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DAS WESEN DES WOHNENS
WOHNSINN
Könnte Wohnen womöglich der einzig mögliche Seinszustand des Menschen sein? Unser Leben auf der Erde ist zufällig, prekär und befristet. Zu kurz, um es sich nicht heimelig zu machen. Erst wenn man sich auch atmosphärisch richtig eingerichtet hat, kann alles Leben zum Wohnen werden. Eine philosophische Annäherung.
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TEXT: MARIAN KRÖLL
Minimalismus ist die edelste Form des Luxus. Das gilt auch beim Wohnen. Daybed „Reykjavik“ von Skagerak. Ab ca. 3.500 Euro. Skagerak gesehen bei mg interior an der Innsbrucker Haller Straße.
pätestens seit Erich Fromms gesellschaftskritischem Werk „Haben oder Sein“ aus den 1970er-Jahren steht der Gegensatz zwischen dem Besitzstreben, dem „Haben“, und der Geisteshaltung des „Seins“, in der dem Konsum nur eine sehr untergeordnete Rolle zukommt, nicht mehr nur im Zentrum philosophischer Debatten, sondern ist in den gesellschaftlichen Mainstream übergeschwappt. Das Wohnen oder vielmehr dessen Bedeutung für unser Sein ist dagegen bislang seltsam unterbelichtet geblieben. Und das sogar in der Philosophie. Deshalb ist der Philosoph und Publizist Florian Rötzer mit dem klugen Buch „Sein und Wohnen – Philosophische Streifzüge zur Geschichte und Bedeutung des Wohnens“ angetreten, diesen Zustand zu beenden.
Rötzer liefert einen Überblick über alle denkmöglichen Facetten, sich dem Thema philosophisch zu nähern, und beginnt sein Buch mit einem Adorno-Zitat: „Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen.“ Ganz so kulturpessimistisch wie Adorno muss man es freilich nicht anlegen und könnte – wiederum in Anlehnung an den Philosophen – die apodiktische Aussage etwas abschwächen: „Es gibt kein richtiges Leben in der falschen Wohnung.“
Wohnen ist zweifellos ein Grundbedürfnis, wenn nicht gar das Grundbedürfnis schlechthin. Mit der Coronakrise hat das Wohnen in den eigenen vier Wänden allerdings seine Unschuld verloren und eine neue Ambivalenz bekommen: „Schutz vor Gefahren, ein gesicherter Raum des Intimen und Persönlichen, aber eben auch ein Gefängnis und ein Raum der Vereinsamung“, hält Rötzer diese Ambivalenz fest.
DAS WESEN DES WOHNENS Zwei Philosophen, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten, haben sich bereits nach den Wirren des Zweiten Weltkriegs einige Gedanken über das Wesen des Wohnens gemacht. Da der sesshafte Martin Heidegger, der mit Nazi-Deutschland sympathisiert hatte, und dort der Jude Vilém Flusser, der vor den Nazis geflüchtet war und als Kosmopolit eine Philosophie der Bodenlosigkeit entwickelt hatte, die den Heimatbegriff dekonstruiert: „Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muss immer, gleichgültig wo, wohnen.“ Heidegger ging dagegen sogar so weit, überhaupt das ganze Menschsein mit dem Wohnen gleichzusetzen, wie er 1951 in einem Vortrag „Bauen-Denken-Wohnen“ formuliert hatte: „Die Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Wohnen. Mensch sein heißt als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen.“ Das Verb „wohnen“ führt Heidegger etymologisch zurück auf das altsächsische wuon und das altenglische bzw. gotische wunian, die beide – wie bauen – ursprünglich „bleiben“, „sich aufhalten“ bedeuteten. Dann gibt es noch das altisländische una im Sinne von Behagen empfinden, zufrieden sein, bleiben. Martin Heidegger war in seiner Philosophie darauf bedacht, den Menschen nicht länger als Zentrum der Welt zu denken, sondern im Gesamtzusammenhang einer Welt, die er „Geviert“ nannte. Anstatt über die Erde zu herrschen, solle der Mensch in ihr als sterblicher Gast wohnen und sie schonen. Das Einhergehen des Wohnens mit dem Schonen ist ein zeitloser Gedanke, der gerade in Zeiten des Klimawandels aktuell ist.
