im Ensem­ blespiel dazu, weil hier in Bamberg das Menschliche und das Berufliche in einer harmonischen Balance sind. Es ist sozusagen eine Vergrößerung der Kammer­musik. Und Kammermusik kann man nur machen, wenn man eine enge Verbindung zueinander hat. Zum einen sprechen wir oft vom spezifischen Klang eines Orchesters, zum anderen soll heute jede Epoche stilistisch »authentisch« klingen, Mozart also anders als Bruckner. Natürlich hängt der Klang eines Orchesters auch davon ab, welches Repertoire es gerade spielt. Man sagt zum Beispiel, dass die Bamberger besonders »böhmisch« klin­ gen, wenn wir Schubert, Bruckner oder Mahler spielen. Das liegt auch daran, dass ich als Tscheche diese Tradition auch irgendwie unbewusst in mir trage und ausstrahle. Und das Orchester nimmt diesen Impuls dann dankbar auf. Allerdings muss ich ganz klar sagen: Ich setze mir das nicht bewusst zum Ziel, wenn ich dirigiere. Ich be­ schäftige mich intensiv mit der Partitur des konkreten Stücks, das ist für mich der Anfang und auch das Ziel: die Partitur mit all ihrer Komplexität bestmöglich in Musik zu übersetzen. Sie werden immer wieder als Perfektionist bezeichnet. Stimmt das denn? Leider ja. Denn Perfektionist zu sein bedeutet, dass man nie zufrieden sein kann. Weil es wahre Perfektion nicht gibt. Ich habe aber gelernt, mit dieser Limitierung zu leben und das musikalische Ergebnis trotzdem zu genie­ ßen: zu akzeptieren, dass ein »unperfektes« Konzert trotzdem wertvoll sein kann.

»Manchmal ist es besser, nicht zu viel zu wissen und sich einfach zu öffnen und zu genießen.«

Ihre Orchestermusiker sagen über Sie, dass Sie in den Proben intensiv an kleinen Details arbeiten, im Konzert der Musik aber trotzdem die Möglichkeit lassen, sich spontan zu entfalten. Ist das so? Für mich ist das der einzige Weg, wie man Musik machen sollte. Die Probe ist dafür da, dass man sich orientiert, ausprobiert und analysiert, was man verbessern könnte. Aber wenn diese analytischen Aspekte im Konzert zu präsent werden, kann es für das Spiel des Orchesters und damit auch für das Publikum lähmend werden. Die Proben sind also gar nicht für das Publikum bestimmt, auch wenn sie heute oft öffentlich sind. Man nimmt sich damit ein bisschen die Freude am Konzert. Natürlich ist es gut, informiert zu sein, deshalb führen wir ja auch gerade dieses Gespräch. Aber manchmal ist es besser, nicht zu viel zu wissen und sich einfach zu öffnen und zu ge­ nießen – ohne Kenntnis, aber mit Gefühl. Wenn noch ein Geheimnis bleibt, vergrößert das manchmal die Schön­ heit der Erfahrung im Konzert. Welche Rolle spielt ganz allgemein Ihre tschechische Herkunft für Sie als Dirigent? Ich bin stolz, dass ich ein Teil dieser Tradition bin, aber ich bin genauso stolz, dass ich meinen Erfolg nicht nur auf dieser Tradition aufbauen konnte, sondern durch ein, sagen wir, breiteres Tor gegangen bin. Mir kommt da Rafael Kubelík in den Sinn, um einen großen Namen der Vergangenheit zu nennen: Seine Aufnahmen tschechi­ scher Werke sind hervorragend, er war aber auch im zentraleuropäischen Repertoire zu Hause. Es gibt einen Ursprung, dort sind wir zu Hause, aber dann nimmt uns das Leben mit und führt uns an andere Orte. Trotz­ dem gibt es irgendwie diese Gravitas, mit der wir uns identifizieren. Und das ist für mich von Anfang an Tsche­ chien. Auch wenn ich manchmal dagegen ankämpfe, um nicht in eine Schublade gesteckt zu werden. Das ist für niemanden angenehm. Wo fühlen Sie sich nicht ganz so zu Hause? Ein Beispiel wäre Jean Sibelius, dessen Musik ich zwar sehr mag, von der ich aber nicht behaupten würde, dass sie ein Schwerpunkt in meinem Repertoire ist. Das gilt auch für Claude Debussy, George Gershwin und Benjamin Britten. Allerdings sind solche Aussagen immer ein bisschen heikel, weil sie so verstanden werden können, dass ich diesen Komponisten reserviert gegenüber stünde. Das ist überhaupt nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Wenn ich einmal Debussy, Britten oder Sibelius dirigiere, ge­ nieße ich das womöglich noch mehr als jemand, der das regelmäßiger tut als ich. Aber natürlich bin ich bei Smetana oder Janáček ein bisschen mehr zu Hause. Schauen wir auf die Programme, die Sie in Hamburg dirigieren werden. Gleich in mehreren Konzerten spielt der Tanz eine prominente Rolle, zum Beispiel in Beethovens 7. Sinfonie, die Richard Wagner einmal als »Apotheose des Tanzes« bezeichnet hat, und die Sie


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»Haben uns zu einem guten Zeitpunkt getroffen«: Hrůša und die Bamberger Symphoniker (2016)

mit den rituellen Tänzen aus Strawinskys »Sacre du printemps« kombinieren. In einem anderen Programm treffen Gershwins »Cuban Overture« auf die »Sinfonischen Tänze« von Rachmaninow, auch hier geht es um Tanz und Rhythmus. Mögen Sie Musik, die diesen tänzerischen Impetus hat, oder ist das reiner Zufall? Das ist kein Zufall und ja, ich liebe tänzerische Musik. Es geht jedoch nicht nur um den Tanz, sondern auch um eine gute Dramaturgie. Das kann wie hier eine Art thema­ tischer roter Faden sein, aber ebenso so gut funktioniert für mich ein reiner Kontrast: das eine Stück tänzerisch, das andere eher meditativ. Wenn wir dem Publikum schon all diese bekannten Werke vorspielen, sollte man den Kontext interessant machen. Das ist natürlich die Aufgabe von Veranstaltern und Intendanten, aber ich nehme an diesem Prozess gerne teil. Ein Thema gibt es auch im Ihrem Konzert mit Beethovens »Eroica« und dem »Heldenleben« von Strauss: das Heroische. Was macht für Sie ein ­gutes Programm aus? Unerwartete und frische Kontexte sind wichtig für ein Programm. Am wichtigsten ist jedoch die musikalische Qualität. Ich habe schon Konzerte mit einem eher lang­ weiligen Programm erlebt und hatte trotzdem einen fantastischen Abend, weil die Werke herausragend gespielt wurden. Noch einmal zurück zum Tanz, der ja auch in der böhmischen Musik eine wichtige Rolle spielt: Mir hat ein Dirigent einmal gesagt, dass der Tanz die Grundlage aller Musik ist. Richtig? Wenn der »Tanz« nicht präsent ist, wird die Musik schnell arm. Selbst tief gedachte und spirituelle Musikstücke

haben eine Komponente des Tanzes. Denn was ist Tanz eigentlich? Er ist eine kultivierte und organisierte Bewe­ gung – genauso wie die Musik. Tanz und Musik sind eng verwandt und haben einander immer begleitet. Eigentlich ist ja auch meine Tätigkeit eine Form von Tanz, wenn auch kein Ballett. Aber Dirigieren ist Bewegung, diese Bewe­ gung hat Akzente, diese Akzente werden organisiert – und diese formale Organisation ist das, was wir am Ende als Musik genießen. Der Genuss von Bewegung ist also expli­ zit und implizit in der Musik präsent. Also keine Musik ohne Tanz? Die Verbindung von Tanz und Musik ist eine der natür­ lichsten Sachen der Welt. Das sagen uns schon Begriffe wie Takt und Metrum: In dem Moment, in dem es einen Schwerpunkt im Takt gibt, auf den leichtere Betonungen folgen, haben wir eigentlich schon einen kleinen Tanz.

BAMBERGER SYMPHONIKER JAKUB HRŮŠA Elbphilharmonie Großer Saal Mi, 24.1.2024 | 20 Uhr Beethoven: Sinfonie Nr. 7 Strawinsky: Le sacre du printemps Do, 25.1.2024 | 20 Uhr Beethoven: Sinfonie Nr. 3 Strauss: Ein Heldenleben Fr, 26.1.2024 | 20 Uhr Lukas Sternath (Klavier) Beethoven: Klavierkonzert Nr. 5; Sinfonie Nr. 5

ORCHESTRA DELL’ACCADEMIA NAZIONALE DI SANTA CECILIA / JAKUB HRŮŠA Elbphilharmonie Großer Saal Mo, 13.5.2024 | 20 Uhr Daniil Trifonov (Klavier) Gershwin: Cuban Overture; Klavierkonzert Rachmaninow: Sinfonische Tänze


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Luigi Nono

HINREIßEND UNGEFÄLLIG

Ein Annäherungsversuch an Luigi Nono und seine Musik. VON TOM R. SCHULZ

K

urz nach Erscheinen des »Elbphilharmonie Magazins« bedenkt mich sein Chefredakteur stets mit einem Textauftrag fürs nächste Heft. Er findet immer ein Thema, von dem er glaubt, dass es mir liegt, weil er ahnt, dass ich mich da ein bisschen auskenne. Letzten Juni aber fragte er nach etwas, wovon ich kaum einen blassen Schimmer hatte. Ob ich anläss­ lich der drei Konzerte in der Elbphilharmonie Ende März zu Ehren Luigi Nonos, der im Januar 2024 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, etwas über diesen Kompo­ nisten schreiben könne? Ich besaß nichts von Nono, nichts über Nono, keine Aufnahme, keine Sekundärliteratur. Im Studium hatten wir eine Passage seines »Il canto sospeso« analysiert, als Beispiel für serielle Musik. Nono war mir als Kompositi­

onslehrer von Helmut Lachenmann ein Begriff, auch als große Inspiration für den ehemaligen Hamburgischen Generalmusikdirektor Ingo Metzmacher. Stücke von Luigi Nono im Hamburger Konzertleben sind ungefähr so rar wie die blaue Mauritius. Selbst in der Elbphilharmonie, die doch viel Zeitgenössisches bringt. Eine unangekündigte Nono-Aufführung aber habe ich dort selbst miterlebt, es war kurz vor Corona: Am Ende eines Konzerts mit Teodor Currentzis, dem SWR Symphonieorchester und Mahlers Neunter spielten zwei Geiger von unterschiedlichen Positionen im Großen Saal aus das Duo »›Hay que caminar‹ soñando«, Nonos allerletztes Stück, das er aus einer früheren Komposition entwickelt hat. Die lapidaren Worte stammen aus einem Gedicht von Antonio Machado. Sie waren so etwas wie das


Luigi Nono

Mantra Luigi Nonos: No hay camino. Hay que caminar. Es gibt keinen Weg, Wege entstehen beim Gehen. Ein Trost allen, die fürs Konventionelle auf immer verloren sind. Die Musik habe ich als krasse und etwas einsame Erfahrung in Erinnerung. Aber ehrlich gesagt blieb mir vor allem im Gedächtnis, dass das knapp halbstündige Stück für eine Zugabe geradezu absurd lang ist. Und ästhetisch das Gegenteil eines flotten Rausschmeißers (was nach Mahlers Neunter allerdings auch absurd gewesen wäre). Nun bin ich ein Mensch, dessen Bildung an Em­ mentaler Käse erinnert, indem sie wie dieser größtenteils aus Löchern besteht (um eine Formulierung Alfred Polgars zu borgen). Doch bleibe ich selbst im fortschrei­ tenden Alter bemüht, immer mal eines der Löcher in etwas von Emmentaler Substanz zu transformieren. Also sagte ich dem Chefredakteur zu. Man wächst ja mit seinen Aufgaben. Ich habe mir dann im Laufe des Som­ mers antiquarisch allerhand CDs mit Musik Nonos zugelegt, Filmdokus im Netz geschaut, ohne Ende online Schriften über ihn gelesen, einige gebrauchte Bücher über ihn und sein Werk gekauft und in der Staatsbibliothek den Briefwechsel zwischen Lachenmann und Nono ent­ liehen (und die Leihfrist zweimal verlängert).

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Kein Salonkommunist: Mit Studenten und Arbeitern demonstriert Nono (1. Reihe, 4. v. l.) gegen die Biennale di Venezia (1968)

DIE ANTWORT AUF ALLE FRAGEN

Etwas alberichhaft, das Ganze. Aber Nono hat mich ein­ fach ganz unvermutet ganz ungeheuerlich gepackt. Die Zeit schien beim Hören mancher seiner rätselhaften Stücke stehen zu bleiben. Immer mal wieder schien mir, was da aus den Lautsprechern kam, die gültige Ant­ wort auf alle ungelösten Fragen der Welt zu sein. Nono artikuliert sich in einer Klangsprache von außerordentli­ cher, dabei wahnsinnig flexibel organisierter Intensität. Es ist wirklich eine Sprache, mit eigener Grammatik, Syn­ tax, eigenen Zeichen und Wörtern. Und mit ihrem ganz eigenen Zeitbegriff. Nonos Musik kommt von weit her, und in der Wahl der Mittel – erst nur akustische Instrumente, bald Ton­ band, später Elektronik, Mixturen daraus, dazu fast immer Gesang vielgestaltigster Art – ist sie unerhört modern geblieben. Auch und gerade in ihrer späten Neigung, sich selbst zum Verschwinden zu bringen, am Rande des Hörbaren ihr prekäres Dasein zu fristen, gewinnt Nonos Musik für mich totale Präsenz und Überwältigungs­ kraft. Sie duldet allerdings keine Sekunde Nebenbeihören. Dann verliere ich sofort den Faden und muss das Stück von vorn abspielen, bis zur nächsten Ablenkung, bis zur nächsten Abwanderung meiner Gedanken. Nonos Musik ist eine Meditation. Die meisten all der Scharfsinnigen, die Nono durch und durch analysiert haben, würden ihn mit Klauen und Zähnen gegen genau dieses Diktum verteidigen. Me­ ditation? Um Gottes willen! Nono hat die Stille gesucht und gewissermaßen säkular geheiligt, aber an ihm und sei­ ner Musik darf auf keinen Fall etwas esoterisch sein. Stimmt ja auch. Nono war ein beinharter Materialist. Aber einer mit, wie mir scheint, (geheimen) Widersprüchen,

mit einer Sehnsucht nach Auflösung aller Materie, nach Leere. 1952 trat er der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) bei und blieb ihr treu bis an sein Lebensende. Die Kommunistischen Parteien Italiens, Frankreichs und Portugals waren in den Siebzigerjahren auch bei uns ziemlich angesagt. Als Eurokommunisten, wie man sie nannte, gebärdeten sie sich viel weniger doktrinär und moskauhörig als die DKP in der Bundesrepublik. Sie streb­ ten nach einem Kommunismus mit menschlichem Ant­ litz, irgendwie hatten sie sogar etwas leicht Hedonistisches. Die rauschenden Feste der »Unitá«, dem Partei­organ der PCI, in manchem nicht enden wollenden ligurischen Som­ mer meiner Jugend: unvergessen. Nono aber war kein Salonkommunist, kein Genuss­ linker. Er arbeitete in seiner Musik mit großem Ernst für die Utopie eines Menschen, der dem Menschen nicht länger ein Wolf ist. Er legte den Finger in die Wunde des Faschismus (»Il canto sospeso«, 1956; »Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz«, 1965), wandte sich gegen die Grauen, Gräuel und Ungerechtigkeiten der Gegen­ wart (»Intolleranza 1960«). Nono, selbst ein Kind des gehobenen Bürgertums, das auf Geheiß des autoritären Vaters erst Jura studieren musste, ehe es sich der Mu­ sik widmen durfte, hat in der Konsequenz seiner künstleri­ schen Mittel die bürgerliche Musikkonvention und die Bourgeoisie ausdauernd attackiert und auch entsprechende Reaktionen kassiert, bis hin zu (zeitweiligem) Auffüh­ rungsverbot. Seine »Fabbrica illuminata« (1965) ist ein packendes, peinigendes, erregendes Stück Musique concrète wider die unmöglichen Arbeitsbedingungen in einem Genueser Stahlwerk, generiert ausschließlich mit aufwendig ›


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Luigi Nono

bearbeiteten Bandaufnahmen von Klängen am Ort des Geschehens und einer Sopranstimme, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Der Text dazu entstammt teilweise Arbeitsanweisungen, die in der Fabrik aushingen, und Nono beteiligte die Arbeiter am Produktionsprozess. Im zweiten seiner drei »Canti di vita e d’amore« (1962) er­ klingt ein Sologesang im Sopran, der einem die Leiden einer von französischen Militärs gefolterten jungen algeri­ schen Widerstandskämpferin unter die Haut injiziert (»Djamila Boupachà«). Sein einziges Streichquartett »Frag­ mente – Stille, an Diotima« (1979) und das Spätwerk »Prometeo« (1984) zählen zu den höheren Heiligtümern der Musik des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Fragil das eine, ungemein aufwendig in der Raumdisposition und magisch in seiner Wirkung das andere. Gegen die Grauen und Gräuel der Welt: Szene aus der Uraufführung von »Intolleranza« im Teatro La Fenice (Venedig, 1960)

VOR ALLEM VENEZIANER

Wer sich länger Nonos Klangwelt aussetzt, wird vielleicht eine anhaltende Fremdheit konstatieren und gerade dies womöglich sehr zu schätzen lernen. Seine Musik ist ungefällig, aber sie wird mit der Zeit hinreißend un­ gefällig, weil man spürt: Das ist wahre, kompromisslose Kunst ohne jede illustrative Faser oder Geste. Ästhe­ tisch gibt es dahinter eigentlich kein Zurück. Aber der Mainstream der Musik ist natürlich viel stärker. Von dort aus gesehen, beleuchtet das helle, das nicht klinische, sondern zutiefst humane Licht der Nono-Welt ein ent­ legenes Wolken­kuckucksheim. Vieles von dem, was in der allerneuesten Musik zur Aufführung gelangt, insbeson­ dere die unbekümmert tonale und blauäugig-breitwandig instrumentierte Orchestermusik aus den USA, klingt, als hätte es Nono nie gegeben, auch Cage nicht. Musika­ lisch leben wir in einem Zeitalter der Restauration. Nono war, wie es in allen mir bekannten Schriften über ihn hinlänglich zu lesen steht, der Denker in Musik. Der minutiöse Geistarbeiter. Der kompositionshand­ werklich saumäßig Beschlagene. Der Intellektuelle. Der Weitgereiste. Und vor allem: der Venezianer. Die über­ reiche Musikgeschichte seiner Heimatstadt hat er von der Pike auf studiert, bis zurück zum »Odhecaton«, der ersten gedruckten Sammlung von Musik aus dem Jahr 1501, die in einer antiken Kopie unter Kommilitonen beim Kompositionsunterricht von Nonos Lehrer Gian Franco Malipiero herumgereicht wurde, um manche der uralten Lieder darin neu zu instrumentieren. Nono hat endlos Analysen der Musik der frankoflämischen Schule und der im Markusdom zu Venedig erstmals er­ probten Mehr­chörigkeit von Giovanni Gabrieli ange­­ fertigt, ausdauernd Kontrapunkt-Studien betrieben, ganze Werke von Monteverdi bis Hindemith exzerpiert und Zwölftonmusik von Schönberg und Webern ergründet – so tief, bis er sich imstande sah, darauf aufbauend selbst etwas zu kompo­nieren.

