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„HIER IN KÖLN IsT Es bIsHER aM bEsTEN“

TEXT UnD FoTo: ChRisTianE RaTh

Zum Glück gibt es Aufzüge! Markus wohnt in der 5. Etage in einer schönen, freundlichen und hellen Wohnung in der Südstadt. Das ist nicht gerade selbstverständlich für ihn, hat er doch in seinem Leben schon eine ganze Menge anderer Stationen durchgemacht, wie er bei Datteln und Schokolade erzählt. Aber der Reihe nach. Markus ist 38 Jahre alt, groß und schlank, hat einen freundlichen, warmen Blick und arbeitet neuerdings als Stadtführer für Soziale Stadtrundgänge, die der Verein OASE – Benedikt Labre e.V. organisiert. Er ist noch Neuling, nachdem er zweimal eine Tour begleitet hat, hat er inzwischen zum ersten Mal selbst Interessierte an Plätze geführt, die ihm persönlich wichtig sind und zu denen er etwas erzählen möchte. Er kam zu dieser Beschäftigung durch den DRAUSSENSEITER-Verkäufer Lothar, den er vor sechs Jahren in Köln kennengelernt hatte und der ihm nun wieder begegnet ist. Er hat ihn ermuntert und ihn ermutigt, selbst mal einen Sozialrundgang auszuarbeiten. Nach kurzem Überlegen hat Markus zugestimmt.

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Ich möchte wissen, was denn seine Stationen sind und aus welchen Gründen er sie ansteuert. Seine Tour beginnt ganz bewusst am Kölner Hauptbahnhof, wo sich die Gruppe versammelt. Hier halten sich auch viele Menschen ohne Obdach auf, weil sie dort geschützt vor Regen und dennoch zentral in der Stadt sind. Besonders für Drogenabhängige ist dies ein wichtiger Faktor, weil sie sich jederzeit mit Stoff versorgen können. Während mir der 38-jährige den weiteren Rundgang beschreibt, erzählt er sehr viel von seiner eigenen bewegten und bewegenden Biographie.

Seine erste „echte“ Station ist aber eine spezielle Bank in einer Passage in Neumarktnähe, auf der er vor etwa einem Jahr saß, substanzabhängig, ohne Wohnung, mit zwei Frettchen als einzige Gesellschaft. Zu diesem Zeitpunkt, so sagt er selbst, war er „komplett runter“, als er seinen persönlichen Schutzengel traf. Es war eine Frau, die er schon flüchtig kannte, die ihn ansprach, ihm etwas Geld gab und noch wichtiger: ihm anbot, in einem Kellerraum ein Zimmer zu beziehen, wo er – gerade auch mit den Frettchen – einen sicheren Unterschlupf hatte. Mit diesem Angebot, das er spontan annahm, änderte sich schlagartig sehr vieles in seinem Leben.

Am Neumarkt, seiner zweiten Station in der Stadtführung und allgemein bekannt als einer der Kölner Drogenumschlagplätze, war er ein paar Monate vorher von der Polizei verhaftet worden, weil er wegen seiner Schulden eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen sollte. Hier ist ihm wich- tig, darauf hinzuweisen, dass der Neumarkt für Menschen ohne Obdach ein schwieriger Ort ist, da dort oft Streit und Gerangel herrschen und keine sicheren Räume zum Drogenkonsum zur Verfügung stehen. Solche gibt es nur in einer etwas entfernten Seitenstraße neben dem Gesundheitsamt. Auch diesen Platz zeigt er seiner Gruppe, weist aber auf die Nachteile hin: Man darf keine Haustiere mitbringen und der Raum schließt abends, so dass die Hilfe eigentlich an der Realität der Substanzabhängigen vorbei laufe.

