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MeIn Leben IM WaLD
Nachdem ich in der Zeit während der Corona-Pandemie (2020 bis 2022) durch den Verein „Helping Hands“ die Möglichkeit bekommen hatte, in der kalten Jahreszeit in einem Hostel unterzukommen, wuchs nun wieder mein Wunsch, mein Zelt im Wald aufzuschlagen. Es handelt sich um einen Bruchwald von einem Hektar (100 Meter auf 100 Meter) Größe, in dem gelegentlich schon mal Äste abbrechen oder ganze Bäume umfallen. Man merkt, dass auch hier Leben ist, aber eben ganz anders als mitten in der Stadt.
Das dichte Blattwerk schützt mich vor den Blicken der anderen. Meistens handelt es sich um Hundebesitzer*innen, die auf der nahen Freilaufwiese ihre Hunde Gassi führen. Manche Hunde wissen, wo ich zu finden bin, und stürmen gelegentlich auf mein Zelt zu, um mich zu begrüßen. Andere können mich offenbar nicht riechen. Vielleicht überdecken doch zu viele Gerüche meinen eigenen Geruch. Interessant wird es, wenn ich die Waldtiere beobachte. Die Vögel lassen sich vor meinem Zelt nieder. Auch ein Eichhörnchen hat mir erst vor Kurzem tief in die Augen geschaut. Ein Igel – normalerweise ja ein Nachttier – am frühen Morgen auch auf einen halben Meter Abstand den Blickkontakt zu mir aufgenommen. Dann ist er wieder seiner Wege gegangen. Den Weg zum Zelt finde ich meist zielgenau – mit Taschenlampe auch in der Dunkelheit. Nur gelegentlich versperrt mir ein Ast den direkten Zugang, sodass ich einen kleinen Umweg laufen muss. Ich glaube, mein Orientierungssinn wird täglich besser. Im Großstadtdschungel bringt mir das nichts, nur hier im Wald finde ich meine Ruhe. Für das Wecken am Morgen sorgen die Vögel, die mal wieder gefüttert werden sollen. Manchmal frühstücken wir dann gleichzeitig.
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Deichmorgen
Die Nordsee wäscht
Die Nacht vom Strand
Hinter den Dünen
Erklimmt die Sonne ihren Platz
Rotgoldener Aufbruch
Piloten ziehen Diagonalen
Ins Wolkenlose
Vögel setzen zuversichtliche Signale
In das Versprechen
Die Schiffe nah der Küste
Gehn auf Kurs
Märznotiz
Der Frühling spielt Verstecken
Mit der Zeitumstellung
Als müsse auch er sich
Vor Kälte und Kalender
Aus dem Ungewissen retten
Die Sonne prahlt schon unbeeindruckt
Verschwendet sich im Rinnstein
An ein Stück Stanniolpapier
Und lässt für wenige Minuten
Seitenstraßensommer blühn
Dessen unwiderrufliche Spur
Zieht sich zählebig durch den Rest
Dieses überrumpelten Tages
© Amir Shaheen aus Amir Shaheen: „Leuchtspuren Restlicht“. Sujet Verlag, Bremen 2019.
MIrIjaM Günter DOKtOr LücK UnD
DIe FreUnDschaFt
Als ich vor einiger Zeit das erste Mal bei Doktor Lück auftauchte, wollte er wissen, was ich von ihm wolle. „Ich suche die verlorenen Tassen im Schrank!“ „Geht es etwas präziser?“ „Ich möchte gerne wieder den Schuss hören!“ „Noch genauer?“ „Sie sollen den Schaden am Dach reparieren.“ „Was hat dich denn dazu bewogen, zu mir zu kommen? Es wäre nett, wenn du das so formulieren könntest, dass ich das verstehe.“
„Jemand, den ich beschütze, hat gesagt, ich bräuchte mal eine professionelle Betrachtung meiner komplexen Geschichte.“ „Das hört sich nach meiner Sprache an.“ „Sie müssen meiner Seele Heilung schenken und dafür sorgen, dass die Erde aufhört zu wackeln. Ich habe 14 Monate Zeit. Schaffen Sie das?“ „Ich tue mein Bestes.“ Die ersten Treffen waren etwas schweigsam. Er wollte, dass ich erzähle, was in der Zeit passiert war und was mich bewegte, als wir uns nicht gesehen hatten. Eine Beziehung aufbauen, nannte er das. Die Beziehung schaffte es noch nicht mal bis zum Fundament. Dann beschloss er, am Anfang ein Thema vorzugeben, über das wir in der Stunde redeten. Einmal im Monat trafen wir uns.
