Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

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European Forum for Urban Security

Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene


Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Die vorliegende Handreichung wurde vom Europäischen Forum für Urbane Sicherheit (EFUS) herausgegeben. Sie fasst die Ergebnisse des Projektes Local Institutions AgaInSt Extremism (LIAISE) zusammen, das zwischen 2014 und 2016 durchgeführt wurde. Die Handreichung wurde von den Projektmanagern Sebastian Sperber, Juan Cristellys und Véronique Ketelaer unter Leitung von Elizabeth Johnston (Executive Director, EFUS) in Zusammenarbeit mit Götz Nordbruch (ufuq.de), Charlotte Kathe, Tanya Silverman und Rashad Ali (Institute for Strategic Dialogue) sowie den am Projekt beteiligten Partnerstädten verfasst. Seine Verwendung und sein Nachdruck zu nichtgewerblichen Zwecken sind gebührenfrei mit der Maßgabe, dass die Quellen genannt werden. Lektorat: Götz Nordbruch und Moritz Konradi Layout: Marie Aumont, micheletmichel.com Druck: Cloître Imprimeurs, Saint-Thonan - France ISBN: 978-2-913181-50-2 Hinterlegung des Pflichtexemplars: September 2016 Europäisches Forum für Urbane Sicherheit 10, rue des Montiboeufs 75020 Paris - Frankreich Tel: + 33 (0)1 40 64 49 00 contact@efus.eu - www.efus.eu

Mit der finanziellen Unterstützung der Europäischen Kommission. Die Inhalte dieser Publikation bringen nicht die Meinung der Europäischen Union zum Ausdruck. Die Verantwortung für die darin geäußerten Informationen und Ansichten liegt ausschließlich bei den Verfassern.


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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene


Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Danksagungen

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Das Projekt “Local Institutions AgaInSt Extremism” (LIAISE) wurde in Zusammenarbeit mit Vertretern der Partnerstädte Augsburg (Deutschland), Brüssel (Belgien), Düsseldorf (Deutschland), l’Hospitalet de Llobregat (Spanien), Lüttich (Belgien), Malmö (Schweden), Reggio Emilia (Italien) und Vilvoorde (Belgien) sowie dem deutschen Bildungs- und Jugendhilfeträger ufuq.de und dem britischen Think-Tank Institute for Strategic Dialogue umgesetzt, die mit ihrer Expertise an den Seminaren und an der Erstellung dieser Handreichung beteiligt waren. Wir danken den Vertretern der Städte und ihren Teams für die eingebrachten Kenntnisse und Erfahrungen, sowie den Experten für ihre wertvollen Einblicke und Beiträge. Neben der Europäischen Kommission, ohne deren finanzielle Unterstützung dieses Projekt und die vorliegende Publikation nicht möglich gewesen wären, möchten wir allen jenen danken, die uns bei unseren Seminaren begleitet oder einen Beitrag dazu geleistet haben.

Partnerstädte des Projektes Diana Schubert (Augsburg, Deutschland), Hadelin Feront (Brüssel, Belgien), Tanja Schwarzer und Stephan Glaremin (Düsseldorf, Deutschland), José Antonio García-Calvillo Moreno, Laia González Pradanos und Oscar Negredo Carrillo (L’Hospitalet de Llobregat, Spanien), Manuel Comeron und Catherine Schiltz (Lüttich, Belgien), Malin Martelius, Anna Kosztovics und Arash Zinat Bakhsh (Malmö, Schweden), Elena Poppi und Papa Seck (Reggio Emilia, Italien) und Jessika Soors (Vilvoorde, Belgien).

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Partnerinstitutionen des Projektes ufuq.de (Deutschland), Institute for Strategic Dialogue (Großbritannien).

Assoziierte Partner Laetitia Nolet (Belgisches Forum für Prävention und Urbane Sicherheit, Belgien), Harald Weilnböck und Anika Posselius (Cultures Interactive, Deutschland).

Weitere Beiträge Sophie Le Bihan (Montreuil, Frankreich), Farid Bounouar (Sarcelles, Frankreich), Christiane Nischler (Bayern, Deutschland), Hans Bonte (Vilvoorde, Belgien), Andreas Schönström, Per-Erik Ebbeståhl, Sarah Hansson, Julia Kjellbom, Aviva Suskin Holmqvist (Malmö, Schweden), Dirk Wurm, Peter Bommas (Augsburg, Deutschland), Chris Williams (Brent, Großbritannien), Arris Blom (Rotterdam, Niederlande), Marik Fetouh (Bordeaux, Frankreich), Henning Mols (Aarhus, Dänemark), Sindyan Qasem (ufuq.de, Deutschland), Sasha Havlicek, Erin Saltman, Henry Tuck, James Kearney, Munir Zamir, Zahed Amanullah, Rebecca Skellett, Sarah Kennedy (Institute for Strategic Dialogue, Großbritan­ nien), Ross Frenett, Vidhya Ramalingam (Moon Shot CVE), Anissa Akhandaf (Antwerpen, Belgien), Georgina Nitzsche, Edit Schlaffer (Women without borders, Österreich), Saliha Ben Ali (Society Against Violent Extremism, Belgien), Willy Demeyer (Lüttich, Belgien), Alain Grignard, Hassan Bousseta (Universität Lüttich, Belgien), Juan Cortes Leclou (Generaldirektion für Sicherheit und Prävention, Belgien), Erwin Van Vlierberghe (Koordinationsstelle für Gefährdungsanalyse, Belgien), Craig McCann (National Counter-Terrorism Policing Headquarters, Großbritannien), Victor Steenssens (Arktos asbl, Belgien), Robert Örell (Fryshuset/Exit Sweden, Schweden), Julia Reinelt (Violence Prevention Network, Deutschland), Lily Maxwell, Tomás Santamaría Agudo (Dienststelle für Terrorismusbekämpfung und Organisiertes Verbrechen, Innenministerium, Spanien)

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Inhalt

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Vorwort...........................................................................S. 8 Einleitung.....................................................................S. 10 Kapitel I – Radikalisierung: Verstehen und Erkennen ..............................................................S. 15 I. Begriffsbestimmungen............................................................... S. 17 II. Erklärungsansätze: Wie lassen sich Radikalisierungsprozesse erklären?..................... S. 19 III. Prävention von Radikalisierung, die zu gewaltbereitem Extremismus führt........................................................................ S. 24 IV. Methoden und Instrumente..................................................... S. 27

Kapitel II – Entwicklung akteursübergreifender lokaler Strategien........................................................S. 31 I. Global denken, lokal handeln: „Glokalisierung“ und die Entwicklung lokaler Strategien......................................... S. 33 II. Maßnahmen auf lokaler Ebene................................................. S. 37 III. Empfehlungen......................................................................... S. 39 IV. Methoden und Instrumente .................................................... S. 40

Kapitel III – Unterstützung und Stärkung von Familien.................................................................S. 45 I. Stufen und Formen der Unterstützung und Stärkung von Familien................................................................................. S. 47 II. Kontaktaufnahme mit Familien................................................ S. 51

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III. Empfehlungen ........................................................................ S. 53 IV. Methoden und Instrumente..................................................... S. 55


Kapitel IV - Prävention: Sensibilisierung und Förderung von Resilienz.....................................S. 59 I. Schulen und Unterricht............................................................. S. 62 II. Jugendhilfe und Jugendsozialarbeit.......................................... S. 64 III. Lokale Gemeinschaften.......................................................... S. 66 IV. Polizei...................................................................................... S. 68 V. Empfehlungen.......................................................................... S. 69 VI. Methoden und Instrumente.................................................... S. 70

Kapitel V - Deradikalisierung und Ausstieg...............S. 73 I. Das Erkennen gefährdeter Personen.......................................... S. 75 II. Struktur der Intervention.......................................................... S. 78 III. Vertrauen schaffen.................................................................. S. 80 IV. Religiöser Extremismus: Die Rolle der Religion....................... S. 80 V. Ausstieg.................................................................................... S. 81 VI. Empfehlungen......................................................................... S. 82 VII. Methoden und Instrumente................................................... S. 83

Kapitel VI - Gegenerzählungen.....................................S. 87 I. Planung einer Kampagne........................................................... S. 89 II. Durchführung einer Kampagne ............................................... S. 92 III. Verbreitung und Evaluierung.................................................. S. 93 IV. Empfehlungen......................................................................... S. 97 V. Methoden und Instrumente..................................................... S. 98

Literaturhinweise...................................................... S. 101

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Vorwort

>>>>>>>>>>>>>>>>>> Das Phänomen von Radikalisierungen, die zu gewaltbereitem Extremismus führen, ist ein zunehmendes gesellschaftliches Problem. Auch in Europa wurde dieses Problem mit den tragischen Anschlägen der vergangenen Jahre in verschiedenen Städten sichtbar. Die Anschläge – nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt – unterstreichen den drin­ genden Handlungsbedarf angesichts eines Phänomens, dessen Ursachen letztlich auch präventive Ansätze erforderlich machen. Extremistische Gewalttaten richten sich gegen die Grundwerte demo­ kratischer Gesellschaften. Sie sollten aber nicht dazu führen, dass wir im Angesicht des Terrors resignieren. Vielmehr bestärken sie das Europäische Forum für Urbane Sicherheit in der Überzeugung, der wir uns seit fast 30 Jahren verschrieben haben: Sicherheit ist ein gemeinsames Gut, das von allen geteilt wird, und Prävention von Ausgrenzung und die Bekämpfung von Diskrimi­nierung tragen dazu bei, soziale Bindungen zu festigen und Individuen und Gruppen gegenüber extremistischen Angeboten zu stärken. In diesem Rahmen ist die Zusammenarbeit der Städte, ihre Vernetzung und Solidarität, wichtiger denn je. Zugleich können lokale Institutionen und Akteure die Ursachen von Radikalisierungsprozessen nicht alleine beseitigen – auch weil das Phänomen der Radikalisierung von manchen politischen Akteuren instrumentalisiert und zur Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen genutzt wird.

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Vor diesem Hintergrund – und als Reaktion auf die Anfragen verschiedener Mitgliedsstädte – bemüht sich Efus darum, Städte und Gemeinden in der Prävention von Radikalisierung zu stärken und dabei die besondere strategische Bedeutung von lokalen Akteuren herauszustellen. Mit diesem Ziel beteiligt sich Efus an einer Reihe von Netzwerken und Initiativen auf euro­ päischer und internationaler Ebene. Dabei fungiert Efus auch als Sprachrohr der Städte und Gemeinden und betont, wie wichtig es ist, gerade bei der Prävention von Radikalisierung die grundlegenden Menschenrechte zu achten. Das Projekt Local Institutions AgaInSt Extremism (LIAISE) ist in diesem Zusammenhang eine Schlüsselinitiative, die im September 2014 von Efus mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Kommission auf den Weg gebracht wurde. Nach einer zweijährigen Zusammenarbeit mit zehn Partnerstädten aus sechs europäischen Ländern und mit der fortwährenden Unterstützung von Efus und Partnerexperten wurden die im Rahmen dieses Projektes erarbeiteten Kenntnisse in dieser Publikation zusammengetragen. Wesentliches Ziel dieser Handreichung ist es, Städten und Gemeinden dabei zu helfen, aktuelles und verfügbares Fachwissen im Bereich der Radikalisierung aus Forschung und Politik aktiv zu nutzen. Die Publikation nimmt nicht in Anspruch, für dieses höchst komplexe Thema eine umfassende Antwort zu bieten, sondern präsentiert eine Auswahl an Kenntnissen, Methoden und Instrumenten, die Städten und Gemeinden dabei helfen können, Antworten auf ihre Fragen zu finden und sich mit diesem Thema unter Berücksichtigung des lokalen Kontextes zu befassen.

Elizabeth Johnston Executive Director

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Einleitung

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Das Thema Radikalisierung rückte in den letzten zwanzig Jahren zunehmend ins Interesse von Forschung und Politik. Initi­ativen zu diesem Phänomen stehen überall in Europa auf der politischen Agenda, oft in Zusammenhang mit heftigen politischen und gesetzgeberischen Kontroversen, die durch hochemotionale Ereignisse wie terroristische Anschläge ausgelöst wurden. Die unmittelbaren Reaktionen auf entsprechende Ereignisse stehen oft im Zeichen von „harten“ und „repressiven“ Maßnahmen gegen Radikalisierungen (Verhaftungen, Verbot bestimmter Organisa­tionen, Einfrieren von Vermögen usw.). Zugleich wurde die Bedeutung von Ansätzen der Prävention immer offensichtlicher, da repres­sive Antworten allein nicht ausreichen, um effizient auf Radikalisierungen zu reagieren. Neben polizeilichen und strafrechtlichen Maßnahmen, die sich mit den Folgen von Radikalisierung befassen, sind auch präventive Maßnahmen erforderlich, um die zugrunde liegenden Ursachen anzuge­hen, die Einzelne und Gruppen in gewaltbereiten Extremismus führen. Dabei ist es wichtig, Radikalisierung als einen Prozess zu verstehen, um Ansätze der Präventions- und Interventionsarbeit auszumachen, die letztlich nur mit der Beteiligung lokaler Akteure denkbar sind. Bei allen Diskussionen über die genauen Ursachen von Radikalisierung ist die Bedeutung lokaler Faktoren offensichtlich: Radikalisierung äußert sich an einem konkreten Ort, bisweilen in gewalttätigem Verhalten. Trotz der Bedeutung des Internets und der sozialen Medien als Plattformen für die Verbreitung extremistischer Ideologien spielen offline-Kontakte mit extremistischen Personen oder Gruppen an konkreten Orten weiterhin eine zentrale Rolle. Vor diesem Hintergrund – und angesichts der direkten räumlichen Bezüge zu den beteiligten Akteuren – kommt den kommunalen Behörden1 eine besondere strategische Bedeutung bei 1- Der Begriff kommunale Behörden wird in dieser Broschüre als Oberbegriff für die Institutionen auf lokaler Ebene in europäischen Ländern verwendet, darunter Groß- und Kleinstädte, Stadtverwaltungen usw. Gemäß der Europäischen Charta für lokale Selbstverwaltung des Europarates von 1985 sind lokale Behörden mit demokratisch gebildeten Entscheidungsgremien ausgestattet und besitzen einen hohen Autonomiegrad in Bezug auf ihre Zuständigkeiten, die Ausübung ihrer Verantwortung und die hierfür erforderlichen Mittel.

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der Koordinierung und Umsetzung von präventiven Maßnahmen und der Mobilisierung aller örtlichen Akteure zu. Kommunale Behörden sind allerdings weder allein verantwortlich noch allein in der Lage, auf Ereignisse vor Ort zu reagieren; gleichwohl verfügen sie über wichtige Ressourcen, um gegen dieses Phänomen vorzugehen. Doch in welchen Bereichen müssen sie ansetzen, um eine Radi­ kalisierung auf lokaler Ebene zu verhindern? Wie lassen sich die Maß­ nahmen in der Praxis umsetzen? Die vorliegende Publikation gibt darüber Aufschluss und vermittelt einen Überblick über das Thema. Sie bietet praktische Einblicke und Instrumente, die die örtlichen Beteiligten im politischen wie praktischen Umgang mit diesem Phänomen stärken sollen. Die in dieser Publikation vorgestellten Informationen geben die Arbeit wieder, die zwischen 2014 und 2016 im Rahmen des europäischen LI­ AISE-Projektes (Local Institutions AgaInSt Extremism) unter der Feder­ führung von Efus geleistet wurde. An diesem Projekt waren zehn Städte aus sechs verschiedenen Ländern – Augsburg (DE), Brüssel (BE), Düsseldorf (DE), L’Hospitalet (ES), Lüttich (BE), Malmö (SE), Mon­treuil (FR), Reggio Emilia (IT), Sarcelles (FR) und Vilvoorde (BE) – sowie der britische Think-Tank Institute for Strategic Dialogue (UK), der auf das Extremismus-Phänomen spezialisiert ist, sowie der deutsche Bildungsträger ufuq.de beteiligt. Das Belgische Forum für Prä­vention und Urbane Sicherheit und der deutsche Verein Cultures Inter­active nahmen als assoziierte Partner teil. Ziel dieses Projektes war es, ein auf die örtlichen Bedürfnisse zugeschnittenes Schulungsprogramm auszuarbeiten. Die Inhalte und Ergebnisse, die in mehreren Seminaren erarbeitet wurden, werden in dieser Publikation vorgestellt. Die Broschüre ist nach den Themen strukturiert, die im Rahmen des Projek­tes behandelt und von den Partnerstädten als für den lokalen Kontext besonders relevant ausgemacht wurden. Diese Themen, die den verschiedenen Kapiteln der Publikation entsprechen, sind nachstehend aufgelistet:

 Radikalisierung: Verstehen und Erkennen

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

 Entwicklung akteursübergreifender lokaler Strategien  Unterstützung und Stärkung von Familien  Prävention: Sensibilisierung und Förderung von Resilienz  Deradikalisierung und Ausstieg  Gegenerzählungen Diese Kapitel sind wie folgt strukturiert:

 Analyse: In diesem Abschnitt wird das Thema des jeweiligen Kapitels erläutert und verschiedene Möglichkeiten vorgestellt, um mit Radika­ lisierung und gewaltbereitem Extremismus auf lokaler Ebene umzu­ gehen. Der Analyseabschnitt endet mit einer Reihe praktischer Empfehlungen.

 Methoden und Instrumente: Dieser Abschnitt bietet zwei Arten praktischer Einblicke: 1) themenspezifische Fallstudien zur Veran­ schaulichung der lokalen Praxis und 2) diverse Instrumente für die Implementierung der in dem Kapitel vorgestellten Methoden. Beide Aspekte werden in diesem Abschnitt zusammengefasst und kurz vor­ gestellt. Ausführlichere Erläuterungen sind online abrufbar. Daneben sind sechs themenspezifische Videos online verfügbar, die in die Themen und Ideen der Kapitel einführen. Diese audiovisuellen Tools eignen sich zum Beispiel, um das Thema bei einem Schulungsseminar vorzustellen (die Filme sind abrufbar auf www.efus.eu). Besondere hervorzuheben ist die Breite des in dieser Handreichung behandelten Themas. Ausgehend von der Vielfalt der Situationen vor Ort, die im Verlauf des Projektes behandelt wurden, umfasst der in dieser Publikation verwendete Begriff „Radikalisierung, die zu gewaltbereitem Extremismus führt“, alle Formen der Ra­dikalisierung. Dieser Ansatz gilt als unerlässlich, weil sich unterschiedliche Formen der Radikalisierung gegenseitig verstärken können. Mittel- und langfristig verursachen terroristische An­schläge mehr als nur Tod, Zerstörung und wirtschaftlichen Schaden: Sie führen auch zu einer Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft und zu extremen, reaktionären Ansichten in bestimmten Bereichen der Gesellschaft. Dies wiederum schafft den Nährboden für noch mehr Extremis­mus, aus dem ein Teufelskreis von Radikalisierung und

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Gewalt entsteht. Deshalb beschränkt sich die vorliegende Handreichung nicht auf eine einzelne Form der Radikalisierung, die zu einer spezifischen Form des gewaltbereiten Extremismus führt, sondern hat vielmehr das Ziel, alle Formen abzudecken, die dieses Phänomen annehmen kann.

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

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Kapitel I

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Radikalisierung: Verstehen und Erkennen

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Auf der Seite www.efus.eu finden Sie ein Video, das die Kernaussagen dieses Kapitels zusammenfasst Nach heutigem Stand gibt es weder auf akademischer noch auf politischer Ebene eine allgemein gültige Definition oder Einigkeit darüber, was Radikalisierung genau bedeutet. So ist der Begriff selbst umstritten. Dabei trägt die wachsende Angst vor Terrorismus und die umfassende Berichterstattung, die nicht immer auf Fakten und fundierten Analysen gründet, zur Verwirrung bei. Einige Forscher gehen über eine Kritik an der Definition des Begriffes hinaus und stellen die Existenz des Phänomens selbst in Frage. Es handele sich um einen Mythos, der benutzt werde, um neue sicherheitspolitische Forderungen durchzusetzen und neue staatliche Maßnahmen zu legitimieren.2 Dagegen bemühen sich die meisten Forscher und Politiker, die Ursachen und Mechanismen dieses Phänomens, das den öffentlichen Diskurs und die politische Debatte in den nächsten Jahren weiter bestimmen dürfte, besser zu verstehen.

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2- A. Hoskins und B. O’Loughlin, ‘Media and the myth of radicalization’, in Media, War and Conflict 2: 2009


I. Grundlegende Konzepte

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Trotz der Kontroversen über die genaue Definition besteht generell Einigkeit darüber, dass sich Radikalisierung auf einen Prozess bezieht, in dem ein Einzelner oder eine Gruppe extremistisch wird.3 4 Radikalisierung kann somit als Weg zu verschiedenen Formen des Extremismus verstanden werden, darunter rechter, linker, anarchistischer, religiöser, nationalistischer und ökologischer Extremismus usw. Ein solches Verständnis betont den Aspekt der Entwicklung hin zu einem Ergebnis: dem Extremismus. Gerade die Definition dieses „Endpunktes“ der Entwicklung ist allerdings sehr umstritten. Oft wird der Begriff Radikalismus auch verwendet, um das Ergebnis von Radikalisierungsprozessen zu beschreiben: Radikalisierte Individuen werden zu Radikalen. Wörtlich steht der Begriff hingegen für den Wunsch nach einer grundlegenden Veränderung des gesellschaftlichen Status quo, womit grundsätzlich auch fortschrittliche Veränderungen und Erneuerungen gemeint sein können.5 Liberale politische Bewegungen des 18. Jahrhunderts oder sozialistische Bewegungen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert verwendeten den Begriff als Selbstbezeichnung.

