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4.3 Der Arbeitsplatz als zentraler Lernort

Egal ob die Zahlen, die wir Ihnen präsentiert haben, bis zur letzten Nachkommastelle stimmen, eines wird klar: Der Arbeitsplatz ist ein zentraler Lernort. Dort erwerben wir den Grossteil unseres beruflichen Könnens – oftmals ganz unbewusst, indem wir neue, ungewohnte Situationen meistern. Der Arbeitsplatz ist auch derjenige Lernort, an dem wir uns am ehesten diejenigen Handlungskompetenzen aneignen können, die wir für den Arbeitsmarkt der Zukunft benötigen. Trotz dieser Erkenntnisse verlassen sich Unternehmen in der Regel überwiegend auf organisierte Bildungsmassnahmen abseits des Arbeitsplatzes, wenn es darum geht, ihre Mitarbeitenden weiterzubilden (Manuti et al. 2015, S. 11). Der Arbeitsplatz selbst wird als systematischer Lernort hingegen vernachlässigt. Und dies mit fatalen Folgen. Ohne eine bewusste Entscheidung zum «Dazulernen» findet die Weiterentwicklung des beruflichen Könnens am Arbeitsplatz selten zielgerichtet oder intentional statt (Cedefop 2011). Die Lernprozesse am wichtigsten und sinnvollsten Lernort werden also grossteils dem Zufall überlassen – ja, sie finden sogar selten bewusst statt. Und dies ist ein Problem! Denn wird die gesammelte Erfahrung am Arbeitsplatz nicht durch entsprechende Begleitmassnahmen unterstützt, wie zum Beispiel Rückmeldezyklen, Unterstützung bei der Reflexion von Lernerfahrungen, Möglichkeiten, Neues anzuwenden usw. besteht am Ende selten der gewünschte Zuwachs an beruflichem Können – selbst bei Weiterbildungsmassnahmen, die nach dem 70-20-10-Modell strukturiert sind (Johnson et al. 2018). Hinzu kommt, dass anerkannte Instrumente fehlen, um die Erweiterung von beruflichem Können am Arbeitsplatz zu dokumentieren und sichtbar zu machen. So ist es kein Wunder, dass sich auch die Berufspersonen selbst lieber in formale Bildungsmassnahmen begeben, an deren Ende sie ein Zertifikat in der Hand halten, das augenscheinlich beweist, dass sie etwas können, anstatt Zeit und Energie in die zielgerichtete Entwicklung ihres beruflichen Könnens direkt am Arbeitsplatz zu investieren. Ein trauriges Zwischenfazit – hätte doch die gezielte Erweiterung von beruflichem Können am Arbeitsplatz das Potenzial, das Lebenslange Lernen von einigen seiner negativen Konnotationen zu befreien. Der Weiterentwicklung von beruflichem Können am Arbeitsplatz mehr Beachtung zu schenken wäre auch aus bildungswissenschaftlicher Sicht sinnvoll: Immerhin findet dort die meiste, nachhaltigste und zukunftsorientierteste Weiterentwicklung des beruflichen Könnens statt. Ökonomisch gesprochen: Der «Return on Investment» für die Weiterentwicklung von beruflichem Können ist direkt am Arbeitsplatz am höchsten. Was ist nun nötig, um dem Arbeitsplatz im Rahmen des Lebenslangen Lernens und der lebenslangen Erweiterung von beruflichem Können eine grössere Bedeutung einzuräumen?

Der Aufbau von beruflichem Können

Wenn unser Ziel ist, den Arbeitsplatz als festen Lernort zu etablieren, müssen wir uns zunächst ansehen, nach welcher Logik der Aufbau von beruflichem Können funktioniert. Nur dann können wir Massnahmen ableiten, mit denen die Weiterentwicklung des beruflichen Könnens am Arbeitsplatz systematisiert und zielgerichtet gestaltet werden kann. Die folgende Grafik zeigt, dass die Entstehung von beruflichem Können ein mehrstufiger Prozess ist.