Als Letztes zeigt Markus seinen persönlichen Schlafplatz aus dieser Zeit – es ist eine Art Mauernische in der Nähe der WDR-Gebäudes. Vorher hatte er über dem Straßentunnel am Weltstadthaus geschlafen, dort jedoch den Krach und den Gestank der Autos nicht ausgehalten. Seine Mauernische hingegen hatte ihm ein Minimum an Schutz und Geborgenheit gegeben, so dass er – als er wusste, dass er durch seine Freundin ein Dach über dem Kopf bekommen würde – sich den Gag erlaubte, den Schlafplatz mit Flatterband zu sperren und ein Schild aufzuhängen: „Zimmer zu vermieten, zentrale Lage, gute Verkehrsanbindung…“ Es habe sich aber niemand gemeldet, berichtet er mir augenzwinkernd.

Warum fliegt man so aus der Kurve, möchte ich von ihm wissen, denn der Mann, der mir gegenüber sitzt, macht einen sehr gebildeten und gepflegten Eindruck. Geboren ist er in München, aufgewachsen in einem kleinen Dorf im Odenwald. An seinem siebten Lebenstag wurde er von einem Ehepaar adoptiert, sein Adoptivvater war Richter. Alles gut, könnte man meinen, aber etwas lief doch schief, so dass er sich mit 11 Jahren in einem Kinderheim in der Nähe von Darmstadt wiederfand. Dort, so berichtet er, seien sie nur versorgt, aber nicht erzogen worden. Schon mit 13 hatte er einen Schlüssel und konnte kommen und gehen, wie er wollte. Niemand habe bemerkt, dass er etwa zwei Jahre lang die Schule geschwänzt hat. Er wurde verlegt nach Kassel in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche in Schloss Wabern, Landesjugendheim Karlshof. Dort wurde er dann „erzogen“, aber nicht vom pädagogischen Personal, sondern von den anderen Jugendlichen – es herrschten wohl ziemlich raue Sitten. Er schaffte den Hauptschulabschluss und machte später auch noch als Externer Realschulabschluss und Abitur, was aber niemand ernst genommen habe. Ausbildungen folgten, die er jedoch immer wieder abbrach. Er arbeitete als KFZ-Mechaniker und Elektromechaniker, im Call-Center-Management und in einer Drückerkolonne, aber nichts war von Dauer. Zwischen 2004 und 2006 saß er im Gefängnis und seit 15 Jahren stromert er durch deutsche Großstädte – Hamburg, Berlin, Frankfurt, Kassel und Köln. Hier in Köln ist es bisher am besten, sagt Markus. Die Menschen sind freundlicher und relaxter, und vor allem hat er hier sein großes Glück in der Liebe gefunden. Seine Frau, die ihn von der Straße gerettet hat, konnte ihm auch zu der jetzigen Wohnung verhelfen, in der er mit seinen Frettchenmädels „Hexe“ und „Pfötchen“ nun einen Neustart versucht. Er ist weit fortgeschritten in seinem Methadonprogramm, hat einen Job als Nachtwächter und sucht weitere Möglichkeiten zu arbeiten.

Realistisch, aber auch selbstkritisch beschreibt und reflektiert er seine eigene Situation. Er kritisiert zum Beispiel das Methadonprogramm wegen der hohen Rückfallquote. Sein eigener Erfolg mache ihn stolz, aber er weist auch sofort darauf hin, dass er das ja nun sein ganzes Leben lang schaffen muss, um nicht auch in die Rückfallstatistik zu kommen. Er hat ein spürbares Sendungsbewusstsein, möchte aufklären und Menschen aus der Betroffenenperspektive von Abhängigkeit und Armut erzählen, daher auch die Freude an der Möglichkeit von Sozialen Stadtrundgängen. Als ich ihm vorschlage, doch vielleicht auch in Schulen von seinem Leben zu erzählen, notiert er sich diese Idee sofort.