Innige Künstlerfreunde: Claudio Abbado und Nono (1970er)


Luigi Nono

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Er hört die Farbe des Wassers: Luigi Nono, porträtiert von der Fotografin Karin Rocholl (Venedig, 1986)

Nono ohne Wasser, ohne das Wasser seiner Heimatstadt, ist wie ein Fisch auf der Alm. Von dolce far niente während des Studiums also keine Spur. Und gleich sein erstes aufgeführtes Werk, die »Variazoni canoniche sulla serie dell’op. 41 di Arnold Schoenberg«, löste 1950 im deutschen Elfenbeinturm der musikalischen Avantgarde, bei den Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, ein Beben aus. Die Anregung dazu kam von Hermann Scherchen, der sozialistischen Dirigenten­ legende aus Berlin, einem Weggefährten Schönbergs und Bergs, bei dem Nono 1948 in Venedig einen Dirigierkurs belegte und der in dieser Zeit zu seinem Mentor wurde. ZWANGSLÄUFIGER BLICK AUFS WASSER

Venedig war ihm aber auch sonst alles. In einem Film über die innige Künstlerfreundschaft zwischen Nono, dem Pianisten Maurizio Pollini und dem Dirigenten Claudio Abbado aus dem Jahr 2001 zeigt die Kamera von der Wasserseite aus einmal das Haus, in dem Nono geboren, aufgewachsen und in dem er 1990, mit 66 Jahren, auch gestorben ist. Es steht westlich von San Marco, an der Promenade von Zattere. Die Treppenstufen vor dem Haus scheinen direkt ins Wasser zu führen. Gegenüber liegt die Giudecca, die fischförmige Insel im Süden Venedigs, auf der Nono den größten Teil seines Lebens gewohnt hat. Als er dort hinzog, Mitte der Fünfziger, war das eine ärmliche Arbeiterinsel. Heute ist die Giudecca, glaubt man dem »Corriere della Sera«, das Soho Venedigs. Ich stelle mir vor, wie er als Kind morgens aus der Haustür getreten ist, um zur Schule zu gehen, und wie sein erster Blick zwangsläufig immer auf das Wasser vor ihm fiel. Auch das Haus auf der Giudecca liegt unmittelbar am Wasser. Nono ohne Wasser, ohne das Wasser seiner Hei­ matstadt, ist wie ein Fisch auf der Alm.

Er hat selbst oft in poetischen Kürzeln und synästheti­ schen Bildern über den Klang Venedigs gesprochen. Er höre die Steine dort, die Farbe der Steine. Er sehe nicht die Farbe des Meeres, aber er höre die Farbe des Wassers. San Marco besichtige er nicht, er höre den Ort. Was also anderes als in Klang verzauberter vene­ zianischer Novembernebel ist etwa aufgehoben in »PostPrae-Ludium«, Nonos drei Jahre vor seinem Tod kom­ poniertem Solo für elektronisch bearbeitete Tuba? Man meint, in diesem filigranen, extrem obertonreichen und leisen Gewaber, das mit seinem einsam verlorenen, zögernden Getute an verfremdete Walgesänge erin­ nert, das diesige Licht des Himmels und die oberen trüben Schichten des Wassers in den Kanälen dieser Stadt zu sehen, nein, zu hören. Aber, ich bekenne es etwas scham­ haft: Ich war noch niemals in Venedig. Jetzt, denke ich, wird es langsam Zeit für mich. Nono sei Dank, auch dem Chefredakteur dieses Magazins. ­M MEHR ZU LUIGI NONO FINDEN SIE UNTER: WWW.ELBPHILHARMONIE.DE/MEDIATHEK.

STREICHQUARTETT Mi, 13.3.2024 | 19:30 Uhr Elbphilharmonie Kleiner Saal Quatuor Diotima Luigi Nono: Fragmente – Stille, An Diotima Ludwig van Beethoven: Streichquartett op. 132 ELEKTRONIK Do, 14.3.2024 | 19:30 Uhr Elbphilharmonie Kleiner Saal Les Métaboles (Vokalensemble) Matteo Cesari (Flöte), ­Barbara Bultmann (Violine), ­Juditha Haeberlin (Violine), Éric-Maria Couturier (Cello)

SWR Experimentalstudio, Léo Warynski (Leitung) Luigi Nono: Quando stanno morendo. Diario polacco Nr. 2; »Hay que caminar« soñando ORCHESTER Fr, 15.3.2024 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal NDR Elbphilharmonie ­Orchester, NDR Vokalensemble, Jonathan Stockhammer (Dirigent), Siobhan Stagg (Sopran), Noa Frenkel (Alt), Simon Bode (Tenor) Luigi Nono: Il canto sospeso Bruno Maderna: Biogramma


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TANZSCHNITTE Wenn Tanz so etwas wie ein Ablauf musikalisch und rhythmisch inspirierter Bewegungen ist, dann könnte man doch auch die Elbphilharmonie zum Tanzen bringen, zumindest bildlich: Unsere Illustratorin hat aus Architekturfotos des Hauses einzelne Elemente wie zu einer Abfolge von Tanzschritten zusammen­ geschnitten. Eine choreografierte Collage. COLL AGE SKIZZOMAT / MARIE EMMERMANN





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­MEISTER ­DER SPIEL­FREUDE

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enige Musiker unserer Zeit verkörpern so entschieden und zugleich unangestrengt das Metier der Interpretation wie der ungari­ sche Pianist András Schiff. Wenn Schiff spielt, spielt das Werk – so stellte früh schon der große Komponist György Kurtág fest, der den Schüler Schiff einst in Budapest auf den Wegen einer Laufbahn begleitete, die sich stets organisch, ohne Brüche oder Kurswechsel, zur Reife entwickelte. Gleichwohl ist dieses Zwiegespräch zwischen dem Komponisten und seinem Deuter alles andere als selbstver­ ständlich. Es bedarf des Studiums der Partitur (möglichst in der Original-Handschrift), es bedarf der genauen, mit­ unter peniblen Analyse dessen, was den Charakter und den Stil, die Botschaft nach außen und das Bekenntnis nach innen definiert. Wenn Schiff diese Kunst seit Jahr­ zehnten souverän beherrscht und laufend noch ver­feinert, ist sie das Ergebnis der Reflexion ebenso wie der Aus­ druck einer bezwingenden Spielfreude. Schiff liebt seine Instrumente, sie sind die Boten der Versinnlichung dessen, was als reiner Text zunächst in statu nascendi ver­ harrt. Nicht von ungefähr hat ein anderer Meister un­ ter den Pianisten, Alfred Brendel, diesen Transfer von der Idee zur klanglichen Wirklichkeit als ein Wachküssen bezeichnet. DER MENSCHENFREUND

Früh hat sich Schiff, vor genau 70 Jahren in Budapest geboren und 1979 in den Westen emigriert, als glänzend schattierender Bach-Spieler empfohlen. Es muss ein

Unter den Händen des Pianisten András Schiff scheint die Musik aus sich selbst zu schöpfen. VON MARTIN MEYER

besonderer Moment gewesen sein, als er 1983 Glenn Gould in dessen Studio seine erste Aufnahme der »Gold­ berg-Variationen« zu Gehör bringen durfte und dafür den Segen eines Kollegen erhielt, dessen Monopol auf dieses Werk geradezu in Stein gemeißelt schien. Gould war mehr als zufrieden, wohl auch deshalb, weil der Jünge­ re selbstsicher auf die eigenen Fähigkeiten und Aus­ druckskräfte vertraute. Humanisierung des Bach’schen Kosmos – so könn­ te man es im Rückblick auf diesen immer eloquenten, doch ebenso maßvoll kombinierenden Stil formu­lieren. Bei Schiff ist zwar alles »da«, doch ohne Verhärtungen oder aggressive Spitzen. Ganz im Gegenteil ist eine Men­ schenfreundlichkeit zu vernehmen, die selbst in den ­schwärzesten Momenten der Verzweiflung, wie sie manche Präludien und Fugen des »Wohltemperierten Klaviers« zum Ausdruck bringen, das Herz des Gegenübers erreicht. Kommunikation wäre als Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung zu nehmen: Mitteilung. Bach im Kosmos der Formen und Sprachen, zwi­ schen Tanz und Erleuchtung, zwischen Spekulation und Ausgelassenheit, zwischen der Konstruktion und ihrer Sublimation, das waren die Parameter für die frühen Lehr- und Wanderjahre des András Schiff, die als Ferment aller weiteren Erkundungen dienten. Bald traten auch die Heroen der Wiener Klassik hinzu, Mozart und Haydn, die nicht nur in ihrer grundsätzlichen Eigenart, sondern in jedem einzelnen Stück ihr Wesen offenbarten. Bei Mozart entdeckte Schiff den Gesang, die Kantilenen, den Schmelz, doch umgekehrt auch jene schwer zu definierende ›


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Mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment in der Elbphilharmonie (Mai 2022)


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Schiff wählt seine Instrumente mit allergrößter Sorgfalt: je nach Werk mal Steinway, mal Bechstein oder Bösendorfer. Trauer, die ihre Schatten über das nur schein­bar Idyllische legt. Haydn lehrte ihn das Gespräch, die Diktion, die Schärfung der Stimmen, wo viele Sonaten wie Streichquar­ tette auftrumpfen, und natürlich immer wieder auch den Humor. Haydn als genialer, durch und durch unorthodo­ xer Humorist: Dies verbindet Brendel und Schiff, denen der Sinn nach Ähnlichem steht. DER GEDULDIGE

Schiff seinerseits ist der Physiognomie nach ein Künstler zwischen Humor, Vitalität und Jenseitsglauben. Das Jenseits macht sich da bemerkbar, wo wir einer Art von spielerisch bewegter Trance beiwohnen dürfen, die so­wohl das Können wie das Wollen gänzlich hinter sich gelassen hat. Die Musik schöpft aus sich selbst. Wenn etwa im langsamen Satz des ersten Klavierkonzerts von Beethoven gegen das Ende hin ein gemächlicher und zugleich gewichtiger Walzer sich manifestieren darf, den fast alle anderen Interpreten überhören, spüren wir solche kompositorische Öffnung, als hätte sie sich im Augenblick entdeckt. Überhaupt Beethoven. Schiff ließ Jahrzehnte ins Land gehen, bis er bereit war, dessen 32 Klaviersonaten aufzuführen und einzuspielen. Der Respekt vor diesem Monument war immens, die Vorbereitungen nahmen ein wichtiges Stück Lebenszeit in Anspruch. Das Ergebnis war stupend. Schiff durchwandert und durchdringt dieses ungeheure Corpus mit der Präsenz eines Gestalters, dem buchstäblich jede Note ihre Bedeutung und ihren Stellen­ wert im Verlauf offenbaren soll. Der kundige Hörer erhält den Eindruck, dass Beethoven plötzlich dramatisch neu ist, dass jede Sonate ihre Charakteristik beglaubigt, dass sich Anschlag und Tongebung, Rhythmus und Tempo und vor allem auch Phrasierung und Artikulation in den Dienst des je Be­ sonderen stellen. Dass Schiff beispielsweise das Zeitmaß im Kopfsatz der »Hammerklavier«-Sonate op. 106 wag­ nisreich so vorantreibt, wie es der Komponist sich ausge­ dacht hatte, ohne das Ergebnis noch mit eigenen Ohren überprüfen zu können, sorgte 2004 in New Yorks Carnegie Hall, in der Zürcher Tonhalle und anderswo für Furore. DER NEUGIERIGE

Ein weiteres Attribut dieses Musikers ist die Neugier. Sie erstreckt sich mittlerweile auf ein riesiges Repertoire nicht nur der Klavier-, sondern auch der Kammer- und Orchestermusik. Alles, was nach Schablone und leerer Wiederholung riecht, ist zu verwerfen; alles, was vertraute oder überraschende Begegnungen unter vollem Einsatz

ermöglicht, muss aufgenommen und weiterentwickelt werden. Dazu passt, dass sich der Pianist Schiff seine Instru­ mente mit der allergrößten Sorgfalt aussucht. Das Werk stellt denjenigen Flügel, der seiner Befindlichkeit, eher noch: seiner Verletzlichkeit am besten gerecht wird. Manche Sonaten Beethovens, insbesondere die or­ chestral extravertierten, verlangen nach dem Steinway, während solche der weicheren, lyrischen Tonarten beim Bechstein oder beim Bösendorfer aufs Beste aufgeho­ ben sind. Es war kein Zufall, dass Schiff einen Bechstein, der seinerzeit häufig von Wilhelm Backhaus gespielt worden war, in seinen Originalzustand versetzen ließ, wor­ aus sich seither faszinierende Perspektiven in Klang und Atmosphäre ­ergeben. Hinzu kommt eine Kollektion historischer Instru­ mente, die ein fachkundiger Stimmer bei Leben und Laune hält. Neben dem Hammerflügel nutzt Schiff in jüngster Zeit auch ein Clavichord, das sich kongenial mit Bachs In­ ventionen und Sinfonien verschwistert, wovon auch eine schöne, bei ECM erschienene Einspielung Kunde gibt. DER INTELLEKTUELLE

Dem Tasteninstrument ist die Natürlichkeit nicht in die Wiege gelegt. Jede Mechanik bildet eine Quelle des Wider­ stands, dessen Ausläufer die Interpretation vor enorme Herausforderungen stellen. Als es Schiff gelang, Bachs »Goldberg-Variationen« auf dem modernen Konzert­ flügel abzubilden, ohne das rechte Pedal auch nur einmal zu berühren, war ein Höhepunkt intellektuell-manuel­ ler Freiheit erreicht. Bald übertrug der Interpret diesen schwerelos anmutenden Akt des Balancierens auf des Meisters gesamtes Œuvre, wovon dann auch andere Kom­ ponisten je nach Vorgabe und Sinngehalt profitierten. So brachte ein denkwürdiger Abend bei der Münch­ ner Carl Friedrich von Siemens Stiftung die »GoldbergVariationen« einmal auch mit Beethovens Schwesterwerk, den »Diabelli-Variationen«, zusammen. Damit nicht genug. Im ersten Teil des Marathons erläuterte Schiff dem atemlos aufmerksamen Publikum die Geheimnisse und Scharnierstellen dieser Zyklen, nicht ohne auch Humor und Witz den Tribut zu entrichten, so dass die an­ schließende Aufführung – meiner Erinnerung nach ohne Pausen – doppelt eindringlich wirkte. Schiffs freundliches Lächeln verbarg, dass hier ein Pianist aus herkulisch an­ mutenden Kräften schöpfen musste. Natürlich täuscht das rein Äußere des Cherubs, der scheinbar alle nur möglichen Konflikte gelöst und hinter sich gebracht hat. Schiff zieht den Hut auch insofern vor ›


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nosse ist, in dessen Gegenwart keinerlei Starkult aufkom­ men kann, sei hier ebenfalls vermerkt. Es ist nicht weniger ergiebig, mit Schiff über Literatur oder über das Kino zu diskutieren, überall ist der Freund informiert und mei­ nungsstark, aber auch nachgiebig, wenn ihn die Gegen­ meinung überzeugt oder mindestens interessiert. Wir erwarten, selbstsüchtig wie wir Musikfreunde nun einmal sind, noch manches, vielleicht sogar das eine oder andere aus dem Repertoire der Impressionisten, denn wir sind sicher, dass sich Schiffs Alchemie noch längst nicht alles anverwandelt hat. MARTIN MEYER war von 1992 bis 2016 Feuilleton-Chef der »Neuen Zürcher Zeitung«. Er publizierte u. a. Gesprächsbände mit Alfred Brendel (»Ausgerechnet ich«, 2001) und András Schiff (»Beethovens Klaviersonaten und ihre Deutung«, 2007; »Musik kommt aus der Stille«, 2017).

dem Menschen Beethoven, als er wie dieser plötzlich ein­ mal in den modus cholericus gerät. Dann ist nicht mehr lachen. Umso besser, denkt man sich, er ist durchaus auch im Irdischen verwurzelt, einer, der auffahren kann und darf, wenn ihm etwas gegen den Strich geht. DER VIELSEITIGE

Neben den genannten sollen andere Komponisten, denen sich Schiff zugewandt hat, nicht vergessen werden. Etwa Max Reger mit seinen ebenso sperrigen wie faszinierenden »Variationen über ein Thema von Bach«, Robert Schumann, dessen »Geister­Variationen« einen festen Bestandteil des konzertanten Repertoires bilden, Schubert ohnehin, früher auch Chopin oder Scarlatti, heute vermehrt Johannes Brahms mit seinen beiden Kla­ vierkonzer ten und den wunderbaren Intermezzi. András Schiffs Vielseitigkeit ist eindrucksvoll ver­ bürgt. Wer weiß noch, dass der junge Pianist, als er anno 1974 von den Funktionären des ungarischen Regimes nach Moskau zum Tschaikowsky­Wettbewerb entsandt wurde, Liszts Konzertetüde »La Leggierezza« und eine Étude­Tableau von Rachmaninow vortrug? Tempi passati, und doch. Die Devise lautete: musizieren, woraus sich bald eine ebenso erstaunliche wie beständige Karriere ent­ faltete. Sie erweiterte sich im Lauf der Zeit auch um Schiffs vital­sensibles Dirigat oder auch um die Freude des Impresarios, junge Talente vorstellen zu können. Energie, Konzentration, Gedächtnis, Enthusiasmus, dazu ein Aufgehen in den Werken, wie es heute nur noch selten erlebt und gehört werden kann, das macht die Magie dieses Interpreten aus. Dass er daneben ein er­ frischend mitteilsamer, witziger und anregender Zeitge­

BUILDING BRIDGES Di, 9.1.2024 | 19:30 Uhr Elbphilharmonie Kleiner Saal Martina consonni, tomoki Park (klavier) András schiff präsentiert junge Pianisten aus seinem Mentoring-Programm. REZITAL Mi, 10.1.2024 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal András schiff (klavier) Werke von Bach, haydn, Mozart und Beethoven CAPPELLA ANDREA BARCA Di, 30.1.2024 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal cappella Andrea Barca András schiff (klavier und leitung) J. s. Bach: »tripelkonzert« für Flöte, Violine, cembalo, Basso continuo und streicher BWV 1044; Brandenburgisches konzert nr. 5 BWV 1050 W. A. Mozart: klavierkonzerte A-dur kV 488 und B-dur kV 595 TSCHECHISCHE PHILHARMONIE Mi, 13.3.2024 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal tschechische Philharmonie semyon Bychkov (dirigent) András schiff (klavier) Antonín dvořák: konzertouvertüre »karneval« op. 92; klavierkonzert op. 33; sinfonie nr. 9 »Aus der neuen Welt« op. 95

CHAMBER ORCHESTRA OF EUROPE Di, 28.5.2024 | 20 Uhr Laeiszhalle Großer Saal chamber orchestra of europe András schiff (klavier und leitung) Johannes Brahms: Variationen über ein thema von Joseph haydn op. 56a; klavierkonzert nr. 2 op. 83; Joseph haydn: sinfonia concertante B-dur hob. i:105 LIEDER UND KAMMERMUSIK Mi, 26.6.2024 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal ema nikolovska (Mezzosopran) Julian Prégardien (tenor) Marie-luise neunecker (horn) stephen Waarts (Violine), diyang Mei (Violine), hariolf schlichtig (Viola), Julia hagen (cello) Franz schubert: Auf dem strom d 943; robert schumann: sonate nr. 2 für Violine und klavier op. 121; liederkreis op. 39 nach gedichten von eichendorff; Johannes Brahms: klavierquartett nr. 1 op. 25


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ANTONIO PAPPANO Accademia Nazionale di Santa Cecilia

MOTIV: BUS.GROUP DESIGN: OFF OFFICE

Oper La Gioconda AMILCARE PONCHIELLI Inszenierung OLIVER MEARS Mit ANNA NETREBKO, JONAS KAUFMANN Neuproduktion Orchester- und Chorkonzerte Leitung ANTONIO PAPPANO, JAKUB HRŮŠA mit PINCHAS ZUKERMAN, SONYA YONCHEVA, JUDIT KUTASI, JONAS KAUFMANN, MICHELE PERTUSI Liederabende CHRISTIAN GERHAHER, LISE DAVIDSEN / FREDDIE DE TOMMASO

Tanz Johannes-Passion · Uraufführung SASHA WALTZ / BACH Elektro Seme – presented by MAX COOPER SARAH ARISTIDOU / NIELS ORENS tickets@osterfestspiele.at · Tel + 43 662 80 45-361 osterfestspiele.at Festspiel-Mäzenin ALINE FORIEL-DESTEZET

22.3. – 1.4.2024

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DIE MASKEN

DES REINEN BLICKS

So liebenswürdig wie zerrissen: Leben und Kunst von Béla Bartók. VON ALBRECHT SELGE

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ft, wenn man bei seinen Zeitgenossen liest, ist da die Rede von Béla Bartóks Blick. Thomas Mann etwa erinnerte sich an den Komponisten: »Wo immer ich Béla Bartók sah, mit ihm sprach, ihm lauschte, war ich aufs Tiefste berührt, nicht nur von seiner Liebenswürdigkeit, sondern von seinem hohen und reinen Künstlertum, dessen Wesen sich schon in dem schönen Blick seiner Augen ausdrückte.« (Auch dieser Be­ griff der »Reinheit« begegnet einem übrigens immer wieder: sowohl über Bartók als auch bei Bartók selbst. Ein zwiespältiger, gebrochener Begriff, wie wir noch sehen


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werden.) Und ein Mitschüler aus Bartóks Zeit auf dem Gymnasium in Preßburg, dem heutigen Bratislava, schrieb später, dass jeder den jungen Bartók gekannt habe, des­ sen Gestalt »fast gebrechlich« und dessen Kleidung »die liebevolle Sorge seiner früh verwitweten Mutter« anzu­ sehen gewesen sei: »Was Bartók von seinen Mitschülern unterschied und weshalb ihn niemand vergaß, der ihn auch nur einmal traf, das war sein Blick.« Dem könnte der Eindruck entgegenstehen, Bartóks Musik sei oft maskiert, statt einen direkt anzuschauen. Denn wie will man diese Differenzen zusammenbekom­ men? Auf der einen Seite die legendären Brachialitäten des Liebenswürdigen: zum Beispiel die rabiaten Härten des ersten Klavierkonzerts oder die skandalheischende Brutalität der Ballettmusik »Der wunderbare Mandarin«. Auf der anderen Seite Wunder an Schwermut wie das sechste Streichquartett, dessen vier Sätze alle mit mesto (traurig) überschrieben sind. Und natürlich all die sub­ tilen nächtlichen Magien seiner langsamen Sätze, wie in der zentralen »Elegie« des Konzerts für Orchester, das doch in den Außensätzen so reich an theatralisch-stelzen­ der Komik und auch an Sarkasmus ist. Oder die le­ benslange Beschäftigung des sensiblen Einzelgängers mit Volks­musiken und zugleich die Weltläufigkeit des Hei­mat­ liebenden, dem – von einigen jugendlichen Jahren ab­ge­ sehen – jede Vaterlandstümelei zuwider und aller Natio­ nalismus ein Gräuel war. Es liegen wohl tiefe Bedürfnisse in diesen, manchmal auch bloß scheinbaren, Widersprüchen. Und welcher bedeutende Künstler des 20. Jahrhunderts bestünde nicht geradezu aus Widersprüchen? Die meisten »eindeutigen« sind vergessen; die zerrissenen sind es, die uns etwas zu sagen haben. WAS FÜR EIN FILIGRANLÄRM!

