Buchauszug: Die Wölfe von Yellowstone

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Schwer atmend vom Aufstieg nähere ich mich langsam der Umzäunung. Wie immer, wenn ich hierher komme, überflutet mich die »Nähe« zu den Wölfen und die Erinnerung an ihren Aufenthalt hier mit Gefühlen der Freude und Aufregung. Die letzte kleine Anhöhe bietet einen geschützten Blick auf das Gehege. Von hier aus konnten die Ranger und Biologen unbemerkt das Verhalten der Wölfe beobachten. Von hier kam auch ihr aufgeregter Ruf in das Funksprechgerät »Number 10’s out« und »Number 9’s out«, als die ersten beiden Wölfe nach fast 40 Jahren Abwesenheit in die Wildnis hechteten. Die Sonne hat einen Teil des Schnees getaut. Ich ziehe die Schneeschuhe aus, öffne das Tor zum Gehege und schließe es hinter mir. Die hölzernen Hütten, die für die Wölfe gebaut worden waren, zerfallen langsam. Die Wölfe haben sie lediglich als Aussichtsplattform benutzt. An Stellen, wo der Schnee geschmolzen ist, liegen noch ein paar ausgeblichene Hirschknochen. Die ausgelaufene Trampelspur im Inneren des Geheges wächst langsam mit Gras zu. Ich setze mich unter eine Tanne auf ein trockenes Plätzchen. Den Rücken an den Baum gelehnt, habe ich einen weiten Blick auf die umliegenden Berge. Wie fühlt sich wohl ein Wolf, wenn er hierher kommt? Herausgerissen aus seiner Familie, betäubt, von menschlichen Händen vermessen und gewogen, eingesperrt in einen engen, dunklen Käfig, transportiert unter lautem Lärm, bis sich schließlich die Käfigtür öff net und er sich erneut in Gefangenschaft befindet. Er versucht, zu fliehen. Fort von diesem schrecklichen Geruch der Zweibeiner. Aber es gibt keine Fluchtmöglichkeit. Er beißt sich die Lefzen blutig, aber der Zaun gibt nicht nach. Irgendwann gibt er auf und tut das, was ein Tier schon immer getan hat, um zu überleben: Er passt sich an. Er bildet eine neue Familie, frisst das Futter, das ihm gebracht wird und schaut auf die großartige Landschaft, die vor ihm liegt. Ob Wölfe von Freiheit träumen? Während ich versuche, mich in sie hineinzuversetzen, denke ich zurück an die Zeit, als sie noch in diesem Gehege lebten. Die Wölfe kommen Der 12. Januar 1995 war ein besonderer Tag im kleinen Örtchen Gardiner. Seit Wochen schon waren alle Hotelzimmer von Fotografen und Medienvertretern ausgebucht. Die Kinder des Ortes hatten schulfrei bekommen. Die Läden waren geschlossen. Alle standen sie erwartungsvoll entlang der Straße, die in den Yellowstone-Park führt. Journalisten und Fernsehteams hatten sich an den Hügeln über dem Torbogen versammelt, um das Medienereignis im Überblick zu haben. Es herrschte Festtagsstimmung. Und dann kamen sie! 27


An der Spitze der Wagenkolonne fuhren mehrere Ranger mit Blaulicht durch den massiven Steinbogen, die Roosevelt Arch, das Wahrzeichen des Parks. Ihnen folgte ein Truck mit einem langen, grauen Pferdeanhänger, in dem sich acht Aluminium-Boxen befanden. In einer war die schwarze Wölfin, die als Nummer Neun berühmt werden sollte, in einer anderen lag ihre einjährige Tochter, Nummer Sieben. In den restlichen Boxen lagen Nummer Vier, ein schwarzer Leitwolf mit silbernen Strähnen im Nacken, die hellgraue Leitwölfin, Nummer Fünf, ihre fünf Jährlinge (geboren im Frühjahr 1994, alles Rüden) und Nummer Acht (der kleinste von allen). Die Menschen am Straßenrand jubelten, viele hatten Tränen in den Augen. Im Headquarter des Parks, in Mammoth Hot Springs, schlossen sich alle, die am Projekt unmittelbar beteiligt waren, dem Konvoi an: Mike Finley, der neue Direktor des Parks, Mollie Beattie, Leiterin der U.S. Fisch- und Wildbehörde, und Innenminister Bruce Babbitt. Auch die Biologen warteten schon: der Projektleiter Mike Phillips, Doug Smith, der die Feldforschung koordinieren sollte, Steve Fritts von der Fisch- und Wildbehörde und Mark Johnson, der Tierarzt. Die Wölfe waren längst nicht mehr betäubt. Still lagen sie mit schreckensweiten Augen in ihren metallenen Käfigen, desorientiert und müde von 20 Stunden Transport, Lärm, fremden Gerüchen und Angst. Der Truck fuhr weiter ins Lamar Valley. Es wurde ruhiger. Das gesamte Tal war vom Park Service gesperrt worden, und nur wenige Pressevertreter und Fotografen, die durch Los gezogen worden waren, durften mitfahren. In einer kleinen Parkbucht hielt der Truck. Das letzte Stück der langen Reise mussten die Wölfe paradoxerweise mithilfe der Tiere zurücklegen, die zu ihren Beutetieren gehören: Die Container wurden auf große Pferdekutschen umgeladen, die von zwei Mulis gezogen wurden. (Damit die Mulis wegen des Geruchs ihrer Erzfeinde auf dem Wagen nicht in Panik gerieten, hatten ihnen die Kutscher Eukalyptus-Öl unter die Nüstern gerieben.) Nach etwa einer Meile war die wertvolle Fracht am Crystal-Creek-Gehege angekommen. Auf den letzten hundert Metern wurden die berühmtesten Wölfe der Welt von der Prominenz selbst getragen: Mollie Beatty, Mike Finley, Bruce Babbitt und Jim Evanoff trugen Nummer Fünf in das Gehege. Sie setzten den Container ab … und durften ihn nicht öffnen. Am Ende eines jahrelangen rechtlichen Kampfes um die Rückkehr der Wölfe schien es, als ob sie nun – so dicht vor dem Ziel – vielleicht doch noch verlieren würden. Was war geschehen? Die Mountain States Legal Foundation, die die Rancher repräsentierte, hatte in letzter Minute, als die Wölfe bereits in der Luft waren, eine einstweilige Verfügung zum Stopp der Wiederansiedlung beim Berufungsgericht in Denver beantragt. Das Gericht entsprach diesem Antrag und verlangte 48 Stunden Zeit, um für eine Entscheidung die Unterlagen zu überprüfen. Zu diesem Zeitpunkt 28