Florian Rötzer attestiert Heidegger, dass dessen Vorstellung vom philosophischen Wohnen, die eng mit dem Begriff der Heimat verknüpft ist, „provinziell und antiglobal“ sei, und lässt Heideggers Verschmelzung von Bauen, Wohnen und Sein nicht gelten. Er vertrete damit die Positionen derjenigen Menschen, die Wohnen mit Heimat verbinden, mit einer angeblichen Notwendigkeit, in einer vertrauten Umgebung, in der man aufgewachsen ist, dauerhaft zu leben beziehungsweise einen Mangel – Heimat- und Wohnungslosigkeit – zu konstatieren, sobald man unter den Zwang kommt, die Heimat zu verlassen.
Ganz gleich, welcher Denkungsart man auch zugeneigt sein mag: Wohnen ist philosophisch betrachtet jedenfalls kein ganz einfaches Terrain.
IN UTERO In Rötzers Beiträgen taucht wiederholt der Verweis auf den Umstand auf, dass „Wohnen mit frühen Erfahrungen des Lebens im geschützten Uterus und dem Sturz in die Welt verbunden ist – Erfahrungen, die vermutlich Erwartungen an das Wohnen geprägt haben.“ Das Leben beginne als Zusammenleben, als eine vorübergehende Wohngemeinschaft, die in der Regel mit der Entbindung oder dem Zur-Welt-Kommen auf andere Weise fortgesetzt werde, meint der Philosoph.
Diese Grundstimmung des Aufgehobenseins prägt unser Leben ebenso wie die Suche nach einer Wohnung. Wohnen als Bleiben, Sich-Niederlassen und Ruhen an einem geschützten Ort ist eine zentrale Grundvoraussetzung der menschlichen Kultur. In diese Kerbe
WOHNEN IST EIN THEMA, DAS UNS ALLE UNMITTELBAR ANGEHT, UNSER SEIN BERÜHRT, MANCHE MEINEN GAR, ES AUSMACHT. MAN KANN NICHT NICHT WOHNEN. ZUMINDEST NICHT ÜBER EINEN LÄNGEREN ZEITRAUM.
schlägt auch Religionsphilosoph Paul Tillich, der das Wohnen im Haus gegen das Fremde und Abgründige des Draußen in Stellung gebracht hat: „Um dem Unheimlichen zu entfliehen, sucht der Mensch sich heimisch zu machen im Dasein, sucht er dem Dasein das Fremde, Drohende zu nehmen. Ein hervorragendes Symbol dieses Willens ist das Haus.“ Dort werde, so Tillich, ein Stück des Daseins heimisch gemacht, zur Vertrautheit gebracht.
Der Philosoph Hermann Schmitz hat das Wohnen einmal als „ein Verfügen über Atmosphärisches, sofern ihm durch eine Umfriedung ein Spielraum gewährt wird“, bezeichnet. Gelingendes Wohnen bezeichnet er folglich als die erfolgreiche Herstellung einer besonderen Stimmung, die als leibliche Regung gespürt wird und behaglich ist. Worum es im Grunde beim Wohnen geht, ist im Begriff der Behaglichkeit bereits angelegt. Dort versteckt sich nämlich der dem Germanischen entstammende Wortteil „Hag“, der auf eine Umzäunung verweist. Indem man sich einen „intimen” Raum schafft und diesen mit seiner ganz eigenen Atmosphäre auflädt, stiftet man „Wohnlichkeit”, die gemütlich, behaglich und, ja, auch anheimelnd ist.
Bei diesen selbst geschaffenen Räumen geht es natürlich auch um das darin enthaltene Mobiliar und dessen Materialität und Materialien, aber viel grundsätzlicher noch um das Wirken und den Eindruck, den diese Räume bei denjenigen hervorrufen, die in ihnen wohnen. Gelingt das Wohnen, wird, wie Schmitz fast poetisch postuliert hat, „alles Leben zum Wohnen“. Ein interessanter Gedanke, der darauf hinausläuft, dass das Sein vom Wohnen schwer zu trennen ist. Wohnen ist tatsächlich ein Existenzial, eine anthropologische Grundkonstante.
