Leseprobe Sascha Kokot: Ferner

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Sascha Kokot



Sascha Kokot

Gedichte



DRIFT



hier muss der Winter durchgegangen sein so ausgedünnt die Astnester hält sich kein Wind mehr darin zergliedert schimmern die Wohnungen dahinter auch wenn niemand zu sehen ist weiß ich dass es dich dort gibt deinen Glauben an eine Behausung dein Zaudern in den Stunden in denen die Beleuchtung ausfällt und dein Körper der letzte Ort ist den die Wärme verlassen wird bevor sich das Schweigen sammelt oder eine Therme von Neuem anspringt

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ich höre den Sturm an der Stadt zerren sich am Balkon gegenüber kahl und klar einstimmen unter einer grauen Decke Gruben und Straßen schottern im letzten Lichtkegel zieht er blind seine Kreise dahinter verkriechen sich Tiere zum Dämmern du hältst Ausschau nach dieser Brache zwischen Riss und Rost suchst du nach Spuren sie treiben mit dir unter dem Vorhof umher drängen dich weiter ab vom Sprachgestrüpp das du dir wie auf Besuch mit mir geteilt hast dort kühlen noch Worte aus lose verstreut neben deinem Namen für mich ganz unleserlich

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auf meinen Beinen schläft im weißen Pelz die Unruhe am Morgen der Hunger in den Abendstunden die wärmende Behaglichkeit dazwischen und außerhalb meiner Reichweite in den Ecken der Zimmer nur knapp unter der Decke dämmert dein Schatten im grauen Fell immer scheu und verschnupft lässt er sich kaum hervorlocken höre ich ihn nur leise schnaufen oder tief in der Nacht spielerisch durch das Haus jagen bist du fort wird er zutraulich folgt mir aufs Bett will lange gebürstet werden balgt sich mit der Unruhe und dem Hunger bis wir kleine Kratzer davontragen und erkennen wer hier wohnt wie falsch wir lagen

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immer dann wenn die Dämmerung gegen das Vorglühen der Laternen ausgetauscht wird steht jemand am Fenster und blickt auf das was ihn ganz allmählich aushungern lässt so fern es auch ist in diesen wenigen Minuten kommt es wieder spürbar ein Stück näher schlägt in seinen Bann nimmt langsam Konturen an als eine gesicherte Erinnerung die sich nicht abschütteln fortreden lässt zwischen Häuserfronten über Tramgleisen und Grünanlagen im dichten Geäst bewegt es sich ganz ohne Gewicht mit einer Wucht wie es nur dieses Licht noch kann bevor die Natriumdampflampen ihre Temperatur erreichen uns alle zurückholen um die letzten Dinge zu verrichten ehe die Nacht und der kommende Tag uns einhüllen

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auch wenn die Frau längst fort ist tönt noch immer das Abendprogramm es hat sich viel zu laut eingebrannt und rieselt durch die Decke auf uns herab wo wir in uns nach dem Schlaf greifen die Tage aus dem Fell streichen können wir sie noch lange verfolgen die Berichte, Studios und Mörder bevor ihnen nach Mitternacht der Strom gekappt wird und wir zurückbleiben in unserer nächtlichen Unruhe die langsam erwacht in aller Stille

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das Bettzeug bleibt liegen für ein paar Tage als gefiederter Abdruck meiner Bewegung in diesem Streitfall zwei Meter über dem Boden schwelt es weiter wühlen die Kinder deins und meins darin umher spielen Burg oder Grotte so dick gepolstert tut ihnen nichts weh liegen sie nicht wund auf diesem Schlachtfeld

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das Licht zerstreut sich in den oberen Schichten legt die Tage ohne Regen frei sickert in die dicken Jacken ein ihr Geruch steht lange im Flur auf unseren Wegen durch die Trinkhallen schwelt es im Futter um uns die Trockenheit höhlt uns aus was wir runterkippen hält nur kurz vor dann treibt es uns wieder um bis wir nicht mehr merken dass die Lampen längst angesprungen sind wir all das schon viel zu gut kennen und keine Angst mehr haben vor der Dämmerung in uns

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Inhalt

TRANSIT 23 wie kannst du hier

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DRIFT 7

hier muss der Winter durchgegangen sein  8 ich höre den Sturm an der Stadt zerren 9 auf meinen Beinen schläft im weißen Pelz die Unruhe   10 immer dann wenn die Dämmerung  11 auch wenn die Frau längst fort ist  12 das Bettzeug bleibt liegen  13 das Licht zerstreut sich 14 die Kinder sind uns abhandengekommen 15 die Nächte stellen ihre Spiegel vor unseren Fenstern auf 16 wir werden in unseren Kammern nicht mehr wach 17 heute wird es nicht mehr hell 18 dein Mund bleibt dir auch Wochen später leer 19 seit deiner Abfahrt

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nicht staunen mit zuckenden Ohren schlafe ich durch eure Nächte vor uns der Sandur im tiefen Frost noch lauern die Unwetter im Hochland wo wir aufgestiegen sind yellow tail wir schleifen unsere Messer an diesen heißen Tagen wir sind eingefahren im Rauschen der Anlagen ich schneide eine immer ­ kleinere Form die halbe Nacht schon über den Pass löst es uns auf erst der geschliffene Himmel

GRAPHEN 39 sie angeln im Dezember 40 die Speicher liegen vor Anker 41 in der Ebene 42 house 43 wir mästen unsere Profile 44 es graben die letzten

Antennen in den Nächten


45 in der regen Abwesenheit

65 auf weiter Flur bleiben mir

von Licht 46 ein tiefes Dröhnen fährt durch die Äste dieser Stadt 47 sie schütten hier ein Land auf 48 wie das Grün alles in Beschlag nimmt

die Namen unserer Orte

FILAMENT 71

SCHÄREN

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53 sobald die Stadt zur Ruhe

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gekommen ist 54 ein gleichmäßiges Raffinerie-­ feuer in großer Höhe 55 in den Nächten wachsen uns Korallen 56 es leben Löwen im Untergrund 57 hinter der Nordkapelle 58 das Geröll ging dort oben vor Jahren ab 59 flach und ruhig liegt dieser Ort in deiner Hand 60 hinter dem Tunnel verließen uns die Zweifel 61 am Horizont hallen die Hurrikans 62 vor der Tür parken die Steilküsten 63 sobald die Sonne vertrieben ist 64 Dunst

nur die Häute

66 hinter den Gärten enden

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komm ich zu dir an die Winter der ersten Jahre ist nicht zu denken seit das letzte Gewitter dir alles näher heranrückte am Ende verschwindest du ganz in der Leitung dieser Tage springt es dir wieder in die Knochen seit meinem letzten Besuch wann die Platten anfingen zu reißen auch mein Vater träumte von der Stadt ich kenne die Sprache es gab Einweckgläser es gab sie im Keller noch immer trag ich deinen Boden mit mir herum du bist nicht mehr zu finden wie lange wir die nackten Äste noch sehen werden die Bilder gehen mir langsam aus


hinter den Gärten enden die Namen unserer Orte an der unverletzten Gusshaut wir haben vergessen dort zu enttrümmern die ausgelegten Fallen zu kontrollieren die neuen Gebiete begehbar zu machen wir kennen den Flusslauf kaum wo genau die Versinkung liegt die Trasse ihre Schatten parallel dazu wirft unsere Karten sind inzwischen überholt mit ihnen stimmen die Proviantlisten kaum wir wissen nicht was vonnöten sein wird fest steht nur die Kälte zieht an und wir füllen langsam das Schrot in die Patronen

edition AZUR Dresden ISBN 978-3-942375-29-o


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