„Heute wollten wir uns ja über das Thema Freundschaft unterhalten.“ Ich sitze im Sessel und denke mir: Eigentlich kann ich ganz froh sein, dass er mich nicht an das Tagebuch erinnert, das ich mitbringen sollte. „Ich habe keine Freunde.“ „Du hattest mir letztens aber von deinen Freunden erzählt!“ Das letzte Mal? Es fühlt sich an wie Lichtjahre entfernt. Ja, stimmt, ich hatte einen letzten Freund, einen besten. Wo ist der wohl hin? „Wie hieß der denn?“, möchte Doktor Lück wissen. „Ich habe seinen Namen vergessen.“ „Das glaub‘ ich dir nicht.“ „Ich habe ihn an einer Kreuzung verloren.“ „Wo ist er denn hingegangen, dein bester Freund?“ „Er ist mit dem Verrat gegangen und hat ihm Witze erzählt.“ An der Wand neben dem Bild über dem Sofa hing mal die Traurigkeit. Sie ist irgendwie gegangen. Vielleicht mit dem Tagebuch, das ich nicht gekauft habe? „Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist mit deinem besten Freund?“ „Ich habe ihn mir erdenkt.“ „Du hast was?“ „Ich habe mir meinen Freund erdenkt.“ „Was soll das sein? Das Wort gibt es nicht.“ „Gibt es wohl.“ „Gibt es nicht!“ „In meiner Welt schon!“ „Ich lebe auch in deiner Welt!“ „Niemals!“ Er zieht wieder sein Doktor-Lück-Gesicht. Das ist das Gesicht, das er zieht, wenn er am liebsten unflätig werden möchte, mal ein wenig herumbrüllen würde. Aber er darf es nicht, er ist ja ein Profi. Fast tut er mir leid.

„Was machst du eigentlich beruflich so?“ Stimmt, das hatte er mich am Anfang schon gefragt, da fiel mir keine Antwort ein. „Ich bin Erdenker.“ „Den Beruf gibt es nicht.“ „Gibt es wohl.“ „Gibt es nicht!“ „In meiner Realität schon.“ „Ich lebe auch in deiner Realität!“ „Das hoffe ich mal nicht!“
„Was ist dein bester Freund von Beruf?“„Gewesen.“ „Von mir aus.“ „Er war Beweiner.“ „Was soll das denn sein, bitte?“ „Er hat um die ganzen Leute geweint, denen Schlimmes widerfahren ist. Er hat die menschlichen Tragödien beweint. Irgendeiner muss doch um einen weinen.“ „Und damit kann man seinen Lebensunterhalt bestreiten?“ Herr Lück scheint belustigt. Er glaubt meiner Welt nicht. Lück wird wieder zum Profi. „Du scheinst deinen besten Freund sehr zu vermissen.“ „Ich vermisse alle, die mich verraten haben.“ „Verraten kann man nur die Treue.“ Herr Lück hat einen poetischen Moment. Kenne ich gar nicht von ihm. „Wer hat eigentlich einen Witz wie mich erfunden?“, frage ich Doktor Lück. „Okay, ich mache dir einen Vorschlag: Wollen wir die Freundschaft beerdigen gehen?“
„Wie meinen Sie das?“ „Wir beerdigen erst die Freundschaft, dann beerdigen wir die Traurigkeit, danach vielleicht die Einsamkeit.“ „Herr Lück, werden Sie mal erwachsen!“ „Es war doch nur ein Vorschlag, manchmal braucht man Rituale, um etwas zu verstehen.“ Das macht mich ziemlich wütend.