Viele von Bartóks Werken waren für mich persönlich Liebe eher aufs zweite oder dritte Hören. Zunächst nahm ich oft die Schroffheiten wahr oder empfand sie als spröde An­ gelegenheiten. Nach dem ersten Anhören einiger BartókStreichquartette war mir, als sei ich regelrecht verdroschen worden. Und nach den ersten Prügeln durch den »Wun­ derbaren Mandarin« fühlte ich mich beinah wie die Haupt­ figur des seltsamen, durchaus abstoßenden Plots: über­ fallen, ausgeplündert und erstickt, durchbohrt, aufgehängt, verblutet. Erst später, dank guter Aufführungen im Konzert­ saal, lernte ich auch diese befremdlichen Kraftmeie­ reien eines Feingeists zu bewundern: Was für ein Filigran­ lärm! Zwar ist es heute schwerer denn je, über den grellen Schock-Exotismus des 1926 entstandenen »Man­ darin« hinwegzusehen, in dessen Mittelpunkt ein von »Apachen« zu Tode gepeinigter stummer Gruselchinese

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steht; sehr unangenehm, selbst wenn der Chinese das Opfer ist und wohl ein verkapptes Selbstporträt des ver­ schlossenen Mannes Bartók darstellt. Ein interessantes Gegenbeispiel zu der ungehemmten Chinesen-Exploitation des »Wunderbaren Mandarin« findet sich übrigens – Querblicke lohnen immer – im nur ­wenige Jahre später entstandenen Tim-und-Struppi-­Comic »Der blaue Lotus«: Dessen Zeichner Hergé war nach seinen früheren, rabiat kolonialistisch entworfenen Bän­ den mit dem chinesischen Studenten Zhang Chongren in freundschaftlichen Kontakt gekommen und von da an aufs Höchste bemüht, Orten und Personen seiner Abenteuergeschichten sensibel, informiert und detailge­ nau gerecht zu werden, statt »Exotik« achtlos auszubeuten. Aber die ligne claire, um einen auf Hergés Zeichnen gemünzten Begriff zu stibitzen, diese klare Linie fin­ det sich auch in Bartóks Kunst ab dem Punkt, da sie ihre »spätromantischen« Anfänge hinter sich ließ, die StraussNacheiferei des hochbegabten Jünglings kurz nach 1900. Von welch erlesener Delikatesse sind zwei Jahrzehnte später die kunstvollen Klangmischungen, die uns das Or­ chester im »Wunderbaren Mandarin« um die Ohren haut! Es war trotz ihrer Härten gewiss nicht die Musik, die den damaligen Oberbürgermeister von Köln, einen gewissen Konrad Adenauer, zum Verbot weiterer Auffüh­ rungen des Stücks veranlasste. Grund war vielmehr der gesuchte Skandal des Sujets, die provokante »Unmoral«, wie sie typisch ist für die 1920er Jahre und überhaupt für manches Großwerk bereits seit »Salome« (1905) und »Le sacre du printemps« (1913). Man denke nur an Paul Hindemiths reißerische Operneinakter, darunter den Nonnenporno »Sancta Susanna« (1922), den ein Kritiker als »perverse, wahrhaft unsittliche Angelegenheit ohne je­ des melodische Empfinden« bezeichnete. Wenngleich der »Wunderbare Mandarin« also gewiss im Strom der modischen Provokationslust mitschwamm, so ist dieses Werk doch nicht nur aufgrund seiner klaren Linien, kunstvollen Ostinati und konsequenten Dissonan­ zen ein echter Bartók. Es schwingt auch ein persön­ liches Anliegen mit in dieser Darstellung des Versuchs, eine scheue, verschlossene, stumme Seele zu öffnen; wenn auch hier in der allerdrastischsten Form des Aufrei­ ßens, Malträtierens, Tötens des Körpers. EIN MANGEL AN MORD UND TOTSCHLAG

In der »Handlung« eines anderen Seelentüren aufreißen­ den Bartók-Stücks könnte man hingegen finden, es spritze entschieden zu wenig Blut, mangele geradezu an Mord und Totschlag. Wer sich von der kurzen Oper »Herzog Blaubarts Burg«, deren Sujet immerhin von der Legende eines Frauen-Serienmörders ausgeht, Marquisde-Sade-hafte Exzesse erhofft, der wird einen ›


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Gleichrangig auch Wissenschaftler: Béla Bartók (um 1940)

bemerkenswert öden Abend durchleiden (eine Erfahrung, die sich dann immerhin als notdürftiger Masochismus sinnhaft machen ließe). Zwar gibt es im »Blaubart« blut­ rote Seen und symbolische Frauenleichen hinter Türen, aber das Drama ist völlig in den Bereich von Seele und Traum verlegt: scheiternde Sprechversuche zwischen zwei Menschen, einem Mann und einer Frau. »Das größte Hindernis für ihre Aufführung war, dass die Handlung bloß aus dem Seelenkonflikt ­zweier Personen besteht«, erklärte Bartók selbst den Miss­ erfolg der 1911 komponierten und 1918 uraufgeführten Oper: »Auf der Bühne geschieht sonst nichts.« Wozu man getrost zweierlei ergänzen darf: Erstens, dass das ver­ schwiemelte Seelenlibretto von Béla Balász ziemlich weit entfernt ist von dem Sog, den etwa die Traumspiele des großen Vorbilds aller Dramaverseelungen oder Seelenver­ dramungen erzeugen können, nämlich August Strindberg. Und zweitens, dass der Bühnenmangel von »Herzog Blau­ barts Burg« dieses Werk für konzertante Aufführungen geradezu prädestiniert. Darin entsteht dann ein eminenter Sog, darin kommen die puren musikalischen Schönhei­ ten wahrhaft zur Geltung: visuelle Klänge, atmosphärische Dichte, etwa das durchgehende Leuchten hinter der dritten Tür, und schließlich die ergreifenden Tränenvaleurs und Farbmischungen des sechsten Teils, der den emotio­ nalen Höhepunkt bildet: Da fiebert man mit, selbst wenn man kein Wort vom ungarischen Text versteht. GRENZENLOS IM GRÜNEN

Aber was bedeutet es überhaupt, dieses Ungarisch-Sein Béla Bartóks? 1881 geboren, wuchs er polyglott auf, seine Briefe schrieb er auf Ungarisch und auf Deutsch, lernte

früh Französisch und später Rumänisch, Slowakisch, Englisch, Italienisch, »studierte [so berichtet sein Sohn Béla jr.] die arabische, türkische, bulgarische, finnische – und an seinem Lebensende die südslawische Sprache«. Die Regionen des kakanischen Königreichs Ungarns, in denen der schon früh vaterlose Bartók seine Kindheit und Jugend verbrachte, gehören heute zu Ungarn und Rumänien, der Ukraine und der Slowakei. Und die Volksmusiken, die der gegenüber populären Ungarn-Kli­ schees allergische Bartók jahrzehntelang so systematisch wie leidenschaftlich sammelte (der Biograph Everett Helm stellt den Wissenschaftler Bartók gleichrangig neben den Künstler), ließen sich statt »ungarisch« vielleicht eher als »bäuerlich« bezeichnen. Bartók kannte keine nationalen Grenzen. In seinem zweiten Streichquartett, das während des Ersten Welt­ kriegs entstand, verarbeitete er sogar musikalische Einflüs­ se, die er auf einer Algerienreise 1913 gesammelt hatte. Der Musikwissenschaftler Karl Böhmer beschreibt die nicht ganz unskurrile Expedition so: »Wieder war er, wie bei seinen Recherchen zur un­ garischen Bauernmusik, mit einem Phonographen und mit Notenpapier ausgerüstet, und wieder war er fest davon überzeugt, dass er nur ›im Grünen‹ fündig werden würde, sprich: fern von Algier, in den Oasen an der Grenze zur Sahara. Bartók war davon überzeugt, dass es sich bei der Musik der arabischen Städte nur um eine korrumpier­ te frühere Hofmusik handelte, nicht um ›echte‹ ländliche Folklore. Diese wollte er – wie seinerzeit in Ungarn – bei der ›Landbevölkerung‹ aufstöbern, eine fixe Idee, die ihn zur Tour durch diverse Oasen verleitete. Dort setzte er den verdutzten Berbern seinen Phonographen vor, in den sie hinein singen mussten, ob sie wollten oder nicht. Mal hatte er einen ›wunderbaren, schielenden Sänger‹ vor sich, mal widerstrebende Nomaden, die den Komponisten und seine Frau durch ihre ›finsteren Blicke‹ erschreckten.« Ohne Bartóks musikwissenschaftliche Verdienste in Frage zu stellen – das wirkt tatsächlich wie eine fixe Idee: seine Manie, absolut ungetrübte Quellen aufzustöbern, das Echte, das Reine. Auf der konkreten historischen Ebe­ ne handelt es sich um den hartnäckigen Versuch, ein Erbe zu dokumentieren, das in der rasenden Moderne bereits heftig im Verschwinden begriffen war. Auf der persönlichen Ebene könnte man darüber spekulieren, was diese mag­netische Anziehung des einsamen Sensitivlings durch eine bäuerliche Welt zu bedeuten hatte. Trost, Sub­ limation, Verheißung, gar Erlösung? Niemals hätte ja einer wie Bartók in der realen ruralen Welt glücklich wer­ den können, wie sehr er sich das auch zeitweise vorge­ stellt haben mag (schon Beethoven fantasierte in seinen schwersten Jahren davon, alles liegenzulassen und Bauer zu werden, eine wahrlich bizarre Vorstellung). Bartóks notorische Abneigung gegen die verderbte, kor­rumpierte »Großstadt«, wie sie sich auch in dem verkommenen Milieu des »Wunderbaren Mandarin« aus­ drückt, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Es ge­ hört zu den irritierenden, aufregenden Widersprüchen


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Man wünschte sich, Bartók hätte keinen Grund gehabt, so traurig zu komponieren. dieses Künstlers, dass er trotz des oder sogar aus dem antimodernen Affekt gegen das Urbane und Unreine heraus wahre Meilensteine der musikalischen Moderne schuf. Und für seine moralische Reinheit (um das proble­ matische Wort doch einmal affirmativ zu benutzen) spricht der Umstand, dass Bartók trotz seines tiefsitzenden Affekts keinerlei Blut-und-Boden-Versuchung nachgab, niemals »Entmischung« im politischen Raum suchte oder guthieß. Hatte er 1903 als junger Mann mit seiner sym­ phonischen Dichtung »Kossuth« noch einen naiv patrioti­ schen Hit gelandet, biederte er sich spätestens seit dem einschneidenden »Allegro barbaro« von 1911 nirgends mehr an, weder musikalisch noch weltanschaulich. Und er blieb bewundernswert immun, als sich in den 1920er- und 1930er-Jahren die Pestdenke der nationalen, kulturellen, rassischen Reinheit in Europa ausbreitete. (Ohne allzu simple Parallelen zwischen den Zeiten zu ziehen, fragt man sich, was Bartók wohl zur heutigen ungarischen Politik sagen würde. Weltmenschen wie Iván Fischer oder András Schiff, legitime geistige Erben Bartóks, lassen bekanntlich keinen Zweifel an ihrem Abscheu gegen den neuen Natio­ nalismus, der in Europa grassiert.) DURCHAUS EINE HERAUSFORDERUNG

Auch in rein musikalischer Hinsicht blieb Bartók skrupu­ lös. Niemals verwendete er gewissermaßen wörtliche Volks­ musik in seinen Werken. Stattdessen benutzte er harmo­ nische oder rhythmische Muster, von denen ausgehend er kunstvoll und, ja doch: höchst urban komponierte. Und selbst was das Ganze seines Werkkatalogs angeht, finden sich bemerkenswerte Diversitäten: So schuf Bartók, obwohl er jahrzehntelang als (persönlich bescheiden auf­ tretender) Klaviervirtuose auf Weltniveau reüssierte, keine großen Solo-Werke für »sein« Instrument. Zwar gibt es umfangreiche Sammlungen »kleiner« Klavierstücke, manch einer kennt sie aus dem Klavierunterricht, und für den großen Saal schrieb Bartók drei Klavierkonzerte, die jedes einen völlig eigenen Charakter besitzen. Aber keine bedeutenden Klaviersonaten, keine gewaltigen Rhapsodien, Préludes oder Études wie etwa Rachmaninow oder Skrjabin. Wenn man bei Bartók nach Vollendung in einem bestimmten klassischen Genre sucht, ist eher auf den Kosmos seiner sechs Streichquartette zu verweisen, die zwischen 1908 und 1939 entstanden. Durchaus eine Herausforderung, aber eine, die sich lohnt. Im vierten Quartett von 1928 etwa steckt viel »typischer« Bartók: die Synthese von klassisch-romantischer Form und kunstvollen »echt folkloristischen« Elementen, das Perkus­ sive, auch das legendäre Bartók-Pizzicato (bei dem die gezupfte Saite bewusst aufs Griffbrett zu schnalzen hat)

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und im Aufbau des Ganzen die Ring-Form, in dem erster und letzter, zweiter und vorletzter Satz voller Symmetrien stecken und der dritte das Zentrum bildet. Das sechste Quartett hingegen stammt bereits aus Bartóks letzter Schaffensphase. Nach den Krachern und Schlachtrössern der frühen Zwanziger entstanden bis zu seinem Tod im amerikanischen Exil am 26. September 1945 jene Meisterwerke, in denen Bartók sich auf dem Höhepunkt seiner Kunst befindet und doch alles von Tod­ traurigkeit überwölbt scheint. Schmerz und Verzweiflung über den sich erst abzeichnenden, dann eintretenden Un­ tergang einer Welt, deren Größe und Schönheit umso eindringlicher beschworen wird, auch durch einen unmit­ telbarer ansprechenden, freundlicher und wärmer schei­ nenden Ton. Man wünschte sich, Bartók hätte keinen Grund gehabt, so traurig zu komponieren. Aber dass er in einer einstürzenden Welt derart schmerz- wie kunstvolle Erinnerungen an menschlichen Glanz und menschliches Glück hervorbrachte und uns hinterließ, dafür darf man zutiefst dankbar sein. Und des Unglücks gedenken, das nicht durchleben zu müssen wir die Gnade haben. Wie die Maske eines Liebenswürdigen scheint es da, dass Béla Bartók einem der vielschichtigsten und schlicht ergreifendsten Werke des 20. Jahrhunderts einen nahezu nichtssagenden Titel verpasste, der eigentlich als ein Aus­ bund an Tiefstapelei gelten kann: »Konzert für Orchester«. Dieses unmittelbar zugängliche Werk nannte Bartóks wichtigster Biograph Tadeusz A. Zieliński 2010 »den Gipfel der ganzen Bartókschen Kunst«. Zum großen Teil ent­ stand es in Saranac Lake in den Adirondack Mountains im Nordosten des Bundesstaats New York; doch es liegt darin die ganze Geschichte der europäischen Musik und des großen Béla Bartók. Er erlaubt uns, ihm in die Augen zu blicken, durch seine vielen Masken.

KOSMOS BARTÓK Elbphilharmonie Großer und Kleiner Saal Fr, 2. und So, 4.2.2024 NDR Elbphilharmonie ­Orchester, Alan Gilbert Igor Levit (Klavier) Bartók: Divertimento; Klavierkonzerte Nr. 1 und Nr. 2; Konzert für Orchester Sa, 3.2.2024 NDR Bigband, Geir Lysne Geir Lysne: Bartók ­Conversations Di, 6.2.2024 Jerusalem Quartet Bartók: Streichquartette ­Nr. 2, Nr. 4 und Nr. 6

Mi, 7.2.2024 NDR Vokalensemble Jerusalem Quartet Werke von Bartók und ­ungarische Volksmusik Do, 8.2.2024 NDR Radiophilharmonie Stanislav Kochanovsky Valeriy Sokolov (Violine) Bartók: Violinkonzert Nr. 2; Deux portraits; Suite aus »Der wunderbare Mandarin« Fr, 9. und Sa, 10.2.2024 NDR Elbphilharmonie ­Orchester, Alan Gilbert Igor Levit (Klavier), Michelle De Young (Mezzo­sopran), Gerald Finley (Bariton) Bartók: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3; Herzog Blaubarts Burg. Konzertante Auf­ führung in ungarischer Sprache


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Engagement


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ICH BIN EIN FAN Ulrike Schmidt weiß genau, wofür sie die Elbphilharmonie so schätzt.