3- Manche Wissenschaftler argumentieren, dass Radikalisierung sowohl auf die „staatliche Vorbereitung“ auf Konflikte zutrifft, als auch auf nicht staatliche Akteure. Allerdings konzentriert sich der allgemeine Konsens auf das Letztgenannte, da es eine Herausforderung oder sogar eine Bedrohung für den Staat und seine Bevölkerung darstellt. Diese Publikation konzentriert sich auf diese gängige Verwendung des Begriffs Radikalisierung, die sich auf nicht-staatliche Akteure bezieht. Siehe C. McCauley und S. Moskalenko „Mechanisms of Political Radicalization: Pathways Toward Terrorism“, in Terrorism and Political Violence, 20:3, 2008, S. 416 ff. 4- P. Neumann, „The trouble with radicalization“, in International Affairs, The Royal Institute of International Affairs Band 89, Ausgabe 4, S. 873–893, Juli 2013; Della Porta und G. LaFree, Gastbeitrag: ‘Processes of Radicalization and De-Radicalization’, IJCV, Band 6, Nr. 1, 2012, S.4; C. McCauley und S. Moskalenko (2008) Mechanisms of Political Radicalization: Pathways Toward Terrorism, Terrorism and Political Violence, 20:3, 2008, S. 416; M. Ranstorp, Understanding Violent Radicalization: Terrorist and Jihadist Movements in Europe, Routledge, New York, 2010, S. 19-23; R. Borum, „Radicalization into Violent Extremism II: A Review of Conceptual Models and Empirical Research.“ Journal of Strategic Security 4, Nr. 4, 2011, S. 37-62; F. Khosrokhavar, Radicalisation, Éditions de la Maison des sciences de l'homme, Paris, 5- A. P. Schmid, „Radicalization, De-Radicalization, Counter-Radicalisation: A Conceptual Discussion and Literature Review“, The International Centre for Counter-Terrorism, 2013, S. 12

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Auch Nelson Mandela und Martin Luther King galten als Radikale, die für Freiheiten und Rechte kämpften, die heute zu unseren Grund­ werten gehören. Dagegen beschreibt der Begriff des Extremismus – bei aller Ambivalenz und Mehrdeutigkeit – Ideen, die im direkten Widerspruch zu den Grundwerten einer Gesellschaft stehen und sich durch Intoleranz gegenüber anderen Meinungen auszeichnen.6 Zwei Formen von Extremismus werden gewöhnlich als Folge von Radikalisierungsprozessen ausgemacht: kognitiver und handlungsorientierter Extremismus.7 Kognitiver Extremismus: Hier geht es um Ideen, die in den heutigen liberalen Demokratien im direkten Widerspruch zu den Grundwerten der Gesellschaft stehen. Dazu gehören jegliche Versuche, der Gesell­ schaft die Vorherrschaft einer bestimmten Ideologie oder eines be­ stimmten Glaubens aufzuzwingen, indem demokratische Grundsätze und Menschenrechte verwehrt werden. Handlungsorientierter Extremismus: Dies bezieht sich auf die Mittel und Methoden derje­nigen, die versuchen, ihre Ziele ohne Rücksicht auf das Leben, die Menschenrechte oder die Freiheiten anderer zu erreichen. Für einige Beobachter beschreibt der Begriff Radikalisierung daher einen Prozess, der zu „extremistischen“ Ansichten führt, während andere den Aspekt der Gewaltbereitschaft als mögliches Ergebnis eines solchen Prozesses hervorheben. Als besonders problematisch gilt natürlich der handlungsorientierte Extremismus, da er oft die Anwendung von Gewalt als Mittel zur Umsetzung bestimmter Ideen beinhaltet und somit eine reale Gefahr für eine Gesellschaft und die

6- Roger Scruton legt drei Definitionen für Extremismus vor: „vager Begriff, der folgende Bedeutungen haben kann: 1. krasse Auslegung einer politischen Idee, ungeachtet aller ‚negativen‘ Folgen, Unzweckmäßigkeiten, Argumente und gegenteiligen Gefühle und mit der Absicht, gegnerische Meinungen nicht nur zu konfrontieren, sondern zu eliminieren 2. Intoleranz gegenüber allen anderslautenden Meinungen (siehe Intoleranz) 3. Einsetzen von Mitteln zu politischen Zwecken, die die allgemein anerkannten Verhaltensregeln missachten und insbesondere eine Missachtung für das Leben, die Freiheit und die Menschenrechte anderer zeigen“. Siehe R. Scruton, The Palgrave Macmillan dictionary of political thought, 3. Ausg., Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2007 7- P. Neumann, „The trouble with radicalization“, in International Affairs, The Royal Institute of International Affairs Band 89, Ausgabe 4, S. 873–893, Juli 2013

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Sicherheit ihrer Bürger darstellen kann. Die Folge ist, dass Wissenschaftler und Regierungen oft von „gewalt­ samem Extremismus“ sprechen, wenn sie auf diese Form des Extremismus Bezug nehmen.8 Der Zusammenhang zwischen kognitivem und handlungsorientiertem Extremismus wird kontrovers diskutiert. Während einige Forscher argumentieren, das eine führe zum anderem, bestreiten andere einen solchen Zusammen­hang. Dabei ist klar, dass sich nicht jeder radikale Denker auch radikal verhält. De facto gewährt eine pluralistische, demokratische Gesell­ schaft auf Grund der Meinungsfreiheit ihren Bürgern die Freiheit, auch radikale Ansichten zu vertreten. Wenn aber eine Weltanschauung nicht allein für ein radikales Denken steht, sondern Gewalt zulässt und aktiv extreme Methoden propagiert, um ihre Ziele zu erreichen, ist dies der erste Schritt in Richtung Gewalt und möglicher­weise auch Terrorismus. Vor diesem Hintergrund – und angesichts der Bedrohung, die damit für die Gesellschaft ausgeht – konzentriert sich diese Publikation auf Radikalisierungen, die zu gewaltbereitem Extremismus führen, und die Möglichkeiten präventiver Ansätze.

II. Erklärungsmechanismen und -ebenen: Verstehen des Prozesses

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Wie bereits erläutert, gibt es für Radikalisierung nicht nur eine Theorie. Unterschiedliche Disziplinen bieten unterschiedliche Erklärungen für dieses Phänomen. So ermöglichen uns beispielsweise Soziologie, Psy­ chologie und Psychiatrie, Faktoren auf kollektiver und individueller Ebene zu verstehen, die die Wahrscheinlichkeit einer Radikalisierung erhöhen. Während Politikwissenschaft, Theologie und Philosophie Einblicke in die Logik extremistischer Ansichten ausgehend von politi-

8- Die Begriffe Extremismus und Extremist sind fast immer Exonyme – das heißt, dass sie von anderen für eine Gruppe verwendet werden, die Gruppe selbst sich aber nicht so bezeichnet.

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

schen und identitären Ansprüchen ermöglichen, erläutern Wirt­ schafts- und Rechtswissenschaft den materiellen Kontext, in dem dieser Prozess stattfindet, und die gesetzlichen Rahmenbedingungen, in denen damit umgegangen wird. Doch trotz der Vielzahl an Theorien sehen fast alle akademischen Modelle Radikalisierung als fortschreitenden Prozess, der über einen bestimmten Zeitraum stattfindet. Das bedeutet, dass im Laufe der Zeit verschiedene Stufen und Stadien durchlaufen werden, an denen ver­ schiedene Antriebs- und Erklärungsfaktoren und -dynamiken beteiligt sind. Dies wurde anhand verschiedener akademischer Modelle veranschau­ licht, darunter Moghaddams „Staircase to Terrorism“9, McCauley und Moskalenkos Pyramide10, Barans „Fließband“11 oder das Huq/ NYPD-Modell12. Fathali Moghaddam entwickelte die Metapher einer „Staircase to Ter­ rorism”, also eines Treppenhauses, um den fortschreitenden Charakter der Radikalisierung zu erklären. Dieses Modell stellt fest, dass Einzel­ personen vom Erdgeschoss aus fünf aufeinander folgende Ebenen durchlaufen, bis sie auf der letzten Etage zu Extremisten werden (siehe unten, siehe Abb. 1). Nach diesem Modell kommen immer weniger Menschen in die nächste Ebene, was bedeutet, dass nur eine relativ kleine Zahl die letzte Stufe erreicht: Terrorismus.

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9- F. M. Moghaddam, „The Staircase to Terrorism: A psychological exploration“, in American Psychologist 60 ,2005, S. 161–169. 10- C. McCauley und S. Moskalenko, „Mechanisms of Political Radicalization: Pathways Toward Terrorism“, in Terrorism and Political Violence, 20:3, 2008, S. 415-433 11- Z. Baran, „Fighting the war of ideas“, in Foreign Affairs 84: 6, Nov.–Dez. 2005. 12- M. D. Silber und A. Bhatt, Radicalization in the West: The Homegrown Threat, New York: Police Department, City of New York, NYPD Intelligence Division, 2007.


Abb. 1: Moghaddams Treppenhaus

Fünfter Stock Terrorhandlung und Ausschalten von Hemmschwellen Vierter Stock Verfestigung des Denkens in Kategorien und der vermeintlichen Legitimität einer Terrororganisation

Dritter Stock Moralische Bindung

Zweiter Stock Verlagerung der Aggression

Erster Stock Vermeintliche Möglichkeiten im Kampf gegen Ungerechtigkeit

Erdgeschoß Psychologische Auslegung der materiellen Bedingungen

Quelle: F. M. Moghaddam, „The Staircase to Terrorism: A psychological exploration“ in American Psychologist 60, 2005, S. 161–169

Ähnlich ist die Hypothese von McCauley und Moskalenko mit ihrem Pyramidenmodell, das ebenfalls darauf verweist, dass nur eine kleine Minderheit Radikalisierter tatsächlich zu Terroristen wird.13 Von der 13- Clark McCauley, „Jujitsu Politics: Terrorism and Response to Terrorism“, in Paul R. Kimmel und Chris E. Stout, eds., Collateral Damage: The Psychological Consequences of America’s War on Terrorism, Westport, CT: Praeger, 2006, S. 45–65, und Clark McCauley und Sophia Moskalenko (2008) Mechanisms of Political Radicalization: Pathways Toward Terrorism, Terrorism and Political Violence, 20:3, S. 415-433

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Von der Basis bis zur Spitze entsprechen die höheren Ebenen dieser Pyramide der zunehmenden Radikalisierung von Ansichten, Gefühlen und Ver­haltensweisen. Die Grenzen zwischen den einzelnen Ebenen der Pyramide markieren wichtige Übergangspunkte der Radikalisierung: vom passiven Nichtstun zum aktiven Handeln oder von legalen zu illegalen politischen Handlungen und schließlich zum Begehen von Terrorakten. Dieses Modell weist auch darauf hin, dass nicht jede Person bei ihrer Entwicklung zum Terroristen jede einzelne Ebene nacheinander durchläuft. Abb. 2: Pyramide von McCauley und Moskalenko

Persönliche moralische Verpflichtung

Rechtfertiger

Sympathisanten

Neutral

Quelle: Clark McCauley und Sophia Moskalenko, „Mechanisms of Political Radicalization: Pathways Toward Terrorism“, in Terrorism and Political Violence, 20:3, 2008, S. 415-433

In beiden Modellen ist das Erklimmen der Radikalisierungstreppe oder -pyramide kein automatischer Prozess. Verschiedene psychologische Abläufe, die durch unterschiedliche psychologische Theorien erklärt

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werden, kommen auf jeder Stufe zum Tragen. Damit gibt es nicht nur eine Ursache oder ein Zusammenwirken von Faktoren, die die Ent­wicklung innerhalb der beiden Modelle erklären. Vielmehr besteht eine Wechselwirkung zwischen verschiedenen Faktoren, die sich aus ver­ schiedenen Kontexten und Erklärungsebenen (lokale und globale Ebene) ergeben. Deshalb hat es sich als extrem schwierig erwiesen, ausschlaggebende Faktoren zu bestimmen. Allerdings haben Bemühungen zur Identifikation letzterer zur Entstehung eines „Kaleidoskops der Faktoren“ geführt, die zu einer Radikalisierung beitragen können.14 Dieses Kaleidoskop lässt sich allgemein anhand der geografischen Dimen­sionen erstellen. Manche Wissenschaftler unterscheiden zwischen internen und externen Ebenen15, während andere sich auf drei Erklärungs­ebenen beziehen: Mikro-, Mesound Makroebene.16 Die Unterschiede zwischen diesen drei Erklärungsebenen lassen sich wie folgt erklären:

 Mikroebene: Diese Verständnisebene bezieht sich auf die individu­ elle Ebene und umfasst alle Formen der individuellen Erfahrungen oder Gefühle (tatsächliche oder vermeintliche) wie Entfremdung, Diskriminierung und Demütigung.

 Mesoebene: Diese Ebene betrifft die nähere Umgebung der Personen und die Dynamik in diesem Umfeld.

 Makroebene: Diese Ebene bezieht sich auf ein breiteres Umfeld, das im Wesentlichen mit gesellschaftlichen sowie innen- und außenpolitischen Themen verknüpft ist. Diese Verständnisebenen, ob intern oder extern, Mikro, Meso oder Makro, heben die alles beherrschende Bedeutung von Wut, Unbehagen und Unzu­friedenheit unter diesen Faktoren hervor, ebenso wie die Bedeutung der individuellen Verletzlichkeit und Empfänglichkeit für radikale Meinungen. 14- M. Ranstorp, Understanding Violent Radicalisation: Terrorist and Jihadist Movements in Europe, Routledge, New York, 2010, S. 19-23 15- Ibid. 16- A. P. Schmid, „Radicalisation, De-Radicalisation, Counter-Radicalisation: A Conceptual Discussion and Literature Review“, The International Centre for Counter-Terrorism, 2013, S. 4; M. Sageman, Understanding Terror Networks (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2004, S. 115; S. Malthaner, The Radical Milieu, Bielefeld: Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG), 2010, S. 1; siehe auch S. Malthaner und P. Waldmann (Eds.), Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen, Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2012.

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

III. Prävention von Radikalisierung, die zu gewaltbereitem Extremismus führt

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Die Feststellung, dass Radikalisierung ein Prozess ist, zeigt, dass es umfassenden Spielraum für Prävention gibt, der es der lokalen Ebene und insbesondere den kommunalen Behörden ermöglicht, einen wichtigen Beitrag zum Umgang mit diesem Phänomen zu leisten. Die vorgestellten akademischen Modelle legen nahe, dass es mindestens vier verschiedene Zielgruppen für präventive Maßnahmen gibt (siehe unten, Abb. 3): die Allgemeinheit (grün), Risikogruppen für Radikalisierung (gelb), Menschen, die gerade dabei sind, sich zu radikalisieren (orange), und schließlich diejenigen, die bereits gewalttätige Extremisten sind (rot). Abb. 3: Zielgruppen für Präventionsmaßnahmen

Gewaltbereite Extremisten Personen im Begriff sich zu radikalisieren

Gefährdete Personen

Allgemeinheit

Quelle: Efus17

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17- Dieses Diagramm basiert auf den in diesem Kapitel vorgestellten Modellen und auf Instrumenten, die auf nationaler und lokaler Ebene genutzt werden können. Siehe Abschnitt „Methoden und Instrumente“.


Parallelen lassen sich zu primärer, sekundärer und tertiärer Prävention ziehen. Während die erste auf eine generelle Begrenzung der Risiko­ faktoren abzielt, befasst sich die zweite konkret mit Personen, die bereits durch problematisches Verhalten oder Denken in Erscheinung getreten sind, während die dritte sich darauf konzentriert, Menschen zu ermuti­gen und es ihnen zu ermöglichen, aus dem gewalttätigen Extremismus auszusteigen. Dabei stellt letztere den Ausstieg aus Gewalt und Deradikalisierung sowie die Prävention von Wiederholungstaten in den Vordergrund. Im ersten Fall geht es um die Schaffung von Resilienz (siehe Kapitel 4) gegenüber extremistischen Botschaften und das Bereitstellen von Räumen, in denen der Einzelne seine Interessen und Sorgen äußern und seine persön­ lichen Fähigkeiten und Selbstvertrauen entwickeln kann. Im zweiten Fall geht es um das Wecken von Zweifeln und das Angebot von Hilfestellungen für Personen, die dabei sind, sich zu radikalisieren, dies gilt ebenso für ihre Angehörigen und Freunde. Die dritte Ebene ist eindeutig die Schwierigste, aber auch das Vielversprechendste, wenn es darum geht, diejenigen anzusprechen, die eine extremistische Gruppe verlassen wollen. Wie in den nachstehenden Kapiteln im Detail ausgeführt, können verschiedene Instrumente und Initiativen eine Anleitung dafür bieten, wie Hilfe entwickelt und bereitgestellt werden kann. Eine Schlüsselfrage ist allerdings, an welche Zielgruppen sich primäre und sekundäre Präventionsmaßnahmen richten sollten. Bei dieser Frage handelt es sich um eine der größten Herausforderungen, vor allem weil Radikalisierung nicht auf ein be­stimmtes gesellschaftliches Milieu, einen ethnischen oder religiösen Hintergrund begrenzt ist.18 Deshalb ist das Verstehen des Radikalisierungsprozesses entscheidend. Etliche Bemühungen wurden unter­nommen, um Anzeichen von Radikalisierung zu erkennen und zu beurteilen, in welcher Radikalisierungsstufe sich eine bestimmte Person befindet, um angemessene Maßnahmen anzubieten und zu entscheiden, welche Formen der Annäherung an die betreffende Person am ehesten Erfolg versprechen.

18- F. Vermeulen und F. Bovenkerk, Engaging with Violent Islamic Extremism. Local Policies in Western European Cities, Den Haag 2012; D.H. Heinke, German Jihadists in Syria and Iraq: An Update, ICSR Insight, London 2016

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Ausgehend vom theoretischen Wissen über den Radikalisierungsprozess und von den begleitenden empirischen Anhaltspunkten wurden von den Behörden auf nationaler, aber auch auf lokaler Ebene Indika­ toren entwickelt, um Anzeichen von Radikalisierung zu erkennen (nähere Einzelheiten sind dem Abschnitt Instrumente zu entnehmen). Diese Instrumente können verwendet werden, um das Bewusstsein von Fachkräften zu schärfen und ihnen einen Leitfaden an die Hand zu geben, der ihnen dabei hilft, Einzelpersonen frühzeitig im Radikalisierungsprozess zu erkennen und zu unterstützen. Sie sollen darüber hinaus eine effektive Schulung in diesem Bereich erleichtern. Es ist zu betonen, dass die Auswertung von Warnhinweisen durch ungeschulte Fachkräfte gewisse Risiken bergen kann: So können „falsch positive“ Diagnosen oder Verweisungen entstehen, die sich negativ auf die betroffenen Einzelpersonen und den sozialen Zusammenhalt auswirken oder zu einer Stigmatisierung führen können, und die Möglichkeiten des Eingreifens in echten Fällen einschränken. Vorsicht ist daher in diesem Stadium unerlässlich. Zunächst einmal geht es nicht um vereinzelte Warnhinweise, sondern um das Gesamtbild, das sich aus einer Reihe von Indikatoren ergibt. Ein einziger Indikator allein sagt kaum etwas Konkretes über die potenzielle Radikalisierung einer Person aus. Außerdem entspricht das Bild, das aus diesen Indikatoren entsteht, nicht zwangsläufig der komplexen Lebenswirklichkeit einer Person und beant­wortet nicht unbedingt die Frage, ob sie radikalisiert oder sogar gefähr­lich ist. Indikatoren sind lediglich ein Instrument, mit dessen Hilfe festgestellt werden kann, welche Unterstützung und Hilfe im Einzelfall angeboten werden sollte. Deshalb sollten sie umsichtig eingesetzt und als das verwendet werden, was sie sind: ein Instrument, das ein besseres Verständnis von einer Situation vermitteln soll und beispielsweise dazu dienen kann, Spezialisten oder einem Fachausschuss Einzelfälle zur Kenntnis zu bringen, diese im Detail zu beurteilen und zu entscheiden, was getan werden kann oder soll. Personen, die mit Warnhinweisen als Indikatoren arbeiten, sollten sich auch bewusst sein, dass sich diese verändern können. Extremisten wissen oft, dass bestimmte Hinweise erkannt werden, und bemühen sich, sie nicht zu zeigen, um unbemerkt zu bleiben.

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Methoden und Instrumente

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Bitte besuchen Sie www.efus.eu um die nachstehenden Ressourcen einzusehen.

Methoden Rotterdam – Meld- en Adviespunt Radicalisering (Kontakt- und Beratungsstelle für Radikalisierung) (Niederlande) Die 2011 aufgrund der Erfahrungen des Information Switch­ points (2005) eingerichtete Kontakt- und Beratungsstelle bietet Unter­ stützung für Ehrenamtliche und Fachkräfte bei allgemeinen Fragen in Bezug auf Radikalisierung und bei Einzelfällen.

Bordeaux – Centre d’action et de prévention contre la radicalisation des individus - CAPRI (Präventionsstelle für individuelle Radikalisierung) (Frankreich) Die Präventionsstelle für individuelle Radikalisierung entstand 2016, um die Bürger und mit dem Thema befasste Fachkräfte aus der sozialen Arbeit und der Jugendhilfe zu informieren und zu beraten, sowie um Radikalisierung durch die Analyse extremistischer Äußerungen und Theorien sowie die Förderung von interreligiösem Verständnis vorzubeugen.