„Ich will eine Familienaufstellung. Sie haben es mir versprochen!“ „Und du hast mir ein Tagebuch versprochen.“ „Das ist Erpressung!“ „Nenne die Tatsache, wie du willst.“ „Ich will eine Familienaufstellung! Ich bin eine Schildkröte und mein bester Freund ein Orang-Utan.“ „Ich dachte, dein bester Freund ist verschwunden, weil er erdenkt ist?“ Eins zu null für Dr. Lück.
HANS WOLLER Gerd Müller
Hans Woller wählt einen ungewöhnlichen Einstieg in sein Buch über Gerd Müller. Der renommierte Zeithistoriker beschäftigt sich auf elf Seiten mit den methodischen Herausforderungen beim Schreiben einer Fußballerbiografie. Detailliert erläutert er sein Vorgehen bei der Recherche und die Intention seines Buches über die Stürmerlegende. Auch das ausführliche Quellenverzeichnis und der Einsatz von Fußnoten machen deutlich, dass hier ein Buch mit wissenschaftlichem Anspruch vorliegt – ganz im Gegensatz zu den Biografien vieler anderer namhafter Kicker, die meist aus der Feder wohlgesonnener Sportjournalist*innen stammen.
Der Untertitel „Wie das große Geld in den Fußball kam“ zeigt auf, was spätestens seit den 1970ern die Antriebsfeder des professionellen Ballsports in Deutschland und der Welt war: der schnöde Mammon, den es mit allen Gehältern, Prämien und Werbeverträgen zu verdienen und vor Steuerbehörden, schlechten Investmentideen und eigensinnigen Beratern zu verteidigen galt. Außer um D-Mark-Beträge und ihre Zirkulation im Umfeld des FC Bayern geht es in Wollers Buch vor allem um den Menschen Gerd Müller. Der Autor zeichnet eine ambivalente Beziehung zwischen Müller und seiner Umwelt nach, die sich im Familien- und Freundeskreis ebenso äußerte wie im Mannschaftsumfeld und im Verhältnis zwischen Fußballer und (medialer) Öffentlichkeit, das von Missverständnissen und Stereotypen geprägt war. Die sportlichen Dinge erhalten ebenfalls Raum, schließlich sind sie der Grund dafür, dass der inzwischen verstorbene Protagonist heutzutage Gegenstand von Büchern sein kann. Doch handelt es sich insgesamt eher um ein Buch über Menschen und Geschäfte als eines über Spielverläufe und Ergebnisse.
Bastian Exner
Hans Woller: Gerd Müller oder Wie das große Geld in den Fußball kam.
C. H. Beck 2020, 12 Euro.
ISBN 978-3-40675-433-3
KAI HAVAII
Hyperion
Felix Brosch, einstiger Elitesoldat in Afghanistan und hernach Agent beim Militärischen Abschirmdienst (MAD), hat seinen Dienst lange quittiert und lebt als Koch und weitgehend als Einsiedler auf einer Berghütte in den Alpen. Seinen Sohn hat er einst auf tragische Weise verloren, seine Ehe ist gescheitert. Als er in den Bergen unverhofft Besuch von einer ehemaligen Kollegin des Bundesnachrichtendienstes (BND) bekommt, ist es mit seinem Ruhestand vorbei. Der deutsche Geheimdienst hat über den israelischen Mossad Erkenntnisse erlangt, dass Felix‘ englischer Cousin Simon Jenkins ein führendes Mitglied der rechtsradikalen Terrororganisation Symbotic Liberation Force ist, die für grausame Attentate auf Juden in verschiedenen Ländern verantwortlich ist. Der naheliegende Plan: Felix soll seine verwandtschaftliche und früher äußerst gute freundschaftliche Beziehung zu Simon nutzen, undercover die Organisation ausspionieren und auch ihren Kopf, den mysteriösen Hyperion, enttarnen. Der Plan geht zunächst auf, aber dann läuft etwas schief, und in einem weiten Bogen führt Autor Kai Havaii – der vor allem als Sänger der Rockband Extrabreit bekannt wurde – die Handlung von einem geheimen Ausbildungscamp in Schweden über Israel bis in einen Kerker der Hisbollah im Libanon. Dorthin werden Brosch und die Mossad-Agentin Yael nach einer gescheiterten Mission in der Türkei verschleppt, gefangen gehalten und gefoltert. Auch Israels Erzfeind Iran ist in die Sache verwickelt. Das klingt komplex und ist es auch, wird von Havaii aber schlüssig und durchaus stringent erzählt. Dabei nimmt er sich abermals viel Zeit, die Biografien diverser Figuren und ihre Motivation zu beleuchten. Einige dramaturgische Kröten sind zu schlucken, auch das Ende der Geschichte mutet ein wenig bemüht an. Aber wer sich das Lesevergnügen dadurch nicht trüben lässt, dem bietet „Hyperion“ kurzweilige, spannende Stunden.