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uch wenn ich aus einem sehr musisch geprägten Elternhaus stamme und leidenschaftlich gern Ballett getanzt habe, entschied ich mich für ein betriebswirtschaftliches Studium. Durch einen glücklichen Zufall landete ich als Kulturmanagerin in der Kulturabteilung der Bayer AG. Der Leiter der Abteilung, Dr. Franz Willnauer, wurde 1986 zum Generalsekretär der Salzburger Festspiele berufen. Er holte mich nach, und ich übernahm dort die Leitung des Konzertreferats – als erste Nicht-Österreicherin, der dieses Amt anvertraut wurde. Mich hat tatsächlich noch Herbert von Karajan ein­ gestellt, und ich habe mit vielen der großen, mittler­weile leider verstorbenen Maestri wie Claudio Abbado und Sir Georg Solti zusammengearbeitet. Nach Karajans Tod formierten sich die Salzburger Festspiele neu, und auch ich machte für mich einen Schnitt. So ging ich 1991 nach Hamburg, wo ich als Betriebsdirektorin von John Neu­meiers Hamburg Ballett eine große Aufgabe über­ nahm. Später kam noch die stellvertretende Intendanz dazu. Ich bin sehr früh mit der Elbphilharmonie in Berüh­ rung gekommen: Die Initiatoren Alexander Gérard und Jana Marko traten damals an die Hamburger Kulturinsti­ tutionen heran, um ihre Vision des Gebäudes vorzustel­ len, und sie sprachen auch mit John Neumeier und mir. Ich war von Anfang an eine große Verfechterin ihrer Idee, denn mir war klar, dass das Konzerthaus ein wunder­ barer Mehrwert für die Stadt und die Kultur sein würde. Und so ist es ja auch gekommen! Ich hatte das Glück, im Januar 2017 beim Eröffnungs­ ­konzert dabei zu sein. Ich habe mich im Großen Saal sofort wohlgefühlt. Der Raum passt wunderbar zu Ham­ burg, er ist so klar gestaltet, elegant und schön, doch ohne Pomp und ohne sich laut in den Vordergrund zu drängen. Auch sein direkter, klarer Klang gefällt mir sehr. Die Musikerinnen und Musiker mussten sich zu An­ fang ganz neu sortieren und umgewöhnen, da sie sich selbst und einander auf einmal so deutlich hörten und auch zu hören waren. Es muss hier auf einem sehr hohen Niveau gespielt werden, vertuschen und verschleiern geht nicht. Der Konzertmeister des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks sagte mir neulich, dass sich die Akustik des Großen Saals in den letzten Jahren noch ein­ mal stark verändert und verbessert hätte – wie es auch der

Akustiker Yasuhisa Toyota einst prognostiziert hatte. Es gibt legendäre Konzertsäle wie den im Wiener Musik­ verein oder im Concertgebouw Amsterdam, wo eine ganz besondere Atmosphäre herrscht. Ein modernes Bauwerk wie die Elbphilharmonie lässt sich nicht mit ihnen verglei­ chen, sie hat ein Alleinstellungsmerkmal. Durch sie hat sich mir erst so richtig erschlossen, wie groß der Hambur­ ger Hafen ist. Ich finde es spannend, wie sie die Hafen­ City erweitert. Ich lebe in Ottensen und liebe es, mit der Hafenfähre zum Konzert zu fahren. Es ist toll, das Ge­ bäude vom Wasser aus zu betrachten, seine Schönheit er­ schließt sich von dort noch einmal ganz anders. Ein Tipp ist auch, frühmorgens durch den Alten Elbtunnel auf die andere Elbseite zu radeln und mit dem Blick zurück auf die Elbphilharmonie den Sonnenaufgang zu erleben. Auf meinen Reisen ist es immer die Elbphilharmonie, auf die ich angesprochen werde. Wir hatten kürzlich ein Brainstorming zur Frage, was Hamburg ausmacht: die vie­ len Parks und Grünflächen, der Hafen und natürlich die Elbphilharmonie. Ich habe das neue Konzerthaus nie als Konkurrenz gesehen, die auswärtigen Gäste etwa der Hamburger Ballett-Tage verbinden ihren Besuch nun mit einem Konzert in der Elbphilharmonie, es ist kein Ent­ weder-Oder. Durch ihr vielfältiges Programm, das wirklich für jeden Geschmack etwas bietet, bereichert sie das kul­ turelle Leben der Stadt. Die Elbphilharmonie hat mich noch nie enttäuscht. Sie ist immer ein besonderes Erlebnis und hinterlässt ein Wohlgefühl, jedoch nicht im Sinne von satt, sondern von spannend und inspirierend. Ich habe mich immer als Europäerin begriffen, durch meine Tätigkeit für das Ballett bin ich sehr viel gereist. Wenn ich heute auf die Elbe schaue, stellt sich bei mir ein Gefühl von Weltoffen­ heit ein. Durch die Elbphilharmonie ist Hamburg der Sprung zu noch mehr Weltläufigkeit und Internationalität gelungen. Wir tun gut daran, weiter daran zu arbeiten. Das möchte ich auch mit meiner Tätigkeit im Förderverein der Hamburgischen Staatsoper. Wie die Oper hat auch die Elbphilharmonie viele großzügige Förderer, und es ist toll, dass alles nebeneinander existieren kann und es so viele Synergien gibt, die wir ausbauen können. AUFGEZEICHNET VON CL AUDIA SCHILLER FOTO CHARLOTTE SCHREIBER


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DER VORTÄNZER Spitzentanz mit den Händen: Maxim Emelyanychev


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Mit leichter Hand spielt sich Maxim Emelyanychev von Vergleichen frei. VON SIMON CHLOSTA

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it Vergleichen ist das so eine Sache. Einerseits versprechen sie Aufmerksamkeit und bedeuten für aufstrebende Künstler ein großes Lob. An­ dererseits können sie eine Last sein, schließlich möchte man als eigenständige Persönlichkeit wahrgenom­ men werden; außerdem steigt der Druck, die hohen Erwar­ tungen auch tatsächlich zu erfüllen. Den russischen Dirigenten und Pianisten Maxim Emelyanychev begleiten gleich zwei Vergleichsgrößen durch sein musikalisches Leben. Da wäre zum einen der wohl größte Komponist aller Zeiten, Wolfgang Amadeus Mozart. Und zum an­ deren einer der eigenwilligsten Künstler unserer Tage, der russisch­griechische Dirigent und Ensemblegründer Teodor Currentzis, der viele Jahre eine Art Mentor für Emelyanychev war. Mozart – so lautete der Spitzname Emelyanychevs im Knabenchor seiner Heimatstadt Nischni Nowgorod. Denn wie einst das Salzburger Jung­Genie galt auch der heute 34­Jährige dank seiner früh ausgereiften musikali­ schen Begabung als Wunderkind. Mit zwölf Jahren dirigier­ te er erstmals öffentlich ein Orchester, auf YouTube findet man noch kurze Ausschnitte von diesem Auftritt. Darin sieht man einen kleinen Jungen in einem zu großen Anzug energisch auf die Bühne marschieren. Das Ganze wirkt noch ein wenig staksig, doch die Energie und die Bestimmtheit im Ausdruck, die Emelyanychev heute zu einem der verheißungsvollsten Dirigenten der jüngeren Generation machen, die sind auch vor 20 Jahren schon präsent. Geboren wurde er 1988 in eine musikalische Familie; die Mutter war Chorsängerin, der Vater Orchester­ musiker. »Ich war als Kind bei all seinen Proben dabei und habe das ganze Orchesterleben irgendwie mitbekom­ men. Der Wunsch, einmal Dirigent zu werden, kam von selbst«, beschreibt Emelyanychev seine frühe Beziehung zur Musik. Seine Ausbildung beginnt er am heimischen Konservatorium, später wechselt er ans Tschaikowsky­ Konservatorium in Moskau. Neben dem Dirigieren wird dort das Cembalo zu seiner zweiten Leidenschaft. »Ich habe nicht gewusst, dass das Interesse an alten Tasten mei­ ne gesamte Vorstellung vom Dirigieren als Kunst ver­ ändern würde! Heute dirigiere ich, indem ich musiziere.«

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Mit Anfang 20 trifft Emelyanychev auf Teodor Currentzis und wird Cembalist in dessen Ensemble MusicAeterna, wo er die Continuo­Partien in mehreren Mozart­Produk­ tionen übernimmt. Bald vertritt er Currentzis auch auf dem Pult, so zum Beispiel 2016 am Opernhaus Zürich, als dieser krankheitsbedingt ausfällt. Und weil beide ähnlich enthusiastische, intensiv arbeitende Künstler sind, liegen Vergleiche schnell auf der Hand. »Ich habe sonst bei nie­ mandem anderen gesehen, dass man mit dem Orchester so arbeiten kann wie er«, erzählt Emelyanychev von seinem Verhältnis zu Currentzis. »Mit welcher Hingabe sie spielen!« Auch das Dirigieren ohne Taktstock und Dirigenten­ pult hat er sich von ihm abgeschaut. Das gibt ihm die Freiheit, sich zwischen den Pulten der vorderen Streicher zu bewegen, dabei auch mal ganz nah an die Musiker heranzutreten und direkt mit ihnen zu kommunizieren. Nicht wie ein Furcht einflößender Maestro von oben herab, sondern wie ein Primus inter pares, ein Erster unter Gleichen. Der Personenkult, der zeitweise um Currentzis ent­ flammte, ist Emelyanychev denn auch ebenso fremd wie dessen Hang zum Exzentrischen. Beim Dirigieren nutzt er zwar wie jener oft die großen Gesten, sie wir­ ken bei ihm aber leichter, weniger theatralisch, eher wie bei einem »Balletttänzer« (Deutschlandfunk Kultur), der sein Orchester dazu animiert, mit ihm zu tanzen. Den Spitzentanz vollführt er jedoch nicht mit den Füßen (obwohl auch die sehr aktiv sind), sondern mit den Hän­ den, indem er Daumen und Zeigefinger stets zu einem spitzen O formt. Auch in Interviews wirkt er deutlich nahbarer, und dass er überhaupt welche gibt, unterscheidet ihn ebenfalls von Currentzis, der sich seit Beginn des Ukraine­Krieges überhaupt nicht mehr äußert. Emelyanychev hingegen hat ein schriftliches Statement veröffentlicht, in dem er sich deutlich vom russischen Regime distanziert. »Ich bin Künstler, ich bin kein politisch aktiver Mensch, und ich lebe für das Schaffen von Musik und Kunst«, heißt es da­ rin, »aber jetzt kann ich nicht mehr schweigen. Ich bin gegen den Krieg in der Ukraine und finde es erschütternd, die Szenen mitzuerleben, die wir alle jeden Tag sehen. Ich wünsche mir, dass so bald wie möglich eine friedliche Lösung für alle gefunden wird.«

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ass Emelyanychev inzwischen auch in künstlerischer Hinsicht dem Vergleich mit Currentzis standhält, hat viel mit dem italienischen Barockorchester Il Pomo d’Oro zu tun, das er seit 2016 leitet. Mit dem auf Alte Musik spezialisierten Ensemble ist er seitdem mehrfach um die Welt getourt, oft mit der US­amerikanischen Mezzosopranistin Joyce DiDonato als Solistin. Ihr gemein­ sames Album wurde in diesem Jahr sogar für einen Grammy nominiert. Auch im Februar wird ›


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»Wir müssen uns bewusst sein, dass wir für ein modernes Publikum spielen. Das muss sich auch in unseren Interpretationen spiegeln.«

DiDonato wieder dabei sein, wenn Emelyanychev und Il Pomo d’Oro Henry Purcells Oper »Dido and Aeneas« in der Elbphilharmonie aufführen. Das Interesse an Alter Musik begleitet ihn seit seiner Zeit am Moskauer Konservatorium, der Chefdirigent des hauseigenen Sinfonieorchesters hatte es in ihm entfacht: »Er führte mich in die historische Aufführungspraxis ein. Das hat mein gesamtes Verständnis von Musik völlig verändert. Ich habe angefangen, alte Instrumente zu stu­ dieren, und realisiert, dass manche von ihnen spezielle Spieltechniken verlangen und dass sie ihre eigene Rhetorik besitzen.« Allzu dogmatisch geht er dabei allerdings nicht ans Werk. »Originalinstrumente helfen uns zu verstehen, wie Musik zur Zeit ihrer Entstehung geklungen haben mag. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass wir für ein modernes Publikum spielen. Das muss sich auch in unseren Interpretationen spiegeln.« Bei so viel Gegen­ wartsblick scheint es nur naheliegend, dass Emelyanychev inzwischen gelegentlich auch Zeitgenössisches in die Programme von Il Pomo d’Oro integriert. »Dieses einzig­ artige Orchester kann so gut wie alles spielen!« Einer glücklichen Fügung ist es zu verdanken, dass er seit 2019 noch ein weiteres Orchester leitet. Beim Scottish Chamber Orchestra fiel damals der Chefdirigent aus, man suchte kurzfristig nach Ersatz für eine Auffüh­ rung von Franz Schuberts »Großer« C-Dur-Sinfonie – und fand ihn in Emelyanychev. »Das ist ein Last-Minute-­ Angebot gewesen. Zum Glück hatte ich damals keine an­ deren Engagements. Es hat im Orchester sofort Klick gemacht und sich angefühlt, als würden wir einfach so Musik zusammen machen. Ein ungewohntes Gefühl, weil gemeinsame Proben meist harte Arbeit sind. Doch hier ist alles wie von selbst gegangen.« Das Orchester nahm Emelyanychev damals gleich unter Vertrag und ver­ längerte ihn nach Amtsantritt kurzerhand bis 2028. Besonders die schwierige Corona-Zeit schweißte Orchestermusiker und Dirigent eng zusammen. »Sie sind mir Freunde geworden. Ich vertraue ihnen, und sie ver­

trauen mir«, so Emelyanychev. »Ich kann bei ihnen einfach ich selbst sein, und das ist sehr wichtig. Wenn man Musiker dirigiert, sollte man nicht die Rolle des Dirigenten spielen müssen. Das passiert manchmal bei größeren Sin­ fonieorchestern – da muss man sein Handeln und Sprechen sehr genau kontrollieren.« Zu viel Kontrolle, das würde auch gar nicht zu seinem impulsiven Wesen passen. Quasi nebenbei ist Emelyanychev mittlerweile auch zum ge­ fragten Gastdirigenten großer Sinfonie­orchester geworden; im vergangenen Jahr gab er etwa sein Debüt bei den Ber­liner Philharmonikern – und ist damit endgültig im Olymp der Klassik-Branche angekommen.

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un aber konzentriert er sich erst einmal auf das viel­ leicht wichtigste Projekt seiner bisherigen Karriere – und damit noch einmal zurück zu Mozart und zu Il Pomo d’Oro. Mit diesem Orchester hat Emelyanychev eine Gesamteinspielung sämtlicher Sinfonien des Komponisten begonnen, ergänzt um einige Klavierkonzerte, bei denen er selbst den Solopart übernimmt. Die erste CD ist Anfang dieses Jahres erschienen und enthält neben der berühm­ ten »Jupiter«-Sinfonie auch die erste Sinfonie des damals achtjährigen Mozart. »The Beginning and the End« lautet der sinnfällige Titel des Albums. Er könnte auch zu Emelyanychev selbst passen: Die Tradition hinter sich wissend, aber den Blick stets nach vorn gerichtet.

DIDO AND AENEAS Mi, 14.2.2024 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal Il Pomo d’Oro Maxim Emelyanychev (Cembalo und Leitung) Joyce DiDonato (Dido) Andrew Staples (Aeneas, Jephte) Fatma Said (Belinda) Giacomo Carissimi: Historia di Jephte Henry Purcell: Dido and Aeneas Konzertante Aufführung in englischer Sprache


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GELIEBTE MENSCHEN FRESSERIN Cécile McLorin Salvant bringt eine dunkle Jazz-Oper auf die Bühne. VON JAN PAERSCH

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s gibt diese Musiker, von denen es heißt, dass sie ihre Künstlerkarriere schon im Grundschulalter absehen konnten. Keith Jarrett trat bereits als Fünfjähriger in Fernsehshows auf, Stevie Wonder konnte mit zehn besser Mundharmonika spielen als fast alle Erwachsenen. Und dann gibt es die, die deutlich länger gebraucht haben. So eine ist Cécile McLorin Salvant: »Mit 16 wäre es mir nicht im Traum in den Sinn gekom­ men, Jazzsängerin zu werden. Ich hatte viel mehr Lust, Pearl Jam zu hören.« Heute ist Salvant, geboren 1989 in Miami, Florida, eine der gefragtesten Sängerinnen überhaupt, vom Pub­ likum gefeiert, von der Kritik für ihre »Kunstfertig­keit der allerhöchsten Klasse« umjubelt. Die »FAZ« schwärmt: »Wenn Salvants Stimme mühelos durch die Oktaven springt, reißt der Himmel auf.« Der Trompeter Wynton Marsalis sagt über sie: »Eine solche Sängerin gibt es alle paar Generationen nur einmal.« Demnächst steht Cécile McLorin Salvant mit einem 13-köpfigen Ensemble auf der Bühne im Großen Saal der Elbphilharmonie und wird als Sängerin, Komponistin und visuelle Gestalterin ihren Songzyklus »Ogresse« vor­ stellen. Und das hat viel mit dem langen, gewundenen Weg zu tun, der sie zum Jazz brachte; und mit einem obszö­ nen Blues, den ein angetrunkener New-Orleans-Pianist vor mehr als 85 Jahren gespielt hat. Aber dazu später mehr. In den Neunzigerjahren sieht noch niemand das enorme Talent des Mädchens, am wenigsten sie selbst. Sie ist damit beschäftigt, den elterlichen Plattenteller zu bestücken. Der Vater stammt aus Haiti; die Mutter mit französisch-guadeloupischen Wurzeln hatte als Diplo­ matenkind schon in jungen Jahren auf vier Kontinenten

gelebt. Ein weltgewandtes Haus. »So hatte ich das Glück, von allen möglichen Stilen umgeben gewesen zu sein«, erinnert sich Salvant. »Zu Hause liefen Hip-Hop, Soul, Gospel, kubanische und haitianische Musik. Und ­Sarah Vaughan war immer präsent. Wenn du als Kind so etwas hörst, öffnet sich dir eine ganze Welt.« Zu alldem weckt die ältere Schwester in der jungen Cécile das Inter­ esse für den düsteren Rock von Nine Inch Nails. Als 15-Jährige trägt sie einen Irokesenschnitt und hört radikal­ feministischen Punk; ihre Lieblingsband heißt Bikini Kill. Salvant hatte immer ihren eigenen Kopf – vor allem weiß sie, was sie nicht will. »Es hat mich so überhaupt nicht interessiert«, sagt sie über den Klavierunterricht ihrer Kindheit; sie habe nie geübt und sei nur aufgrund des Drucks ihrer Mutter drangeblieben. Dennoch bleibt ihr die klassische Musik als Hobby erhalten, auch als sie mit 18 Jahren zum Studium nach Südfrankreich geht. »Ich habe auf einer politikwissenschaftlichen Hochschule Jura studiert – und nebenbei Barockmusik«, erzählt Salvant über ihre Zeit in Aix-en-Provence. »Für Jazz hatte ich keine Zeit: Eine schöne Sache, aber es hat mich nicht wirklich interessiert.«

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eil aber die Mutter drängt (und weil dort die Coolen mit den Dreadlocks abhängen), nimmt sie doch an einem Jazzkurs teil – und hat ein weitreichendes AhaErlebnis: »Dass Jazz eine echte Karriere-Option sein könnte, habe ich erst dort in Frankreich gemerkt«, sagt Salvant heute. »Und das ist für mich ein Skandal! Jazz ist die Musik Amerikas, er ist Amerikas Kunstform, er ist schwarze Musik. Er ist ein Grund dafür, warum Men­ schen die schlimmen Umstände überwunden haben, ›