Instrumente, Methoden und Indikatoren für die Erkennung und Analyse von Radikalisierung Britisches Präventionstool: Extremist Risk Guidance 22+ (ERG22+) Methode (Großbritannien) Die britische Methode Extremist Risk Guidance 22+ (ERG22+) umfasst 22 Faktoren, die die individuelle Anfälligkeit gegenüber Radikalisie­ rung erläutern. Sie beginnt mit ganz allgemeinen Gefühlen von Ärger

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

und Ungerechtigkeit, Unsicherheit oder Bedrohung, dem Bedürfnis nach Identität, Zugehörigkeit und nach Status sowie nach Erlebnissen und Abenteuern, und beschreibt zunächst 13 Indikatoren für ein erstes En­gagement. Anschließend werden weitere Indikatoren erläutert, die konkrete Absichten (einschließlich einer übermäßigen Identifizierung mit einer Gruppe, „Wir gegen die“-Denken und konkrete extremistische Ziele) und Fähigkeiten aufgezeigt (einschließlich Kenntnisse, Zugang zu Mitteln und krimi­nelle Vergangenheit).

Radikalisierungsindikatoren des französischen Innenministeriums Die französischen Indikatoren für Radikalisierung umfassen Hinweise für starke und schwache Anzeichen eines Bruchs mit der Gesellschaft, persönliches Umfeld, Theorien und Diskurse sowie Methoden und Ge­ fängnisaufenthalte. Diese Indikatoren sollen zur Erkennung und Analyse einer Radikalisierung Einzelner und zur Bestimmung geeigneter Unterstützungsmaßnahmen für sie beitragen. Sie können verwendet werden, um das Bewusstsein unter den beteiligten Fachkräften zu schärfen und sie mit Instrumenten zu versorgen, um betroffene Personen frühzeitig zu erkennen und ihnen zu helfen, aber auch, um effektive Schulungen zum Thema abzuhalten. http://www.interieur.gouv.fr/SG-CIPDR/Prevenir-la-radicalisation/ Prevenir-la-radicalisation/Indicateurs-de-basculement

Zentrum für höhere Studien des Innenministeriums – E-Learning-Plattform für die Prävention von Radikalisierung (Frankreich) Diese Plattform umfasst eine Reihe themenspezifischer Filme, in denen diverse Experten theoretische und praktische Informationen über die Prävention von Radikalisierung vorstellen. Vom Verstehen der Radikalisierung bis hin zur Bestimmung der Rolle der Bürgermeister kann diese Plattform genutzt werden, um das Bewusstsein zu schärfen und Fachkräfte und Lokalpolitiker zu schulen. https://allchemi.eu/blocks/catalog/catalog.php

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Zentrum für die Prävention von Radikalisierung und Gewaltbereitschaft, Montreal (Kanada) - Verhaltensbarometer Dieses Barometer ermöglicht die bessere Beurteilung von Verhaltensweisen in Verbindung mit Radikalisierung und Gewaltbereitschaft. Allerdings sollte es zurückhaltend eingesetzt werden, da die dargestellten Verhaltensweisen weder vollständig noch eindeutig sind. Deshalb ist das Barometer auch nur ein Indikator und sollte nicht zu voreiligen Schlussfolgerungen führen oder anstelle einer gründlicheren Evaluierung durch Experten verwendet werden. https://info-radical.org/en/radicalization/recognizing-violentradicalization/

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

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Kapitel II >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>

Entwicklung akteursübergreifender lokaler Strategien >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Auf der Seite www.efus.eu finden Sie ein Video, das die Kernaussagen dieses Kapitels zusammenfasst. Obwohl Radikalisierung ein transnationales Phänomen ist, gibt es auch ortsspezifische Elemente, wie Unzufriedenheit auf Grund der Lebensbedingungen, Diskriminierung, negativen Einfluss durch Gleichaltrige, Mangel an sozialem Zusammenhalt und Fehlen echter Erfahrungen mit demokratischen Werten und Verfahren. Damit ist Radikalisierung zumindest teilweise ein lokales Problem, das sich u.a. auch im Zerfall von Familien und der Stigmatisierung von Stadtteilen und Gemeinschaften äußert. Die kommunalen Behörden stehen strategisch an vorderster Front, um auf dieses Phänomen zu reagieren, insbesondere aus folgenden Gründen: sie sind der Bevölkerung nahe; sie stehen im direkten Kontakt mit den Bürgern, die sie informieren und unterstützen können; sie leiten die örtlichen öffentlichen Dienste und verwalten Schlüsselinstitutionen in den Bereichen Prävention und Sicherheit. Daher ist es ratsam, dass die kommunalen Behörden ihre Präventionsmaßnahmen in eine breitere lokale Strategie integrieren. Im folgenden Kapitel sind die wichtigsten Grundsätze dargestellt, die bei der Planung, Umsetzung und Beurteilung einer lokalen Strategie zur Prävention von Radikalisierung berücksichtigt werden sollten. Sie umfassen den Bedarf an Fachwissen und evidenzbasierten Interventio-

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nen, die Schlüsselrolle der Lokalpolitiker, die Integration sämtlicher Präventionsebenen, die Entwicklung eines übergreifenden, ganzheitli­ chen Ansatzes durch starke Partnerschaften zwischen einzelnen Dienst­ stellen und die Verwendung einer lokalen Kommunikationsstrategie.

I. Global denken, lokal handeln: „Glokalisierung“ und die Entwicklung lokaler Strategien

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Das Planungsstadium ist in der Entwicklung einer lokalen Strategie zur Prävention von Radikalisierung entscheidend, um klare Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb derer ein effizienter und nachhaltiger Aktionsplan implementiert werden kann. In diesem ersten Stadium können die örtlichen Beteiligten die politische Vision der Stadtverwaltung definieren, die Ziele und Methoden für ihre Erreichung festlegen und das Beurteilungsverfahren und den Kommunikationsrahmen einrichten. Nachstehend sind, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige Leitlinien für umfassende lokale Strategien für die Prävention von Radikalisierung aufgeführt. Die Bedeutung von Belegen und Fachwissen bei der Ausarbeitung von Strategien: Ein evidenzbasierter Ansatz muss jeder politischen Planung und Intervention zugrunde liegen.

 Diagnose: Um bei der Diagnose an die Ursachen von gewaltbereitem Extremismus heranzureichen, sollte zwischen Schutz- und Risikofaktoren (Push- und Pull-Faktoren) unterschieden werden. Zudem ist zu berücksichtigen, wie sich das Phänomen auf lokaler Ebene äußert.

 Analyse: Lokale Akteure und Partner aus verschiedenen Bereichen sollten in die Beurteilung der Lage einbezogen werden, einschließ-

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

lich Polizei und Verfassungsschutzbehörden, städtische Ämter, Fachkräfte, der akademische Sektor und die Zivilgesellschaft. Diese gemeinsamen Bemühungen müssen vom Bürgermeister unterstützt werden, der als Verantwortlicher der lokalen Partnerschaft fungieren und einen übergreifenden Dialog fördern muss.

 Evaluierung: Da sich das Radikalisierungsphänomen, die örtlichen Kapazitäten, Mittel und Prioritäten zwangsläufig mit der Zeit ändern, sollte die Strategie regelmäßig evaluiert und angepasst werden.

 Kompetenzen: Angesichts der Komplexität des Themas sollten die örtlichen Beteiligten ihr Wissen ständig aktualisieren und willens sein, Unterstützung von externen Experten einzuholen und bei Bedarf auch auf wissenschaftliche Expertise zurückgreifen.

Rolle der Lokalpolitiker Obwohl Bürgermeister in verschiedenen Teilen Europas unterschiedliche gesetzliche Zuständigkeiten in Sicherheitsfragen besitzen19, spielen sie gewöhnlich eine Schlüsselrolle dabei, Präventionsprogramme effektiv anzuleiten. Allerdings sind Bürgermeister und ihre Mitarbeiter bei ihren Bemühungen zur Prävention von Radikalisierung mit unterschiedlichen Herausforderungen und Hindernissen konfrontiert, was sich wiederum darauf auswirkt, welche Rolle sie spielen und in welchem Umfang sie zu ihrer Bekämpfung beitragen können. Ihre Beteiligung an örtlichen Präventionsstrategien hat mehrere Vorteile:

 Da sie eng mit der örtlichen Bevölkerung im Kontakt stehen, sind Bürgermeister eher in der Lage, sich deren Sorgen anzuhören, zu sensibilisieren, indem sie Informationen über den lokalen Kontext liefern, die Strategie zu erklären und über die ergriffenen Maßnahmen sowie die den Einwohnern zur Verfügung stehenden Verfahren und Serviceleistungen aufzuklären (Wie geht die Stadtverwaltung mit Problemen um? Wie sind Unterstützungsdienste zu erreichen?).

19- Bürgermeister besitzen in den Niederlanden, Belgien oder Frankreich unterschiedliche Vollmachten; beispielsweise besitzen Bürgermeister in Belgien die gesetzliche Verwaltungshoheit über die örtliche Polizei und sind für die öffentliche Sicherheit verantwortlich; in Frankreich dagegen sind der Staat und der Präfekt jedes Departements für die Sicherheit zuständig.

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 Bürgermeister und ihre gewählten Kollegen (Stadträte, Dezernenten oder Senatoren) können dazu beitragen, Vertrauen zwischen lokalen Einrichtungen und der Bevölkerung zu stärken und eine aktive Bürgerbeteiligung an der politischen Entscheidungsfindung zu fördern, insbesondere indem sie ihr Interesse an lokalen Angelegenheiten betonen.

 Durch Kommunikation mit den Medien und anderen Institutionen (Polizei, Justiz, Geheimdienste, Ministerien usw.) können Lokalpolitiker genaue Informationen über die örtliche Lage, Bedürfnisse und laufende Initiativen übermitteln.

 Die Unterstützung von Präventionsinitiativen durch Lokalpolitiker ist für die Transparenz und Legitimation der Maßnahmen entscheidend.

Implementierung einer ausgewogenen Kriminalpräventionsstrategie Präventionsmaßnahmen müssen unterschiedliche Ebenen und Bereiche der Prävention umfassen und auf spezifische Empfänger abzielen (weitere Einzelheiten am Ende dieses Kapitels):

 Spezifische und allgemeine Präventionsmaßnahmen: Strategien müssen sich mit individuellen Situationen befassen (z.B. soziale Hilfen für Einzelpersonen und ihre Familien), aber auch mit allgemeinen Kategorien (z.B. Maßnahmen, die auf große Bevölkerungsgruppen, Fachkräfte oder Handlungsfelder ausgerichtet sind).

 Ausgewogene Präventionsstrategie: Die zur Verfügung stehenden Mittel sollten nicht ausschließlich auf einen Teilbereich, z. B. die Deradikalisierung, verwendet werden. Auch andere Interventionsbereiche wie die Primärprävention und die Förderung des sozialen Zusammenhalts müssen weiterhin unterstützt und entwickelt werden, weil sie zur Prävention von Radikalisierung beitragen können.

Ein akteursübergreifender und integrierter Ansatz Als lokale politische Koordinatoren sind Bürgermeister strategisch optimal aufgestellt, um die Kooperation zwischen verschiedenen

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Dienststellen zu fördern und sich mit unterschiedlichen Aspekten der Radikalisierung zu befassen. Zu den Schlüsselpartnern gehören unter anderen Polizei, Justiz, Sicherheits- und Geheimdienste, Schulen, örtliche Präventionseinrichtungen, Jugendzentren, Familien, Gemeindezentren, örtliche Gemeinschaften und örtliche Privatunternehmen.

 Es ist wichtig, die vor Ort vorhandenen Ressourcen und Mittel zu nutzen, um Überschneidungen zu vermeiden und sicherzustellen, dass die ergriffenen Maßnahmen kohärent sind.

 Die Zusammenarbeit mehrerer Behörden erfordert eine gute Kommunikation zwischen den Partnern und genau festgelegte Verfahren (wer macht was, wann und wie). Jeder Partner muss sein Vorgehen erklären, damit alle Partner ihre Rolle und die der anderen kennen und verstehen. Ein Vertreter aus jeder Dienststelle sollte für die Sicherstellung und Verbesserung einer an­gemessenen Kommunikation und des Informationsaustausches zwischen den Dienststellen zuständig sein.

 Klare und transparente Informationen über die individuellen Aufgaben der Partner müssen verfügbar sein, um Misstrauen oder Spannungen zwischen den Partnern während der Umsetzung der Initiativen zu vermeiden.

 Der Respekt der Werte und Ethik der Partner ist entscheidend: Berufliche Geheimhaltungspflichten sind ein heikles Thema, das aber eine Zusammenarbeit nicht verhindern sollte. Meist bieten die gesetzlichen Bestimmungen Möglichkeiten, vertrauliche Informationen bei Bedarf weiterzugeben, ohne die Fachkräfte oder die Begünstigten der Maßnahmen zu gefährden.

Kommunikationsstrategie Gewaltbereiter Extremismus ist ein heikles und komplexes Phänomen. Eine angemessene und gut vorbereitete institutionelle Kommunikationsstrategie ist wichtig, um Misstrauen, Missverständnisse oder das Verbreiten gefährlicher feindseliger Botschaften zu vermeiden, die den sozialen Zusammenhalt beschädigen können.

 Information der Öffentlichkeit: Die örtliche Bevölkerung muss über den Ansatz der Stadtverwaltung gegen Radikalisierung informiert

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werden, um Vertrauen und Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit zu schaffen und aufrecht zu erhalten. Angesichts des sensiblen Charakters der Strategie und der Probleme, mit der sie sich befasst, ist eine offene Kommunikation besonders wichtig. Die Kommunikationsstrategie muss sich auch mit den Sorgen der Menschen befassen, die den Schutz der Privatsphäre und die Meinungsfreiheit ebenso be­ treffen wie eine mögliche Stigmatisierung bestimmter Gruppen.

 Interne Kommunikationsstrategie: Die städtischen Dienststellen müssen gut informiert sein, um die Verfahren angemessen durchführen und die Strategie umzusetzen zu können.

 Die örtlichen Behörden müssen Verfahren für den Umgang mit den Medien entwickeln, vor allem nach unerwarteten Ereignissen. Die Möglichkeit, auf unerwartete Ereignisse zu reagieren, von extremistischen Demonstrationen bis hin zu terroristischen Angriffen, muss in der Kommunikationsstrategie enthalten sein. Die örtlichen Behörden sollten sicherstellen, dass Antworten kurzfristig erfolgen, damit die Bevölkerung informiert und in ihrem Sicherheitsbedürfnis gestärkt ist, der Informations­fluss kontrolliert bleibt und Extremisten daran gehindert werden, die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen.

 Die örtliche Kommunikationsstrategie sollte im Einklang mit der Kom­ munikationspolitik regionaler, nationaler und internationaler Behörden entwickelt werden, um die Kohärenz der Informationen sicherzustellen, die über diese drei politischen Ebenen verbreitet werden.

II. Maßnahmen auf lokaler Ebene

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Für Radikalisierung gibt es vielfältige Faktoren auf Mikro-, Meso- und Makroebene. Die örtlichen Behörden können auf den Mikro- und Mesoebenen ansetzen (Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft, örtliches Umfeld) und verschiedene Präventionsmaßnahmen umsetzen.20 20-Siehe Brantinham und Fausts’ Unterscheidung zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention in P.J. Brantingham und F.L. Faust, „A Conceptual Model of Crime Prevention“, in Crime and Delinquency, Juli 1976 22, S. 284-296

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Das nachstehende Spektrum an Maßnahmen und Aktionen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und hängt vom örtlichen Kontext und den dortigen Ressourcen ab.

Primäre oder universelle Prävention (Allgemeinheit): Informationskontaktstellen; frühzeitige Präventionsprogramme (zur Verbesserung der individuellen und kollektiven Resilienz); Bildungsprogramme zur Förderung von kritischem Denken, Demokratieverständnis, sozialem Zusammenhalt und interkulturellem Austausch; Investitionen in soziale Lebensbedingungen (Wohnraum, kollektive Infrastrukturen und Modernisierung von Stadtvierteln). Sekundäre oder selektive Prävention (gefährdete Einzelpersonen) Individuelle und kollektive soziale Präventionsprogramme (Förderung von Resilienz und sozialer Integration); Unterstützung von Familien (Peer-to-Peer-Netzwerke, rechtliche und psychosoziale Unterstützung und Beratung); interkulturelle Mediation in Stadtvierteln; Mentoring. Tertiäre oder indizierte Prävention (Extremisten) Deradikalisierung und Ausstiegsprogramme ausgerichtet auf soziale Wiedereingliederung: Fallmanagement, intensive Beobachtung Einzelner.

Ehemalige radikalisierte Personen können eventuell an diesen Präventionsprogrammen mitwirken, vor allem bei sekundären und tertiären Präventionsinitiativen. Sie können ihre Erfahrung einbringen und sich als glaubwürdige Akteure an Deradikalisierungs- und Gegenerzählungsmaßnahmen beteiligen.21 Neben der sozialen Präventionsstrategie sind die kommunalen Behörden auch für die Reaktionen auf unerwartete Ereignisse wie Terroranschläge verantwortlich. Obwohl die nationalen Stellen normalerweise für solche 21- Die Behörden müssen sicherstellen, dass Einzelpersonen angemessen geschult werden, bevor sie zur Mitwirkung an Deradikalisierungs- und Ausstiegsprojekten aufgefordert werden. Die Geheimdienste können bei der Erkennung, Prüfung und Auswahl früherer Extremisten mithelfen, die für solche Aufgaben geeignet sind.

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Ereignisse zuständig sind, können auch lokale Instanzen darauf reagieren und die örtliche Lage über verschiedene Dienststellen regulieren, für die sie verantwortlich sind. Lokale Notfallpläne müssen deshalb regelmäßig aktualisiert werden, um sicherzustellen, dass die Behörden in der Lage sind, rasch und angemessen auf diese Ereignisse zu reagieren.

III. Empfehlungen

>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Die nachstehenden Empfehlungen beziehen sich auf die vorgenannten Strategien und Maßnahmen:

 Strategien sollten nicht übereilt ausgearbeitet werden, selbst wenn seitens der Medien oder Partner Druck ausgeübt wird; eine solide, nachhaltige Strategie ist besser als ein „Schnellschuss“, der auf lokaler Ebene nicht nachhaltig ist. Daher ist es wichtig, zunächst die zuständigen Dienststellen, Familien und Beteiligte anzuhören, um die Situation zu analysieren und dann strategisch angemessen zu handeln.

 Sicherheit geht alle an und die Kooperation der Zivilgesellschaft ist für Prävention entscheidend. Die Vertreter der verschiedenen lokalen Bevölkerungsgruppen können mithelfen, indem sie Informationen anbieten und austauschen und zur örtlichen Lagebeurteilung und Umsetzung von Maßnahmen beitragen.

 Die Einhaltung der beruflichen Geheimhaltungs- und Schweigepflichten muss stets garantiert werden. Sie ist eine gesetzliche Verpflichtung und ein Schutz für die Begünstigten der Maßnahmen. In den meisten Fällen können akteursübergreifende Ansätze durchgeführt werden, ohne dass dafür gesetzliche Bestimmungen geändert werden müssten. Die Leitlinien, Verfahren und Regeln, die die Vertraulichkeit sozialer Arbeit sicherstellen, müssen klargestellt werden, anstatt nach Gesetzesänderungen zu verlangen.

 Es muss sichergestellt sein, dass genug Zeit für die Evaluierung der politischen Verfahren eingeplant wird. Diese Phase wird auf Grund von Zeitmangel und/oder unzureichenden Mitteln oft vergessen.

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

 Eine transparente interne Kommunikation ist entscheidend, um eine gute Kooperation zwischen den kommunalen Dienststellen sicherzustellen und um Gerüchte, Missverständnisse und eine Polarisierung der öffentlichen Meinung zu vermeiden.

Methoden und Instrumente

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Bitte besuchen Sie www.efus.eu, um die nachstehenden Ressourcen einzusehen

Methoden Cellule PRE-RAD - Brüsseler Stelle für die Prävention von Radikalisierung (Belgien) Die Brüsseler Stelle für die Prävention von Radikalisierung arbeitet auf den drei traditionellen Präventionsebenen: primär, sekundär und tertiär. Je nach Präventionsebene können die Maßnahmen auf eine oder mehrere Gruppen konzentriert werden. Diese Stelle basiert auf der Kooperation zwischen verschiedenen kommunalen und nationalen Dienststellen.

Lütticher Lokalstrategie für die Prävention von Radikalisierung (Belgien) Diese Strategie verfolgt einen übergreifenden lokalen und kooperativen Ansatz (Stadtverwaltung, Jugendarbeit, soziale Dienste, Schulen und Polizei) und arbeitet auf allen drei Präventionsebenen: erzieherische Maßnahmen für junge Menschen, positive Kommunikation mit der Bevölkerung und individuelle psychologische Interventionen. Verschiedene nationale und kommunale Dienststellen sind an dieser Strategie beteiligt.

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Augsburger Netzwerk für die Prävention von Salafismus (Deutschland) Dieses Netzwerk wurde 2016 geschaffen, um das Bewusstsein für Radikalisierung bei allen Beteiligten zu schärfen und durch Information und Wissensverbreitung zur Prävention von Radikalisierung beizutragen. Das Netzwerk basiert auf der Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung städtischer Dienststellen und spezialisierter NGOs. Die Strategie umfasst auch Maßnahmen der Deradikalisierung.

Key Figures, Amsterdam (Niederlande) Die Stadt Amsterdam entwickelte ihr Key Figures-Programm, an dem über 200 junge Erwachsene mitwirken, um örtlichen Gemeinschaften dabei zu helfen, Spannungen an der Basis zu erkennen und zu entschärfen. Durch dieses Programm werden erste Anzeichen einer Radikalisierung auf lokaler Ebene akkurat erkannt, was ein besseres Verständnis des lokalen Kontextes ermöglicht.