waren die Wölfe bereits mehr als 20 Stunden unterwegs. Alice Thurston, die Anwältin der Regierung, bat das Gericht, die Wölfe wenigstens in die Gehege entlassen zu dürfen, schließlich sei es kein Problem, die Tiere bei einem ablehnenden Bescheid wieder einzufangen. Die Richter jedoch lehnten ab, die Wölfe mussten in den Boxen bleiben. Der Tierarzt Mark Johnson sorgte sich. Weitere 48 Stunden in diesen engen Käfigen würden die Wölfe nicht überstehen. Die Boxen waren dunkel bis auf ein winziges Fenster, durch das die Betreuer nur ein paar Eiswürfel drücken konnten, um den Wölfen Wasser zu geben. Kot und Urin konnten nicht entfernt werden. Eine der Wölfinnen war läufig. Sie blutete und es bestand die Gefahr, dass der Stress sie unfruchtbar machen würde. Wenn Wölfe extrem gestresst sind, neigen sie dazu, sich in einen Benommenheitszustand zurückzuziehen. Dies geschah während der Wartezeit mit den Tieren. Alle Mitarbeiter des Projektes erwarteten ruhelos am Telefon den Ausgang des Prozesses, äußerst besorgt um die Gesundheit der Wölfe, die nun seit 38 Stunden in ihren stählernen Gefängnissen warteten. Endlich kam die erlösende Nachricht aus Denver: Die einstweilige Verfügung war aufgehoben worden. Ein Mitarbeiter sprang in sein Auto, um zum Crystal-Creek-Gehege zu rasen, wo Doug Smith bei den Wölfen ausharrte. Um 22.30 Uhr zogen sie die Schiebetüren an den Boxen hoch, ließen einen toten Hirsch im Gehege liegen und schlossen leise die Tür hinter sich. Alle sechs Wölfe lagen in der hintersten Ecke ihrer Container. Keiner wagte sich nach draußen. Als schließlich auch im Rose-Creek-Gehege die Käfige der Wölfe geöffnet wurden, war die junge Nummer Sieben die Erste, die vorsichtig aus ihrer Box schlich. Ihre Mutter rührte sich nicht von der Stelle. Erst am nächsten Morgen war auch sie ins Freie gekommen. Eine Woche später, am 20. Januar, kamen noch einmal sechs Wölfe aus Kanada nach Yellowstone. Diesmal mit wesentlich weniger Publicity. Dabei hätte dies einer der Wölfe sicher verdient: Nummer Zehn. Jeder, der einen Blick auf ihn werfen konnte, wusste, dass dies der schönste und mächtigste Wolf war, den Yellowstone je gesehen hatte. Aber der sechzig Kilo schwere Wolf war nicht nur groß und stark, am eindrucksvollsten war seine imposante Ausstrahlung. Er vereinte Kraft, Ruhe und Gelassenheit mit Würde und hatte etwas Magisches, das ihn von allen Wölfen unterschied. Im Gegensatz zu den anderen schaute er den Menschen direkt in die Augen und lenkte nie seinen Blick ab. Er hatte ohne Zweifel das souveräne Auftreten, das einen Wolf zum Leitwolf macht. Von den menschlichen Projektmitarbeitern war er als Gefährte für Nummer Neun vorgesehen. 29


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