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in denen sie sich befanden. Jazz war eine Möglichkeit, zu zeigen, dass wir Schwarzen nicht nur kluge Wesen sind, sondern Künstler und Genies, die Respekt verdienten.« Salvant wechselt das Fach, statt Barock- studiert sie fortan Jazzgesang, zieht ihre Inspiration nicht nur aus dem Repertoire, sondern auch aus den gesanglichen Eigen­ heiten der ganz Großen: Sarah Vaughan, Ella Fitzgerald, Billie Holiday. Bald folgen erste Konzerttouren durch Europa, doch in ihrer Heimat kennt sie noch niemand. Bis zum Jahr 2010. Eine märchenhafte Geschichte: Salvant nimmt an der Thelonious Monk Competition teil, ei­nem der anspruchsvollsten Jazz-Nachwuchspreise. Sie ge­ winnt, scheinbar mühelos, und im Publikum sitzt ein La­ belchef, der sie sofort unter Vertrag nimmt. Gleich ihr zweites Album wird für einen Grammy nominiert. Ehe sie 30 Jahre alt ist, besitzt sie drei der begehrten Trophäen. Cécile McLorin Salvant ist ihrem eklektischen Musik­ geschmack bis heute treu geblieben. Zu ihren aktuellen Lieblingskünstlern zählen James Blake und Billie E ­ ilish. Aus heutiger Sicht erscheint es einleuchtend: Salvant braucht die Auseinandersetzung mit den Genies von ges­ tern und heute, um all diese Musik aufzusaugen, sie in Kopf und Bauch umherzuwälzen, um sie Jahre später für ihre eigene Kunst neu zu kombinieren. Eine Initialzün­ dung dabei war die Beschäftigung mit dem erwähnten an­ getrunkenen New-Orleans-Pianisten. Es gibt eine legendäre Aufnahme des RagtimeKünstlers Jelly Roll Morton aus dem Jahr 1938: die »Mur­ der Ballad«, ein 30-minütiger Langform-Blues, der selbst aus heutiger Sicht mit drastischer Sprache gespickt ist. Es geht um das Schicksal einer Frau, die die Geliebte ihres Mannes erschossen hat. »Ich liebe den schroffen Schneid darin«, so Salvant. »Es ist das bemerkenswerte Beispiel eines Mannes, der Empathie zeigt – ­allein, dass er aus der Perspektive einer Frau singt! Da kommen feministische Themen vor, es geht um weibliche Solidarität, um lesbi­ schen Sex, Mord und ethnische Fragen.«

»Ich liebe es, einen Handlungs­ bogen zu errichten, eine Geschichte zu erzählen, jeden Aspekt davon selbst auszuleben.« Die Sängerin führt die »Murder Ballad« erstmals 2017 im ehrwürdigen New Yorker Lincoln Center auf. »Das Pu­ blikum war total perplex – Jazz gilt ja oft als familien­ freundlich. Aber danach wurde mir klar, wie sehr ich mit langen Erzählformen arbeiten wollte. Bis dahin hatte ich viele Stücke gesungen, die aus Musicals oder aus der populären Musiktradition stammen. Aber ich liebe es, einen Handlungsbogen zu errichten, eine Geschichte zu erzählen und jeden Aspekt davon selbst auszuleben.« Aus der Beschäftigung mit haitianischen VoodooBildern heraus entwickelt Salvant die Figur eines weibli­ chen Ogers, eines menschenfressenden Monsters, das man sich deutlich unsympathischer als den grünen Filmhelden Shrek vorstellen darf: »Ogresse« nennt sie diese Figur, und deren Geschichte skizziert sie zunächst in denkbar knap­ pen Worten: »She falls in love. She eats the guy. She dies.« »Ogresse« ist eine Jazz-Oper, ein dunkles BroadwayMusical, ein Stück über die Balance von Liebe, Leben und Tod. Für die Struktur ihrer Musik orientierte sich Salvant an französischen Barockkantaten, die die Umsetzung mit Sängerin und Orchester verlangen. Gemeinsam mit einem befreundeten Arrangeur hat sie ein 13-köpfiges Kammer­­ ensemble zusammengestellt; es gibt Banjos, Tubas, Congas und eine Marimba, dazu ein Streichquartett. Salvant ist ein lebendes, lustvoll atmendes SongArchiv. Sie hat Gregory Porter mit »The Wizard of Oz« kombiniert, Kate Bush im Stile gälischer Gesangtradition umgedeutet. Sie hat die edelste, aber auch abgegriffenste Form des Jazz zu neuen Höhen geführt, die Interpretation von Standards, nur von einem Pianisten begleitet. Selbst vor Songs voller Sexismus schreckt sie nicht zurück, macht sich mit viel Ironie ein rückständiges Stück wie »Wives and Lovers« zu eigen. Die Macht eines intensiv vorgetragenen Liedes hat die Künstlerin zeitlebens beschäftigt. Unmittelbar nach­ dem sie ihren zweiten Grammy Award entgegengenommen hatte, sagte sie: »Ich liebe klassische Musik, ich liebe Ba­ rockmusik und Folk Music. Ich weiß gar nicht, warum ich selbst nichts davon singe.« Mit »Ogresse« schließt sie diese Lücke. Cécile McLorin Salvant hat sich ihren eigenen Reim auf die Vergangenheit gemacht. Und etwas Neues erschaffen.

OGRESSE Sa, 9.3.2024 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal Cécile McLorin Salvant (Gesang, Komposition) Darcy James Argue (Leitung, Arrangement) Mivos Quartet & Ensemble Cécile McLorin Salvant: Ogresse


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KRIEG UND FRIEDEN 26 . 4 . — 2. 6 . 20 24 W W W. M U S I K F E S T- H A M B U R G . D E


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Um g e h ö r t

BEWEGEine Frage, sieben Antworten: »Welche Musik bringt Sie zum Tanzen?« VON IVANA RAJIC

HATIS NOIT

»Ich würde nicht sagen, dass ich eine gute Tänzerin bin«, sagt die Vokalkünstlerin Hatis Noit, »aber ich setze meinen Körper gern ein – besonders auf der Bühne. Wenn ich singe, bewege ich mich auch.« Angetrieben von der Erkundung der Grenzen von Körper und Geist, verbindet die aus Hokkaido stammende Sängerin verschiedene musikalische Welten, vom japanischen Gagaku über gregoria­ nische Gesänge bis hin zur Oper. Auch beim Tanzen spielt das Genre für sie so gut wie keine Rolle. »Ich mag jede Musik, durch die wir mit uns selbst in Verbin­ dung treten. Nicht nur Elektro, sondern auch Tribal- und Folk-Musik empfinde ich als sehr körperlich und ursprüng­ lich.« Auf Bali hat Hatis Noit vor kurzem Jegog, ein indo­ nesisches Instrument aus Bambusrohren, gehört – »eine tol­ le Erfahrung. Ich spürte die Energie, die musikalische Vibration in meinem Körper. Und wenn ich mich dazu ganz natürlich bewege, ist das eine unglaubliche Tanzerfahrung.«

SADEK MARTIN-­M ASSARWEH

Ob Hip-Hop, elektronische Musik, R’n’B, Funk oder Disco: »Musik, die einen guten Groove hat, bringt mich auf jeden Fall zum Tanzen«, erklärt Sadek Martin-Massarweh, der Frontmann der Hamburger Indie-Band Monako. Zuletzt war es Rosalías Hit »Beso«, der ihn in die richtige Stimmung dafür brach­ te. Wichtig ist dem kanadisch-palästinensi­ schen Sänger vor allem, von der Musik be­ rührt zu werden. »Denn dann lässt man locker und bewegt sich.« In den emotional aufrichtigen Songs seiner Band findet diese Bewegung oft nach innen statt: »Sie bringen einen dazu, zu sich selbst zurückzugehen. Aber es gibt auch Momente, die eine ge­wisse Leichtigkeit in sich tragen und den Blick nach außen richten. Man erlebt die Musik und bewegt sich gemeinsam.« Tanz ist auch ein wichtiges visuelles Element des markanten Debüt-Albums »Scared Of The Way I Move«, das die 2018 in Eimsbüttel gegründete Gruppe im Januar 2023 veröffentlichte – eine bunte Mischung aus u. a. Indie-Rock, Folk und verspieltem Neo-Jazz.

RANDALL GOOSBY

Mit sieben begann er mit dem Geigenspiel, zwei Jahre später gab er sein Debüt bei der Jacksonville Sympho­ ny und mit dreizehn trat er mit dem New York Philharmonic auf: Randall Goosby befindet sich längst auf der Überholspur, was seine Karriere angeht. Der 1996 in San Diego geborene Musiker gastierte bereits bei nahezu allen wichtigen US-Orchestern und legte im Mai 2023 sein zweites Album bei Decca Classics vor – unter anderem mit lange vergessenen und wiederentdeckten Fantasien der Afroamerikanerin Florence Price. Die musi­ kalische Erinnerung an Komponisten, die mit Rassismus und Vorurteilen zu kämpfen hatten, ist dem jungen Violi­ nisten eine Herzensangelegenheit. »Für mich ist die Musik ein Weg, andere zu inspirieren«, erklärt Goosby. Musik, die ihn selbst inspiriert, und zwar zum Tanzen, ist vor allem »oldschool Soul und Funk. Da fallen mir Earth, Wind & Fire, Stevie Wonder, Rick James und Kool & The Gang ein, um nur einige zu nennen.«

GRÜNDE


Um g e h ö r t

DAVID HARRINGTON

Als Gründer und erster Geiger des Kronos Quartet steht David Harrington seit 50 Jahren für die Über­windung musikalischer Grenzen. Wenn es ums Tanzen geht, hält sich der US-Amerikaner aber lieber zurück: »Ich schaue anderen gern beim Tanzen zu. Selbst tanze ich nur selten« – zum Beispiel mit seinen Kindern, als diese noch klein waren. »Wir drehten ›Stayin’ Alive‹ von den Bee Gees oder Cindy Laupers ›She’s So Unusual‹ laut auf und tanzten durch das Haus. Und wir hüpften zu ›Garbage‹ herum, einem alten ›Sesamstraßen‹-Song von Pete Seeger und Brother Kirk.« Seine allererste Tanz­ stunde erhielt Harrington unerwartet nach einem Konzert in Buenos Aires von der Tango-­Sängerin Beatriz Suarez Paz. »Sie war unglaublich geduldig und freundlich, aber nichts funktionierte.« Schließlich bat er ihren Ehemann, den argentinischen Tango-Gei­ ger Fernando Suarez Paz, um Hilfe. »Der aber sagte nur: ›David, Geiger tanzen nicht.‹«

JULIA ­H ÜLSMANN

DANIEL HOPE

»Seit ein paar Jahren tanze ich 5Rhythmen«, verrät die Jazz-Pianistin Julia Hülsmann – und meint damit eine in den 1960er-Jahren in den USA entwickelte impro­ visatorische Bewegungsund Meditationspraxis. »Das liebe ich sehr, weil es nicht ein bestimmtes Musikgenre sein muss, zu dem man tanzt, son­ dern alles sein kann, was einen in Bewegung bringt.« Die fünf Rhythmen heißen Flowing, Staccato, Chaos, Lyrical und Stillness und reichen von wei­ chen, fließenden bis hin zu artikulierten, wilden Bewegungen. »Dementsprechend können diese ver­ schiedenen Phasen dann auch mit sehr unter­ schiedlicher Musik versehen sein – mit jedem Genre, aber auch jeder Art von Rhythmus, Dynamik, Har­ monik und Instrumentation. Das ist alles offen.« Auf den Partys, die Hülsmann gern mal bei sich zu Hause in Berlin veranstaltet, wird aber vor allem zu Peter Fox getanzt. »Ganz altmodische Nummern von Earth, Wind & Fire funktionieren aber auch immer.«

»Im Allgemeinen fällt es mir sehr schwer, still zu sitzen, wenn ich Musik höre, vor allem, wenn es sich um einen lebhaften und energiegeladenen Rhythmus handelt«, offenbart der Geiger Daniel Hope. »Ich habe durchaus den Drang, sofort aufzustehen und mitzutanzen, auch wenn mein gesunder Menschen­ verstand mich meist davon abhält!« Nach Stücken, die nicht nur ins Ohr, sondern auch direkt in die Beine gehen, hat sich der in London aufgewachsene Virtuose, Autor und Moderator für sein neues Kon­ zertprogramm »Dance!« auf die Suche begeben. Fün­ dig wurde er u. a. bei Mozart, Tschaikowsky und Piazzolla. Vom höfischen Menuett bis hin zum argen­ tinischen Tango vollzieht er die Geschichte des Tanzes in der Musik beschwingt nach: »Ich war schon immer von Musik und Bewegung fasziniert. Beides ist untrennbar miteinander ver­ bunden. Die Kombination inspiriert den Tanz, eine der ältesten Aus­ drucksformen der Menschheit.«

ANAT COHEN

Im Jazz bewegt sich Anat Cohen mit ihrer Klarinette musikalisch ebenso souverän wie in der brasilianischen Improvisationskunst Choro. Im Geiste wesensgleich, fühlt sich die in Tel Aviv geborene und in New York City lebende Künstlerin der traditionellen Musik Brasiliens in besonderem Maße verbunden. Denn sie war es, die Cohen nach ihrem Saxo­ fonstudium am Berklee College zurück zur Klarinette brachte. »Als ich das erste Mal in Brasilien war, erlebte ich eine Band, bei der das ganze Publikum mitsang und tanzte. Ich verliebte mich in den Groove der Musik, der das Leben feiert und die Menschen zusam­ menbringt.« Zu den südamerikanischen Rhythmen der Música Popular Brasileira bewegt sich die Grammy nominierte Instrumentalistin selbst gern. Eigentlich auch zu jeder »Mu­ sik mit Puls, mit Perkussion« und am liebsten zu »positiver Musik, die verschiedene rhyth­ mische und klangliche Schichten hat und einen Backbeat mit fröhlichen Synkopierungen.«

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BAnJo

DIE GRASWURZELBEWEGUNG

Mit denkbar unterschiedlichen Ansätzen erneuern Béla Fleck und Rhiannon Giddens vom Banjo aus die Roots Music der USA. VON STEFAN FRANZEN

D

ass Gräser in der Musikgeschichte eine Rolle spielen, werden alle bestätigen, die sich im Reggae auskennen. Doch es gibt noch einen anderen berühmten Schauplatz aus dem Bereich der Roots Music, der traditionellen Musik der USA: Mit seinem blauen Schimmer wurde das Wiesen­Rispengras von Ken­ tucky und Tennessee Namenspate für ein ganzes Genre. Der Bluegrass entstand dort in den 1930ern als eine hoch­ virtuose Spielwiese mit Fiddle, fünfsaitigem Banjo, Mandoline, Gitarre, Kontrabass und – in der vokalen Va­ riante – auch mit betörendem Satzgesang. Seitdem ist der Bluegrass immer wieder erneuert worden, firmierte des­ halb seit den Achtzigern auch unter Newgrass. Einer der Protagonisten dieser modernisierten Form ist der Banjo­ spieler Béla Fleck. Als »Entgrenzer« des Bluegrass war Fleck gewisser­ maßen im Vorteil: Er kommt nicht aus dem Stammland

dieser Musik, konnte im New York der Sechziger jenseits der traditionellen Spielregeln eine freigeistige Haltung entwickeln: »Musik ist für mich fließend und weniger an Genres gebunden«, sagt Fleck. »Als ich 1979 nach Ken­ tucky zog, hatte ich schon sechs Jahre Banjo gespielt, und erst da fing ich an, die alten Stile zu studieren und sie in meine Arbeit zu integrieren.« So ist es überhaupt nicht ver­ wunderlich, dass er neben dem Banjo­Giganten Earl Scruggs ebenso den Jazzpianisten Chick Corea als großes Vorbild nennt. Mit seinem fünfsaitigen Flathead­Banjo von Gibson aus den 1930ern, das er seiner klanglichen Tiefe und seines dynamischen Umfangs wegen neueren Instrumenten vorzieht, hat Béla Fleck nicht nur den Bluegrass selbst anhand neuer Spieltechniken revolutioniert. Der heute 65­Jährige hat sich parallel auch immer in den Dialog mit anderen Musikkulturen begeben. Neben Jazzplatten


Banjo

»My Bluegrass Heart«: Béla Fleck

mit Chick Corea spielte er Werke mit Sinfonieorchestern ein, mit Kollegen aus Indien und Afrika. Gerade letzteres hat auch einen tiefergehenden Grund: »Das Banjo war nie nur ein Bluegrass-Instrument«, stellt er klar. »Es war ein originärer Teil des frühen Jazz in schwarzen Bands, und wenn man Musik aus Mali mit dem dortigen Banjo-Vor­ läufer Ngoni hört, wird man auch feststellen, dass der Blues mit diesem Instrument begann.« Bei den Minstrels, den fahrenden Spielleuten des frühen 20. Jahrhunderts, schminkten sich weiße Musiker schwarz und romantisierten die Sklaverei. Dass die Schwarzen diesem Stereotyp entfliehen wollten, verwun­ dert nicht: »Sie ließen das Banjo fallen wie eine heiße Kartoffel und wechselten zur immer populärer werdenden Gitarre«, erklärt Fleck. »Das Banjo wurde aus der schwar­ zen Musikgeschichte buchstäblich herausgeschnitten und zum exklusiv weißen Instrument. Ein Jammer!« Zwischen seinen Ausflügen in die Welt ist Béla Fleck regelmäßig in den Schoß des Bluegrass zurückgekehrt: Dafür steht eine CD-Trilogie, die er bereits 1988 begonnen, 1999 fortgesetzt und jetzt vollendet hat. »Auf den ersten beiden Platten wollte ich mit den einflussreichsten Virtuo­ sen jener Zeit spielen. Doch die weilen jetzt nicht mehr unter den Lebenden. Also habe ich für das neue Album ›My Bluegrass Heart‹ die Interaktion mit der neuen Community gesucht. Ich fühle mich halt nicht als komplet­ ter Mensch, wenn kein Bluegrass in meinem Leben ist!« Heute wie damals geht es ihm darum, die »Grenz­marken des Bluegrass zu lockern und gleichzeitig seine Werte in­ takt zu halten«. Auf der Bühne der Elbphilharmonie wird er das im Quintett tun.