Instrumente Rolle der lokalen Behörden bei den nationalen Strategien für die Bekämpfung von Radikalisierung, Efus In den letzten Jahren wurden europaweit nationale Strategien zum Umgang mit Radikalisierung geplant und umgesetzt. Das Efus-Memo „Die Rolle der kommunalen Behörden in nationalen Strategien zur Bekämpfung von Radikalisierung“ stellt die nationalen Strategien von neun europäischen Ländern vor, die kommunale Behörden in die geplanten Maßnahmen einbeziehen. Das Dokument fasst die wichtigsten Punkte dieser nationalen Ansätze und Maßnahmen zusammen. https://efus.eu/topics/risks-forms-of-crime/radicalisation/efus/11551/

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Lokale Behörden in europäischen und internationalen Leitfäden zur Bekämpfung von Radikalisierung, Efus Mehrere internationale und europäische Leitfäden, die von internationalen Organisationen herausgegeben wurden, haben sich mit der Rolle der europäischen Lokalbehörden im Kampf gegen Radikalisierung befasst. Dieser Artikel stellt den umfassenden Ansatz vor, der von diesen Organisationen im Umgang mit Radikalisierung empfohlen wird und der die lokalen Behörden einbezieht. https://efus.eu/topics/risks-forms-of-crime/radicalisation/efus/11551/

Terrorismus und Radikalisierung (TerRa) Toolkit Dieses Toolkit schlägt einen gemeinschaftsbasierten Ansatz als Ausgangspunkt vor. In erster Linie sollen damit bestehende oder neue Netzwerke aus Lehrern, Sozialarbeitern, Vertretern der Strafverfolgungsbehörden, religiösen Führern sowie Politikern der kommunalen und nationalen Ebenen bei ihrem Informationsaustausch über junge Menschen oder Menschen aus Problemvierteln unterstützt werden. Außerdem werden Journalisten und Politiker über ihren Einfluss auf die Hintergründe von Radikalisierungen aufgeklärt. Das Toolkit ist auf Englisch und Holländisch erhältlich. http://terratoolkit.eu/

Strong Cities Network Das Strong Cities Network (SCN) ist das erste globale Netzwerk von Bür­ germeistern, politischen Entscheidungsträgern auf städtischer Ebene und Fachkräften, das auf die Förderung von sozialem Zusammenhalt und Resilienz der Gemeinschaften gegenüber gewaltbereitem Extremismus abzielt. Unter Leitung des Institute for Strategic Dialogue stellt das SCN eine globale Plattform für die Unterstützung von Städten bei der Entwicklung effektiver Rahmenbedingungen für den Kampf gegen Extremismus und Praktiken bereit und erleichtert dadurch gegenseitiges Lernen und den Austausch über Best Practices zwischen Städten zur Prävention von gewaltbereitem Extremismus. http://strongcitiesnetwork.org/

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Alliance of European Cities against Extremism Die Initiative Alliance of European Cities against Extremism (Bündnis europäischer Städte gegen gewaltbereiten Extremismus) bietet eine Plattform, um den Austausch zwischen Städten auf der politischen und technischen Ebene zu erleichtern und die Gemeinden und Regionen Europas zur Prävention von Radikalisierung, welche zu gewaltbereitem Extremismus führt, anzuregen. In diesem Rahmen bietet sie ein europäisches Forum für den Informationsaustausch über vielversprechende Methoden, Programme und Instrumente für die Prävention von Radikalisierung. Geleitet wird diese Initiative durch den Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates und das Europäische Forum für Urbane Sicherheit (Efus). http://citiesagainstextremism.eu/

Prevent, Kommunikationsleitfaden (GB) Dieser von der Forschungs-, Informations- und Kommunikationsstelle (Research, Information and Communications Unit, RICU) der britischen Regierung entwickelte Kommunikationsleitfaden soll Städten und Gemeinden dabei helfen, die lokale Gemeinschaft über ihre Strategie und Initiativen zur Bekämpfung von Extremismus effektiv und transparent aufzuklären. http://www.wlga.gov.uk/publications-equalities-and-social-justice/ ricu-prevent-a-communications-guide.

Methoden und Instrumente für einen strategischen Ansatz zur urbanen Sicherheit, Efus Ziel dieses Leitfadens ist es, europäischen Lokalpolitikern und Fachkräften bei der Ausarbeitung und Überprüfung ihrer Sicherheitspolitik mit zuverlässigen, vor Ort erfassten Informationen und Daten zu helfen. Er enthält einen Überblick über die den örtlichen Akteuren zur Verfügung stehenden Methoden und Instrumente und stellt eine Analyse der Erfahrungen und Methoden verschiedener Länder vor. http://efus.eu/en/resources/publications/efus/11191/

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

RAN Local Radicalisation Awareness Network Die Arbeitsgruppe RAN LOCAL bringt die für die Koordination der Fachkräfte und für die Organisation der behördlichen Zusammenarbeit und Strukturen zuständigen örtlichen Behörden zusammen. In diesem Rahmen erfasst und vergleicht RAN LOCAL verschiedene bestehende Modelle für die Organisation lokaler Präventionsansätze und macht sie bekannt. http://goog.gl/CZCdGZ

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Kapitel III >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>

Unterstützung und Stärkung von Familien >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Auf der Seite www.efus.eu finden Sie ein Video, das die Kernaussagen dieses Kapitels zusammenfasst. In den 1990er Jahren wurde in der Fachdebatte zur Kriminalprävention deutlich,22 dass Familien eine Schlüsselrolle im Umgang mit den Risikofaktoren spielen können, die zur Beteiligung von Individuen an Verbrechen führen. Ausgehend von dieser Erkenntnis wurden von den Behörden in den letzten Jahrzehnten zahlreiche familienorientierte Kriminalpräventionsprogramme entwickelt. In ähnlicher Weise erkennen politische Entscheidungsträger und aktuelle Forschungsarbeiten die Schlüsselrolle der Familie bei der Prävention von Radikalisierung zunehmend an. Angehörigen und Familienmitglieder erkennen meist als erste die frühzeitigen Warnsignale einer Radikalisierung und sind mit ihrer persönlichen Nähe und emotionalen Bindung wichtige Akteure, um radikalisierten Personen Unterstützung anzubieten. Deshalb gelten Familien als Akteure, die Hilfe und Unterstützung benötigen. Begriffe wie „Familienhilfe“ oder „Familienförderung“ werden daher häufig auch dazu verwendet, um auf die Unterstützung für Familien und insbesondere Eltern Bezug zu nehmen und ihnen beim Umgang mit der Radikalisierung ihrer Angehörigen zu helfen.

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22- L. W. Sherman, „Family Based Crime prevention“, in Preventing crime: what works, what doesn’t, what’s promising, Kapitel 4, National Institute of Justice, 1998


Aber obwohl Familien23 in gewisser Weise auch Opfer der Radikalisierung sind und deshalb Unterstützung und Beratung benötigen, um mit der Radikalisierung naher Verwandter zurecht zu kommen, sollten sie auch als einflussreiche Akteure gesehen werden, deren Wissen und Erfahrung im Rahmen von Präventionsaktionen genutzt werden können. Daher sollten Familien nicht nur als passive Akteure betrachtet werden, die Hilfe und Unterstützung benötigen, sondern auch als aktive Beteiligte, die den Schlüssel zu wertvollen Informationen und Ressourcen besitzen und deren Mitwirkung an Präventionsaktionen äußerst wertvoll sein kann.

I. Stufen und Formen der Unterstützung und Stärkung von Familien

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Bei der Unterstützung und Stärkung von Familien ist zu bedenken, dass jede von ihnen mit einem anderen Szenario konfrontiert ist, je nach Radikalisierungsgrad und -grund ihrer Angehörigen. Im Allgemeinen gibt es drei Szenarien, mit denen Familien konfrontiert sind:

Keinerlei Anzeichen einer Radikalisierung  Gefährdete Personen, die erste Anzeichen einer Radikalisierung zeigen (frühe Stadien)

 Bereits radikalisierte oder an gewaltbereiten extremistischen Gruppen beteiligte Personen Jedes Stadium erfordert unterschiedliche Angebote, die zu unterschiedlichen Formen und Graden der familiären Einbeziehung führen können. Die verschiedenen Arten der familiären Einbeziehung und/oder Mitwirkungsmöglichkeiten entsprechen den drei Ebenen der Kriminalprävention – primär, sekundär und tertiär – sowie den beiden Hauptdimensionen des Handelns: allgemein (primäre/universelle Prävention) und gezielt (sekundäre/selektive und tertiäre/indizierte Prävention). 23- Der Begriff „Familie“, der normalerweise auf Eltern Bezug nimmt, kann auch andere Familienmitglieder wie Geschwister, Cousins und Großeltern umfassen.

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Primäre (universelle) Prävention: keine Anzeichen einer Radikalisierung Familien sollten in frühzeitige Präventionsmaßnahmen einbezogen werden, wenn noch keine Anzeichen einer Radikalisierung festzustellen sind. In diesem Sinne können alle Familien von dieser Art von Maßnahmen profitieren, ungeachtet eventueller Radikalisierungsanzeichen.

Schärfung des Bewusstseins in Bezug auf Radikalisierung Familien müssen über Radikalisierung informiert und sich ihrer bewusst sein. Dies kann durch die Nutzung unterschiedlicher Kommunikationskanäle erreicht werden, um sie mit zuverlässigen Informationen über ein Phänomen zu versorgen, das häufig mit Missverständnissen und ungenauen Informationen einhergeht (oft als Ergebnis subjektiver Berichterstattung in den Medien). Dies kann durch Aufklärungskampagnen oder durch Begegnungen in örtlichen Schulen oder Stadtvierteln erfolgen.

 Kommunikationskampagnen können besonders nützlich sein, um das Bewusstsein in den Familien zu schärfen. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die Frage, wie das Thema dargestellt wird und wie die Botschaften vermittelt werden. Sie sollten auf einem verantwortungsvollen und ausgewogenen Ansatz basieren, um das Hervorrufen unbeabsichtigter negativer Folgen wie Ängsten oder Unsicherheiten zu vermeiden.

 Treffen in Stadtvierteln/Schulen: Begegnungen zwischen Familien und örtlichen Behörden bzw. NGOs sind eine gute Gelegenheit, um über das Thema Radikalisierung zu sprechen, über das zwar oft in den Medien diskutiert wird, aber weniger zwischen den Menschen in den betroffenen Gemeinden. Dabei sollte die Darstellung des Phänomens bei diesen Begegnungen auf einem verantwortungsbewussten, ausgewogenen Ansatz basieren.

Kommunikation über Unterstützungsmöglichkeiten Die örtlichen Behörden müssen die Bürger auf die bestehenden

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Angebote aufmerksam machen, die Unterstützung für Familien bieten. Unabhängig davon, ob diese Angebote durch NGOs oder die Gemeinde gemacht werden, sollten Informationen darüber vorgelegt werden, wie sie erreichbar sind.

Sekundäre (selektive) Prävention: Gefährdete Personen und frühe Anzeichen einer Radikalisierung Familien erkennen für gewöhnlich als erste besorgniserregende Anzeichen einer Radikalisierung bei ihren Angehörigen, wissen aber oft nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Die örtlichen Behörden sollten daher sicherstellen, dass bestehende oder neue Ad-hoc-Dienststellen Familien mit zuverlässigem Fachwissen und Kenntnissen versorgen, um mit ihren Sorgen umzugehen. Die wichtigsten Empfänger der nachstehend aufgeführten Initiativen sind Familien, die von möglichen Radikalisierungsfällen betroffen sind.

Familienberatung (einzeln oder in Gruppen) Familienberatung kann unterschiedliche Formen annehmen und auf spezifische Bedürfnisse abzielen. Familien benötigen möglicherweise spezifische Informationen in Bezug auf Verhaltensänderungen eines Angehörigen oder auch rechtliche Informationen in Bezug auf Justizverfahren, die möglicherweise auf sie zukommen könnten (z.B. wenn ein Verwandter in ein Konfliktgebiet reisen möchte). Diese Interventio­ nen können auf individueller oder kollektiver Ebene organisiert werden. Diesbezüglich haben manche Städte Begegnungen zwischen betroffenen Familien organisiert, manchmal über Elternnetzwerke.

 Familiennetzwerke: Eltern brauchen einen sicheren Raum, in dem sie sich über ihre Erfahrungen austauschen und Erkenntnisse von anderen Eltern hören können, die vielleicht mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind. Die Überwindung der Mauer des Schweigens und des Stigmas, das auf vielen Eltern lastet, ist entscheidend, um sich mit der Radikalisierungsbedrohung zu befassen. Gruppen und Netzwerke von Betroffenen sind daher gerade bei der Arbeit mit Familien besonders wichtig.

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Stärkung der Familien Familien sollten mit dem Selbstvertrauen und den Fähigkeiten ausgestattet werden, ihre Kinder effektiv vor gewaltbereiten extremistischen Ideologien und Anwerbern zu schützen. Diese Stärkung kann unterschiedliche Formen annehmen. Dazu gehören beispielsweise Schulungsseminare für Familien.

 Schulungen: Familien können darin geschult werden, frühzeitig Warnsignale einer Radikalisierung bei Angehörigen zu erkennen und darauf zu reagieren. Sie können auch darin geschult werden, sich an kritischen Diskussionen und interaktiven Übungen zu beteiligen, die sich auf kindliche Entwicklung, Heranwachsende, elterliche Dynamik und Kommunikation konzentrieren und die Standfestigkeit von Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften stärken.

Tertiäre (indizierte) Prävention: Bereits radikalisierte/an gewaltbereiten extremistischen Gruppen/Aktivitäten beteiligte Personen Familien können auch mit radikalisierten extremistischen Personen konfrontiert sein, die möglicherweise an Gewalttaten beteiligt oder aus einem Konfliktgebiet zurückgekehrt sind, nachdem sie sich an terroris­ tischen Aktivitäten beteiligt haben. Die wichtigsten Empfänger der nachstehend erläuterten Initiativen sind Familien, deren Angehörige bereits radikalisiert oder an gewalttätigen extremistischen Gruppen/ Aktivitäten beteiligt sind.

 Deradikalisierung und Ausstieg: Familien können in die Arbeit mit Personen einbezogen werden, die sich deradikalisieren oder aus gewaltbereiten extremistischen Umfeldern oder Ideologien zurückziehen wollen. Familien haben sich als einflussreiche Akteure erwiesen, wenn es um die soziale Wiedereingliederung radikalisierter Personen, die aus extremistischen Gruppen/Aktivitäten aussteigen wollen, und um die Prävention von Rückfälligkeit geht. Emotionale Bindungen spielen bei solchen Initiativen eine Schlüsselrolle, da sie langfristigere Ergebnisse besser sicherstellen können als Programme, an denen lediglich Fachkräfte beteiligt sind.

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 Familienberatung: Wenn sie mit radikalisierten Angehörigen oder Rückkehrern konfrontiert sind, benötigen Familien Unterstützung. Insbesondere brauchen sie Hilfe bei verwaltungsrechtlichen Verfahren wegen Strafmaßnahmen, beispielsweise im Zusammenhang mit den rechtlichen Folgen der Rückkehr eines Angehörigen aus einem Konfliktgebiet, wo er an terroristischen Grup­pierungen/Aktivitäten beteiligt war. Sie kann ferner psychologische Unterstützung für Familien nach Gewalttaten durch einen Angehörigen umfassen.

II. Kontaktaufnahme mit Familien

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Eine der größten Herausforderungen für Städte und Gemeinden bei der Zusammenarbeit mit Familien ist die Kontaktaufnahme und die Frage, wie man Angehörige motivieren kann, die verfügbaren Unterstützungsangebote zu nutzen. Deshalb ist es entscheidend sicherzustellen, dass die vorstehend vorgestellten Kommunikationskanäle, über die Familien Hilfe suchen und zu Angeboten Zugang erhalten können, aufrechterhalten werden. Es gibt unterschiedliche Arten von Unterstützungsdiensten:

 Telefonische Anlaufstellen: Diese Rufnummern sollen Anrufern in erster Linie Unterstützung und Orientierungshilfen bieten. Im Gegensatz zu einer „Hotline“, bei der verdächtige Aktivitäten gemeldet werden können, sollen diese Anlaufstellen spezifische Hilfestellungen und Informationen bieten.

 Kontakt- und Beratungsstellen: Zusätzlich zu den telefonischen Anlaufstellen können Familien auch an eine Beratungsstelle verwiesen werden, über die sie von erfahrenen, versierten Fachkräften Unterstützung erhalten.

 Soziale Arbeit/Gemeindearbeit: Vertreter der lokalen Sozial- und Gemeindearbeit (Mediatoren, Gemeindevertreter, Sozialarbeiter) genießen eine gewisse Akzeptanz und Respekt in den Gemeinschaften und sind für die Familien leicht erreichbar. Sie können auch In-

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

formationen über be­ stehende Unterstützungsdienste bekannt machen. Sie haben normalerweise einen guten Einblick in die soziale Dynamik bestimmter Stadtviertel, so dass sie Familien eher erkennen, die von Radikalisierung betroffen sein können, aber nicht unbedingt Hilfe suchen.

 Familiennetzwerke: Begegnungen zwischen Familien können ein gutes Instrument sein, um Kontakte zu knüpfen. Diese Begegnungen stellen einen sicheren Raum für sie dar, vor allem weil sie dort von Menschen umgeben sind, die mit dem gleichen Problem konfrontiert sind, was ihnen ein Gefühl der Solidarität vermittelt.

 Schulen: Bildungsstrukturen sind strategische Kanäle, über die Familien kontaktiert werden können, vor allem, um ihr Bewusstsein zu schärfen. Die meisten Lehrer haben bereits Verbindungen zu den Eltern und können ihnen dadurch Informationen und Ratschläge zu den verfügbaren Diensten weitergeben. Die vorstehend genannten Kontaktmöglichkeiten und Initiativen können von örtlichen Behörden oder NGOs unterhalten werden. Die Entscheidung, wer diese Dienste betreibt und damit auch die erste Kontaktaufnahme mit den Familien durchführt, ist ein ausschlaggebender Erfolgsfaktor. Ob eine Familie dazu bereit ist, mit den Behörden zu kooperieren, hängt oft auch davon ab, wer wie mit ihr Kontakt aufnimmt. Viele Familien lehnen den Kontakt mit offiziellen Institutio­ nen aus Furcht vor Stigmatisierung oder rechtlichen Folgen für ihre Angehörigen oder auch auf Grund von Sprachbarrieren ab. Deshalb ist es wichtig, dass sie sich bei ihrem Ansprechpartner sicher fühlen und dass zwischen beiden Seiten eine Vertrauensbeziehung aufgebaut wird. Manche Städte entscheiden sich dafür, diese Aufgabe NGOs oder Vereinen zu überlassen, während andere sie bei offiziellen örtlichen Dienststellen ansiedeln.

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III. Empfehlungen

>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Begegnungen und Zusammenarbeit mit Familien

 Das freiwillige Engagement der Familien ist für alle vorstehend erläuterten Initiativen entscheidend.

 Es sollte nicht vergessen werden, dass Familien zwar Teil der Lösung sein können, dass sie manchmal aber auch Teil des Problems sind und selbst als Radikalisierungsfaktoren wirken und deshalb auch entsprechend behandelt werden müssen.

 Die an diesem Prozess beteiligten Fachkräfte müssen geschult werden.

 Die Anwesenheit eines Psychologen bei den Treffen ist wichtig, da viele Familien Angst vor Stigmatisierung oder davor haben, darüber zu sprechen, was im häuslichen Umfeld vor sich geht.

 Familien muss fortwährend zugesichert werden, dass die Helfer an eine berufliche respektieren.

Schweigepflicht

gebunden

sind

und

diese

 Gegenüber den Familien muss Vertrauen aufgebaut werden. Diesbezüglich ist zu bedenken, dass das Anfertigen von Notizen während der Treffen das Vertrauen beeinträchtigen kann.

 Familien sollten von Konfrontationen mit ihren Angehörigen abgehalten werden, wenn sie über das Thema sprechen.

Ansatz und Organisation

 Die an der Unterstützung der Familien mitwirkenden Akteure müssen die Sicherheits-/Informationseinschränkungen verstehen und akzeptieren und innerhalb ihrer Grenzen handeln.

 Die Beurteilung ist in diesem Prozess ein Schlüsselinstrument. Beispielsweise ist die Gefährdungsbeurteilung mancher Personen oder auch Familien während des Prozesses entscheidend.

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Kommunikation und Information

 Das Bewusstsein muss ohne Stigmatisierung geschärft und durch einen umfassenden Ansatz zur Unterstützung der Familien ergänzt werden.

 Örtliche Behörden/NGOs müssen in der Lage sein, mit den Familien zu kommunizieren und Vertrauen aufzubauen, damit sich betroffene Familien vertrauensvoll an sie wenden. Diesbezüglich ist es auch wichtig, zuverlässige, spezialisierte und verfügbare Strukturen zu schaffen.

 Die Kommunikation sollte dabei helfen, bestehende Programme und Alternativen (soft initiatives) zu identifizieren, die einzelnen Personen (z.B. Rückkehrern) angeboten werden können.