Inzwischen sind die Frettchen erwacht und knabbern kurz mit ihren kleinen spitzen Zähnchen an meinem Finger. Markus erzählt mir, dass er am liebsten mit seiner Frau, einem Esel und hundert Frettchen in einem großen Blockhaus im Wald leben würde. „Einfach meine Ruhe haben, in Ruhe gelassen werden und Musik machen dürfen … das wäre das Paradies für mich.“ einem Esel und hundert Frettchen in einem großen Block-

CHRIsTIaNE RaTH ist Kölner Installationskünstlerin und Autorin und schreibt seit Jahren Artikel für den DRAUSSENSEITER. „Es ist für mich eine tolle Gelegenheit, neue Menschen und Lebensrealitäten kennenzulernen und damit meinen Horizont zu erweitern“, begründet sie ihre ehrenamtliche Tätigkeit.

Dankbar für die vielen intensiven Begegnungen und Erfahrungen, sowohl innerhalb des Redaktionsteams als auch bei der Recherche und den Berichten über Menschen und soziale Projekte, hat sie sich auch gerne in die Lebenswelt von Markus reingedacht und seine Geschichte aufgeschrieben. Foto: Privat

Olivier Norek

Das versunkene Dorf

 Mir war das schon immer unheimlich. Wann immer ich am Ufer des Lac de Sainte-Croix stand, schlug meine Fantasie Wellen. Der Stausee in der Haute-Provence war 1973 mit dem Wasser des Verdon geflutet worden und hatte das einstige Dorf Les Salles-sur-Verdon komplett unter sich begraben. Was alles verbarg sich da bloß unten auf dem Wassergrund? Der französische Autor Olivier Norek hat sich in einem Krimi, der in seiner Heimat mit einem der höchsten Literaturpreise ausgezeichnet wurde, dem Prix Maison de la Presse, genau dieses Themas angenommen – und meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Seine elegisch erzählte Geschichte beginnt mit einem Schuss, der Kommissarin Noémie Chastain bei der Festnahme eines Drogenbosses mitten im Gesicht traf. Seitdem ist sie entstellt, kaum jemand wagt sie noch direkt anzuschauen. Und die Pariser Kolleg*innen haben nichts Besseres zu tun, als sie in die Provinz abzuschieben. Genauer gesagt, in das im Süden Frankreichs entlegene Örtchen Avalone. Hier geschieht eigentlich nie etwas. Und ihre Aufgabe ist es Belege dafür zu finden, dass die dortige Polizeistation eingespart werden kann. Doch es kommt ganz anders. Denn Avalone, Sie ahnen es schon, ist ein vor etwa 25 Jahren künstlich geschaffener Ort, am Ufer eines Stausees gelegen, der ihr altes Dorf damals überschwemmte. Und der unter dem Wasser so manches Geheimnis begrub. Eines davon wird allerdings eines Tages wieder auftauchen. Es ist die verweste Leiche eines Kindes. Aufgestiegen aus den Gemäuern des versunkenen, alten Avalone. Das Gerede beginnt. Plötzlich stellt sich heraus, dass damals, als alle ihre Häuser räumen mussten und in ihre neuen Unterkünfte zogen, drei Kinder verschwanden. Sie seien entführt worden, hieß es. Und der Täter wurde auch gleich benannt. Er verschwand am gleichen Tag wie die Kinder. Die an die Wasseroberfläche aufgestiegene Leiche, so ergibt ein DNA-Abgleich, ist die eines der Kinder. Aber wo, in Herrgotts Namen, sind die beiden anderen? Denn entführt wurden sie ja offenbar nicht. Noémie Chastain bleibt also in Avalone und widmet sich der Vergangenheit des Dorfes, die die Fluten so nach und nach preisgibt.

Eine schaurige, aber auch berührende Geschichte über eine Frau, die sich ins Leben zurück kämpft, während die Toten, die sie birgt, nach und nach ihre Geheimnisse preisgeben.

Ingrid Müller-Münch

Olivier Norek: Das versunkene Dorf. Blessing 2022, 18 Euro.

ISBN 978-3-89667-664-1

Zucker im Tank (Hg.)

