Leseprobe Ulrich Koch: Ich im Bus im Bauch des Wals

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Ulrich Koch

Ich im Bus im Bauch des Wals

Gedichte


Ulrich Koch, geboren 1966 in Winsen an der Luhe, lebt östlich von Lüneburg. Er veröffentlichte Gedichtbände im Residenz ­Verlag, in der Lyrikedition 2000 und im Poetenladen. ­Ausgezeichnet wurde er u. a. mit dem Hugo-Ball-Förderpreis (2011).

Erstausgabe © edition AZUR, Dresden 2015 www.edition-azur.de Gestaltung: Kraft plus Wiechmann, Berlin ISBN: 978-3-942375-20-7


Ulrich Koch

Gedichte


Fast alle, die ich liebe, sind noch am Leben.


[Meinen Eltern gewidmet und zur ewigen Erinnerung an den 21.07.2011, an dem sie wieder einmal für Stunden vorbei gekommen sind, zwischen Arztbesuchen und Begräbnissen, Optiker- und Akustikerterminen, im Nachgang einer Anwendung, auf dem Sprung zu einem kleinen Eingriff, in ihrem Clio, den sie gemeinsam steuern, indem sie sich das Hören und das Sehen in zwei gerechte Hälften teilen, und gegen elf unter der Eiche aussteigen, der Hund springt an ihnen hoch, und sich im Gästezimmer umziehen, um in Arbeitskleidung im Garten zu helfen. Sie tragen ihre abgelegten Hosen auf, als wären sie ihre jüngeren Geschwister. Wie Obdachlose schlüpfen sie in ihre ausgetretenen Schuhe. Sie sitzen am Tisch wie bei der Armenspeisung. Jener Küchentisch, an dem einmal die Schwester saß, die Augen von Schminke unterlaufen, als hätte sie Rimbaud gelesen.]



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E L E M E N TA R E G E D ICH T E


Elementares Gedicht No. 0

Sodann die Frage, ob man denn überhaupt und wenn ja noch ein einziges letztes Gedicht oder ob man nicht lieber offen und wund den Rücken zudreht allen leeren Seiten: Schnee perlt geräuschlos euphorisch ins Leere, flüstert sich in die Stille, die länger als unsere Gesichter, wenn wir morgendlich unsre Namen googeln: Raffinade, weichweiße Verzweiflung, die zunimmt im Alter, schlackenloser mit jedem Schlaf. Reinster Stoff, den wir in heruntergewürgten Kondomen über die Grenze schmuggeln.

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Elementares Gedicht No. 1

Trösten Brücken? Sterben Pferde? Jeden Morgen wäscht sie ihre Haare, als ertränke sie eine Katze. Ich möchte ungeschehen machen, worauf ich so lange warte.

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Elementares Gedicht No. 2

Die Bibliothek, von der ich nachts geträumt, bestand aus getrockneten Schmetterlingen, in der Mehrzahl Kleine Füchse und Admiräle, und ich erwachte als Lepidopterologe, gähnend, von Hämatomen übersät, als hätte mich Säugling über Nacht meine tote Mutter mit Küssen bedeckt. Wo etwas gärte oder verweste: Krähenfontänen. Diesige Wiesen, das Licht: nasses Salz. Und der Weg nahm mich nur oberflächlich wahr. Ich weckte den Traum vom Fliegen beim Betreten des Hühnerstalls. Schauerwolke, hell, mit Regenfäden: Seelenmyzel, in aufgelockerte Erde gesteckt. Sternenhimmel, ich ging unter. Rücklings vergaß mich das Gras. Der Fluß trieb mit meinen Füßen voran.

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Elementares Gedicht No. 3

Wie lähmend sind eure Jamben. Und laßt uns schweigen von euren – ihr nennt sie – Biographien: banal wie die Zypressenschatten auf den Bildern von Böcklin. Wolltet ihr nicht endlich Dyslalien züchten? Versucht euch doch einmal wie Delphine zu küssen! Die Gesichter eurer Kinder: Machbarkeitsstudien. Ich lebe länger ohne eure Verse. Wann wird man euch das Kunsthandwerk legen? Ich lese lieber Kohlhaas, treu wie Herse. Auch in mir sind lange Gedichte, die ins Freie wollen nach so vielen Jahren. Bald ist die Küste erreicht, glauben sie mir immer noch. Droht mir jetzt nicht mit Gewaltlosigkeiten. Ich zähle mein Leben nach Dienstjahren, unterbrochen von wenigen Sommern. Das Gras sagt mir alles ins Gesicht. So möchte ich leben: In Auflösung begriffen, im Schatten einer cerebralen Wolke wandernd, die mich vergißt. Ausruhend von mir, an einem Bach, die Kiesel kandiert vom gebrochenen Licht; die Füße im Wasser, vom Wasser geknickt.