 Jede Aktivität (ob Begegnungen, Beratung oder telefonische Anlaufstelle) muss den Familien als Instrument vorgestellt werden, das ihnen helfen kann, sie aber nicht stigmatisieren soll. Dadurch wird sichergestellt, dass die Interventionen in puncto Vertrauen und Effizienz von den Familien positiv gewertet werden. Ein positives Image verschafft der Initiative Sichtbarkeit in den betroffenen Gemeinschaften und kann andere dazu veranlassen, um Hilfe zu bitten, beispielsweise ausländische Kämpfer, die Hilfe bei einem Unterstützungsprogramm suchen (je nach Land).

 Die Verantwortlichen der Unterstützungsdienste sollten versuchen sicherzustellen, dass ihre Angebote in Internet-Suchergebnissen auffindbar sind.

Kontaktmöglichkeiten

 Telefonische Beratungsstellen sollten täglich rund um die Uhr gebührenfrei und in mehreren Sprachen erreichbar sein; sie sollten die Anonymität der Anrufer und einen ethischen Kodex gewährleisten.

 Die beteiligten Mitarbeiter müssen in den psychologischen, rechtlichen und geopolitischen Aspekten von Radikalisierungsphänomenen geschult werden.

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Methoden und Instrumente

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Bitte besuchen Sie www.efus.eu, um die nachstehenden Ressourcen einzusehen:

Methoden Behördenübergreifende Strategie Familien, Antwerpen (Belgien)

zur

Unterstützung

von

Seit 2012 setzt die Stadt Antwerpen auf eine lokale Präventionsstrategie, die sich mit lokalen Radikalisierungen befasst. Es gibt Initiativen auf unterschiedlichen Ebenen (individuell und kollektiv). Die Zusammenarbeit mit den Familien ist ein Schlüsselaspekt dieser Strategie, vor allem bei Wiedereingliederungsprogrammen.

Consultation team, Malmö (Schweden) Die Stadtverwaltung Malmö unterhält eine Helpline, an die sich Familien und andere wenden können, wenn sie sich über gewaltbereiten Extremismus bei einer ihnen nahe stehenden Person Sorgen machen. Bei der Konsultation wird jeder einzelne Fall analysiert und über das am besten geeignete Vorgehen entschieden. Diese Struktur kooperiert mit NGOs und staatlichen Dienststellen.

Samenwerkingsverband van Marokkaanse Nederlanders – SMN (Organisation der Marokkaner in den Niederlanden) (Niederlande) 2014 richtete diese Organisation eine Helpline ein, um zur Prävention von Radikalisierung beizutragen. Die Organisation hält es für wichtig, dass die marokkanische Gemeinschaft ihre eigene Resilienz gegenüber Radikalisierung ausbaut und offen über die Problematik spricht. Die Helpline ist eine unabhängige Initiative, die Eltern Unterstützung und professionelle, vertrauliche Hilfe anbietet.

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Hayat (ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur, Deutschland) Hayat (Türkisch und Arabisch für „Leben“) ist das erste deutsche Bera­ tungsprogramm für Personen, die an radikalen salafistischen Gruppen beteiligt oder auf dem Weg in eine gewaltbereite dschihadistische Radikalisierung sind, einschließlich derjenigen, die nach Syrien und in andere Kampfgebiete reisen. Hayat bietet u.a. Unterstützung für Angehörige radikalisierter Personen.

Instrumente SAVE, Society Against Violent Extremism (Belgien) SAVE Belgien wurde mit dem Ziel gegründet, das Bewusstsein über die Folgen einer Radikalisierung für Familien zu schärfen und ihnen gleichzeitig Unterstützung im Umgang mit diesem Phänomen zu bieten. In diesem Rahmen wurden mehrere Filme entwickelt, die konkrete Beispiele von Familien zeigen, die von einer Radikalisierung betroffen sind. http://www.savebelgium.org/index.html#Resources

Women Without Borders (Österreich) Diese Organisation ermutigt Frauen, aktive Mitwirkende in ihren Gemeinschaften zu werden, ihre Gegenwart und ihre Zukunft mit zu gestalten, indem die Rolle der Frauen in Sicherheitsfragen gestärkt wird. Die Organisation schärft das Bewusstsein insbesondere unter Müttern im Hinblick auf ihre Rolle und ihre Verantwortung, um gewaltbereite extremistische Ideologien in Frage zu stellen. In diesem Rahmen werden auch Schulungen angeboten, um Mütter in der Auseinandersetzung mit diesem Phänomen zu stärken. http://www.women-without-borders.org/aboutus/#aboutus1

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Family Against Terrorism and Extremism - FATE Family Against Terrorism and Extremism (FATE) ist ein Netzwerk mehrerer Organisationen, die mit Familien zusammenarbeiten, die von Radikalisierung und gewaltbereitem Extremismus betroffen sind. FATE bietet Toolkits, Ratschläge und Informationen für seine vernetzten Mitglieder. http://www.findfate.org/

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

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Kapitel IV >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>

Prävention: Sensibilisierung und Förderung von Resilienz >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Auf der Seite www.efus.eu finden Sie ein Video, das die Kernaussagen dieses Kapitels zusammenfasst. Präventive Ansätze beziehen sich auf alle Personen, die mit extremistischen Botschaften in Kontakt kommen und für deren Ideen und Vorstellungen empfänglich sein könnten. Sie zielen auf eine Sensibilisierung für die ideologischen und lebensweltlichen Angebote extremistischer Gruppen sowie auf die Stärkung von Jugendlichen in der Begegnung mit entsprechenden Ansprachen (Resilienz).24 Über die Auseinandersetzung mit individuellen, sozialen und politischen Risikofaktoren sollen Radikalisierungsprozesse im Vorfeld bzw. in Frühphasen verhindert oder unterbrochen werden. Dabei erfordert Prävention eine Veränderung sowohl bei potenziell gefährdeten jungen Menschen als auch in der Gesellschaft selbst. Weder rechtsextremer noch religiös motivierter Extremismus ist auf ein bestimmtes soziales Milieu begrenzt.25 Maßnahmen zur Prävention von Radikalisierung

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24- Resilienz ist als „Fähigkeit, im Angesicht von schwierigen und widrigen Situationen wieder auf die Beine zu kommen“ zu verstehen. Sie bedeutet bereit zu sein mit Ereignissen zurecht zu kommen und daraus zu lernen und aus Herausforderungen sogar gestärkt hervorzugehen (…). Widerstandskraft ist eine Mischung aus körperlichem, emotionalem, sozialem und seelischem Bewusstsein und Kompetenz. Siehe belgischer föderaler öffentlicher Dienst für innere Angelegenheiten, BOUNCE along, Awareness-raising for Parents and Frontline Workers, 2014, S. 15 25- F. Vermeulen und F. Bovenkerk, Engaging with Violent Islamic Extremism. Local Policies in Western European Cities, Den Haag 2012; D.H. Heinke, German Jihadists in Syria and Iraq: An Update, ICSR Insight, London 2016


richten sich an eine breite Öffentlichkeit unabhängig von sozialen, kulturellen oder religiösen Unterschieden.26 Diese Maßnahmen überschneiden sich mit bestehenden Ansätzen zur Förderung des sozialen Zusammenhalts, der Demokratie- und Menschenrechtspädagogik und der Antidiskriminierungs- und Antigewaltarbeit. Diese Überschneidungen spiegeln sich in der Vielzahl der Akteure, die in der Präventionsarbeit eine Rolle spielen. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre verweisen auf die wachsende Bedeutung von Einrichtungen der Jugendhilfe, sozialpsychologischen Diensten, Familienberatungsstellen, Sportvereinen und Religionsgemeinschaften im Umgang mit Menschen, die von Radikalisierungen gefährdet sind, sowie bei der Entwicklung von Alternativen zu Angeboten extremistischer Organisationen. Prävention beinhaltet auch die Stärkung von politischer Bildung und Menschenrechtserziehung mit dem Ziel, Toleranz und Akzeptanz von sozialer, kultureller und religiöser Vielfalt als ein wesentliches Merkmal eines modernen und friedlichen Zusammenlebens zu fördern. Dazu gehört auch die Anerkennung der Gleichheit der Menschen unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Kultur, Religion oder Geschlecht. Interkulturelle und interreligiöse Bildung ist dabei ein Schlüssel zur Begegnung rechtsextremer und religiös-extremistischer Vorstellungen von einer homogenen und monolithischen Gesellschaft. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Biographien, Erfahrungen und Perspektiven und die Förderung eines gesellschaftlichen und politischen Engagements unabhängig vom persönlichen Hintergrund fördern den sozialen Zusammenhalt. Dies erfordert auch, dass lokale Institutionen selbst vielfältig sind und gesellschaftliche Unterschiede abbilden. Die gesellschaftliche Vielfalt spiegelt sich oft nur zum Teil im Personal und in den Strukturen von Stadtverwaltungen und anderen Einrichtungen – wodurch der politische Anspruch, Diversität als wünschenswert zu fördern, infrage gestellt wird.

26- Mehrere Studien haben auf die stigmatisierende Wirkung einer Präventionspolitik hingewiesen, die sich ausschließlich auf Moslems konzentriert. Siehe z.B. L. Lindekilde, „Neo-liberal Governing of Radicals: Danish Radicalization Prevention Policies and Potential Iatrogenic Effects“, in International Journal of Conflict and Violence 6 (1), 2012, S. 109-122 und K. Öktem, Signale aus der Mehrheitsgesellschaft. Auswirkungen der Beschneidungsdebatte und staatlicher Überwachung islamischer Organisationen auf Identitätsbildung und Integration in Deutschland, Oxford 2013.

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

I. Schulen und Unterricht

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Schulen sind entscheidende Akteure in der Präventionsstrategie. Sie stehen im engen Kontakt mit den meisten jungen Menschen und bieten den idealen Rahmen, um das Bewusstsein zu schärfen und die Widerstandskraft gegenüber gewaltbereiten extremistischen Ideologien zu erhöhen, vor allem durch die Entwicklung von kritischem Denken. Schule ermöglicht ein langfristiges Engagement, aber auch kurzfristige Reaktionen auf unmittelbare Herausforderungen. Während die Stadtverwaltungen in den meisten EU-Ländern nicht direkt an der formalen Bildung beteiligt sind, können sie strategische Ansätze für den Umgang mit Radikalisierung fördern, beispielsweise durch die Einrichtung von Informationsstellen über Radikalisierung, und eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Schulen und örtlichen Behörden und Organisationen initiieren, um nachhaltige lokale Netzwerke zu errichten. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Stadtverwaltung, Schulen und Lehrern ist für den Informationsaustausch und die Beurteilung der Entwicklung des Problems entscheidend. Da sie im täglichen Kontakt mit den Schülern stehen, bemerken Lehrer oft als erste persönliche Veränderungen und sind gut aufgestellt, um die potenziellen Ursachen zu verstehen und zu beurteilen. Zugleich äußern Schulen oft Vorbehalte dagegen, Extremismusfälle öffentlich zu machen, da dies ihrem Ruf schaden könnte. Die frühzeitige Entwicklung konkreter, transparenter Verfahren ist daher im Umgang mit diesen Vorbehalten entscheidend. Der offene Umgang mit Extremismus innerhalb einer Institution sollte nicht als Zeichen eines institutionellen Scheiterns oder als Eingeständnis von Schwäche gewertet werden. Formale Bildung ermöglicht den Schülern, über ideologische Behauptungen und wichtige extremistische Akteure informiert zu werden. Sie bietet ferner eine institutionelle Struktur für die Stärkung der sozialen und kognitiven Kompetenzen der Schüler und fördert aktive Bürgerbeteiligung. Dies ermutigt die Schüler dazu, ihre Meinungen und Interessen zu entwickeln und zu äußern, und bietet einen Rahmen für die

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aktive Teilnahme an Freizeitaktivitäten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Institution. Dabei unterscheiden sich mögliche Ansätze, die in Grund- und Sekundarschulen verfolgt werden können:

 Grundschulen: Fragen nach Identität und Religion können auch in Grundschulen behandelt werden, um die Schüler an kulturelle und religiöse Vielfalt heranzuführen und das Bewusstsein für unterschiedliche Lebensweisen und Weltanschauungen zu schärfen.

 Sekundarschulen: Sie bieten den idealen Rahmen für die Förderung von lokaler Demokratie und kritischem Denken. Dazu können auch Diskussionsrunden mit Lokalpolitikern vor den Gemeindewahlen, die Organisation von Wohltätigkeitsveranstaltungen für die Opfer von Konflikten und Naturkatastrophen sowie Ausstellungen über geschichtliche, kulturelle, soziale oder religiöse Themen gehören. In „multikulturellen Klassenzimmern“ ermöglichen diese Aktivitäten die Auseinandersetzung mit Perspektiven auf Geschichte, Politik und Gesellschaft (z.B. zur globalen Geschichte, zu regionalen Konflikten, Religion, Fragen nach Identität usw.), die normalerweise nicht auf dem Lehrplan stehen. Schule und Unterricht bieten ferner Gelegenheiten, um extremistische Botschaften in sozialen Medien zu analysieren und die Empfänglichkeit für die Medienstrategien und ideologischen Behauptungen von Extremisten zu verringern. Während Staatsbürgerkunde ein Pflichtteil der meisten Lehrpläne ist, ist der Stellenwert der Religion in der formalen Bildung von Land zu Land unterschiedlich. Religionsunterricht, der Schülern religiöse Lehren und Praktiken vermitteln und gleichzeitig ihr Bewusstsein in Bezug auf religiöse und kulturelle Vielfalt schärfen soll, bietet die Möglichkeit, starre Vorstellungen von Religion in Frage zu stellen, indem verschiedene religiöse Traditionen vorgestellt und religiöse Lehren mit lokalen Kontexten und der Lebenswelt junger Menschen verknüpft werden. Zudem ermöglicht er die Hervorhebung von Gemeinsamkeiten zwischen Religionsgruppen und den Abbau von Klischees und Konflikten.

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Religiöse Themen können auch in einem nicht-konfessionellen Kontext angesprochen werden, beispielsweise im Geschichtsunterricht oder im Ethik-, Gemeinschafts- oder Sozialkundeunterricht. Im Gegensatz zum konfessionellen Religionsunterricht haben diese Diskussionen nicht das Ziel, den Glauben zu festigen oder religiöse Rituale zu lehren. Sie zielen vielmehr darauf ab, die religiösen Sorgen junger Menschen („Wie muss ich mich anziehen?“, „Wie muss ich mich in bestimmten Situationen verhalten?“, „Welche Wertvorstellungen sind mir wichtig?“) in einen breiteren sozialen und historischen Kontext zu setzen, der nicht auf religiöse Überzeugungen und Glauben begrenzt ist. Ähnlich wie Religionsunterricht ermöglicht es dieser Ansatz, religiös-extremistische Narrative, starre Traditionen und fest umrissene religiöse Vorgaben zu hinterfragen.

II. Jugendhilfe und Jugendsozialarbeit

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Jugendhilfe und Jugendsozialarbeit – von öffentlichen und freien Trägern – bieten mit der Förderung von sozialen und kommunikativen Kompetenzen einen zusätzlichen Rahmen für Prävention und den Aufbau von Resilienz. Sie ermöglichen es jungen Menschen, sich an Aktivitäten zu beteiligen, die das Selbstvertrauen stärken, die Selbstwirksamkeit fördern und soziale und emotionale Bindungen unterstützen. Dies beinhaltet auch die Förderung von kultureller und religiöser Diversität. Jugendhilfe und Jugendsozialarbeit bieten auch Antworten auf jüngste Trends bei rechtsextremen und religiös-extremistischen Strömungen. Extremistische Organisationen machen sich als Teil ihrer Strategie zunehmend den kulturellen Stil und die Aktivitäten der Jugend zu eigen. Musik, soziale Medien und Freizeitaktivitäten sind ein wichtiger Bestandteil extremistischer Gruppierungen. Dazu gehören Konzerte, Ausflüge und andere soziale Veranstaltungen. Solche Aktivitäten sind nicht illegal, werden jedoch genutzt, um junge Menschen an extremistische Organisationen und ihre Ideologien heranzuführen und sie zur Teilnahme an ihren Aktionen zu mobilisieren.

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Diese Aktivitäten („extremistische Jugendarbeit“) füllen oft ein Vakuum im sozialen Raum. Lücken in sozialen Angeboten bieten extremistischen Organisationen die Chance, um gefährdete junge Menschen zu erreichen.27 Vor diesem Hintergrund können Sport- und Kulturvereine nützliche Partner bei Präventionsaktivitäten sein. So berichten beispielsweise Fußballtrainer von jungen Menschen, die mit ihrer Identität kämpfen und damit, ihren Glauben mit der Mitgliedschaft in einer Fußballmannschaft unter einen Hut zu bringen. Durch den engen Kontakt mit diesen jungen Menschen bemerken Trainer oft als erste individuelle Unzufriedenheit und persönliche Konflikte, die sich nicht unmittelbar in extremistischen Überzeugungen oder Verhaltensweisen ausdrücken. Doch weil es ihnen an den erforderlichen Kenntnissen, Fähigkeiten und Unterstützungsstrukturen fehlt, um auf solche Situationen zu reagieren und andere Institutionen einzubeziehen, sind sie nicht darauf vorbereitet, zu handeln. Eine Stärkung dieser Akteure durch das Erkennen potenzieller Radikalisierungsanzeichen und ihre Ermutigung, sich damit zu befassen, ist für ein frühzeitiges Eingreifen entscheidend. Zusätzlich zu gruppenspezifischen Aktivitäten gewinnt individuelle Unterstützung zunehmend an Bedeutung beim Aufbau von Resilienz und der Prävention von Radikalisierung. In mehreren Studien wurde die Bedeutung von persönlichen Krisen, gesundheitlichen und familiären Probleme als relevante Risikofaktoren für eine Radikalisierung herausgearbeitet. In diesem Kontext spielen Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, der Jugendsozialarbeit und der Gesundheitsförderung eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung der Familien, auch beim elterlichen Umgang mit familiären Konflikten. Dabei können Maßnahmen zum Aufbau von Resilienz gegenüber Extremismus auf Ansätze der Anti-Diskriminierung und Anti-Gewaltarbeit zurückgreifen, die auf eine Stärkung der persönlichen Fähigkeiten und Kompetenzen wie Eigenwahrnehmung und Selbstbewusstsein (Empowerment) abzielen. Dazu gehört auch die Unterstützung von Einzelpersonen bei der Berufsvorbereitung und Eintritt in den Arbeitsmarkt. 27- Beispielsweise organisieren religiöse extremistische Initiativen ihre Veranstaltungen oft an Feiertagen (Ostern oder Weihnachten), wenn die meisten öffentlichen Einrichtungen geschlossen sind. Berichte aus mehreren Ländern weisen auf wiederholte Versuche rechtsextremer Organisationen hin, bestehende Einrichtungen wie Kindergärten oder Freizeitzentren zu unterwandern, um dort ihre Botschaften zu verbreiten.

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Erzieher, Berater und Mentoren sind in der Regel gut auf diese Aufgaben vorbereitet. Dennoch sind zusätzliche Schulungen erforderlich, um sicherzustellen, dass diese Fachkräfte die Risikofaktoren für Radikalisierung und Ansätze des Umganges kennen. Dazu gehört das Wissen um mögliche Identitätskonflikte junger Menschen, die aus sozial benachteiligten Gruppen stammen oder gesellschaftlichen Minderheiten angehören. Die Schärfung des Bewusstseins in Bezug auf diese Themen ermöglicht die Anpassung bestehender Strategien an die Bedürfnisse und Anforderungen, die sich aus der Radikalisierung und den Bekehrungsstrategien extremistischer Organisationen ergeben.