Deklaratives Wissen

Das Grundlagenwissen einer Disziplin, Wissen über Fakten, Begriffe etc. (Know-what)

Wissen zusammenführen

Wissen explizieren

Prozedurales Wissen

Das Wissen darüber, wie man das deklarative Wissen in einer spezifischen Situation anwendet (Know-how)

Erfahrungen explizieren Erfahrungen sammeln

Metakognitives Wissen

Das Wissen darüber, wie man etwas macht und warum man etwas genau so und nicht anders macht Erfahrungen hinterfragen

Situatives Wissen

Das Wissen darüber, wie man das prozedurale Wissen in unterschiedlichen Situationen anwendet

Am Anfang steht das deklarative Wissen. Das ist Wissen über Fakten, Begriffe, Vorgehensweisen usw. Das Ziel besteht im «Verstehen» der Inhalte.

Beispiel: Eine neue Sales Managerin fängt neu in einem Unternehmen an. Zuerst muss sie sich deklaratives Wissen aneignen, zum Beispiel darüber, welche Produkte und Dienstleistungen das Unternehmen anbietet und wie die Preisgestaltung organisiert ist. Ebenso muss sie sich die betriebsinternen Standards für das Führen von Verkaufsgesprächen aneignen.

Auf Basis des deklarativen Wissens erfolgt in einer zweiten Phase der Aufbau von prozeduralem Wissen. Das ist das «Know-how», also das Wissen darüber, wie man das deklarative Wissen in einer ganz spezifischen beruflichen Situation anwendet. In dieser Phase geht es um die eigentliche Umsetzung Ihres deklarativen Wissens in der Berufspraxis. Nach und nach bauen Sie Routine auf.

Beispiel: Die Sales Managerin beobachtet eine erfahrene Kollegin beim Führen eines Verkaufsgesprächs. Die Kollegin erläutert ihr im Anschluss an das Gespräch genau, wie sie vorgegangen ist und wie sie die betriebsinternen Standards umsetzt. Anschliessend führt die neue Sales Managerin selbst ein Verkaufsgespräch nach dem Standardprozess.

Die Fähigkeit, Routinesituationen zu bewältigen, macht aber noch keine kompetente Berufsperson aus. Erst wenn Sie in unterschiedlichen beruflichen Situationen nach und nach Erfahrungen sammeln, erweitern Sie Ihr Repertoire an beruflichem Können. Sie bauen situatives Wissen auf.

Beispiel: Die mittlerweile nicht mehr ganz neue Sales Managerin führt Gespräche mit Kund/innen mit unterschiedlichen Anliegen sowie zum Teil mit schwierigen Kund/innen. Sie berät zur gesamten Dienstleistungs- bzw. Produktpalette. Ihre Vorgesetzte stellt sicher, dass die Sales Managerin verschiedenste Verkaufssituationen erlebt.

Damit hier ein echter Lernprozess in Gang kommt, ist es wichtig, das Vorgehen immer wieder bewusst zu hinterfragen: Was hat in dieser Situation gut funktioniert? Warum? Was ist vielleicht in der einen Situation sinnvoll, in der anderen aber nicht? Dieser Schritt ist wichtig, da dadurch das Bewusstsein entsteht, dass nicht jede berufliche Situation nach Schema F gelöst werden kann. Durch dieses bewusste Hinterfragen der eigenen Erfahrungen entsteht das sogenannte «metakognitive Wissen»: das Wissen darüber, wie man etwas macht und wieso man es genau so und nicht anders macht.

Beispiel: Die Sales Managerin wertet ihre Kundengespräche aus. Sie überlegt sich, bei welchen Produkten und Dienstleistungen ihre Stärken liegen, und hält fest, in welchen Situationen sie dazu neigt, von den betrieblichen Standards abzuweichen. Sie lässt ihre Erkenntnisse in ihre zukünftigen Kundengespräche einfliessen.

Soweit also zur Theorie. Was heisst das nun für die Erweiterung von beruflichem Können?

1. Um ihr berufliches Können zu erweitern, müssen sich Berufsleute neuen Situationen aussetzen. Dies zeigen auch Studien zum informellen Lernen am Arbeitsplatz (Johnson et al. 2018; Manuti et al. 2015): Die Erweiterung von Können findet vor allem in problemhaften, ungewöhnlichen Situationen statt. Durch neue

Situationen werden also Lernprozesse angestossen. Anders ausgedrückt: Wo Routine und Alltag herrschen, hat Dazulernen keinen Raum.

2. Der Aufbau von beruflichem Können erfordert eine bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun und Handeln. Um sein Können nachhaltig zu erweitern, muss man also den bewussten Entschluss fassen, sich weiterzuentwickeln, oder je nach Situation realisieren, dass gerade eine Weiterentwicklung des

eigenen Könnens stattfindet (Anderson & Krathwohl 2001; Johnson et al. 2018).