Während in Heideggers Gedankenkosmos das Wohnen ein metaphysischer Begriff ist, nimmt der französische Philosoph Gaston Bachelard in seiner Studie „Poetik des Raumes” eine konkrete Analyse vor, die sich allerdings weniger mit der Wohnraumgestaltung an sich befasst als mit Erinnerungen an Ereignisse, die Spuren in der Vorstellung der Bewohner hinterlassen. Bachelards Schrift gerät allerdings, wie Rötzer pointiert festhält, „zur nostalgischen Feier des Wohnens in einem Einzelhaus mit Dach und Keller“. Über die gerade in urbanen Räumen, aber auch am Land prominenter werdenden Wohnbauten weiß Bachelard dagegen wenig Schmeichelhaftes zu sagen: „Die Bewohner der Großstadt wohnen in übereinander gestellten Schachteln.“ Charmant. Angesichts des Flächenfraßes, den der Bau von Einfamilienwohnhäusern gerade in Österreich und Tirol mitverursacht, gilt es, Bachelards abschätziger Einschätzung entschieden entgegenzutreten und einer Wahrheit ins Auge zu sehen: Das bürgerliche Haus oder gar die ausladende Villa haben immer mehr keinen Platz mehr, und zwar im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.
INTIMITÄT BEFEUERT ENTWICKLUNG Mit den ersten Wohnräumen, die der Mensch sich geschaffen hat, geht eine grundlegende Aufteilung der Welt in privates und öffentliches, eigenes und fremdes, geschütztes und unbehaustes, ein gewohntes und dem Fremden und Überraschendem ausgesetztes, ein eingeschlossenes und ein geöffnetes Dasein einher. Geschütztes Wohnen machte den Menschen unabhängiger von den Bedingungen der Außenwelt und sorgte dafür, dass er seinen Tätigkeiten in Ruhe nachgehen bzw. viele Fertigkeiten und Aktivitäten überhaupt erst entwickeln konnte. „Es entsteht erstmals historisch eine Intimität, die im ge- und verborgenen Innen- oder Wohnraum geschützt neue Verhaltensweisen entstehen lässt“, schreibt Rötzer.
Der Mittelpunkt damaliger Behausung war die Feuerstelle. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes zentraler Einrichtungsgegenstand und erfüllte gleich mehrere Funktionen: Sie wärmte, diente dem Kochen, schützte vor Insekten. Man hielt sich um die Feuerstelle herum auf, aß und schlief dort. Die reale Feuerstelle ist heute längst den digitalen Lagerfeuern diverser Social-Media-Plattformen gewichen. Keine (zwischen)menschliche Wärme nirgends. Das Wohnen und die Ausdifferenzierung des Wohnraums nach Funktionen hat uns, argumentiert Rötzer, als Menschen schamhaft gemacht: „Man schläft durch, kultiviert die Sexualität, legt die Posen ab, die zur Selbstbehauptung in der Gruppe notwen-
BUCHTIPP
Wer übers Wohnen gerne noch weiterphilosophieren möchte, dem legen wir das im Beitrag zitierte Buch wärmstens ans Herz. Obgleich der Mensch ein wohnendes Wesen ist, haben sich nur wenige Philosophen damit beschäftigt. Florian Rötzer wagt den Versuch. Sein und Wohnen, Westend Verlag, 288 Seiten, EUR 22,00
Nur Muubs: Wir lieben das Label ob seiner schlichten Eleganz in quasi allen Wohnsituationen. Hocker „Angle“ um 242 Euro bei mg interior in Innsbruck