F

ast zwanzig Jahre jünger als Béla Fleck, verkörpert Rhiannon Giddens eine andere Farbe der amerikani­ schen Roots Music. Während Fleck mit seiner Vermitt­ lung zwischen Bluegrass, Jazz und der Welt für die Instru­

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mentalmusik neue Maßstäbe setzte, tritt die zweifache Grammy-Gewinnerin – obwohl auch exzellente Banjo­ spielerin – vor allem als Songwriterin in Erscheinung. Giddens ist eine der Hauptvertreterinnen der aktuellen Roots-Szene, die im 21. Jahrhundert ein immer weib­ licheres Gesicht bekommt. Ihr ist es wichtig, die Grenzen zwischen Folk, Soul und Pop niederzureißen. Tatsächlich vereint sie dabei Qualitäten von Joan Baez, Dolly Parton, Nina Simone und Aretha Franklin. Großgeworden ist Rhiannon Giddens mit einem weißen und einem schwarzen Elternteil in der Piedmont Region North Carolinas, einer Hochburg von Old Time Music und Blues. Traditionelle Musik war anfangs allerdings gar nicht ihr Ding. »Es gab da zwar die Bluesund Bluegrass-Platten meiner Großeltern, aber ich folgte eher meiner Mutter und ihrem Interesse für klassische Rockwerke. Erst auf dem College habe ich mir die alten Sachen richtig erschlossen. Und da habe ich gemerkt: Während der europäische Einfluss auf die amerikanische Musik prima dokumentiert ist, kann man das von den schwarzen String-Bands nicht behaupten.« Daher schließt sie sich – nach vorübergehenden Ausflügen ins Opern­ fach! – einer Band an, die genau diese Mission hat: die Carolina Chocolate Drops. Das Trio knüpft an die vergessenen Aspekte der schwarzen Musik an, die Béla Fleck angesprochen hat: ans Repertoire der fahrenden Minstrels und der Old Time Music, in der die Schwarzen anfangs noch eine wesentliche Rolle spielten. Nach dieser spannenden Aufarbeitung wendet sich Giddens jüngeren Epochen zu. Schlüsselfigur für den Start ihrer Solokarriere ist der Starproduzent T-Bone Burnett, der unter anderem durch seine Soundtracks zu »Walk The Line« und »O Brother, Where Art Thou?« weltbekannt wurde. Mit »Tomorrow Is My Turn« veröffentlicht Giddens 2015 eine beeindruckende, ebenso musku­löse wie feinfüh­ lige Hommage an zentrale Frauenfiguren aus Blues, Coun­ try, Folk und Jazz, von Sister Rosetta Tharpe über Nina Simone bis Patsy Cline. »Es war mir ein Anliegen, auf mei­ nem Debüt zu zeigen, dass ich von Musikerinnen ›


»You’re the One«: Rhiannon Giddens

der verschiedensten gesellschaftlichen Schichten beein­ flusst bin. Denn: Entferne auch nur einen Faden aus dem Geflecht der amerikanischen Musik, dann kollabiert alles! Erst die Plattenfirmen zogen die Trennlinien und fingen an, in Kategorien zu denken.« Kategorien sind für Giddens tatsächlich ein Fremd­ wort, und das erklärt auch ihren weiteren Weg: Mit ihrem italienischen Ehemann Francesco Turrisi, einem MultiInstrumentalisten und Ethno-Spezialisten, erkundet sie mediterrane Töne zwischen Folk und Klassik, verfolgt gleichzeitig – naheliegend bei ihrer neuen irischen Wahl­ heimat – auch die Webfäden zwischen keltischer und amerikanischer Musik. Und nun, nach überstandener Pandemie-Isolation, ein Werk, das deutlicher noch als bisher die Genrebarrieren sprengt, »You’re the One«, das sie im Sextett auf der Büh­ ne der Elbphilharmonie präsentieren wird. »Ich wollte nach Amerika zurückkehren, und zwar mit allen Stilen, die die Musik dieses Landes ausmachen«, sagt Giddens. Wie nie zuvor hört man diesem Repertoire an, dass sie mit ihrer Stimme zwischen den Welten wechseln kann. In die­ sem neuen Programm findet sich ein Zydeco-Stück aus den Sümpfen Louisianas neben einem anklagenden PolitSong, feiern keltische Melodien Bruderschaft mit den Riffs auf ihrem fünfsaitigen Banjo, im Unterbau vernimmt man dank ihres kongolesischen Bassisten Niwel Tsumbu gar Afro-Grooves. Und ein hitziges Funkstück wechselt sich ab mit der schmachtenden Ballade »Who Are You Dreaming Of«. Schließlich überrascht Giddens sogar mit einer Hommage an die »Queen of Soul«: In »Too Little, Too Late, Too Bad« singt sie zu Gospel-Piano und satten Bläsern von einem Typen, der sein Mädchen schlecht behandelt und nun ins Nirwana geschickt wird. »Als ich mit dem Text ankam, sagte mein Co-Autor Dirk Powell sofort: ›Mensch, das könnte ein Aretha-Song sein!‹«

Herausragend im neuen Programm ist auch die zornige Komposition »Another Wasted Life«. Hier kehrt Giddens zu dem Themenkomplex zurück, der sie seit jeher um­ treibt. Der Song erzählt die Geschichte des jungen Kalief Browder, der 2010 in der Bronx festgenommen, 700 Tage in Einzelhaft gesteckt und misshandelt wurde, sich mit 22 schließlich traumatisiert das Leben nahm. »Dieses Sys­ tem der Inhaftierung junger schwarzer Männer ist struk­ turell eingebettet in die amerikanische Kultur, es baut auf Betrug und Profit auf«, sagt Giddens. »Es ist schwierig, dass nicht als Genozid zu sehen, da hat sich seit den Massakern des 19. Jahrhunderts nicht viel geändert. In­ dem ich über einen konkreten Fall singe, kann ich viel­ leicht das Bewusstsein schärfen«, sagt die Musikerin, die sich immer wieder gegen Rassendiskriminierung engagiert. Hat die neue irische Heimat ihre Musik und ihre Sicht in Richtung Amerika verändert? »Mein Unterwegs­ sein in Europa hat mir gezeigt, dass sich Amerika aus der ganzen Welt zusammensetzt. Dort glauben immer noch viele, dass weiße, protestantische Angelsachsen das Land geschaffen haben. Nein! Die Deutschen waren zeitweise in der Überzahl, ganz zu schweigen von der Rolle der Afrika­ ner und der Natives. Das alles steckt in unserer Musik und macht mich neugierig. Wir sind kein einzigartiges und her­ausragendes Volk, sondern ein Mix wie alle anderen auch!«

BÉLA FLECK So, 11.2.2024 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal Béla Fleck (Banjo) Michael Cleveland (Fiddle) Sierra Hull (Mandoline) Justin Moses (Dobro, Fiddle, Banjo), Bryan Sutton (Gitarre) Mark Schatz (Bass) »My Bluegrass Heart«

RHIANNON GIDDENS Sa, 17.2.2024 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal Rhiannon Giddens (Gesang, Banjo, Viola), Francesco Turrisi (Keyboards, Akkordeon, Perkussion), Dirk Powell (Keyboards, Gitarre, Violine), Niwel Tsumbu (Gitarre), Jason Sypher (Bass), Attis Clopton (Schlagzeug) »You’re the One«


Banjo

Heute Duett, morgen Quintett. Weil ein Besuch in der Elbphilharmonie zusammen mehr Spaß macht: der neue Porsche Cayenne bietet Platz für bis zu fünf Personen und jede Menge unvergesslicher Erlebnisse. Vor und nach dem Konzert.

Kraftstoffverbrauch gewichtet kombiniert: 1,7–1,4 l/100 km (WLTP); CO₂-Emissionen gewichtet kombiniert: 39–31 g/km (WLTP); Stromverbrauch gewichtet kombiniert: 31,7–29,1 kWh/100 km (WLTP); Elektrische Reichweite (EAER): 71–78 km; Elektrische Reichweite Stadt (EAER Stadt): 79–90 km; Stand 10/2023

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FÜHRT HINAUF! UNS

Als treppensteigende Lexika kennen die Guides der Elbphilharmonie alle Winkel und Geschichten des Hauses. Und täglich öffnen sie für Gruppen von nah und fern die Türen. VON FRÄNZ KREMER FOTOS GESCHE JÄGER


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KOMPLEX UND ANSCHAULICH: OLIVER KREWITT

Zu Beginn erzählt Oliver Krewitt die Geschichte des Ham­ burger Hafens und der Speicherstadt – in 120 Sekunden. Es geht nicht anders, er muss die Dinge heute wieder auf den Punkt bringen. Bei schönstem Wetter steht er auf dem Vorplatz der Elbphilharmonie, vor ihm dreißig Gäste, die eine öffentliche Konzerthausführung gebucht haben und mit denen er gleich die Elbphilharmonie erkunden wird. Neunzig Minuten Zeit hat er – für 16 Stockwerke und für ein Gebäude, dessen Geschichten und Details gan­ ze Bücher füllen. »Ich liebe es, komplexe Sachverhalte möglichst anschaulich zu vermitteln«, sagt Krewitt. »Und ich rede gerne, das ist für diesen Job wahrscheinlich das Wichtigste.« Aber ins Plaudern kommen darf er nicht, dafür war­ ten noch zu viele spannende Stationen im Inneren. Also ab durch die Drehkreuze und rauf auf die Roll­treppe. Nach kurzen Zwischenstopps am Panoramafenster und auf der Plaza (man beachte hier unter anderem die 188.000 authentisch im Kohleofen gebrannten Bodenklinker), öffnet er schließlich ein Absperrband und lässt die Gruppe die Treppe zum Kleinen Saal hinaufgehen. Zwei junge Frauen versuchen, sich unauffällig an die Gruppe dranzu­ hängen. Doch da sie kein rosa Bändchen haben, muss Krewitt hart bleiben: »Leider ab hier nur mit einer Füh­ rung.« Das Interesse an Führungen ist auch sieben Jahre nach der Eröffnung der Elbphilharmonie riesig, vor allem bei Gästen von auswärts. Wenn man schon mal in

Oliver Krewitt

Hamburg ist, dann will man sich das neue Wahrzeichen natürlich anschauen, und zwar am liebsten auch von innen. An gefragten Tagen im Sommer werden bis zu 15 Gruppen à 30 Personen durch das Haus geführt; die Termine sind oft Wochen im Voraus ausgebucht. Die Nachfrage ist also hoch. Aber anders als im Museum wird in der Elbphilhar­ monie eben auch den ganzen Tag geprobt und gearbeitet. Möglichst viel zeigen und dabei möglichst wenig stören, das ist für die Hausführungen der ständige Spagat. Den muss jetzt auch Oliver Krewitt im 10. Stock voll­ führen. Er ist mit seiner Gruppe im Foyer des Kleinen Saals angekommen. Im Kleinen Saal selbst ist es fast ganz dunkel: Die Tribünen wurden für ein Kinderkonzert umgebaut, eine Bühnenfahrkonsole steht im Eingang, Techniker laufen herum, probieren Lichtszenen aus. Krewitt kann heute nicht hinein, doch als Kompromiss führt er die Teilnehmer bis zur geöffneten Flügeltür und lässt sie einen Blick in den Saal werfen. »In den Gro­ ßen Saal gehen die Führungen im Prinzip immer rein, auch bei Proben. Hier im Kleinen Saal muss man schau­ en, was möglich ist«, sagt er. Krewitt ist ein absoluter Architektur-Fan. Er hat Architektur und Bildende Kunst studiert, arbeitet freibe­ ruflich als Architekt und Stadtplaner, macht seit 2008 Architektur-Führungen durch Hamburg und seit einem Jahr auch durch die Elbphilharmonie. Besonders ange­ tan hat es ihm der Große Saal. »Ich habe mich in meinem Studium schwerpunktmäßig mit der Raumakustik in der Berliner Philharmonie beschäftigt«, erklärt er. »Der Kon­ zertsaal dort, der noch rein analog auf Papier geplant wurde, war der Anfang der Weinberg-Architektur. Und hier in Hamburg ist nun gewissermaßen das Ende, hier wurde 50 Jahre später technisch alles ausgereizt, was mög­ lich ist. Diese Entwicklung ist sehr faszinierend.« ›


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IMMER NAH AM WASSER: HANNAH AHRENS

Während Krewitt und seine Gruppe weiter Richtung Großer Saal hinaufsteigen, sortiert Hannah Ahrens im Nebengebäude der Elbphilharmonie auf einem Bespre­ chungstisch Flyer, Broschüren und Mappen in zwei Ab­ lagefächer. Obendrauf kommt jeweils ein blaues Schlüs­ selband mit Namensschild. Ahrens steht im Büro der Hausführungen, sozusagen der Zentrale, in der die Füh­ rungen organisiert werden. Die Dokumentenstapel hat sie für zwei Guides zusammengestellt, die gerade neu ein­ gestellt wurden und heute zum ersten Mal im Büro vor­ beischauen. »Das sind Nummer 14 und 15 im Team«, sagt Ahrens. »Die Guides sind fest bei der Elbphilharmonie ange­ stellt, mit unterschiedlichen Stundenzahlen, in denen wir sie übers Jahr für Führungen einteilen.« Ahrens selbst hat im Juni 2023 als Teamassistenz bei den Hausführungen an­gefangen. Sie ist die Ansprechpartnerin für die Guides, plant aber auch die nächsten Führungstermine und stellt die Tickets im Webshop bereit. Darüber hinaus bearbei­ tet sie die Kundenanfragen, die hereinkommen. »Neben den Einzelkunden sind das auch viele Anfragen von Gruppen oder Firmen, für die wir geschlossene Führungen anbieten.« Insgesamt wurde das Angebot an Führungen seit der Eröffnung stetig erweitert: »Neben den normalen Füh­ rungen in Deutsch und Englisch haben wir Führungen mit besonderem Fokus auf Architektur, auf Musik oder auf die Orgel«, erklärt Ahrens. »Neu sind auch die Plaza-Füh­ rungen, die nicht in die Säle gehen und damit kürzer und günstiger sind.« Weil alle Guides alle Führungsformate durchführen, kommen da schon einige Themen zusam­ Hannah Ahrens

men, in die sie sich einarbeiten müssen. »Neue Guides be­ kommen erstmal viele Unterlagen von uns und machen mehrere Schulungen und Führungen mit. Am Ende leiten sie dann ihre eigene Probeführung, bei der sie zeigen, dass sie bereit sind«, sagt Ahrens. Eine der Mappen, die Ahrens den neuen Guides heute hingelegt hat, ist das »Elbphilharmonie ABC«, ein Glossar, das auf knapp 100 Seiten unzählige Stichworte auflistet, die den Guides ein Begriff sein sollten: von A wie »Abonnements« bis Z wie »Zugangskontrollen«. Das Do­ kument ist eine wahre Fundgrube an Daten, Spezialwissen und kuriosen Fakten. So erfährt man etwa unter dem Punkt »Fassadenreinigung«, dass die Industriekletterer, die die 16.000 Quadratmeter Fensterfläche reinigen, sich bei Wind mit einem Saugnapf an die Scheibe kleben, um nicht weggeweht zu werden. Unter »Poltrona Frau« liest man, dass die 1912 in Turin gegründete Firma dieses Namens – sie hat die Sitze für den Großen Saal hergestellt – zu Beginn des 20. Jahrhunderts Hoflieferant der italienischen Königsfamilie war. Wer hätt’s gedacht? »Wir stellen möglichst viele Informationen bereit«, sagt Ahrens, »und gewisse Basics werden bei jeder Führung erzählt. Aber die Guides können auch selbst Schwerpunkte wählen, dadurch ist jede Führung individuell.« Ahrens ge­ nießt es jedenfalls, dass an ihrem Arbeitsplatz immer was los ist. Sie hat davor einige Jahre auf Kreuzfahrtschiffen ge­ arbeitet und in der ganzen Welt Ausflüge begleitet, vom Katamaranfahren über Kamelreiten bis hin zum Schnor­ cheln in der Karibik. »Jetzt bin ich mehr im Hintergrund tätig. Aber immer noch im Bereich Tourismus und immer noch nah am Wasser«, lacht sie. »Und langweilig wird ei­ nem hier auf jeden Fall auch nicht.«


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BETON UND BEGEISTERUNG: BEATE EVERLING-REX

Ahrens wirft am Computer einen Blick auf den Tagesplan: Parallel zu Oliver Krewitt sind derzeit noch zwei weitere Guides im Haus unterwegs. Eine davon ist Beate EverlingRex. Sie steht mit ihrer Gruppe gerade im Aufgang des Großen Saals und erklärt einige Besonderheiten des Foy­ ers. Ein älterer Herr hat spezifische Nachfragen zu den schrägen Stützsäulen: »Wurden die vorgefertigt angeliefert oder vor Ort gegossen?« Everling-Rex: »Die wurden vor Ort gegossen.« »Und man hat selbstverdichtenden Beton verwendet?« Everling-Rex: »Ja, hat man.« Der Fragen­ steller – er outet sich später als pensionierter Bauingenieur aus der Nähe von Bonn, Schwerpunkt Statik – freut sich über die kundigen Antworten. Dass Everling-Rex ihm auf seine dritte Frage, nach der genauen Druckfestigkeitsklas­ se des Betons, nicht aus dem Stand antworten kann – es sei ihr verziehen. Was der Herr nicht wissen konnte: Everling-Rex hat die Säulen zwar nicht selbst gegossen, aber sie hat den Bau der Elbphilharmonie so nah miterlebt wie nur weni­ ge andere. 2009 hat sie angefangen, Führungen über die Baustelle der Elbphilharmonie zu machen. Mit Bau­ helm und gelben Sicherheitsstiefeln ging sie mehrmals pro Woche durch das Gebäude, das über die Jahre immer weiter in die Höhe wuchs. »Es war eine aufregende Zeit. Ich war damals schon ein großer Fan des Hauses. Aber es gab auch viel Kritik. Bei den Führungen waren wir oft die Prellböcke und versuchten, dagegenzuhalten.« Umso mehr genießt es die 67-Jährige heute, zu se­ hen, wie die Gäste von nah und fern sich für das Gebäude begeistern. »Der größte Teil der Besucher kommt aus anderen deutschen Bundesländern. Aber auch Skandina­ vien ist stark vertreten, die Niederlande, die USA.« Everling-Rex darf beim Panoramablick aus den Foyers auch ein wenig von Hamburg schwärmen. Über die fünf Hauptkirchen und ihre Bedeutung für die Musikstadt

Beate Everling-Rex

Hamburg könnte sie als langjährige Stadtführerin noch endlos weiter referieren. Aber es wartet noch der Höhepunkt der Führung: der Große Saal. Gerade probt dort das NDR Elbphilhar­ monie Orchester. »Dann kann ich drinnen nichts erklä­ ren, aber dafür kriegt man einen echten Eindruck von der Akustik – das freut die Gruppen meist noch mehr«, sagt Everling-Rex. Während die Führungsgäste in den Stuhlrei­ hen im 16. Stock Platz nehmen und einige andächtig die Augen schließen, schaut Everling-Rex kurz auf ihrem Smartphone nach, welches Stück das Orchester gerade probt, um auch diese Info später nachzuliefern. So viel Ser­ vice für die Gäste muss sein. Als die Gruppe nach fünf Minuten den Saal verlässt, blickt Everling-Rex in viele strahlende Gesichter. Die meisten saßen zum ersten Mal im Großen Saal – und sind jetzt erstmal sprachlos. Als sich die Gruppe wieder in Bewegung setzt, packt eine Dame aus der Schweiz doch noch eine letzte Frage aus: »Wie viele Treppenstufen gibt es eigentlich insgesamt in der Elbphilharmonie?« Everling-Rex lächelt. Einige Geheimnisse hat das Haus wohl doch noch. Diese Zahl würde sie jedenfalls auch nicht im »Elbphilharmonie ABC« finden. Also antwortet sie pragmatisch: »Genau kann ich es Ihnen nicht sagen. Aber Sie können auf dem Weg nach unten ja mal anfangen, zu zählen.« ­M WEITERE GESCHICHTEN AUS DEM TEAM DER ELBPHILHARMONIE FINDEN SIE UNTER: WWW.ELBPHILHARMONIE.DE/MEDIATHEK.