Amir Shaheen
Kai Havaii: Hyperion.
Rütten & Loening 2022, 16,99 Euro.
ISBN 9-783-35200-974-71
ALEXANDER OETKER sternenmeer
Irgendwann hat die Leserschaft es begriffen: Wir befinden uns hier in einer der schönsten Gegenden der Welt. Am Atlantik. In der Nähe von Bordeaux. Im Aquitaine. Mit seinem Wein, seinen saftigen Wiesen, den Surfer*innen, die auf die große Welle warten. Dort, mit Blick auf den Ozean, kocht sich Auguste Fontaine die Seele aus dem Leib. Dafür hat ihm der Guide Michelin drei Sterne gegeben. Eine Auszeichnung nur für die höchste Qualität. Seit Jahren hält er diese Sterne fest. Doch ausgerechnet an dem Abend, an dem der Michelin-Tester seine Aufwartung macht, an dem alles stimmen muss in der Villa Auguste, passiert das Unglück. Der Mann, dessen Urteil über Wohl und Wehe der Gastronom*innen Frankreichs entscheidet, hat gerade noch genüsslich von der lauwarmen Entenstopfleber gekostet, die wie immer hauchzart war, da spürte er einen Druck in den Ohren, das Saallicht blendete ihn regelrecht, ihm wurde flau im Magen, er kippte einfach um. Der bekannteste Restaurantkritiker Frankreichs, vergiftet in einem Drei-Sterne-Restaurant? Für August Fontaine ist das die Katastrophe. Er weiß, dass er seine Sterne nach einem solchen Desaster erst mal los sein wird. Sein Lebenswerk ist ruiniert. Nur, wer will ihm da Böses? War die Entenleber, aus der Zucht seines Sohnes, vergiftet? Luc Verlain, der nach der Geburt seines ersten Kindes aus der Elternzeit zurückgerufene Kommissar, ermittelt ausschweifend: Waren es die Umweltschützer, die mit roter Farbe Drohsprüche an die Stallwände der hiesigen Entenzüchter*innen sprühten und Drohungen verschickten? War es ein Rivale des Chefkochs, der ihm seinen Erfolg missgönnte? Oder war es der missratene Sohn René, vom Vater stets abgelehnt, der den Alten endlich beerben möchte? Wer Leichtigkeit sucht, der wird sie hier finden. Anspruchslos, aber unterhaltsam. Mit einem gehörigen Schuss Urlaubsflair.
Ingrid Müller-Münch
Alexander Oetker: Sternenmeer. Hoffmann und Campe 2022, 18 Euro. ISBN 978-3-45501-486-0
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diE LETZTEn hiEr
Köln im sozialen Lockdown
Wie erleben Obdachlose die Corona-Pandemie in Köln? Wie geht eine Großstadt mit dem Lockdown um, wenn nicht alle zu Hause bleiben können? Was, wenn Armut in einer Stadt plötzlich deutlich sichtbarer wird? Haben sich Strukturen des Hilfesystems verändert?
Und: Hat sich durch die Krise vielleicht sogar etwas zum Guten gewandt für diejenigen, die sonst durchs Raster fallen? Mit eben diesen Fragen hat sich Deutschlands ältestes Straßenmagazin DRAUSSENSEITER beschäftigt und nun eine Auswahl an Texten und Fotos zusammengestellt, teilweise von Betroffenen selbst.
Daedalus Verlag
144 Seiten (mit zahlreichen Abbildungen)
12,- Euro, ISBN 978-3-89126-267-2
Erhältlich im Straßenverkauf oder im Buchhandel