3. Um Lernprozesse am Arbeitsplatz zu fördern, muss sichergestellt werden, dass der Durchlauf der vier

Stufen des Aufbaus von beruflichem Können nicht dem Zufall überlassen wird, sondern zielgerichtet abläuft.

Erkennen, was den Aufbau von beruflichem Können begünstigt

Zusätzlich wird der Aufbau von beruflichem Können am Arbeitsplatz durch folgende Faktoren begünstigt

(Watkins & Marsick 1990; Johnson et al. 2018; Knöchel 2000; Overwien 2004):

1. Eine aktive Rückmeldekultur im Betrieb. Dies ist vor allem in der Phase des prozeduralen Wissens zentral: Wenn Sie dabei sind, neue Routinen aufzubauen, ist es wichtig, dass Ihnen jemand, der die Handlung schon beherrscht, Rückmeldung gibt und Ihnen allfällige Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigt. Denken

Sie hier auch an die Bildungsstatistiken: Immerhin lernen Sie 20 Prozent von dem, was Sie können, durch andere. Feedback ist ein wichtiger Teil der Erweiterung des beruflichen Könnens durch andere.

2. Unterstützung bei der Reflexion des eigenen Handelns oder der eigenen Lernprozesse. Ebenso gelingt das

Reflektieren der eigenen Erfahrungen, Umsetzungen und des eigenen Lernprozesses besser, wenn es durch eine erfahrene Berufsperson begleitet wird.

3. Die Berufsperson als wichtigster Treiber ihres eigenen Lernprozesses. Sie haben erfahren, dass Lernprozesse einerseits von externen Impulsen angestossen werden: Es gilt eine neue Situation zu bewältigen, also eignet man sich das entsprechende Können an – sozusagen gezwungenermassen. Dieser Impuls kann aber auch von der Berufsperson selbst kommen: Denken Sie hier an eine aufstrebende Projektmitarbeiterin, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Projektleiterin zu werden: Sie wird in Projektsitzungen ganz genau beobachten, was die aktuelle Projektleiterin tut. Vielleicht wird sie auch einen Online-Kurs zum Thema Projektmanagement absolvieren oder ein Buch dazu lesen (deklaratives Wissen). Sie wird anschliessend nach Gelegenheiten suchen, mehr Verantwortung in den Projekten zu übernehmen, in denen sie arbeitet, um ihr Wissen in der Praxis anzuwenden (prozedurales Wissen). Sie begibt sich also absichtlich in neue, ungewohnte Situationen. Schliesslich wird sie zu ihrer Vorgesetzten gehen und ihr von ihrem Ziel berichten. Wenn sie Glück hat, darf sie kleinere Projekte leiten und wird dabei von der erfahrenen Projektleiterin mit regelmässigem Feedback unterstützt (Lernen von anderen). In verschiedenen Projekten baut sie nach und nach situatives Wissen auf, das sie regelmässig reflektiert (deklaratives

Wissen). So entsteht neues Können nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Wollen.

4. Ein Gefühl von Empowerment und Selbstwirksamkeit aufseiten der Berufspersonen. Empowerment bedeutet, dass die Berufspersonen ermutigt werden, ihre eigenen Stärken zu entdecken und auszubauen.

Dies ist vor allem für Lernprozesse, die von der Berufsperson selbst initiiert werden, wichtig. Selbstwirksamkeit hingegen beschreibt die Überzeugung, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können. Ohne Selbstwirksamkeit werden neue, ungewohnte Situationen nicht als Lernimpulse empfunden, die man meistern kann, sondern als Bedrohung. Statt einem

Lernprozess setzen Verunsicherung, Angst und Selbstzweifel ein.

5. Geeignete Rahmenangebote, die den Lernprozess flankieren. Nicht alle Berufspersonen bringen die gleichen Voraussetzungen für eine selbstgesteuerte Weiterentwicklung ihres beruflichen Könnens mit. Umso wichtiger ist es, geeignete flankierende Massnahmen zur Verfügung zu stellen, die dem Lernprozess einen Rahmen geben. Damit bleibt die Berufsperson zwar Treiberin ihres eigenen Lernprozesses, wird aber durch ein geeignetes Instrumentarium unterstützt, ihr Können eigeninitiativ weiterzuentwi-

ckeln (Spiewak 2021).

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