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R e p o r ta g e

DIE SEELE TANZT MIT


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Tanzen kann heilen, innerlich stark machen und mit der Heimat verbinden. Drei Beispiele aus Hamburg VON STEPHAN BARTELS UND ANDREA THOLL FOTOS BETTINA THEUERKAUF

DIE EROTIK DER FOLKLORE: FINKWARDER SPEELDEEL

Das ist ja fast schon ein bisschen frivol, wie es hier zugeht in Finkenwerder. Da tanzen vier Frauen um einen Kerl herum oder er um sie, jede der vier will sich einen Kuss von ihm klauen – also, wenn man mal ehrlich ist: Ist schon etwas aus unserer woken Zeit gefallen, dieser »Mäd­ chentanz«. Aber das soll ja auch so sein, denn hier, im Vereinshaus des Gartenbauvereins Finkenwerder, probt heute Abend die Finkwarder Speeldeel, und deren Auf­ gabe ist es, so steht es auf der Webseite und in der Vereins­ satzung, dass sie »als musikalische Botschafterin nord­ deutsche Lieder, Tänze und auch die plattdeutsche Sprache am Leben erhält und in alle Welt hinausträgt«. All das klappt seit weit über 100 Jahren ganz gut, auch dieses Jahr gibt es ein paar Auftritte in der Weih­ nachtszeit, da muss das Werben um den Hahn im Korb sitzen. Darüber wacht Jana Schultze, 32 Jahre alt, Vereins­ vorstand, Mitglied der Speeldeel, seit sie als Fünfjährige in der Kinderabteilung anfing, heute ist sie die tänzerische Leiterin der Truppe. »Eins, zwei, hopp und drehen und Reihe!«, ruft sie, dann ist Pause, und die fünf Protagonisten atmen geschlechterübergreifend schwer. »Das ist echter Sport hier«, sagt Schultze, »besonders die Hüpfetänze.« Hier im Kleingarten ist die Speeldeel nur zu Gast. Eigentlich haben sie eine eigene Bleibe, »De Oole Wach« in einer alten Polizeiwache drüben im Ortskern ist ihr Vereinsheim, aber das wird gerade renoviert, schon länger. Apropos schon länger: Das hier ist pure Tradition, aus­ geübt von einer Truppe mit einem Bühnenaltersschnitt von 25 Jahren. Die Männer – nein, eigentlich reden hier alle nur von Jungs und Mädchen, Alter egal – die Jungs also tragen Buscherump, das traditionelle Seemannshemd,

die Mädchen Tracht. Und die ist nicht unkompliziert, eine halbe Stunde dauert das Anziehen mindestens. »Das Einzige, was daran noch so richtig original ist, sind die Kappen«, sagt Christin Nothdurft, Pädagogin und Vor­ standskollegin von Jana Schultze. Sie zeigt auf ihre golden schimmernde Kopfbedeckung. Die sei aus den Anfangszeiten der Speeldeel. Und es gebe eine Regel: Wenn ein Mädchen seine Kappe verliert, muss es austre­ ten. »Uns gibt es seit 1906«, sagt Nothdurft, »es ist noch nie eine Kappe weggekommen.« Ein Heiligtum, das wie ein Aug­apfel gehütet wird. Als die Gruppe vor 117 Jahren gegründet wurde, war sie, na klar, Speeldeel: eine reine Schauspiel­gruppe. Gorch Fock persönlich war einer der beiden Gründungs­ väter, Hinrich Wriede der andere, die ­beiden Schrift­ steller waren um Erhalt und Verbreitung des Plattdeut­ schen bemüht, sie wollten ihre und andere Volksstücke auf die Bühne bringen. Volkstänze kamen schon drei Jahre später dazu, dann kam der Krieg, der Gorch Fock das Leben kostete und die Speeldeel vorläufig ihre Existenz. Wriede versuchte sich ab 1920 an einem Comeback, aber das glückte so richtig erst 1936, mit Unterstützung der »Kraft durch Freude«-Bewegung der Nazis. Und des neuen Leiters, des Lehrers Adolph Albershardt. Seit­ dem wurde zum Schauspiel nicht nur getanzt, sondern auch gesungen. Das mit den Bühnen­stücken fiel nach dem Krieg dann ganz weg. Warum? Fynn Benkert kann da nur mutmaßen. »Ich schätze mal, den Leuten war nach Tanz und Gesang«, sagt er, »Theater war ja vorher genug.« Benkert ist 25 und seit über 15 Jahren dabei. In Sachen Unterhaltung ist er vom Fach: Er hat eine eigene Filmproduktionsfirma und vor ein paar Jahren ›


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R e p o r ta g e

Jetzt wird der »Bohnenpott« getanzt, da ist so eine schöne Pärchen-Dynamik drin. Und dann geht das Ding über in »Jan, kumm kiddel mi«.

sogar einen Spielfilm geschrieben, produziert und Regie geführt. Tatsächlich ist es oft er, der den Auftritten der Speeldeel einen roten Faden verpasst. »Man kann sich kre­ ativ voll entfalten«, sagt er. Zum Beispiel beim kommen­ den Weihnachtsprogramm, Thema: Aufwachsen in Finken­ werder, weggehen, zurückkommen. Irgendwie auch Benkerts Thema, der mittlerweile in Barmbek lebt. Aber jetzt wird wieder getanzt, und zwar der »Boh­ nenpott«, »da ist so eine schöne Pärchen-Dynamik drin«, sagt Christin Nothdurft. Und das Ding soll übergehen in »Jan, kumm kiddel mi«, da ist Tempo gefragt und Präzi­ sion, »außen, außen, gerades Bein, Polka, Polka, Polka«, ruft Jana rhythmisch, und dann wird wieder geküsst und neckisch gekitzelt, hier schwingt wirklich zarte Erotik mit in der Folklore. Sie alle haben als Kinder angefangen, in der Lütt Speeldeel. Da sei ihnen gar nicht klar gewesen, wie norddeutsch das ist, was sie hier treiben. Die Geschichte, das Regionale, das Plattdeutsche – »das war alles total spielerisch für uns Kinder«, sagt Schultze. »Die Bedeutung der Speeldeel haben wir erst später begriffen.« In den Siebzigerjahren ist Rolf Zuckowski zur Speeldeel gestoßen. »Seitdem singen wir hauptsächlich Lieder von ihm«, sagt Nothdurft. Auch auf Platte, auf Weihnachtskonzerten im CCH oder in der Laeiszhalle. Die Finkwarder Speeldeel ist das Synonym für nord­ deutsches Brauchtum geworden, und dieser Ruf hat die Truppe 2012 bis nach Südkorea getragen und zwei Jahre darauf nach Shanghai, da wurden sie 2014 sogar live im Fernsehen übertragen, neun Millionen Zu­ schauer, hat man ihnen hinterher gesagt. 22 erwachsene Mitglieder hat die Gruppe heute, knapp 40 die Kinderabteilung, in der man von vier bis 14 Folklore macht. Es gibt auch noch eine Senioren­ gruppe, aber die ist nicht mehr so aktiv. Jana kommt aus Neuenfelde, ein Dorf weiter, Fynn ist im Alten Land aufgewachsen, Florian Peters in Finkenwerder, er ist ­Qualitätsmanager bei Airbus, hat seine Frau in der Speel­ deel kennengelernt und lebt jetzt in Jork. Christin Noth­ durft aber ist noch nie von hier weggezogen, seit 40 Jahren ist sie Finkenwerderin und 35 davon in der Speeldeel. Das ist aber keine Voraussetzung, um hier mitmachen zu dürfen. Wer will, der darf, nicht mal plattdeutsch muss man sprechen. »Das kann man bei uns lernen«, sagt Schultze.

Und auch, wie man in Tracht um Jungs herumtanzt. Die kleine Erholungspause ist vorbei, weiter geht’s, noch mal den »Bohnenpott« bitte, sagt Jana Schultze. Knapp 15 Jahre war dieser Tanz nicht mehr im Programm, bis Weihnachten ist es nicht mehr lang. Und die Finkwar­ der Speeldeel hat schließlich einen Ruf zu verlieren. DER REIZ DES VERRUCHTEN: POLE DANCE

Ist ja ganz oft so, dass man von außen nicht sieht, was drinnen los ist, meist im doppelten Sinn, und das gilt auch für diese Geschichte. Wenn man zu Stella Benecke und Julia Becker will, muss man in der Süderstraße am Landes­ betrieb Verkehr vorbei und an obskuren Autohändlern und dem Straßenstrich, hinein in ein schmuckloses altes Kontorgebäude, runter in den Keller – und dann steht man in einem lichtdurchfluteten Souterrain, 300 Quadrat­ meter fast leerer Raum, weiße Wände, ein paar Stütz­ pfeiler, eine Fensterfront auf den Südkanal. In diesem Raum gibt es ein paar Felle und Teppiche und Kissen, ein Regal, eine große Spiegelfront. Vor allem aber gibt es Stangen. Elf davon stecken zwischen der Decke oben und dem Laminat unten, und diese Poles sind der Arbeits­ platz von Stella und Julia. Die beiden sind Lehrerinnen und Trainerinnen und vor allem die Inhaberinnen von Soultide. Ihre Disziplin ist der Poledance, den unterrichten sie hier. Gerade sind keine Schülerinnen hier, also zeigen sie mal eben selbst, wie die Sache funktioniert. Julia, größer und blonder als Stella, schwingt sich an einer drehbaren Stange hoch und gibt dieser einen Impuls nach links, das Knie und beide Hände an der Stange, es sieht aus wie der krei­ selnde Schnappschuss eines höchst eleganten Sprungs. Stella legt eine Stange weiter einen Spagat hin, bloß um 90 Grad gekippt, auch ihre Stange dreht sich. Sieht gut aus und akrobatisch. Besonders Julia in ihren kur­ zen Shorts und bauchfrei lässt viel Luft an die Haut, und das hat nicht nur mit Erotik zu tun. »Mal abgesehen von den Händen, die trocken sein sollten: Schwitzige, kleb­ rige Haut ist am besten für den Kontakt mit der Stange«, sagt Stella und schaut ihrer Freundin und Kollegin dabei zu, wie sie sich kopfüber von der Stange baumeln lässt. »Man könnte sagen: je nackter, desto besser.« Na klar, was denn sonst. So kennt man Poledance ja auch: Frauen, die sich knapp bis unbekleidet an Stangen räkeln, zur, sagen wir mal, Erbauung interessierter ›



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Das Wort, das Julia und Stella als Erstes benutzen, um den Effekt des Poledance auf sie zu beschreiben, lautet: Selbstbewusstsein.

Männer. »Ist ja auch so«, sagt Stella, »Poledance, so wie wir ihn verstehen, kommt aus dem Rotlichtmilieu, er hat etwas Verruchtes.« Und das hat die beiden ja auch dar­ an gereizt, als sie damit vor mehr als einem Jahrzehnt an­ gefangen haben, in eben diesem Haus. Julia kommt aus Siegen. Sie ist in einer Umgebung aufgewachsen, in der man durch all das geprägt wird, was sich nicht gehört. Ist mit wenig Selbstbewusstsein groß geworden, körperlos, mit gelernter Scham vor der eigenen Weiblichkeit. So richtig sie selbst war sie nur beim Reiten. Als sie zum Studium nach Hamburg kam, hatte sie das Ge­ fühl, sich von dieser Scham befreien zu müssen. Die Sa­ che mit dem Poledance zog sie an, und ja: gerade das Zwei­ deutige, das Verbotene daran. Bei Stella lag der Fall anders. Sie kommt aus Elstorf bei Buxtehude und war schon immer etwas extravagant. Ein Pferdemädchen wie Julia, sie hat getanzt und geturnt und immer nach etwas Neuem gesucht. Schon in der Pubertät hat sie sich für Poledance interessiert. Mit 20 hat sie es dann ausprobiert. Und zwar genau hier, damals gehörte das »Aerial Dance Center« noch der PoledancePionierin Nele Sehrt. »Ich war gleich nach der ersten Stunde geflasht«, sagt Stella. Ihr Geld floss fortan in ihr neues Hobby. Das Wort, das beide als Erstes benutzen, um den Effekt des Poledance auf sie zu beschreiben, lautet: Selbstbewusstsein. »Es war für mich so befreiend, das einfach machen zu dürfen, ohne gleich verurteilt zu werden«, sagt Julia, »ich habe sofort verstanden: Das ist eine Möglichkeit, mich auszudrücken.« Und so geht es durch die Bank auch den vielen Frauen und wenigen Männern, die zu Soultide kommen. Etwa die, die gera­ de die Tür aufmacht: alles andere als jung, kräftige Statur, ein Lächeln im Gesicht. »Heute findet der Kurs oben statt«, ruft Stella ihr zu, die Frau murmelt »Ach so« und geht. Sie haben so ziemlich jede Art Mensch in den Kur­ sen. Mütter mit drei Kindern in Jogginghosen, Männer in High Heels (sehr selten), tatsächlich auch ein paar we­ nige Frauen, die in Rotlicht-Clubs an der Stange ar­bei­ ten. »Manche sehen den Fitnessaspekt, denn Poledance ist Sport, und zwar ein anstrengender«, sagt Julia Becker. »Manche sind auf der Suche nach einer Form, ihre Weib­ lichkeit zu entdecken, etwas für sich selbst zu tun, sich zu spüren und vielleicht das Selbstbewusstsein zu stärken,

ob bewusst oder unbewusst.« So wie sie selbst damals. Eine, erzählt Stella Benecke, habe mit 67 angefangen. »Man muss nicht 90-60-90 haben oder Triathletin sein, um an die Stange zu kommen«, sagt sie. »Man kann jeder Bodytyp sein und jedes Alter haben. Das Schöne ist: Erfolge erzielt man fast immer sofort.« 2012 hat Stella hier als Trainerin angefangen, Julia ein Jahr später. Vor zwei Jahren hat die Gründerin und damalige Studiochefin die beiden gefragt, ob sie den Laden übernehmen wollen. Sie wollten. Haben mit viel Geld und Geduld umgebaut, haben dem Studio mit Soultide einen neuen Namen gegeben und sind jetzt, mit 32 Jahren, Chefinnen. Neun Frauen und zwei Män­ ner gehören zum Trainerteam, und die beiden mussten erst mal lernen, die zu führen, die grade noch ihre Kolle­ gen waren. Aber sie haben schon so viel gelernt, über das Busi­ ness, die Menschen, sich selbst. 15 Euro kostet eine Schnupperstunde, 25 eine reguläre, das ist nicht viel, wenn das Ganze einen womöglich lebensverändernden Effekt hat. Und Poledance ist nicht das Einzige, was hier passiert. Auch Lap wird getanzt und Tease, die Kunst der Verfüh­ rung, es gibt aber auch Yogakurse. Eine ganzheitliche Er­ fahrung für Körper und Seele, wenn man so will. Und ganz ehrlich: Das erwartet man nun wirklich nicht in Hammerbrook. DIE FEIER DER ENTBLÄTTERUNG: BURLESQUE

Der Gastgeber trägt heute Presse. Joshi Jonas’ weißer An­ zug ist mit amerikanischen Zeitungsausschnitten bedruckt, dazu trägt er einen Hut und sonst nicht so viel. Das Tattoo knapp unterhalb der entblößten Brust ist noch erwähnens­ wert, »1996«, sein Geburtsjahr. Joshis Job ist es, die Gäste des Pulverfasses auf der Reeperbahn zu begrüßen und die Show einzuläuten, und genau das macht er jetzt. Es ist die Halloween-Edition der »Pulverlesque«, viel Blut und Horror kommen auf die Gäste zu, und Joshi will da nicht nachstehen. Er krempelt sein Hosenbein hoch, schaut mal, Leute, »ich habe mir für euch extra nicht die Beine ra­ siert«. Erster Jubel bei den vier, fünf Dutzend Zuschauern. Er fordert Eskalation und übergibt an Eve Champagne, ei­ ne Ikone des Burlesque. Joshi wird später seinen großen Auftritt haben, im zweiten Teil der Revue, und man kann schon mal vorwegnehmen: Es wird einer der Höhepunkte des bunten, grellen Abends sein. ›


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An Burlesque fasziniert Joshi die ungebremste Bodypositivity. »Form, Farbe, Geschlecht, es ist völlig egal, womit du dich präsentierst.«

Burlesque also wird gegeben im Pulverfass. Das ist … gar nicht so einfach zu greifen. Es wird gesungen, Akrobatik betrieben, Quatsch gemacht, mehrfach getanzt und sich dabei permanent ausgezogen. »Ist aber kein Striptease«, sagt Joshi, »bei dem wird nämlich das Nacktsein zelebriert. Beim Burlesque dagegen wird das Ausziehen gefeiert.« Das merkt man schon bei den ersten Nummern: Jedes flie­ gende Kleidungsstück wird bejubelt, die Nippel sind ge­ schlechterübergreifend abgeklebt, untenrum bleiben die Künstlerinnen und Künstler bedeckt. Das hat in dieser Form in den 1920ern in New York angefangen, aus den ärmeren Vierteln schwappte die­ se Kunstform aus Ausziehen, Erotik und Komik auf den Broadway. Bettie Page und Mae West waren erste Stars des Genres, das in den Neunzigern eine Renaissance er­ lebte, dank Performerinnen wie Dita von Teese. Hier im Pulverfass ist Burlesque vor allem ein weiter Oberbe­ griff. »Da kann man wieder unterscheiden zwischen Boylesque, Manlesque, Queerlesque – wir haben jetzt sogar Clownlesque in der Show«, sagt Joshi. Er selbst nennt sich Queerlesque, »meine Figur ist eine nicht-binäre, genderfluide Persona, die sich hier im Pulverfass entwickelt hat«. Das mit dem Burlesquetanz ist für ihn auch noch vergleichsweise neu. Im Sommer 2021 hat Joshi im Pulverfass als Drag-Persona und Gast­ geber angefangen. Auf die Bühne kam er erstmals ein halbes Jahr später, und das gleich an einem historischen Tag für den Laden, denn damals, im Januar 2022, ist die deutsche Burlesque-Legende Eve Champagne im Pul­ verfass aufgetreten, als erste Cis-Frau in dessen 50-jähriger Geschichte. Joshi war an diesem Tag Stage Kitten, was bedeutete: Er hat all das, was die Performer auf der Bühne von sich geworfen haben, aufgesammelt. »Ich habe sofort Blut geleckt in Sachen Burlesque«, sagt er, »einen Monat später hatte ich meinen ersten Auftritt in der PulverfassRevue.« Ihn fasziniert die ungebremste Bodypositivity, die mit Burlesque einhergeht. »Form, Farbe, Geschlecht, es ist völlig egal, womit du dich präsentierst«, sagt er. Das war für ihn eine Offenbarung, aus persönlichen Gründen. Er habe »nicht so eine blumige Kindheit« gehabt und als Teenager unter starken Essstörungen gelitten, »ich hatte nichts auf den Knochen«. Joshi mochte sein Leben nicht besonders, er hatte es in seiner Kleinstadt in Branden­ burg schwer mit seiner Andersartigkeit, die er seinem ab­

wesenden biologischen pakistanischen Vater verdank­ te. Und seinen Körper mochte er schon gar nicht. Er hat ihn versteckt, bedeckt, Nähe und Sex vermieden. Aber Tanzen fand er toll, das taugte ihm, Kindertanz mit sechs, Jazztanz mit elf, er hat mit seiner Gruppe Wettbewerbe gewonnen, das half ein bisschen gegen die Schüchternheit. Hat sich, da war er schon aus der Schule raus, in Berlin verkleidet, bunt angemalt und ein »Regenbogenleben« ge­ lebt, wie zum Trotz gegen die eigene Unsicherheit. Hat dort Hip-Hop getanzt. Aber die Stadt war ihm zu viel, also ist er mit 19 nach Hamburg gekommen. Joshi hat in seinem erlernten Job als Friseur und als Rezeptionist im Hotel gearbeitet. Einmal hat er Flyer für eine LGBTQ-Party verteilt, der Veranstalter bekam Wind davon, dass er über tänzerische Erfahrung verfügte. Es waren Go-Go-Tänzer ausgefallen, also wurde Joshi für die Party engagiert. Dann hieß es aber: oben ohne im knap­ pen Höschen. Es war so ein Augen-zu-und-durch-Moment für Joshi, er machte die Augen zu und ging da durch. Es war der Beginn einer Heilung. Im Pulverfass steckt viel Ge­ sundes für ihn, es ist eine Art Familie. Allmählich wird es Zeit für seinen Auftritt, in der Maske ist in der vergangenen Stunde Verblüffendes passiert. Auf der Bühne entblättert sich gerade Melissa Alonso ebenso gekonnt wie spektakulär, aber da kann Joshi Jonas noch einen draufsetzen. Er wird frenetisch begrüßt, er ist ein Star mit eigener Fangemeinde im Pulverfass. Er durchmisst den Raum von der Theke bis zur Bühne, ein rotes indisches Gewand trägt er, Kunst­ haar, blau sind seine Hände und sein Gesicht – er ist heute Abend die Göttin Kali. Und wirbelt als solche über die Bühne zum Sound des mittleren Ostens, »ich will Bollywood nach Hamburg bringen«, hatte er vorher gesagt. Der Rock fällt, die Schärpe vom Oberkörper, er wird am Ende im Slip dastehen, mit abgeklebten Nippeln. Und wird heute Abend ein Mensch sein, der mit sich im Reinen ist, mit seinem Körper, mit der Welt, die ihn auf­genommen hat. Verblüffend, wozu Burlesque doch gut ist.


­DIE FÖRDERER UND SPONSOREN DER ­E LBPHILHARMONIE

Große Visionen brauchen ein starkes Fundament. Deswegen unterstützen namhafte Partner aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik die Elbphilharmonie. Gemeinsam bilden sie ein Netzwerk, das die Elbphilharmonie als Konzerthaus von Weltrang begleitet. So ermöglichen sie ein Konzertprogramm mit einem unverwechselbaren musikalischen Profil, Musikvermittlungsideen für alle Generationen sowie innovative Festivalkonzepte, die ­Maß­stäbe im internationalen Konzertbetrieb setzen.


