August September 2021

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Was ist Gemütlichkeit? Nutzen wir doch diese Jahreszeit, um mal wieder eins so richtig zu lernen: Gemütlichkeit. Aus dem Dänischen entlehnt, geistert der Begriff „Hygge“ seit einigen Jahren durch die Trendwelt und LifestyleRatgeber. Warum eigentlich? Gut, es klingt angenehm und sympathisch, und warum sollten wir nicht noch ein Synonym bekommen für das was wir mit Abhängen, Chillen, Heimeligkeit oder eben Gemütlichkeit meinen. Wer „hygge“ googelt, bekommt als heilige Trinität des gehobenen Rumgammelns meist Kaminfeuer, Sofa und Teetasse angezeigt. Zugegeben, die Richtung stimmt, und wir lassen Liegemöbel und Kräutersud als gemeinsamen Nenner für Gemütlichkeit gelten. Auch der Kamin geht natürlich klar, auch wenn bei weitem nicht jeder ein flackerndes Feuer in der Wohnzimmerwand entzünden kann. Darum erweitern wir doch einfach mal das Anregungsspektrum und ergründen ein bisschen tiefer, was denn die Gemütlichkeit, Hygge, Chillen etc. ausmacht. Das Ziel ist klar: Entschleunigen. Runterkommen. Spaß. Ist es denn eine Form von Spaß? In Clubs oder Kneipen gehen, auf Festivals fahren und Reisen macht auch Spaß, ist aber mit Anstrengung und Aufwand verbunden. Darum ist es wohl die minimalistischste, an Mitteln und Kosten reduzierteste und genügsamste Art Spaß, die es gibt. Darüber hinaus ist es wohl eine eindeutige Freizeitbeschäftigung; doch als Hobby kann es auch wieder nicht bezeichnet werden, zumindest nicht sehr spezifisch. Lesen, ok. Teetrinken und an die Decke oder ins Kaminfeuer starren? Eher ein Grundbedürfnis wie Schlaf. Im ökonomischen bzw. so-

zialen Licht betrachtet sind wir ineffizient, faul und egoistisch. Gut so! Müßiggang, der alte und negativ besetzte Begriff fürs Nichtstun, wird heutzutage glücklicherweise nicht mehr bemüht. Stattdessen geht es um die Beherrschung der Kunst, nichts zu tun, nicht sich selbst und niemanden sonst zu nerven, die Kräfte schonen, nichts unnötiges zu kaufen usw. Wenigstens mal einen halben Tag lang. Aus einem weiteren Blickwinkel betrachtet ist gemütliches Abhängen in gewisser Weise der Vorhof zur Meditation. Wobei der Schritt zu diesem angespannten, konzentrierten und bewussten Ruhezustand ausbleibt, denn sonst ist es kein Chillen mehr. Meditieren hat schon wieder etwas verpflichtendes, und ist, wenn wir so wollen, die sportliche Variante von faulenzen. Unter dem modernen Aspekt der Digitalisierung schließlich möchte ich Gemütlichkeit eben davon abgrenzen und doch als eher analoge Tätigkeit begreifen. Es ist eben nicht sehr hygge im hyggeligen Sinn, ununterbrochen aufs Tablet oder Smartphone zu starren und zu wischen, ebensowenig, wie die ganze Zeit an der Spielkonsole zu zocken. Es kann sicher Bestandteil eines gemütlichen Abends sein, doch wichtiges geht dabei verloren: wir berauben uns der Sphäre, der Gegenstände, die diese Gemütlichkeit erst erschafft bzw. erschaffen: Die kratzig-warme Decke, der Duft von Tee, Kaffee oder Opiumstäbchen, flackernde Kerzen, das anfängliche Knistern einer Schallplatte. Gemütlichkeit ist eine sehr sinnliche Angelegenheit. Jedes Sich-losreissen von digitalen Medien verlangt immer erst Zeit, um wieder die materielle Wirklichkeit mit den normalen Sinnen zu

spüren. Darum würde ich bei der Definition von klassischer Gemütlichkeit das Digitale zunächst außen vor lassen. Tipp: ein bisschen digitale Entgiftung tut gut, und wenn wir Handy und Co. ins Nebenzimmer bringen und dort mal eine Weile liegenlassen, ist es schon sehr hilfreich. Zugegeben, auch ein Buch oder eine Pink FloydScheibe kann uns sehr effizient in andere Welten katapultieren. Über die Unterschiede zu einem E-Book oder MP3s könnte man sich streiten. Wer sich einen Film anmacht, wird auch kaum noch VHS verwenden, sondern Streamingdienste. Aber es geht bei alldem sehr wohl noch um etwas, das dem Digitalen nicht mehr anhaftet, nämlich dem Ritual. Ein Buch aufschlagen, eine Vinylplatte (oder auch CD) auflegen; selber kochen statt Essen bestellen; Feuer anzünden statt ein Kamin-YouTube-Clip anzumachen. Und so weiter. Rituale als Bestandteil der gepflegten Auszeit, bzw. die Vorbereitung oder das Ganze rituell zu betrachten, ist eine ganz wesentliche Eigenschaft. Rituale geben uns Stabilität und positive Antizipation. Damit können sie wirklich ein Schlüssel zu Entspannung und Entschleunigung sein. Der An/Aus Knopf unserer Geräte und Gadgets überbrückt diese Zeitspanne, in denen ein wohltuendes Ritual Platz hätte, im Sekundenbruchteil. Versteht mich nicht falsch, ich bin kein Technikverneiner, ganz und gar nicht, es soll hier nur um Anregung und Reflektion über die Essenz der Gemütlichkeitskultur gehen. Selbst praktizierte Rituale können vom Chill-Outfit über das Auflegen von Jazz oder Hörbüchern von H.P. Lovecraft bis zu einer gepflegten Teeverkostung und weiter gehen. Vielleicht zur Entdeckung von Neuem: stricken, Briefe schreiben, Kalligraphie üben usw. Einfach sich versenken, bei sich selbst ankommen. Und bleiben.

Thomas Voigt

philosophisches

Philosophische Betrachtungen übers Chillen


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