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Elementares Gedicht No. 4

Begleiche deine Träume niemals im Mai. Stell deine Hände einander vor. Treibe die Flotte aufs Gras und weide sie. Halt dich von Wangen fern, wenn kein Wind geht. Gib zwei Schaufeln Erde ins Badewasser. Leg dich in einen Katzenschatten. Sag Mutter: Grüß Vater. Halte den Vögeln die Ohren zu. Hüte dich vor dem Hirten. Verwechsle die Toten nie wieder mit Alpenglühen. Meide Maische. Tröste die Flotte, wenn sie weint. Sag deinem Herz, es sei ein Einzelkind. Teile dein Reich. Komme. Geschehe.

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Elementares Gedicht No. 5

Was ich vergessen habe, hat mit Gras zu tun, Brombeeren am Bahndamm, knisternden Sekunden, freihändigen Fahrrädern, an Platanen angebunden auf einem Vorplatz, Anfang August, einem mit Teerpappe gedeckten Dach, auf dem der Abendregen dampfte nach seinem schnellen Ende, tropfenden Bäumen. Mehr nicht. Scheinbar aufrecht gehend, weiß bis zum Rand des Wassers, der alles, was den Augen gehört, in seinem Spiegel bricht: Wie ein Schwan, hin und her gleitend auf einem Löschteich, arbeitet mein Gedächtnis. Ein Tier, das nicht vor mir floh, sondern sich seiner Nacktheit schämte. Denn ich will mich an nichts erinnern, es sei denn, daß es sich wiederholt.

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Elementares Gedicht No. 6 (Was er mag)

Die verkrauteten Sommerkleider der Witwen. Die leuchtende Reithalle in der dämmernden Ebene. Die Stille unterm Sternenhimmel: Im Paketamt werden die Tablets ausgelesen. Den Parkplatz vorm Friedhof, für Entomologen reserviert. Schnee, der auf Motorhauben schmilzt. Die Schachtel der Morgenkälte, von den Grundschülern auf Lunge geraucht. Im Garten des toten Nachbarn den nassen Holzstapel und den abgemeldeten Toyota Hybrid. Das trampende Paar am Rand der nebligen Straße: Zwei Raupen im Glas, kurz vor der Verpuppung, in Formaldehyd.

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Elementares Gedicht No. 7

Ich baue mir ein Fahrrad aus Fichtenzweigen. Zwei Kreuzspinnen, schon sind die Räder gewebt. Ein Glühwürmchen hinten, ein Glühwürmchen vorn. Ein Vogelnest wird die Klingel sein. Heda!, ich bremse mit Hörnern! Wie sich die Speichen im Sonnenlicht drehn! Mit der Wünschelrute des Lenkers, freihändig erst, dann kerzengerade im Stehn (ein Kohlblatt dient mir als Sattel ...) fahr ich das Dorf einmal rauf, einmal runter und strample und rolle und kurve und schleiche, zu sehn, wer sonst noch so lebt.

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E le m entare ged i c h te

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A U S D E R G E SCHICH T E D E R K Ö R P E R D O U B L E S

Aus der Geschichte der Körperdoubles Das Meer Es Seine erste Gitarre war ein sterbender Schwan   Sonntage im April Schon war es Nacht Töchter Seine Hand Anrufung   Die barmherzigen Schwestern   Frühmorgens betreten wir das Gedächtnis, machen uns leicht   Die ländlichen Engel Selig sind die Zerbrechlichen   Im Freibad Feierabend in der Vergangenheit Remake Aus dem Lockbuch (1) Aus dem Lockbuch (2) Aus dem Lockbuch (3) Kalenderblatt Reise durch D 111

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Sie sind jetzt hier Leib Ein einziger Schwan zieht morgens die Schlafenden in die Höhe Hälften Was, als ich einmal im Mai schwieg, passierte Tauziehn mit Libelle Verlaufen Ich ist Vorabend in der Vergangenheit (2) Störche Self fulfilling poetry Turdus, Turdus, mehre uns In der schweren Zeit wurde ich leicht Akropolis Bevor der Winter kommt Bei Eckermann Die Richtige Übers Leuchten Toter Mann

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ICH IM B U S IM B A U CH D E S W A L S

Ich im Bus im Bauch des Wals   In der Erinnerung fahre ich immer ans Meer   Schlusssätze (Oder: Zwischen Prärie und Wannsee)   Schlaflied

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