­D IE FÖRDERER DER STIFTUNG ELBPHILHARMONIE

MÄZENE ZUWENDUNGEN AB 1.000.000 EURO

GOLD ZUWENDUNGEN AB 50.000 EURO

Prof. Dr. Dr. h. c. Helmut und Prof. Dr. h. c. Hannelore Greve Prof. Dr. Michael Otto und Christl Otto Hermann Reemtsma Stiftung Christine und Klaus-Michael Kühne Körber-Stiftung Peter Möhrle Stiftung Familie Dr. Karin Fischer Reederei Claus-Peter Offen (GmbH & Co.) KG Stiftung Maritim Hermann & Milena Ebel Hans-Otto und Engelke Schümann Stiftung Christiane und Klaus E. Oldendorff Prof. Dr. Ernst und Nataly Langner

Rainer Abicht Elbreederei Christa und Peter Potenberg-Christoffersen HERISTO AG Christian Böhm und Sigrid Neutzer Amy und Stefan Zuschke

PLATIN ZUWENDUNGEN AB 100.000 EURO Ian und Barbara Karan-Stiftung Gebr. Heinemann SE & Co. KG Bernhard Schulte GmbH & Co. KG Deutsche Bank AG M. M. Warburg & CO Hamburg Commercial Bank AG Lilli Driese J. J. Ganzer Stiftung Claus und Annegret Budelmann Berenberg – Privatbankiers seit 1590 Mara und Holger Cassens Stiftung Christa und Albert Büll Christine und Heinz Lehmann Frank und Sigrid Blochmann Else Schnabel Edel Music + Books Dr. Markus Warncke Berit und Rainer Baumgarten Christoph Lohfert Stiftung Eggert Voscherau Hellmut und Kim-Eva Wempe Günter und Lieselotte Powalla Martha Pulvermacher Stiftung Heide + Günther Voigt Gabriele und Peter Schwartzkopff Dr. Anneliese und Dr. Hendrik von Zitzewitz Prof. Dr. Hans Jörn Braun † Susanne und Karl Gernandt Philipp J. Müller Ann-Mari und Georg von Rantzau Dr. Gaby Schönhärl-Voss und Claus-Jürgen Voss Lennertz & Co.

SILBER ZUWENDUNGEN AB 10.000 EURO Ärzte am Markt: Dr. Jörg Arnswald, Dr. Hans-Carsten Braun Baden-Württembergische Bank Marlis u. Franz-Hartwig Betz Stiftung Hans Brökel Stiftung für Wissenschaft und Kultur Jürgen und Amrey Burmester Rolf Dammers OHG Deutsche GigaNetz GmbH EDEKABANK AG FRoSTA AG

Katja Holert und Thomas Nowak Isabella Hund-Kastner und Ulrich Kastner Knott & Partner VDI Jürgen Könnecke Hannelore Krome Dr. Claus und Hannelore Löwe Stiftung Meier-Bruck BRONZE ZUWENDUNGEN AB 5.000 EURO Dr. Ute Bavendamm / Prof. Dr. Henning Harte-Bavendamm Ilse und Dr. Gerd Eichhorn Hennig Engels Dr. T. Hecke und C. Müller Marga und Erich Helfrich Familie Klasen Mercedes-Benz Hamburg Georg-Plate-Stiftung Carmen Radszuweit Colleen B. Rosenblat


DER KURATORENKREIS

DES FREUNDESKREISES ELBPHILHARMONIE + LAEISZHALLE E. V.

Jürgen Abraham | Rolf Abraham | Andreas Ackermann | Anja Ahlers | Margret Alwart | Karl-Johann Andreae | Rainer und Berit Baumgarten | Gert Hinnerk Behlmer | Michael Behrendt | Robert von Bennigsen | Joachim von Berenberg-Consbruch | Tobias Graf von Bernstorff | Peter Bettinghaus | Marlis und Franz-Hartwig Betz | Ole von Beust | Wolfgang Biedermann | Alexander Birken | Dr. Frank Billand | Dr. Gottfried von Bismarck | Dr. Monika Blankenburg | Ulrich Böcker | Birgit Bode | Andreas Borcherding | Tim Bosenick | Vicente Vento Bosch | Verena Brandt | Beatrix Breede | Heiner Brinkhege | Nikolaus Broschek | Marie Brömmel | Tobias Brinkhorst | Gerhard Bruns-Raddatz | Claus-G. Budelmann | Engelbert Büning | Amrey und Jürgen Burmester | Dr. Christian Cassebaum | Dr. Markus Conrad | Dr. Katja Conradi | Dierk und Dagmar Cordes | Familie Dammann | Carsten Deecke | Jan F. Demuth | Ulrike und Karl Denkner | Dr. Peter Dickstein | Heribert Diehl | Detlef Dinsel | Kurt Dohle | Benjamin Drehkopf | Thomas Drehkopf | Oliver Drews | Klaus Driessen | Christian Dyckerhoff | Hermann Ebel | Stephanie Egerland | Hennig Engels | Claus Epe | Norbert Essing | Heike und John Feldmann | Alexandra und Dr. Christian Flach | Dr. Peter Figge | Jörg Finck | Gabriele von Foerster | Dr. Christoph Frankenheim | Dr. Christian Friesecke | Sigrid Fuchs | Manhard Gerber | Dr. Peter Glasmacher | Prof. Phillipp W. Goltermann | Inge Groh | Annegret und Dr. Joachim Guntau | Amelie Guth | Michael Haentjes | Petra Hammelmann | Jochen Heins | Dr. Christine Hellmann | Dr. Dieter Helmke | Jan-Hinnerk Helms | Kirsten Henniges | Rainer Herold | Gabriele und Henrik Hertz | Günter Hess | Prof. Dr. Dr. Stefan Hillejan | Bärbel Hinck | Joachim Hipp | Dr. Klaus-Stefan Hohenstatt | Christian Hoppenhöft | Prof. Dr. Dr. Klaus J. Hopt | Dr. Stefanie Howaldt | Rolf Hunck | Maria Illies | Dr. Ulrich T. Jäppelt | Dr. Johann Christian Jacobs | Heike Jahr | Martin Freiherr von Jenisch | Roland Jung | Matthias Kallis | Ian Kiru Karan | Tom Kemcke | Klaus Kesting | Prof. Dr. Stefan Kirmße | Renate Kleenworth | Jochen Knees | Annemarie Köhlmoss |

VORSTAND: Alexander Birken (Vorsitzender), Roger Hönig (Schatzmeister), Henrik Hertz, Bert E. König, Magnus Graf Lambsdorff, Katja Schmid von Linstow und Dr. Ulrike Murmann EHRENMITGLIEDER: Christian Dyckerhoff, Dr. Karin Fischer †, Manhard Gerber, Prof. Dr. Dr. h. c. Helmut Greve †, Prof. Dr. h. c. Hannelore Greve †, Nikolaus H. Schües, Nikolaus W. Schües, Dr. Jochen Stachow †, Prof. Dr. Michael Otto und Jutta A. Palmer †

Matthias Kolbusa | Prof. Dr. Irmtraud Koop | Petrus Koeleman | Bert E. König | Sebastian Krüper | Arndt Kwiatkowski | Christiane Lafeld | Dr. Klaus Landry | Günther Lang | Dirk Lattemann | Per H. Lauke | Hannelore Lay | Dr. Claus Liesner | Lions Club Hamburg Elbphilharmonie | Dr. Claus Löwe | Prof. Dr. Helgo Magnussen | Dr. Dieter Markert | Sibylle Doris Markert | Franz-Josef Marxen | Thomas J. C. und Angelika Matzen Stiftung | Helmut Meier | Gunter Mengers | Axel Meyersiek | Erhard Mohnen | Dr. Thomas Möller | Christian Möller | Karin Moojer-Deistler | Ursula Morawski | Katrin Morawski-Zoepffel | Jan Murmann | Dr. Sven Murmann | Dr. Ulrike Murmann | Julika und David M. Neumann | Michael R. Neumann | Franz Nienborg | Dr. Ekkehard Nümann | Thilo Oelert | Dr. Andreas M. Odefey | Dr. Michael Ollmann | Dr. Eva-Maria und Dr. Norbert Papst | Dirk Petersen | Dr. Sabine Pfeifer | Sabine Gräfin von Pfeil | Aenne und Hartmut Pleitz | Bärbel Pokrandt | Hans-Detlef Pries | Karl-Heinz Ramke | Horst Rahe | Ursula Rittstieg | Sibylle von Rauchhaupt | Prof. Dr. Hermann Rauhe | Prof. Michael Rutz | Bernd Sager | Siegfried von Saucken | Jens Schafaff | Birgit Schäfer | Dieter Scheck | Mattias Schmelzer | Vera Schommartz | Katja Schmid von Linstow | Dr. Hans Ulrich und Gabriele Schmidt | Nikolaus H. Schües | Nikolaus W. Schües | Kathrin Schulte | Gabriele Schumpelick | Ulrich Schütte | Dr. Susanne Staar | Henrik Stein | Prof. Dr. Volker Steinkraus | Wolf O. Storck | Dr. Patrick Tegeder | Jörg Tesch | Ewald Tewes | Ute Tietz | Dr. Jörg Thierfelder | Dr. Tjark Thies | Dr. Jan Thomas | Dr. Jens Thomsen | Tourismusverband Hamburg e. V. | Prof. Dr. Eckardt Trowitzsch | John G. Turner und Jerry G. Fischer | Resi Tröber-Nowc | Hans Ufer | Dr. Sven-Holger Undritz | Markus Waitschies | Dr. Markus Warncke | Thomas Weinmann | Peter Wesselhoeft | Dr. Gerhard Wetzel | Erika Wiebecke-Dihlmann | Dr. Andreas Wiele | Dr. Martin Willich | Ulrich Winkel | Dr. Andreas Witzig | Dr. Thomas Wülfing | Christa Wünsche | Stefan Zuschke Sowie weitere Kurator:innen, die nicht genannt werden möchten.


­E LBPHILHARMONIE CIRCLE DER UNTERNEHMERKREIS DER ELBPHILHARMONIE

ABACUS Asset Management GmbH Addleshaw Goddard LLP AHN & SIMROCK Bühnen- und Musikverlag GmbH ALLCURA Versicherungs-Aktiengesellschaft Allen Overy LLP a-tour Architekturführungen Bankhaus DONNER & REUSCHEL Barkassen-Meyer BBS Werbeagentur BDV Behrens GmbH BETON.GOLD Bornhold Die Einrichter Braun Hamburg British American Tobacco Germany C. A. & W. von der Meden CLAYSTON Company Companions Dienstleistungsgesellschaft der Norddeutschen Wirtschaft Drawing Room ENERPARC Engel & Völkers Holding GmbH Engel & Völkers Hamburg Projektvermarktung Esche Schümann Commichau Eventteam GmbH Flughafen Hamburg Fortune Hotels FRANK-Gruppe Freshfields Bruckhaus Deringer Garbe Gerresheim serviert GmbH Germerott Innenausbau GmbH & Co. KG Grundstücksgesellschaft Bergstrasse Hamburg Team Hanse Lounge, The Private Business Club HBB Hanseatische Betreuungs- und Beteiligungs­gesellschaft mbH Heinrich Wegener & Sohn Bunkergesellschaft Hermann Hollmann GmbH & Co. HHLA Hotel Wedina Hamburg IK Investment Partners INP-Holding AG Iris von Arnim JARA HOLDING GmbH Joop!

Kesseböhmer Holding KG KLB Handels GmbH Konzertdirektion Dr. Rudolf Goette GmbH Larimar Lauenstein & Lau Immobilien Lehmann Immobilien Lennertz & Co. GmbH loved GmbH Lupp + Partner Madison Hotel Malereibetrieb Otto Gerber GmbH Miniatur Wunderland nordwest Factoring und Service GmbH Notare am Gänsemarkt Notariat an den Alsterakaden Oppenhoff Otto Dörner GmbH & Co. KG PLATH Corporation GmbH print-o-tec GmbH Rosenthal Chausseestraße GbR ROXALL Group Schlüter & Maack GmbH Service-Bund GmbH & Co. KG Seydlitz GmbH SHP Primaflex GmbH Steinway & Sons Stenzel’s Werbebüro Stolle Sanitätshaus GmbH Strahlenzentrum Hamburg MVZ Strebeg Verwaltungsgesellschaft mbH Taylor Wessing The Fontenay Hotel TrainingsManufaktur Dreiklang UBS Europe SE Hamburg Unger Hamburg Vladi Private Islands Weischer.Media WIRTSCHAFTSRAT RECHT Worlée Chemie Wünsche Handelsgesellschaft Sowie weitere Unternehmen, die nicht genannt werden möchten.

FÖRDERKREIS

INTERNATIONALES MUSIKFEST HAMBURG

Jürgen Abraham Corinna Arenhold-Lefebvre und Nadja Duken Ingeborg Prinzessin zu Schleswig-Holstein und Nikolaus Broschek Annegret und Claus-G. Budelmann Christa und Albert Büll Gudrun und Georg Joachim Claussen Birgit Gerlach Ulrieke Jürs Ernst Peter Komrowski Dr. Udo Kopka und Jeremy Zhijun Zeng Helga und Michael Krämer Marion Meyenburg

K. & S. Müller Christiane und Dr. Lutz Peters Änne und Hartmut Pleitz Bettina und Otto Schacht Engelke Schümann Martha Pulvermacher Stiftung Margaret und Jochen Spethmann Birgit Steenholdt-Schütt und Hertigk Diefenbach Anja und Dr. Fred Wendt Sowie weitere Förderer, die nicht genannt werden möchten.


SPONSOREN UND FÖRDERSTIFTUNGEN

die PArtner der elBPhilhArMonie

PRINCIPAL SPONSORS

PRODUCT SPONSORS


CLASSIC SPONSORS

FÖRDERSTIFTUNGEN


I M P RESSU M

Die nächste Ausgabe des Elbphilharmonie Magazins erscheint im April 2024.

Herausgeber HamburgMusik gGmbH Geschäftsführer: Christoph Lieben-Seutter (Generalintendant), Jochen Margedant Platz der Deutschen Einheit 4, 20457 Hamburg magazin@elbphilharmonie.de www.elbphilharmonie.de

Korrektorat Ferdinand Leopold

Chefredakteur Carsten Fastner

Leserservice / Abonnement Elbphilharmonie Magazin Leserservice PressUp GmbH Postfach 70 13 11, 22013 Hamburg leserservice@elbphilharmonie.de Tel: 040 386 666 343, Fax: 040 386 666 299

Redaktion Katharina Allmüller, Melanie Kämpermann, Clemens Matuschek, Tom R. Schulz; Gilda Fernández-Wiencken (Bild) Formgebung GROOTHUIS. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH für Kommunikation und Medien, Marketing und Gestaltung; groothuis.de Gestaltung Lina Jeppener (Leitung), Janina Lentföhr, Lars Hammer; Bildredaktion Angela Wahl; Herstellung Sophie Gabel, Steffen Meier; Projektleitung Alexander von Oheimb; CvD Rainer Groothuis Beiträge in dieser Ausgabe von Dominik Bach, Stephan Bartels, Daniel Dittus, Stefan Franzen, Volker Hagedorn, Lars Hammer, Claudia Höhne, Gesche Jäger, Fränz Kremer, Clemens Matuschek, Martin Meyer, Jan Paersch, Till Raether, Ivana Rajic, Nadine Redlich, Robert Rotifer, Claudia Schiller, Charlotte Schreiber, Tom R. Schulz, Albrecht Selge, Skizzomat / Marie Emmermann, Bettina Theuerkauf, Andrea Tholl, Dorion Weickmann, Bjørn Woll Lithografie Alexander Langenhagen, edelweiß publish, Hamburg Druck Hartung Druck + Medien GmbH Dieses Magazin wurde klimaneutral auf Papier aus nachhaltiger Forstwirtschaft produziert.

Anzeigenleitung Antje Sievert, Anzeigen Marketingberatung Sponsoring Tel: 040 450 698 03, office@kultur-anzeigen.com Vertrieb PressUp GmbH, Hamburg

Das Elbphilharmonie Magazin erscheint dreimal jährlich. ­ ild- und Rechtenachweise B Cover: Skizzomat / Marie Emmermann, verwendete Fotos von Andrea Grützner, Julia Knop; S. 1 Michael Zapf; S. 2 links: Daniel Dittus, rechts: Nadia F. ­Romanini, S. 3 oben: Anima-Stefan Liewehr, mitte: Joachim Bertrand / Philharmonie de Paris, unten: Bettina ­Theuerkauf; S. 4–5 Yanina Isla, S. 6–7 Michael ­Maurissens / CARRÉ BLANC PRODUCTIONS, S. 4–7 Für diesen Essay verwenden wir Ausschnitte der Notation aus Feuillet, Raoul-Auger: Chorégraphie ou l'art de decrire la dance, Paris, 1701, Aus dem Abschnitt: Recueil de Dances, composees, S. 20; S. 8–10 akgimages, S. 11 Paul Almasy / akg-images, S. 12 HeritageImages / Chevalier Collection / akg-images, S. 8–13 Für diesen Essay verwenden wir Notationen aus: Feuillet, Raoul-Auger: Chorégraphie ou l'art de decrire la dance, Paris, 1701, Aus dem Abschnitt: Recueil de Dances, composees, S. 12 (1) und 54 (2); S. 14–15 Lars Hammer; S. 16–17 picture alliance / Clemens Fabry / Die Presse / picturedesk.com / Clemens Fabry, Malerei: Wolfgang Herzig, S. 18 akgimages / picture-alliance / dpa, Keith Haring artwork © Keith Haring Foundation; S. 19 picture alliance / United Archives / 90060 / KPA, S. 20 picture-alliance / jazzarchiv / Hardy Schiffler; S. 22 Nadine Redlich; S. 24 Daniel Dittus, S. 25–26 Claudia Höhne;

S. 28 Daniel Dittus, S. 30 Ian Ehm, S. 31 Andreas Herzau; S. 32 AAF – ArchivioArte Fondazione di ­Mo­dena / FMAV Fondazione Modena Arti Visive, S. 33 Archivio Cameraphoto Epoche/akg-images, S. 34 oben: Archivio Cameraphoto Epoche / akg-images, unten: marka / eps / UIG / akg-images, S. 35 Karin Rocholl; S. 36–43 Skizzomat / Marie ­Emmermann, verwendete Fotos von S. 36 Andrea Grützner, Heinrich Holtgreve, Julia Knop, Charlotte Schreiber, S. 37 Andrea Grützner, Julia Knop, Jewgeni Roppel, Charlotte Schreiber, S. 38 Jewgeni Roppel, S. 39 Andrea Grützner, S. 40–41 Andrea Grützner, Julia Knop, Charlotte Schreiber, S. 42 Jewgeni Roppel, Charlotte Schreiber, S. 43 Andrea Grützner, Julia Knop; S. 45 Nadja Sjo­strom, S. 46 Daniel Dittus, S. 48 Nadja Sjostrom; S. 50 picture alliance / United Archives / 91020, picture alliance / ullstein bild, picture alliance / United Archives / 91050 / United Archives / TopFoto, S. 52 picture-alliance / akg-images; S. 54 Charlotte Schreiber; S. 56 Elena Belova, S. 58 Andrej Grilc; S. 61 Joachim Ber­trand / Philharmonie de Paris, S. 62 Claudia Höhne; S. 64 unten: Leonard Voutsara, mitte: Kaupo Kikkas, oben: Oezge Coene, S. 65 unten: Shervin Lainez, mitte links: Dovile ­Sermokas, mitte rechts: Daniel Waldhecker, oben: Lenny Gonzalez; S. 66 picture alliance / Lobster Media / Kevin Pashuk, S. 67 oben: Jason Cowart, unten: picture alliance / ZUMAPRESS.com / Jeff Moore, S. 68 oben: Ebru Yildiz, unten: Richard Etteridge / Alamy Stock Foto; S. 70–73 Gesche Jäger; S. 74–81 Bettina ­Theuerkauf; S. 82–87 Philip Thurston/istockphoto; S. 88 Niklas Grapatin Redaktionsschluss 23. Novemer 2023 Änderungen vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nicht gestattet. Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Träger der HamburgMusik gGmbH:


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flourish Wir gestalten Lebensqualität, sodass eine gesunde, lebendige und gerechte Welt für uns alle entsteht. Eine Welt, in der ein ökologisch sinnhaftes Leben und Wirtschaften zur kollektiven Selbstverständlichkeit wird.

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