III. Lokale Gemeinschaften

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Religiöse und ethnische Gemeinschaften basieren oft auf starken zwi­ schenmenschlichen Beziehungen und Netzwerken. In vielen Bereichen bieten sie wichtige soziale Dienste, die öffentliche Strukturen und Institutionen ergänzen (z.B. Fürsorge, Bildung, kulturelle Ak­tivitäten). In vielen Ländern gelten Religionsgemeinschaften als wichtige Partner bei der Entwicklung von Präventionsprogrammen, um auf religiös motivierten Extremismus zu reagieren. Dies bezieht sich beispielsweise auf das Angebot von Religionsunterricht, umfasst aber auch die Be­ reitstellung von Dienstleistungen und Hilfsstrukturen in den Bereichen Familienberatung, Kinder- und Jugendhilfe und allgemeine Erziehung. Trotz ihrer Bedeutung als soziale Akteure fehlt es Religionsgemeinschaften oft an finanziellen Mitteln, und sie werden oft von ehrenamtlichen Mitarbeitern geführt, denen die geeigneten Qualifikationen fehlen, um größere erzieherische und administrative Herausforderungen anzunehmen. Kooperationsstrategien sollten diese institutionellen Grenzen anerkennen und das Angebot von Schulungen und finanziellen Ressourcen beinhalten. Islamische Gemeinschaften selbst bringen ihre Besorgnis angesichts der Anzeichen von Radikalisierung und des Einflusses extremistischer

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Strömungen unter ihren Mitgliedern zum Ausdruck. Diese Sorge trifft sich mit verstärkten Bemühungen der Stadtverwaltungen und anderer öffentlicher Einrichtungen, die religiösen Gemeinschaften und ihre Vertreter in Präventionsnetzwerke auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene einzubeziehen. Während diese Kooperationen in einigen Ländern auf etablierten Kontakten und Beziehungen aufbauen können, geht sie in anderen Ländern direkt auf aktuelle Sicherheitsüberlegungen und der wachsenden Zahl von Personen, die sich dschihadistischen Organisationen anschließen, zurück. In einigen Fällen führte dies zu erheblichen Spannungen mit den Vertretern islamischer Gemeinschaften, die ihren Widerstand gegen eine rein sicherheitsbezogene Kooperation äußerten. Kooperation, so ihr Argument, sollte breiter angelegt sein und eine grundsätzliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften als Einrichtungen mit Angeboten der Jugendhilfe und Bildungsarbeit beinhalten. Eine Schwierigkeit bezüglich der Einbeziehung religiöser Gruppierungen in Präventionsaktivitäten bezieht sich auf die Wahl der möglichen Partner. Die meisten etablierten Gemeinschaften verfügen über gute Kontakte in die lokale muslimische Bevölkerung. Allerdings zeigen Studien über Dschihadisten, die von Europa aus nach Syrien oder in den Irak ausgereist sind, dass diese vor ihrer Ausreise oft nicht in traditionelle religiöse Strukturen eingebunden waren. Etablierte Moscheen sind für Personen, die sich eher zu starren und simplen Narrativen extremistischer Strömungen hingezogen fühlen, nicht attraktiv. Dennoch können auch etablierte Gemeinschaften einen wichtigen Beitrag zur Stärkung alternativer Ansätze zu religiösen Traditionen leisten und das Spektrum der verfügbaren religiösen Ent­scheidungen erweitern. Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die nicht mit radikalisierten Szenen in Kontakt stehen, können hier reflektierte Auseinandersetzungen mit religiösen Lehren und Traditionen vermittelt werden, die sie für extremistische Ansprachen sensibilisieren. Schwierigkeiten bei der Wahl der religiösen Partner können sich auch dadurch ergeben, dass einige kommunale religiöse Institutionen Interpretationen oder Überzeugungen vertreten, die im Widerspruch zu den Grundsätzen und Wertvorstellungen europäischer Gesellschaften stehen (dies betrifft z.B. Werte wie die Gleichberechtigung der Ge-

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

schlechter, Pluralismus, Demokratie usw.). In Ländern wie Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden stand die Rolle dieser Organisationen bei kommunalen oder nationalen Präventionsprogrammen im Mittelpunkt heftiger politischer Kontroversen. Während einige Länder sich klar gegen jede Kooperation mit als extremistisch geltenden Organisationen aussprechen – inklusive derjenigen, die sich von Gewalt distanzieren – haben sich andere für pragmatischere Ansätze entschieden, die z.B. auch Gemeinschaften mit moderaten salafistischen Neigungen einbeziehen. Ungeachtet des Risikos, dass diese Ansätze den Status dieser Organisationen in der Gemeinschaft stärken können, können sie in Einzelfällen eine konkrete Kooperation und ein koordiniertes Eingreifen ermöglichen, wenn es um Sicherheitsbedenken oder Gewaltrisiken geht. In diesen Fällen sollte das Ziel der Kooperation klar definiert und kommuniziert werden.

IV. Polizei

>>>>>>>>>>>>>> Polizeiarbeit beschränkt sich nicht auf Ermittlungen und Strafverfolgung, sondern umfasst auch die Prävention von Straftaten und Delikten. In mehreren Ländern beteiligt sich die Polizei an Initiativen auf Gemeindeebene, durch die die Kontakte zu verschiedenen Religionsgemeinschaften und Organisationen von Migranten gestärkt werden sollen. Bei dieser Arbeit geht es weniger um die Erfassung von Informationen oder „Überwachung“, als vielmehr um die Unterstützung der Gemeinschaften und den Aufbau von Vertrauen mit dem Ziel einer Kooperation in diversen Kontexten. Erfahrungen aus mehreren Ländern haben die Grenzen der Kooperation aufgezeigt, wenn sie ausschließlich mit dem Problem des religiös motivierten Extremismus verknüpft ist. Die Gemeinschaften als Partner zu sehen bedeutet auch, das Thema Diskriminierung und vorurteilsmotivierte Gewalt, mit der sie konfrontiert sind, ernst zu nehmen und sich gegen diese Formen der Diskriminierung und rassistischer Gewalt zu engagieren.

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In einem Radikalisierungsprozess distanziert sich ein Individuum von der Gesellschaft und ihren Institutionen. Das Fördern von Vertrauen in öffentliche Institutionen wie die Polizei ist daher ein wichtiges Element von Präventionsstrategien. Die Polizei als Institution zu sehen, die die Rechte und Interessen aller Menschen unabhängig von Herkunft oder Religion verteidigt, stellt die Opferideologie und das Gefühl der Machtlosigkeit in Frage, auf die sich extremistische religiöse Propaganda immer wieder bezieht. Deshalb sind Kooperation und Dialog mit jungen Menschen wichtig, um ihre Kenntnisse über die Rolle der Polizei und ihre Pflicht zum Schutz aller Bürger zu verbessern. Sie fördern die Identifikation der Bürger mit der Gesellschaft und das Vertrauen der Menschen in ihren Status als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft.

V. Empfehlungen

>>>>>>>>>>>>>>>>>> Prävention, verstanden als Sensibilisierung und die Förderung von Resilienz auf örtlicher Ebene, sollte folgendes umfassen:

 Bereitstellung von Informationen über extremistische Ideologien und Organisationen (durch Broschüren, Informationsstellen usw.) für Fachkräfte und direkt betroffenes Personal

 Schulungen und Trainings, die sich mit den verschiedenen Bereichen der Prävention befassen

 Bereitstellung finanzieller und administrativer Unterstützung für lokale Akteure

 Errichtung lokaler Vernetzungs- und Austauschstrukturen zwischen den Dienststellen (einschließlich Schulen, städtische Dienststellen, Sport- und Kulturvereine, Gemeinschaften, Polizei usw.)

 Kontinuierliche Anpassung der städtischen Dienststellen an sich ändernde Bedürfnisse und Anfragen

 Sensibilisierung zum Thema kulturelle und religiöse Vielfalt in kommunalen Einrichtungen

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

 Ausbau von Angeboten, die Resilienz bei Kindern und Jugendlichen fördern

 Förderung der lokalen Demokratie, aktiver Bürgerbeteiligung und kritischen Denkens

 Einrichtung einer transparenten und effektiven Antidiskriminierungspolitik

 Unterstützung der Gemeinschaften beim Umgang mit Ausgrenzung, Diskriminierung, Volksverhetzung und anderen Formern vorurteilsmotivierter Gewalt.

Methoden und Instrumente

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Bitte besuchen Sie www.efus.eu um die nachstehenden Ressourcen einzusehen.

Methoden Second Wave Project, Vilvoorde (Belgien) 2013 beschloss die Stadt Vilvoorde, Begegnungen zwischen jungen Menschen und Polizeibeamten zu organisieren. Ziel war die Vermeidung einer Polarisierung der öffentlichen Meinung durch das Ansprechen bestehender Konflikte zwischen beiden Gruppen. Außerdem wollte man vermeiden, dass diese Konflikte zu einer Radikalisierung führen. Die Gespräche sollten außerdem kritisches Denken unter den Teilnehmern fördern und die Beziehungen zwischen den Polizeikräften und der örtlichen Jugend verbessern.

Wegweiser, Düsseldorf (Deutschland) 2013 brachte das Bundesland Nordrhein-Westfalen in mehreren Städten das „Wegweiser“-Programm auf den Weg. Es soll junge

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Menschen stärken und ihre Resilienz gegenüber extremistischen, Ungleichheit verherrlichenden Ideologien fördern. Ein Zentrum wurde geschaffen, das sich insbesondere mit dem Thema Neo-Salafismus befasst.

Mediationsdienst, L’Hospitalet de Llobregat (Spanien) Seit 2006 sind die Konflikte zwischen jungen Menschen in der Schule, insbesondere in Verbindung mit Banden, in L’Hospitalet de Llobregat zurückgegangen. Der Mediationsdienst und seine Interventionsmethode haben sich als wirksames Angebot im Umgang mit Konflikten und bei der Prävention der Beteiligung junger Menschen an gewaltbereiten Gruppen erwiesen.

Instrumente BOUNCE (Belgien) Das BOUNCE-Projekt ist ein forschungsbasiertes Schulungsprogramm, das die Resilienz junger Menschen gegenüber gewaltbereiter Radikalisierung fördern soll. Es konzentriert sich auf emotionale und körperliche Aspekte einer frühzeitigen Prävention und bietet Instrumente zur Sensibilisierung junger Menschen und ihrer Umgebung (Eltern, Lehrer, Sozialarbeiter usw.). Die Schulung und die Instrumente werden in zehn Städten in fünf EU-Mitgliedstaaten umgesetzt. http://www.bounce-resilience-tools.eu/en

Protest, Provokation oder Propaganda? Handbuch zur Präven­ tion einer salafistischen Ideologisierung in Schulen und Jugendarbeit, Ufuq.de (Deutschland) Dieses Handbuch wendet sich in erster Linie an Pädagogen in Schulen und Jugendarbeit. Er befasst sich mit der wachsenden Popularität der salafistischen Ideologie unter Jugendlichen und betont die diversen Motivationen, die junge Menschen dazu führen können, sich religiös extremen Gruppierungen und Organisationen zuzuwenden. Er kon-

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

zentriert sich auf Schulen und Jugendarbeit und bietet konkrete Beispiele für die pädagogische Praxis im Umgang mit Radikalisierungen. http://www.ufuq.de/pdf/Handreichung%20Protest-Provokation-Propaganda-online.pdf

A Teacher’s Guide on the Prevention of Violent Extremism (Leitfaden für Lehrer zur Prävention von gewaltbereitem Extremismus), UNESCO Dieses Dokument wendet sich an Lehrer in Grundschulen und weiterführenden Schulen. Es enthält praktische Empfehlungen darüber, wann und wie mit den Lernenden über das Thema Radikalisierung gesprochen werden soll, die zu gewaltbereitem Extremismus führt, und hilft Lehrern dabei, in Klassenzimmern ein inklusives Klima zu schaffen, in dem kritisches Denken und Dialog gefördert werden. http://unesdoc.unesco.org/images/0024/002446/244676e.pdf

Educating for Safe and Democratic Societies: The Instructor's Handbook for the Civic and Social Competences (Handbuch für Ausbilder zur Stärkung staatsbürgerlicher und sozialer Kompetenzen bei Heranwachsenden), Universal Curriculum Against Radicalisation in Europe (UCARE), University College Roosevelt UCARE ist ein Programm, das Bildungsinstrumente bereitstellt, um Schülern in Sekundarschulen und Gymnasien demokratische Anschauungen und soziale Fähigkeiten zu vermitteln mit dem Ziel, eine Radikalisierung zu verhindern. UCARE umfasst sieben Workshops, die in den regulären Unterricht integriert und von einem Lehrer oder einem externen Ausbilder vermittelt werden können. Die Workshops können gegebenenfalls um zusätzliche Module erweitert werden. Das Handbuch ist auf Englisch, Niederländisch und Spanisch erhältlich. http://www.ucr.nl/academic-program/Research/Terra%20II/Pages/U-CaRe-curriculum.aspx

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Kapitel V >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>

Deradikalisierung und Ausstieg >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Auf der Seite www.efus.eu finden Sie ein Video, das die Kernaussagen dieses Kapitels zusammenfasst.

Frühzeitige Interventionen werden als Teil von Deradikalisierungsoder Ausstiegsstrategien in verschiedenen Bereichen umgesetzt, z.B. in den Bereichen Gesundheit, Kinderfürsorge, Bildung, Drogen und Kriminalität. Allgemeiner Grundsatz ist dabei, dass bei bestehenden Risiken, Gefährdungen oder Prädispositionen ein frühzeitiges und konsequentes Eingreifen eine weitere negative Entwicklung verhindern kann. Im Hinblick auf Radikalisierung besagt die Theorie, dass es trotz der Vielschichtigkeit von Radikalisierungsprozessen möglich und notwendig ist, in diese Prozesse einzugreifen und ihr Fortschreiten zu verhindern, bevor eine Person eventuell das Begehen einer extremistischen Gewalttat in Erwägung zieht. Daher können diese Interventionen auf eine Vielzahl von Menschen abzielen, von langjährigen Extremisten bis hin zu Personen im frühen Stadium einer Radikalisierung. Bei den Überlegungen darüber, wie eine Intervention funktionieren kann, müssen mehrere wichtige Fragen beantwortet werden: Wie lassen sich geeignete Adressaten identifizieren? Wie lassen sich die jeweiligen Risiken und Gefährdungen einer Radikalisierung beurteilen und managen? Wie werden solche Interventionen und Deradikalisie-

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rungsprozesse durchgeführt, und von wem? Wie wird dieser Prozess evaluiert und ausgewertet? In verschiedenen Ländern wurden lokale und nationale Strategien der Prävention von Radikalisierung entwickelt (siehe Abschnitt „Methoden und Instrumente“). Dieses Kapitel gibt exemplarisch die Ansätze und Erfahrungen aus Großbritannien hinsichtlich der Maßnahmen auf lokalen Ebene wieder.

I. Das Erkennen gefährdeter Personen

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Der Prozess zur Erkennung gefährdeter Personen ist der umstrittenste Aspekt der Interventionspolitik. Das Erkennen einer Radikalisierungsgefährdung ist ein schwieriger Prozess. Derzeit gibt es eine Vielzahl an Einschätzungen über die Ursachen von Radikalisierung und Terrorismus, darunter lokale oder nationale Missstände, Ideologien, persönliche Umstände, Krankheiten oder eine Kombination mehrerer Faktoren. Der britische Ansatz basiert auf Studien, die sich mit einzelnen Gruppen verurteilter Terroristen befasst und eine umfassende Beurteilungsmethode entwickelt haben, um „Gefährdungsfaktoren“ zu bewerten, die entweder kausal mit der Psychologie einer Person zusammenhängen oder zumindest damit korrelieren. Das britische UK Channel Programm28, das Interventionen für Personen anbietet, die als radikalisierungsgefährdet gelten, nutzt diesen Rahmen, um zu ermitteln, ob eine Person ein frühzeitiges Eingreifen erfordert. Insbesondere werden diese Faktoren von einem akteursübergreifenden „Channel Panel“, an dem zentrale Akteure beteiligt sind (insbesondere aus den Bereichen Bildung, soziale Arbeit, Psychologie und Religion), herangezogen. Das Panel gewährleistet

28- Die komplette Terrorismusabwehrstrategie besitzt ein Element, das auf die Prävention von gewalttätigem Extremismus abzielt. Siehe. https://www.gov.uk/government/publications/counter-terrorism-strategy-contest

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

eine ganzheitliche Unterstützung, die für eine erfolgreiche Intervention erforderlich ist. Dieser Rahmen ermöglicht es dem Panel, die Gefährdung einer Person zu beurteilen und gleichzeitig eine angemessene Strategie zur Reduzierung dieser Gefährdung festzulegen, um Straf- oder Rückfälligkeit zu vermeiden. Anschließend wird dieser Beurteilungsrahmen genutzt, um die Anfälligkeit einer Person für Radikalisierung und Gewalt festzustellen. Während der Dauer der Intervention überwachen und bewerten die Mitglieder des Channel Panels den Fall und sammeln unter Bezugnahme auf den individuellen Fall zusätzliche Informationen über mögliche individuelle Hintergründe und Risikofaktoren. Diese Faktoren fallen generell in drei Hauptkategorien: Einstellung/ Motivation; die Absicht, anderen zu schaden; sowie die Fähigkeit, anderen zu schaden.

Einstellung/Motivation Die Faktoren in Bezug auf die persönliche Einstellung oder Motivation werden als „psychologische Aufhänger“ bezeichnet. Diese Faktoren umfassen Bedürfnisse, Empfindlichkeiten, Motivationen und kontextspezifische Einflüsse, die den Weg einer Person in den Terrorismus befördern können. Sie erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und können Folgendes umfassen: Gefühl von Wut und Ungerechtigkeit; Bedrohungsgefühl; Wunsch nach Identität, Bedeutung und Zugehörigkeit; Wunsch nach Status; Wunsch nach Erlebnis und Abenteuer; Bedürfnis, andere zu dominieren und zu kontrollieren; Empfänglichkeit für Indoktrination; Wunsch nach politischer und moralischer Veränderung; opportunistische Teilnahme; Nähe von Familie oder Gleichaltrigen zu extremistischen Einstellungen/Gruppen; biografische Umbrüche; Beeinflussung oder Kontrolle durch eine Gruppe; Diagnose erheblicher psychischer Gesundheitsprobleme.

Absicht, anderen zu schaden Nicht alle, die sich einer extremistischen Gruppe oder Ideologie zuwenden, entwickeln den Wunsch oder die Absicht, durch eigenes

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Handeln Schaden zu verursachen. Aus diesem Grund wird diese Dimension der Risikobeurteilung von den Einstellungs-Faktoren getrennt betrachtet. Die Absichtsfaktoren unterstreichen die persönliche Haltung in Verbindung mit der Bereitschaft zu Gewaltanwendung und befassen sich mit den Handlungen, zu denen eine Person bereit ist, sowie mit ihrem Zweck. Diese Faktoren umfassen: übertriebene Identifikation mit einer Gruppe oder einer Ideologie; die Denkweise "wir gegen die anderen"; Entmenschlichung des vermeintlichen Feindes; Haltungen, die Strafta­ten rechtfertigen; schädliche Mittel zum Zweck; schädliche Ziele.

Fähigkeit, anderen zu schaden Ebenso sind nicht alle, die Schaden im Namen einer Gruppe, Sache oder Ideologie verursachen wollen, auch in der Lage dazu, da solche Pläne oft ein hohes Maß an persönlichen Fähigkeiten, Mitteln und Vernetzung erfordern, um erfolgreich zu sein. Die Fähigkeit einer Person, anderen zu schaden, ist daher ein wichtiger Faktor bei der Beurteilung des Bedrohungspotentials, das eine be­stimmte Person für die Allgemeinheit darstellt. Diese Faktoren umfassen unter anderem individuelle Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen, Zugang zu Netzwerken, Finanzierung oder Ausrüstung und kriminelle Energie. Die Polizei übernimmt die Gefährdungsbeurteilung und ist dafür zu­ ständig festzustellen, ob eine Person aktiv an der Planung oder Vorbereitung eines Anschlags beteiligt ist. Voraussetzung für dieses spezielle polizeiliche Handeln im Rahmen des Programms ist, dass gegen die betreffende Person zuvor durch die Strafverfolgungsbehörden entsprechende Vorwürfe erhoben wurden, also Ermittlungen eingeleitet oder Anklage erhoben wurde. Wird bei einer Person die aktive Beteiligung an einem „terrorist plot“ festgestellt, ist sie für den Präventionsbereich „Prevent“ des Channel-Programms geeignet, der eine der vier Säulen der britischen Terrorismusabwehrstrategie CONTEST bildet. Im Gegensatz dazu werden Personen, die bereits wegen terroristischer Straftaten strafrechtlich verfolgt werden, dem Strafverfolgungsabschnitt des Programms „Pursue“ zugeordnet. Die Unterscheidung zwischen Prevent (also Prävention) und Pursue (also Strafverfolgung) ist ent-

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scheidend; sie bildet eine „chinesische Mauer“ zwischen der repressiven Komponente der Terrorismusabwehr, die die Erfassung von Informationen und Strafverfolgung erfor­dert, und der Interventionsund Deradikalisierungskomponente. Die Identifikation und Zuordnung von Personen zum Channel-Programm kann durch Personen, die in direktem Kontakt mit den Betroffenen stehen, durch Personen im weiteren sozialen Umfeld oder durch andere Menschen aus der Bevölkerung erfolgen. Zu den Personen mit direktem Kontakt gehören Polizeibeamte, Bewährungshel­fer, Gefängnispersonal, Sozialarbeiter, Mitarbeiter sozialer Einrichtungen sowie Lehrkräfte, wobei gerade von Letztgenannten die meisten Hinweise eingehen. Gerade weil Prevent ein frühzeitiges Interventionsmodell im Rahmen der gesetzlichen Richtlinien ist, geht es hier in erster Linie um den Einzelnen und weniger um allgemeine kriminelle Kreise. Infolgedessen gelten alle Beschäftigte von Behörden und anderen Einrichtungen, die Kontakt zur Öffentlichkeit haben, als Mitarbeiter im direkten Kontakt. Hinweise kommen auch von Personen, die nach dem britischen Terrorismusgesetz oder anderer Gesetzen verurteilt wurden. Die Struktur des Systems sieht sensibilisierende Kampagnen mit unterschiedlichen gemeinschaftsbasierten Gruppen und Schulungen für direkt betroffene Mitarbeiter vor, um sicherzustellen, dass alle relevanten Mitglieder der Gemeinschaft in der Lage sind, die Anzeichen einer Gefährdung und die frühen Stadien einer Radikalisie­rung zu erkennen.

II. Struktur der Intervention

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Nach Eingang jedes Hinweises wird der Fall vom lokalen Channel Panel geprüft. Nach einer ersten Einstufung der Gefährdungsfaktoren entscheidet das Panel, ob die Einbeziehung eines spezialisierten Inter­ ventionsexperten, also eines von den Prevent-Leitern genehmigten Mentors, der die Gefährdung der betreffenden Person für Radi­ kalisierung oder ihr Risiko, gewalttätig zu werden, reduzieren soll, sinnvoll ist.