dig sind, zeigt sich nackt, wird ‚authentisch‘, kann sich im Geheimen vorübergehend den Normen der Gruppe entziehen, individualisiert sich und kommt schambehaftet in Konflikt mit der Gruppe.“ Elegant zusammengefasst findet sich dieser Gedanke schon bei Goethe, überhaupt ein luzider Beobachter alles Menschlichen. Der schrieb nämlich: „Was künstlich ist, verlangt geschloss’nen Raum.“ So verwundert es auch nicht, dass es eine Tür, die verhängt werden konnte, und einen Rauchabzug schon gab, als von Fenstern noch weit und breit keine Spur zu sehen war. Fenster, die mit der Zeit immer größer und transparenter geworden und als Glasfronten heutzutage sogar bestimmende architektonische Merkmale geworden sind. Die Erfindung des farblosen Kristallglases brachte einst das Tageslicht ins Innere, was vielleicht nicht zufällig zeitlich ungefähr mit dem Beginn der Aufklärung zusammenfällt. Es ist mehr Licht in den Wohnraum gefallen und damit – in Anlehnung an Heidegger – auch ins Dasein. Tageslicht und elektrisches Licht verbannen schließlich die Düsternis endgültig aus den Innenräumen, Dunkelheit wird vom Schicksal zur Option. Um die Intimität des Häuslichen aufrechterhalten zu können, kommen Vorhänge, Jalousien oder Gardinen als Sichtschutz zum Einsatz.
UN-HEIMLICHE DIGITALSPHÄRE? Trotzdem ist heute durch den Vormarsch der Digitalisierung die Wohnung offener und folglich vulnerabler als je zuvor. Die Digitalisierung nimmt Florian Rötzer im Hinblick auf das Wohnen durchaus kritisch ins Visier: „Mit den sogenannten ‚Smart Homes‘ holen wir
Essen ist ein Bedürfnis, Genießen eine Kunst: Besonders kunstvoll speist man am Tisch „tak“ und den dazugehörigen Sesseln „lui“ von TEAM 7. Möbel und Küchen von TEAM 7 gibt’s nebst perfekter Planung bei Wohndesign Freudling in Fügen.
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Maschinen als vermeintliche Diener in den privaten Raum, die uns überwachen und unser Verhalten kontrollieren oder steuern.“ Nachsatz: „Über Künstliche Intelligenz könnten sich ‚Smart Cities‘ oder ‚Smart Homes‘ auch verselbständigen, als Bewohner würden wir dann zu Gefangenen.“
Die Menschen, argumentiert Rötzer, gingen nicht in den Cyberspace, sie würden vielmehr mitsamt ihrer materiellen Lebenswelt von ihm eingesponnen. „Man ist schlicht nicht mehr allein zuhause, sondern permanent überwacht von Kameras und anderen Sensoren in einem digitalen Kokon, der sich einerseits anpasst, gleichzeitig aber um den Bewohner legt, der zum Teil des Optimierungssystems wird, in dem sich Herrschafts- und Knechtschafts-, Master- und Serververhältnisse in den Schaltkreisen auflösen“, stellt Rötzer eine im Wortsinn un-heimliche These auf.
Ob dieser technikskeptische Tonfall tatsächlich angebracht ist, wird sich zukünftig erst noch zeigen müssen, zumal es zweifellos durchaus sinnvolle Technologien im Zusammenhang mit dem Smart Home gibt, die das Leben erleichtern können und nicht zwangsläufig zulasten der persönlichen Autonomie gehen müssen. Ob uns die Technik in unserem Wohnen freier macht oder einengt, wird davon abhängen, wie sehr wir verstehen lernen, was sich im Verborgenen abspielt und was mit unseren Daten geschieht.
Wohnen ist ein Thema, das uns alle unmittelbar angeht, unser Sein berührt, manche meinen gar, es ausmacht. Man kann nicht nicht wohnen. Zumindest nicht über einen längeren Zeitraum. Die Wohnung ist unsere Trutzburg, unser Refugium, aber auch – wie wir durch die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen und Quarantänebestimmungen kollektiv erfahren mussten – unser Gefängnis. Jedenfalls ist das Wohnen ein Zustand, in dem es sich gut einzurichten gilt.