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4.2 Wo sollten wir stattdessen ansetzen?
Ziel des Lebenslangen Lernens ist die kontinuierliche Weitertwicklung von Können während des gesamten Lebens – egal auf welchem Weg. Im öffentlichen Diskurs dominiert der Weg über formal organisierte Bildungsmassnahmen – Schulungen, Weiterbildungen, Seminare usw. Doch ist dieser Weg nun auch der beste? Hier lohnt sich ein Blick in die Bildungsforschung.
Wo erweitern wir unser Können eigentlich? Und wann ist die Weiterentwicklung von Können nachhaltig?
Eine Antwort hierauf wurde unter dem Namen 70-20-10-Modell bekannt (Lombardo & Eichinger 1996; Johnson et al. 2018). Das Modell kommt aus der Weiterbildung und besagt Folgendes:
— 70 Prozent von dem, was wir können, lernen wir im Berufsalltag. — 20 Prozent von dem, was wir können, lernen wir im direkten Austausch mit anderen Leuten (z.B. dadurch, dass sie uns etwas vorzeigen oder erklären). — Und nur 10 Prozent von dem, was wir können, lernen wir in formalen Bildungseinrichtungen bzw. im
Unterricht.
Dieser Befund findet in der Praxis noch kaum Berücksichtigung. Die meisten Unternehmen setzen bei Weiterbildungen nämlich nach wie vor auf formal organisierte Lernsettings abseits des Berufsalltags und des Arbeitsplatzes: in Klassenzimmern, Seminaren oder Kursen (Manuti et al. 2015, 11).
Der Haken dabei: Nur etwa 15 Prozent der Teilnehmenden wenden das, was sie in Schulungen, Kursen oder Seminaren lernen, in ihrem Arbeitsalltag auch wirklich an (Brinkerhoff 2006). Bei den restlichen 85 Prozent gehen die Schulungsinhalte sprichwörtlich zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus.
Wo erweitern wir unser Können bedarfsorientiert?
Ein Grund, warum sich das Lebenslange Lernen überhaupt als Thema etablieren konnte, war die Einsicht, dass diejenigen Inhalte, die im Rahmen einer Berufs- oder Universitätsausbildung vermittelt werden, immer weniger Halbwertszeit haben. Das berufliche Können, welches der Arbeitsmarkt erfordert, wandelt sich ständig. Arbeitsabläufe erneuern sich, neue Technologien und Programme werden eingeführt und Berufsbilder werden zum Teil fundamental verändert (Adler & Salvi 2017). Dies macht es notwendig, dass Berufspersonen ihr berufliches Können kontinuierlich erweitern. Dank Digitalisierung, Globalisierung und Co. verändert sich unsere Arbeitswelt heute dynamischer denn je. Formale Angebote sind in der Regel zu schwerfällig, um mit dieser Dynamik mitzuhalten. Denn Bedarf nach neuem Können entsteht oft unmittelbar, direkt am Arbeitsplatz – durch neue Herausforderungen oder ungewohnte Situationen, die es zu bewältigen gilt. Entsprechend findet die Erweiterung von beruflichem Können vor allem in diesen neuen, unbekannten und problemhaften Situationen statt (Manuti et al. 2015;
Faure et al. 1972; Marsick et al. 1990). Denken Sie hier an die Anfangszeit von Corona. Plötzlich mussten viele Betriebe komplett auf Homeoffice umstellen. Die Mitarbeitenden mussten sich vom einen auf den anderen Tag darin fit machen, Teamsitzungen mit Videokonferenztools zu gestalten. Geschäftsführende hingegen waren gezwungen, sich berufliches Können rund um «Unternehmensführung ohne persönlichen Kontakt» anzueignen. Ein formaler Weiterbildungskurs zum Thema «Mitarbeiterführung in Zeiten von globalem Homeoffice» wäre da sicher zu spät gekommen.
Wo erwerben wir zukunftsrelevantes Können?
Welche Fähigkeiten werden auf dem dynamischen und zunehmend digitalisierten Arbeitsmarkt der Zukunft wichtig sein und sollten deshalb im Fokus stehen? Ein Blick in bestehende Studien zeigt, dass die Zukunft vor allem die folgenden Kompetenzen von
Berufsleuten erfordert (Iten et al. 2016; Sachs et al. 2016; Genner 2017; Dubs 2018; Becker et al. 2009; Tramm & Reetz 2003; Spiewak 2021; Daheim & Wintermann 2019):
— Die Fähigkeit, Probleme kreativ zu lösen. — Die Fähigkeit, aus vielen verschiedenen Informationen die für sich relevanten herauszulesen; gleichzeitig in der Lage sein, Informationen und die Entstehung der Informationen kritisch zu hinterfragen. — Sicher mit Informations- und Kommunikationstechnologien umgehen können. — Die Fähigkeit und den Antrieb, Veränderungen aktiv mitzugestalten und sich mit ihnen auch selbst weiterzuentwickeln. — Den Antrieb und die Initiative, die eigene Entwicklung selbstinitiativ und bedarfsorientiert voranzutreiben; Strategien und Methoden, um an Informationen zu gelangen, um sich selbst weiterzubilden. — Die Fähigkeit, (komplexe) Zusammenhänge zu verstehen – die Welt wird ja schliesslich immer vernetzter. — Die Motivation, kooperativ und agil zusammenzuarbeiten; situationsgerecht mit anderen zu kommunizieren.
Wir haben Ihnen hier nur eine Auswahl gezeigt. Aber an der wird deutlich: Im Arbeitsmarkt der Zukunft werden Routineaufgaben nach und nach entfallen. Kreative, anspruchsvolle und kooperative Tätigkeiten hingegen nehmen zu. Veränderungsfähigkeit wird ein zentraler Erfolgsfaktor für Berufsleute der Zukunft. Berufliches Können dieser Art kann man kaum im Klassenzimmer trainieren. Eine Schulungssituation bietet nicht die Informationsfülle, erfordert nicht das schnelle Handeln und die Entscheidungsstärke, kommt nicht mit den Problemstellungen, die im Beruf wirklich zählen. Nein – dieses zukunftsrelevante berufliche Können ist nur handelnd, direkt im Berufsleben zu erwerben (Livingstone 1999). Wie? Dazu kommen wir später.