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Vor Beginn der Intervention müssen die betreffenden Personen ihre Einwilligung erteilen und bestätigen, dass sie über die Art des Pro­ gramms Bescheid wissen und freiwillig daran teilnehmen. Jede in das Prevent-Programm einbezogene Person trifft sich mit einem zuständi­ gen „Community-Engagement-Officer“, Bewährungshelfer, Lehrer oder weiteren Personen, die für das Programm geeignet erscheinen. Diese Treffen der betroffenen Personen mit den zuständigen Be­treuern finden an unterschiedlichen Orten statt, je nachdem was als geeignet erachtet wird. Es überrascht kaum, dass die ersten Treffen oft sehr unterschiedlich ablaufen. Während manche Personen zu Beginn abweisend sind, äußern andere Sorge oder Furcht, vor allem weil die Behörden beteiligt sind. Diese Befürchtungen können in der Regel im Laufe der Interventionen genommen werden. Die Begleitung der Fälle dauert in der Regel von sechs bis acht Monaten bis hin zu zwei Jahren. Oft werden Fälle auch irrtümlich aufgenom­men und deshalb kurz nach der ersten Beurteilung wieder geschlossen. Die gesamte Intervention wird kontinuierlich ausgewertet, so dass notwendige Aktualisierungen der ursprünglichen Gefährdungsbeurteilung und eine Beurteilung des Betreuers möglich sind. Jeder Fall wird drei und sechs Monate nach seinem Abschluss erneut geprüft. Dieses Element ist von zentraler Bedeutung, da es eine akkurate Beurteilung sowohl des Betreffenden als auch der Intervention ermöglicht. Die Auswertung der Intervention sowohl während als auch nach dem Programm er­möglicht es den Mitarbeitern, die ursprünglichen Entscheidungen und die Veränderungen des Umfelds und der Situation noch einmal zu prüfen und festzustellen, ob ein weiteres Engagement erforderlich ist. Die betroffenen Personen bauen oft eine starke Beziehung zu ihrem Betreuer auf und bemühen sich, noch Jahre danach einen zwanglosen Kontakt aufrecht zu erhalten.

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

III. Vertrauen schaffen

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Bei der ersten Kontaktaufnahme wird versucht, dem Teilnehmer deutlich zu machen, dass die Betreuer der Intervention in erster Linie in ihrem besten Interesse handeln und keine „heimliche Agenda“ verfolgen. Die Betreuer nutzen die ersten Begegnungen auch, um eventu­ ell Probleme oder Hindernisse zu diagnostizieren. Die Ziele bestehen in diesem Stadium in einer generellen Beurteilung des Teilnehmers und darin, sein Vertrauen zu gewinnen. In den weiteren Stufen der Intervention sind die häufigsten Anlässe zur Sorge die Bereitschaft und die Fähigkeit des Teilnehmers, sich mit den angesprochenen Themen zu befassen. Wer sich aktiv mit extremisti­ schen Inhalten, Personen oder Organisationen befasst, sieht sich oft in einem Konflikt „wir gegen die“. Zudem verteidigen diese Personen oft einzelne terroristische Handlungen oder Gruppen.

IV. Religiöser Extremismus: Die Rolle der Religion

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Die Interventionsarbeit wirft auf Grund ihrer politischen Brisanz eine Reihe schwie­riger ethischer Fragen auf. Versuchen Interventionsfachkräfte, Einfluss auf poli­tische Einstellungen zu nehmen und Widerspruch zu säen? Und grundsätzlicher: Ist das Programm ein Mittel für den Staat, sich in die religiösen Über­zeugungen, die einen Kernbereich der Privatsphäre eines Menschen ausmachen, einzumischen? Tatsächlich spielte die Frage, ob der Ansatz eine Einschränkung von Religions- und Meinungsfreiheit bedeute, in der politischen Debatte über die Präventionsstrategie eine zentrale Rolle. Diese Sorge verdient Beachtung, da einige Maßnahmen zur Terrorabwehr historisch darauf abzielten, bestimmte konserva­tive Stränge der Religion zu stärken.

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Außer aus ethischen Überlegungen wurden diese Maßnahmen auch mit Blick auf ihre Effektivität, ihre taktische Notwendigkeit und den Wert dieser staatlich geförderten Programme heftig kritisiert. In Bezug auf den letztgenannten Aspekt zielen Interventionen grundsätzlich nicht darauf ab, die normativen Überzeugungen des re­ligiösen und politischen Glaubens einer Person zu formen. Das Pro­gramm verwendet eine neo-sokratische Methodik, in der die zu Grunde liegenden Annahmen in Verbindung mit religiösen Überzeu­gungen – Forderungen nach religiöser, rechtlicher oder theologischer Authentizität – und politischen Vermutungen in Frage gestellt werden, um den Einzelnen dazu anzuregen, seine Einstellung, seinen Glauben und sein Verhalten zu überdenken.

V. Ausstieg

>>>>>>>>>>>>>> Der Ausstieg ist nicht auf die ideologische Dimension beschränkt. Ansätze, die auf einen Ausstieg abzielen, beziehen sich auf folgende Ebenen:

Neuausrichtung der Interessen und Integration In einigen Stadtteilen wurden Ansätze verfolgt, die auf die Wiedereingliederung von Personen in die Gesellschaft abzielten. Dabei spielte die Berücksichtigung ihrer grundlegenden Bedürfnisse, z.B. in Bezug auf Bildung und grundlegende finanzielle Absicherung eine Rolle. So sollte den sozio-ökonomischen Ursachen der Radikalisierung begegnet werden, alternative und erfolgversprechende Lebensstile dort ermöglicht werden, wo sich die betreffenden Personen niederließen. Dies wurde insbesondere für die Rückkehr ausländischer Kämpfer genutzt, die in diesem Rahmen Vereinbarungen mit Stadtverwaltungen unterzeichnen und Entwick­lungspläne ausarbeiten. Sie erhalten Unterstützung durch verschiedene Be­hörden, darunter psychologische Unterstützung. Dieser Ansatz wurde in Dänemark verwendet und wird als Aarhus-Modell bezeichnet.

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Psychologischer Ausstieg Dieser Ansatz, der von einigen Fachkräften genutzt wird, bezieht sich nicht unmittelbar auf die ideologische Ebene, sondern zielt auf die dahinterliegenden Motivationen auf der psychischen bzw. emotionalen Ebene. Wenn sich diese Motivationen verändern lassen, so die Annahme, würde der Be­treffende nicht mehr versuchen, Gewalttaten im Sinne der von ihm vertretenen Ideologie zu begehen, und schließlich überdenken, was er tut und warum.

Ablenkungstaktik Andere schlagen einen indirekteren, der Idee der Diversion entsprechenden Ansatz vor, der darauf abzielt, das Leben und die Interessen junger Men­schen, die nur locker an extremistische Gruppen angebunden sind und/oder noch nicht nachhaltig radikalisiert sind, in andere Bahnen zu lenken. In Fällen, in de­nen Personen erste Anzeichen einer Radikalisierung zeigen, kann dieser Ansatz effektiv sein. Entsprechende Initiativen setzen nicht direkt auf der ideologischen Ebene bzw. der Ebene der Deradikalisierung an, sondern umfassen oft allgemeinere sportliche oder kulturelle Aktivitäten.

VI. Empfehlungen

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>  Die Entwicklung von Strategien und Ansätzen erfordert eine umfassende Analyse des lokalen Kontext. Dies umfasst die Push- sowie Pull-Faktoren in verschiedenen Lebensbereichen sowie Risikofaktoren der lokalen Community.

 Einbeziehung eines möglichst breiten Spektrums von Akteuren: Entscheidend ist, dass möglichst viele Einrichtungen – ärztliche und psychologische Dienste, Einrichtungen der Jugendhilfe sowie der Jugendsozialarbeit, Bildungseinrichtungen und Strafverfolgungsbehörden – einbezogen werden und zusammenarbeiten.

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 Die Nutzung unterschiedlicher Ansätze, die an die Bedürfnisse der Zielpersonen angepasst werden, ist entscheidend, um die angemessen Maßnahmen für jeden Betroffenen zu bestimmen.

 Fortlaufende Überprüfung der Einzelfälle und der zugrunde liegenden Bewertungen, damit Annahmen bei Bedarf korrigiert werden können.

 Evaluierung und wissenschaftliche Begleitung sind fortlaufende Prozesse, die stetig verfolgt und weiterentwickelt werden sollten.

 Externe Evaluierung, kollegiale Beratung und Einschätzungen durch Fachkräfte aus anderen, im Bereich der Deradikalisierung aktiven Einrichtungen und der Austausch von Best-Practice-Beispielen können wichtige Quellen für die Sicherung und Verbesserung der Qualität von Präventionsprogrammen sein.

Methoden und Instrumente

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Bitte besuchen Sie www.efus.eu um die nachstehenden Ressourcen einzusehen.

Methoden Das Aarhus-Modell (Dänemark) Die Stadt Aarhus entwickelte 2007 eine Strategie für die Prävention von Radikalisierung. Dabei lag ein besonderes Augenmerk auf der Art und Weise, wie Deradikalisierungsprogramme in diese Strategie aufgenommen werden können, insbesondere durch Mentoring. Diese lokale Strategie basiert auf einer starken Kooperation zwischen nationalen und kommunalen Behörden

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The Safer Brent Partnership Community Safety Strategy – Preventing Radicalisation (Die Safer Brent Partnership Community Safety Strategy zur Prävention von Radikalisierung), Brent (Großbritannien) Brent ist eine von mehreren britischen Städten, die das CHANNELPro­gramm betreiben. Dabei handelt es sich um eine akteursübergreifende Expertengruppe, die sich mit Personen befasst, bei denen offen­ sichtlich ein besonders großes Radikalisierungsrisiko besteht, und die Mittel und Informationen bereitstellt, um eine Reduzierung der Gefährdung dieser Personen zu ermöglichen.

Verantwortung übernehmen – Loskommen von Hass und Gewalt, Violence Prevention Network (Deutschland) Der Ansatz des Violence Prevention Network e.V. zielt auf eine Wieder­ eingliederung in die Gesellschaft. Wichtiger Leitgedanke ist dabei ein nichtstigmatisierender Umgang mit gefährdeten Personen. Der Ansatz bezieht sich auf Personen aus rechtsextremen und religiösextremistischen Spektren.

EXIT SWEDEN (Schweden) EXIT unterstützt Personen, die das Umfeld der schwedischen „White Power“-Bewegung verlassen wollen. Die Arbeit ist an die spezifische Situation und die Bedürfnisse jedes Einzelnen angepasst. Sie konzen­ triert sich auf Personen, die der Gesellschaft feindselig gegenüberstehen, und motiviert sie, ihre Ansichten zu ändern und sich der Gesellschaft wieder anzunähern.

Instrumente Channel Vulnerability Assessment Framework (Großbritannien) Dieses Instrument wird im Rahmen des Channel-Programms der britischen Regierung eingesetzt und wurde auf der Grundlage des National Offender Management Service (NOMS) für die Gefährdungsbeurteilung

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hinsichtlich einer möglichen Rückfälligkeit in terroristische Aktivitäten entwickelt. https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/118187/vul-assessment.pdf

Counter Extremism Consultancy, Training, Research and Inter­ vention - CENTRI, (Großbritannien) CENTRI bietet evidenzbasierte, gegen Extremismus gerichtete Lösungen durch einen Ansatz, der Themen wie Islam, Glauben, Extremismus, kulturelle Vielfalt und Integration aufgreift. Die Lösungen umfassen Deradikalisierung, Schulung von Fachkräften, Forschung und politische Beratung. http://www.centri.org.uk/CENTRI/Home.html

A Guide to Refuting Jihadism – Rashad Ali und Hannah Stuart Dieser Leitfaden stellt eine umfassende Analyse der ideologischen und theologischen Argumente vor, die von diversen islamistischen extremistischen Gruppen vorgebracht werden, und widerlegt sie. Er wird für die Schulung britischer Terrorabwehrspezialisten im Amt für Sicher­heit und Terrorismusabwehr (OSCT) im Innenministerium verwendet. http://henryjacksonsociety.org/wp-content/uploads/2014/02/Refuting-Jihadism.pdf

On the Front Line. A guide to countering far-right extremism (Leitfaden zur Entgegnung von Rechtsextremismus) Dieser praktische Leitfaden für Fachkräfte und Aktivisten basiert auf den Erfahrungen von über 120 Personen, die sich mit Rechtsextre­mismus in zehn Ländern befassen (Dänemark, Finnland, Deutschland, Ungarn, Schweden, Großbritannien, Niederlande, Norwegen, Polen und Slowakische Republik). http://www.strategicdialogue.org/On_The_Front_Line_Far_ RightHANDBOOK.pdf

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Kapitel VI >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>

Gegenerzählungen >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Auf der Seite www.efus.eu finden Sie ein Video, das die Kernaussagen dieses Kapitels zusammenfasst. Gegenerzählungen sind Inhalte, die extremistischer Propaganda proaktiv entgegenwirken. Als Teil einer Kampagne, die online, aber auch offline geführt wird, können sie eine Alternative zu extremistischen Narrativen bieten. Sie sind Teil einer umfassenden Online-Strategie, die auch als „counter-speech“ bezeichnet wird. Während Counter-Speech versucht, ein breites Spektrum an Themen anzusprechen, z.B. homophobe oder sexistische Äußerungen, behandeln Gegenerzählungen ein spezifischeres Problem. Es handelt sich oft um basisgesteuerte Kampagnen, die auf ein spezifisches Zielpublikum zugeschnitten sind, mit dem Ziel, positive Botschaften oder Alternativen zu extremistischer Propaganda zu verbreiten und damit die Resilienz gegen extremistische Ansprachen zu stärken. Dieses Kapitel enthält einen kurzen Leitfaden für Stadtverwaltungen zur Entwicklung von Gegenerzählungen in lokalen Kontexten.29

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29- Die Leitlinien in diesem Kapitel basieren auf diversen Kampagnen, die vom Institut für Strategischen Dialog (ISD) durchgeführt wurden, und bilden die Grundlage der „Innovation Labs“ des ISD, die an der Einführung von Kampagnen für Jugendliche, Aktivisten und NGOs mitwirken sollen. Diese Labs sind eine Möglichkeit, um die glaubwürdigen Stimmen von Aktivisten mit Experten aus Schlüsselbereichen wie Technologie, Kommunikation und Kunst zu verknüpfen. Ebenso besteht die Aufgabe von Stadtverwaltungen darin, als Enabler zu fungieren, die Verbindungen zwischen Aktivisten und Experten ermutigen und neue Ideen fördern, wie gewaltbereitem Extremismus durch Gegenerzählung begegnet werden kann.


Stadtverwaltungen können NGOs bei der Produktion von Gegenerzählungen unterstützen. Sie verfügen hierzu oft über bessere Mittel als nationale Stellen, da sie die lokalen Kontexte und Bedingungen besser kennen und verstehen. Neben dieser unterstützenden Tätigkeit sollten Stadt­verwaltungen jedoch auch weiter an ihrer eigenen strategischen Kommunikation in Bezug auf Radikalisierung, gewaltbereiten Extremismus oder Terroris­mus arbeiten. Dieses Kapitel erläutert eine Reihe praktischer Möglich­keiten, wie Stadtverwaltungen die Produktion von Gegenerzählungen unterstützen können. Es gibt keine eindeutigen Regeln für die Planung einer Kampagne. Dieser Abschnitt gibt Anregungen für die Planung und Ausarbeitung, Durchfüh­rung sowie Verbreitung und Evaluierung. Dies kann durch die Finan­zierung und Schaffung einer zentralen Sammlung zur Dokumentation von Maßnahmen und Instrumenten unterstützt werden, einschließlich regelmäßig aktualisierter Leitfäden über die Verwendung neuer Technologien.

I. Planung einer Kampagne

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Die Narrative extremistischer Gruppen umfassen mehrere Ebenen und behandeln unterschiedliche Themen. Die Entscheidung, auf welchen Aspekt man sich konzen­triert, hilft bei der Produktion effektiver und maßgeschneiderter Ge­generzählungen. Die Planung einer entsprechenden Kampagne umfasst vier wichtige Elemente: das Erkennen der richtigen Zielgruppe, die Aus­arbeitung einer Botschaft, die Wahl des Mediums und das Finden des richtigen Botschafters. Wenn die Zielgruppe erst einmal feststeht, ist es einfacher, eine effektive Botschaft zu erstellen, einen Träger auszuwäh­len und sich für einen Botschafter zu entscheiden, ausgehend davon, was bei der Zielgruppe ankommt und womit sie sich am ehesten identi­fizieren kann. Stadtverwaltungen können die Einrichtung eines zentrali­ sierten Ressourcen-Pakets unterstützen, einschließlich regelmäßig aktualisierter Leitfäden über die Verwendung neuer Technologien und sozialer Medienplattformen, die diese Arbeit fördern können.

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Die Zielgruppe Der erste wichtige Ausgangspunkt besteht darin, die Zielgruppe zu ver­ stehen, die eine Kampagne erreichen soll. Bevor mit der Planung einer Kampagne begonnen wird, sollte entschieden werden, auf welche Personengruppe und welchen Radikalisierungsgrad sie abzielt. Handelt es sich um Personen, die nur locker an extremistische Gruppierungen und Ideologien angeschlossen sind und noch mit Mitteln der Prävention erreichbar sind („upstream“), oder handelt es sich um Personen, die bereits stark radikalisiert sind und bei denen ein interventionistischer Ansatz („downstream“) erforderlich ist? Dann können die Inhalte für das richtige Publikum und die Gesamtkampagne zugeschnit­ten werden, da die Botschaft, das Medium und der Botschafter entsprechend bestimmt werden können. Ein gutes Verständnis der ausgewählte Zielgruppe und ihres Verhaltens sowohl online als auch offline ist die Voraussetzung dafür, dass diese passend beschrieben und vor allem effektiv erreicht werden kann. Es ist wichtig, die Zielgruppe in den Prozess einzubeziehen, nach Möglich­keit schon beim Ausarbeiten der Gegenerzählung. Dafür bieten Gesprächs­ gruppen einen guten Rahmen. Das ist in der Regel nur bei der Ausarbeitung einer „upstream“- bzw. Präventionskampagne möglich, da es weder sicher noch praktikabel ist, eine Gesprächsgruppe mit jungen Extremisten ab­zuhalten. Da sie den lokalen Kontext einschließlich der demographischen Verhältnisse und der Bedürfnisse der lokalen Bevölkerungsgruppen kennen, auf diese Verhältnisse direkt einwirken und vor Ort Kontakte herstellen können, sind Stadtverwaltungen dieser Aufgabe wesentlich besser gewachsen als nationale Institutionen.

Die Botschaft Wenn die Zielgruppe feststeht, ist es wichtig, darüber nachzudenken, welche Geschichten am ehesten bei ihr auf Widerhall stoßen. Das ist die Botschaft. Grundsätzlich sollte die Botschaft mit der Zielgruppe sprechen – und nicht über sie. Beispielsweise ist die Erstellung einer Botschaft, die aussagt, „Extremismus ist schlecht“ vereinfachend und bietet auch keine positive Alternative oder durchdachte Erklärung. Derartige Bot­ schaften entfalten kaum eine nachhaltige Wirkung. Die ef­fektivsten

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Botschaften belehren ihr Publikum nicht, sondern sprechen mit ihm und rufen emotionale Reaktionen hervor oder geben nachhaltige Denkanstöße.

Das Medium Die Wahl des Mediums hängt davon ab, wie die Botschaft präsentiert werden soll (z.B. als Video, Bild oder Text). Der Auswahl sind hier kaum Grenzen gesetzt, aber bestimmte Aspekte sollten berücksichtig werden, darunter die Ressourcen der Kampagne und ihr Budget, oder für welche Inhalte sich die Zielgruppe aller Wahrscheinlichkeit nach interessiert. Grundlage hierfür ist das Wissen darüber, welche Onlineforen und -plattformen die Zielgruppe gerne verwendet. Gegenerzählungen konkurrieren nicht nur mit extremistischen Inhalten um die Aufmerksamkeit der gewählten Zielgruppe, sondern auch mit anderen für diese Zielgruppe interessanten Web-Inhalten.

Der Botschafter Es gibt viele Möglichkeiten, mit Inhalten das Interesse einer Ziel­gruppe zu wecken und sie zur Interaktion zu animieren. Deshalb ist es umso wichtiger, über einen glaubwürdigen Botschafter zu verfügen, der die Gegenerzählung vorstellt. Deshalb muss als nächstes überlegt werden, wem die Gruppe am ehesten vertraut, zuhört und durch wen sie sich inspirieren lässt. Viele Gegenerzählungen verwenden persönliche Geschichten früherer Extremisten und Überlebender terroristischer Gewalt. Die Einbeziehung früherer Extremisten („Aussteiger“), die „dabei waren“, kann eine gute Möglich­keit sein, um eine Zielgruppe zu erreichen, die bereits radikalisiert ist und extremistische Inhalte online abruft. Sie können aus erster Hand über die schwierigen Lebensbedingungen in einer extremistischen Gruppe berichten. Überlebende und Familien bieten eine emotionale und überzeugende Erinnerung an die realen Folgen von Gewalt für das Leben von Menschen, und ihre Berichte können die scheinbare Legitimität gewaltsamer extremistischer Handlungen nachhaltig in Frage stellen. Stadtverwal­tungen können ihr Engagement durch glaubwürdige Bot-

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schafter, darunter ehemalige Extremisten und Opfer (einschließlich ihrer Angehörigen), auf­werten und die Kontakte zwischen diesen Botschaftern und lokalen NGOs erleichtern.

II. Durchführung einer Kampagne

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Es ist wichtig, sich darauf zu konzentrieren, welche Plattformen für jede Kampagne am besten sind, da nur wenige das Bedürfnis oder die Mittel haben, auf jeder sozialen Medienplattform oder Webseite vertreten zu sein. Das Ausloten des Verhaltens der Zielgruppe hilft bei der Entscheidungsfindung darüber, wie man sie am besten erreicht. Es ist wichtig, beispielsweise zu berücksichtigen, zu welcher Tageszeit die Zielgruppe am ehesten online ist oder welche sozialen Netzwerke am beliebtesten sind. Bei der Entscheidung über die Länge einer Kampagne sollte darüber nachgedacht werden, wie die größte Wirkung in der Zielgruppe erreicht werden kann. Manche Gegenerzählungen reagieren auf aktuelle nationale oder globale Ereignisse. Extremistische Gruppen manipulieren diese Ereignisse oft, um bei potenziellen Rekruten Groll zu wecken. Dem können NGOs Rechnung tragen, weil sie nicht den gleichen langwierigen Verfahren und Genehmigungen unterliegen, die Stadtverwaltungen zurückhalten, aber es ist wichtig, diese Strategie zwischen beiden Parteien zu koordinieren, um die Kommunikation zu ergänzen. Die Reaktion der Zielgruppe hängt von ihrem Interesse am Inhalt und seiner Darstellung ab, aber direkte Gespräche können hilfreich sein. Es gibt ein paar einfache Techniken, die im Rahmen der Kampagne genutzt werden können, um das Engagement der Zielgruppe zu erhöhen: Fragen stellen, Listen erstellen, themenbezogen vorgehen und aktiv an Diskussionen teilnehmen, wenn dies angemessen ist. Wenn eine Kampagne auf mehreren Plattformen durchgeführt wird, ist es wichtig, von der Thematik und vom Ton her kohärent zu sein und auf die jeweiligen Links zu verweisen.

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Analyse-Tools, die in sozialen Medien bereitgestellt werden, können nützlich sein, um zu verstehen, welche Arten von Inhalten funktionieren und worauf die Zielgruppe am besten anspricht. Die Evaluierung ist wichtig, da sie dabei helfen kann, künftige Kampagnen zu informieren und zu verbessern.

III. Verbreitung und Evaluierung

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Es gibt eine Reihe kostenloser Instrumente und Methoden, die bei einer Gegenerzählungskampagne genutzt werden können, um eine gewisse Dynamik zu erlangen. Dies wird als „organische“ Verbreitung bezeichnet. Auch Online-Werbung oder bezahlte Verbreitung kann effektiv sein, um Interesse zu wecken und ein organisches Wachstum der Zielgruppe zu erreichen. Stadtverwaltungen können in diesem Bereich auch einen wertvollen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung über Online-Strategien leisten, allen voran bei der Evaluierung, um die Effektivität von Gegenerzäh­lungen besser zu verstehen und best-practice-Beispiele zu identifizieren.

Organische Verbreitung Eine organische Verbreitung – im Unterschied zur bezahlten Verbreitung – kann besonders effektiv und glaubwürdig sein, um die Bot­schaft und die Inhalte der Kampagne der richtigen Zielgruppe zu ver­mitteln. Sie ist zwar kostenlos, allerdings auch zeitaufwändig. Deshalb sollten die Organisatoren überlegen, welche einflussreichen Personen oder sonstigen Organisationen hilfreich sein können und in eine orga­nische Verbreitungsstrategie einbezogen werden sollten. Stadtverwal­tungen können bei der Anbahnung fruchtbarer Kontakte für diese NGOs nützlich sein. Durch die Einbeziehung einflussreicher Persön­ lichkeiten, denen die Zielgruppe vertraut, um über die Gegenerzäh­ lungskampagne zu berichten, wird eine anfängliche Dynamik in der

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angesprochenen Zielgruppe erreicht oder zumindest die Kampagne einem breiteren Personenkreis bekannt gemacht.

Bezahlte Verbreitung Bezahlte Verbreitung kann beim Aufbau einer anfänglichen Gefolg­ schaft und einer Zielgruppe effektiv sein und dafür sorgen, dass sich die Kampagne exponentiell entwickelt. Auch bezahlte Werbung in sozialen Medien ist eine nützliche Art und Weise, das richtige Zielpublikum für die Gegenerzählungskampagne zu erreichen. Dies wird durch die spe­ zifische Ausrichtung populärer Plattformen wie YouTube, Twitter oder Facebook erreicht. Dies basiert auf den von einer Person über sich selbst eingestellten Informationen, darunter die Seiten, die ihr gefallen oder die sie besucht hat, oder auch die Schlüssel- und Suchbegriffe, die sie in Suchmaschinen eingibt. Wenn zum Beispiel ein Jugendlicher in einer Suchmaschine Xbox gesucht hat, erhält er beim Browsen wahr­scheinlich Werbung für Konsolenspiele – und das ist wohlgemerkt kein Verstoß gegen den Datenschutz. Wenn nun also ein Jugendlicher eingibt „wie kann ich mich dem IS anschließen“, dann kann ihm eine entsprechende Gegenerzählung ausgehend von seinen Suchbegriffen angezeigt werden. Damit ist bezahlte Werbung in der Lage, ganz bestimmte Zielgruppen zu erreichen – was vor allem für eine „downstream“-Kampagne wichtig ist. Deshalb ist es entscheidend, die Ausrichtung der Kriterien richtig zu ge­ stalten, indem man zunächst das Zielpublikum versteht, experimen­tiert, testet und optimiert. Die Optionen für diese Kriterien unterscheiden sich leicht zwischen den Plattformen, aber es gibt auch viele Ähnlichkeiten, so dass es nicht allzu schwierig ist, sie entspre­ chend anzupassen. Stadtverwaltungen können die Bemühungen der Zivilgesellschaft bei der Planung und Durchführung alternativer Kam­ pagnen durch direkte Förderung, praktische Unterstützung und die Anpassung des Engagements des Privatsektors an die Basisnetzwerke der Zivilgesellschaft unterstützen und erleichtern. Für NGOs ist es positiv, geeignete Unterstützung zu erhalten, um mit der komplizierten zielorientierten Werbung zu Recht zu kommen.

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Evaluierung von Kampagnen Es ist wichtig zu bedenken, dass das Ziel einer guten Kampagne nicht unbedingt darin besteht, die maximale Anzahl von Menschen, sondern die richtigen Menschen zu erreichen. Das bedeutet, dass eine erfolgreiche Kampagne zwar möglicher­weise nicht sofort tausende Menschen erreicht, dafür aber diejenigen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit Mitglieder der angespro­chenen Zielgruppe sind. Plattformen verfügen außerdem über eigene Analy­ sesysteme, die den Organisatoren der Kampagne helfen können, zu verstehen, wie bezahlte Werbung auf ihren Plattformen funktioniert. Mittlerweile engagieren sich zahlreiche zivilgesellschaftliche Träger mit Gegenerzählungen und Kampagnen, die einen breiten Bevölkerungsquerschnitt ansprechen. Allerdings ist nicht immer ganz klar, welche Wirkung diese Kampagnen haben. Die Beobachtung, Messung und Evaluierung von Gegenerzählungskampagnen können dabei helfen, auf bestehende Praktiken in diesem Bereich aufzubauen. Die Evaluierung des Erfolgs einer Gegenerzählung ist nicht immer einfach, und es kann schwierig sein herauszufinden, ob eine Kampagne die gewünschte Wirkung erzielt und ob sie ihr allgemeines Ziel erreicht hat. Wenn das allgemeine Ziel einer Kampagne darin besteht, Jugend­ liche daran zu hindern, nach Syrien zu fahren, ist es schwer, belastbare Ergebnisse zu erreichen. Dafür sind kleinere und besser messbare Ziele, die zu diesem Ziel beitragen, leichter zu beurteilen, beispiels­weise durch die Analyse der Menschen, die sich mit den Inhalten von Gegenerzählungen befassen, und die Prüfung, ob sie mit der ange­strebten Zielgruppe übereinstimmen und wie sie sich engagieren. Diese Information kann dann für künftige Kampagnen, Inhalte oder Strategien genutzt werden. Daher ist es entscheidend, eine Kampagne so gut wie möglich zu beobachten und zu evaluieren, nicht nur während ihrer Umsetzung, sondern auch nach ihrem Ende. Durch die Evaluierung und die Nutzung der daraus gewonnenen Erkenntnisse kann eine Kampagne einen wertvol­ len Beitrag zu einem besseren Verständnis von Gegenerzählungen leisten. Diese Erkenntnisse können Stadtverwaltungen für ihre eigenen Bemühungen nutzen.

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Evaluierungskriterien und Messung Unterschiedliche Plattformen bieten unterschiedliche Werkzeuge der Zielgruppenerreichung. Sie bieten auch verschiedene Möglichkeiten für die Analyse einer Kampagne. Es gibt ein breites Spektrum an unterschied­lichen Messgrößen, die dem Kampagnenpersonal helfen, die Effektivität ihrer Kampagnen zu verstehen. Generell lassen sich diese Messgrößen in drei Arten einteilen:

 Reichweite: Messgrößen, die die Anzahl der Menschen angeben, die durch eine Kampagne erreicht werden (z.B. Klicks, Kontakte oder Videoansichten), und demografische Informationen (z.B. Alter, Geschlecht, Standort), die Einblicke vermitteln, ob die richtige Ziel­ gruppe erreicht wurde.

 Interaktion: Messgrößen, die zeigen, in welchem Umfang Personen mit den Inhalten der Kampagne interagiert haben (einschließlich „Gefällt mir“, Kommentare oder Mitteilungen).

 Wirkung: Messgrößen anhand derer der Gesamterfolg der Kampagne eingeschätzt werden kann. Je nach Art der Kampagne und Zielpublikum können dies z.B. Hinweise darauf sein, dass zu Diskussionen angeregt wurde, kritisches Denken gefördert wurde oder ob nach­haltiges Online-Engagement zum Thema gewaltbereiter Extremis­mus entstanden ist. Für „downstream“- bzw. auf Intervention fokussierte Kampagnen könnten hierunter Hinweise darauf fallen, dass die Zielgruppe direkt nach einer Interaktion mit den Inhalten der Kampagne Unterstützung oder Rat sucht. Die Wirkungs-Messgrößen sind oft qualitativ, bieten nützliche Einblicke und sollten nicht außer Acht gelassen werden. Sie bieten möglicher­weise nicht die statistische Sicherheit von Zahlen zur Reichweite und zur Interaktion, geben aber dennoch den besten Aufschluss darüber, wie eine Zielgruppe auf eine Kampagne reagiert und welchen Einfluss eine Kampagne hatte. Stadtverwaltungen sollten dies bedenken, wenn sie mit NGOs zusam­ menarbeiten oder diese dabei unterstützen, ihre Gegenerzählungs-Kampagnen durch öffentliche Personal- und Sachmittel oder Förderung aus dem privaten Sektor zu finanzieren.

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VI. Empfehlungen

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>  Stadtverwaltungen sind besser aufgestellt als Behörden auf Landesoder Bundesebene, um auf den lokalen Kontext zu reagieren und die spezifischen Bedürfnisse lokaler Träger zu verstehen, die in der Entwicklung von Gegenerzählungen aktiv sind. Sie können begrenzte Mittel mit mehr Einblick steuern und lokale Kapazitäten entwickeln.

 Stadtverwaltungen können ihr Engagement durch glaubwürdige Botschafter optimieren, darunter Aussteiger und Überlebende, und Kontakte zwischen Botschaftern und lokalen NGOs erleichtern.

 Die Rolle einer Stadtverwaltung kann darin bestehen, Personen, die geeignet sind, als Botschafter oder Akteure von Gegenerzählungs-Kampagnen zu agieren, denen jedoch noch die Fähigkeiten und Kompetenzen für diese Arbeit fehlen, zu identifizieren, zu qualifizieren und sie mit zivilgesellschaftlichen Akteuren in Kontakt zu bringen.

 Stadtverwaltungen können auch mit der Schaffung einer zentralen Sammlung von Maßnahmen und Instrumenten, einschließlich regelmäßig ak­tualisierter Leitfäden über die Verwendung neuer Technologien und sozialer Medienplattformen, dazu beitragen, extremistischen Botschaften gegen­zusteuern.

 Unterstützung und Erleichterung der Bemühungen der Zivilge­ sellschaft, um alternative Gegenerzählungskampagnen zu planen und durchzuführen, durch direkte Finanzierung, Sachleistungen und die Förderung einer Zusammenarbeit zwischen Privatwirtschaft und der Zivilgesellschaft.

 Die Behörden sollten einen Beitrag zu Investitionen in groß angelegte Forschung leisten, um die Effektivität von Gegenerzählungen besser zu verstehen, und an der Verbreitung der Ergebnisse mitwirken.

 Schulungsangebote für lokale NGOs.30 30- Nach Counter-Narrative Toolkit and Handbook des Institute of Strategic Dialogue 2016, siehe T. Silverman und H. Tuck, The Counter Narrative Handbook, Institute for Strategic Dialogue, 2016.

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

 Bei der Unterstützung von Gegenerzählungskampagnen sollten Stadtverwaltungen auch die Mechanismen von Online-Kommu­ nikationen nutzen, ihre eigene strategische Kommunikation straffen und sicherstellen, dass ihre Botschaften die von NGOs geschaffenen Gegenerzählungen ergänzen. Wichtig ist auch, dass Stadtverwaltun­ gen ihre Offline-Arbeit zur Bekämpfung von Extremismus und Radikalisierung mit einer Online-Kommunikation verknüpfen.

 Neben der Erleichterung von Kontakten mit glaubwürdigen Botschaftern, Zielgruppen und NGOs können Stadtverwaltungen auch einen Beitrag leisten, indem sie in Forschung investieren und ihre Ergebnisse bekannt geben, damit diejenigen, die Kampagnen ausarbeiten, voneinander lernen können und den Bereich besser ver­ stehen. Dazu gehört auch die Ausrichtung des privatwirtschaftlichen Engagements auf Basisnetzwerke, was für die Steuerung gezielter Werbung und Evaluierung von Vorteil ist.

Methoden und Instrumente

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Bitte besuchen Sie www.efus.eu um die nachstehenden Ressourcen einzusehen.

Methoden EXIT USA (downstream) EXIT USA ist in der aktiven Betreuung potenzieller Aussteiger aus rechtsextremen Gruppen aktiv. Die NGO hat eine Reihe mit vier Filmen produziert, die in sozialen Medien verbreitet wurden. Zu diesem Ansatz gehört auch die Diskussion mit Nutzern der Filme in sozialen Netzwerken. Etliche Extremisten meldeten sich im Zuge der Kampagne und baten um Hilfe.

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Safeguarding Multi-Agency Approaches Reduces Terrorism (SMART) (upstream) Im britischen Derbyshire produzierte die Polizei mit Hilfe von Stu­ denten des Derby College mehrere Filme mit Gegenerzählungen. Die SMART-Videos wurden Schulen in ganz Großbritannien zur Verfügung gestellt. Auf YouTube sollen sie die Gefahren der Radikalisierung und die Tatsache aufzeigen, dass Terrorismus nicht unbedingt etwas mit Glau­ben oder Religion zu tun hat. Außerdem werden Informationen darüber gegeben, welche Anzeichen auf eine mögliche Radikalisierung hinweisen können.

Extreme Dialogue Die Kampagne Extreme Dialogue wurde im Februar 2015 in Kana­ da mit dem Ziel gestartet, der Attraktivität extremistischer Narrative entgegenzuwirken. Extreme Dialogue umfasst mehrere kurze Dokumentar­filme, die durch Lehrmaterial ergänzt werden, das in Klassenzimmern oder Gemeinschaften verwendet werden kann.

Instrumente Counter-Narrative Toolkit Das „Counter-Narrative Toolkit“ (www.counternarratives.org) ist ein Lehrmaterial mit einfachen, schrittweisen Anleitungen, die Organisa­ tionen dabei helfen sollen, effektive Gegenerzählungskampagnen zu entwerfen. Das Toolkit ist der erste Leitfaden seiner Art und vermit­telt seinen Nutzern Best Practices für die Planung einer Kampagne mit der Schaffung relevanter Inhalte und der Online-Verbreitung ihrer Gegenerzählungen in ihren Zielgruppen. Filme zum Thema Gegenerzählung

 Was sind Gegenerzählungen?: Dieser Film erläutert, was Gegener­zählungen sind und wie sie als leistungsfähige Tools gegen extre­mistische Narrative eingesetzt werden können.

 Kreative Gegenerzählungen: Dieser Film erklärt, dass es bei

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

Gegenerzählungen um Kommunikation geht, und wie wichtig Kreativität nicht nur bei der Präsentation der Inhalte, sondern auch beim Finden der Online-Zielgruppe ist.

 Gegenerzählung und soziale Medien: Dieser Film erklärt, dass es bei der Nutzung sozialer Medien zur Bekämpfung von extremistischen Online-Narrativen insbesondere auf die Zielgruppenerreichung und den Einsatz von Nutzungsstatistiken ankommt.

Counter-Narrative Handbook Dieses Handbuch ist als Hilfe für alle gedacht, die versuchen, proak­ tiv mit Gegenerzählungskampagnen auf extremistische Propaganda zu reagieren. Es soll ein Leitfaden für Anfänger sein und wendet sich vor allem an diejenigen, die bisher nur wenig oder gar keine Erfahrung mit Gegenerzählungskampagnen haben. Es führt die Leser durch die wichtigsten Etappen der Planung, Durchführung und Evaluierung einer effektiven Gegenerzählungskampagne. Das Handbuch ergänzt die Schulung mit dem Toolkit. http://www.strategicdialogue.org/wp-content/uploads/2016/06/ Counter-narrative-Handbook_1.pdf

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Literaturhinweise >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>  Baran Z., Fighting the war of ideas, Foreign Affairs 84: 6, Nov.-Dez. 2005  Belgischer föderaler öffentlicher Dienst für innere Angelegenheiten, BOUNCEalong, Awareness-raising for Parents and Frontline Workers, 2014, S. 15  Borum R. „Radicalization into Violent Extremism II: A Review of Conceptual Models and Empirical Research“ in Journal of Strategic Security 4, Nr. 4, 2011, S. 37-62  Brantingham P.J. und Faust F.L., „A Conceptual Model of Crime Prevention“, in Crime and Delinquency, Juli 1976 22, S. 284-296  Europarat, Europäische Charta für kommunale Selbstverwaltung, Straßburg, 1985  Della Porta D. und LaFree Gary, Guest Editorial: Processes of Radicalization and De-Radicalization, IJCV, Band 6, Nr. 1, 2012  Heinke, D. H., German Jihadists in Syria and Iraq: An Update, ICSR Insight, London, 2016  Hoskins A. und O’Loughlin B., „Media and the Myth of radicalisation“, Media, War and Conflict Band 2(2): S. 107–110, 2009  Lindekilde L., „Neo-liberal Governing of „Radicals“: Danish Radicalization Prevention Policies and Potential Iatrogenic Effects“, International Journal of Conflict and Violence 6 (1), 2012, S. 109-122  Khosrokhavar F., Radicalisation, Éditions de la Maison des sciences de l'homme, Paris, 2015  Malthaner S., The Radical Milieu, Bielefeld: Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG), 2010, S. 1

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene

 Malthaner S. und Waldmann P.(Eds.), Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen (Frankfurt am Main: Campus Verlag), 2012  McCauley C. und Moskalenko S., Mechanisms of Political Radicalization: Pathways Toward Terrorism, Terrorism and Political Violence, 20:3, 2008, S. 416  McCauley C., „Jujitsu Politics: Terrorism and Response to Terrorism“’ in Paul R. Kimmel und Chris E. Stout, Hrsg., Collateral Damage: The Psychological Consequences of America’s War on Terrorism (Westport, CT: Praeger, 2006), S. 45–65  Moghaddam, F. N., The Staircase to Terrorism: A psychological exploration, American Psychologist 60 (2005): S. 161–169  Neumann P., „The trouble with radicalization“, in International Affairs, The Royal Institute of International Affairs, Band 89, Ausgabe 4, S. 873–893, Juli 2013  Öktem K., Signale aus der Mehrheitsgesellschaft. Auswirkungen der Beschneidungsdebatte und staatlicher Überwachung islamischer Organisationen auf Identitätsbildung und Integration in Deutschland, Oxford, 2013  Ranstorp M., Understanding Violent Radicalisation: Terrorist and Jihadist Movements in Europe, Routledge, New York, 2010, S. 19-23  Sageman M., Understanding Terror Networks, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2004), S. 115  Schmid P., Radicalisation, De-Radicalisation, Counter-Radicalisation: A Conceptual Discussion and Literature Review, The International Centre for Counter-Terrorism, 2013, S. 4  Scruton R., The Palgrave Macmillan Dictionary of Political Thought, dritte Ausgabe (Basingstoke: Palgrave Macmillan), 2007  Sherman L.W., „Family Based Crime prevention“ in Preventing Crime: What Works, What Doesn't, What's Promising, Kapitel 4, National Institute of Justice, 1998

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 Silber M. D. und Bhatt A., Radicalization in the West: The Homegrown Threat (New York: Police Department, City of New York, NYPD Intelligence Division), 2007  Silverman T. und Tuck H., The Counter Narrative Handbook, Institute for Strategic Dialogue, 2016  Vermeulen F. und Bovenkerk F, Engaging with Violent Islamic Extremism. Local Policies in Western European Cities, Den Haag 2012

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Prävention und Bekämpfung von Radikalisierung auf lokaler Ebene Radikalisierung lässt sich nicht allein durch repressive sicherheitspolitische und polizeiliche Maßnahmen bekämpfen. Auch präventive Maßnahmen sind gefragt, die an den Ursachen von Radikalisierungsprozessen ansetzen. Diese Maßnahmen setzen lokale Partnerschaften voraus, um für die Gefahren einer Radikalisierung zu sensibilisieren und Jugendliche und junge Erwachsene zu stärken. Diese Handreichung führt in das Thema ein und vermittelt Ansätze und Methoden, die die Kompetenzen lokaler Akteure in der politischen und praktischen Auseinandersetzung mit Radikalisierungsprozessen fördern und erweitern.

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