Glitzer im Kohlestaub

 In leuchtenden Farben, gelb-orange, spiegelt das Buch seine Schlagkraft nach außen. All diejenigen, denen Klimagerechtigkeit noch fremd ist, führt „Glitzer im Kohlestaub“ durch die vergangenen 15 Jahre der sozialen Bewegung in Deutschland und macht Lust auf Aktivismus. Assoziierten bietet der Band Anregung zur kritischen Reflexion und Inspiration. Für uns alle hält er ein Stück Geschichte fest. Die Texte stammen von einigen der Engagiertesten, die durch direkte, aber gewaltfreie Aktionen immer wieder die verheerenden Verbrechen der Klimakrise auf die politische Tagesordnung bringen. Sie zeigen uns ihren Kampf für eine alternative Welt, in der das Zusammenleben inklusiv und ressourcenschonend organisiert wird. Neben atemberaubenden Berichten von der Räumung aus bedrohten Wäldern geht es gleichzeitig um die Bewältigung staatlicher Repressionsmaßnahmen. Erprobte Aktionsformen werden strategisch reflektiert, während kritische Stimmen Diskriminierung aufzeigen, mit der sie innerhalb der Bewegung konfrontiert werden. Fast alle Artikel münden in Forderungen für die Zukunft. Am unteren Seitenrand gibt es eine fortlaufende Zeitleiste, die historische Vorbilder im weltweiten Widerstand gegen koloniale Verbrechen aufzählt. Dadurch wird deutlich, dass sich die beschriebene Bewegung in eine globale Geschichte von Gerechtigkeitskämpfen gegen „Unterdrückung, Zerstörung und Scheinlösungen“ einreiht. „Zucker im Tank“ – ein Kollektiv mit viel praktischer Erfahrung im Blockieren von Kohlezügen, Kreuzfahrtschiffen und Rodungsmaschinen – gibt hiermit zum ersten Mal ein

Buch heraus. Desto glaubwürdiger ist dieser Band, der in seiner Bandbreite an Themen und Sichtweisen das Zeug hat, ein Standardwerk der aktuellen Klimabewegung zu werden. Ein intensiver „Workshop“ zu einem der wichtigsten Themen unserer Zeit – ehrlich und bereichernd.

Celia Brandt-Peretti

Zucker im Tank (Hg.): Glitzer im Kohlestaub. Vom Kampf um Klimagerechtigkeit und Autonomie. Assoziation A 2022, 19,80 Euro.

ISBN 978-3-86241-487-1

Erdschwarz

 Die Toten, zu denen die Polizistin Eira Sjödin gerufen wird, sind allesamt verhungert. Es sind Männer, die plötzlich verschwanden und an entlegenen Orten per Zufall gefunden werden. An ihrem Körper zeigen sich keinerlei Gewaltspuren. Irgendjemand hat sie einfach überwältigt, wie auch immer, dort eingeschlossen und verrotten lassen, bis zu ihrem grässlichen Tod. Eira Sjödin ist prädestiniert, hier zu ermitteln. Sie kommt aus der Gegend um Adalen in Nordschweden herum, ist zurückgekehrt, weil ihre demente Mutter nicht mehr alleine klarkommt, und hilft nun bei der Abteilung für Gewaltverbrechen aus. Doch allzu langte verfolgt sie eine falsche Spur. Bis zu dem Tag, als ihr Chef verschwindet, zu dem sie ein ganz besonderes, ungeklärtes, undefinierbares Verhältnis hat. Wurde auch er Opfer eines*einer Mörders*Mörderin, der*die Männer verhungern und verdursten lässt? Aus Rachegefühlen? Aber Rache wofür? Und was hat ihr Chef getan, um in genau das Raster des*der Mörders*Mörderin zu fallen? Spät, fast zu spät wird klar, dass diese Spur ins Nichts führt. Dass alle noch einmal umdenken müssen, wenn der Mann, zu dem Eira Sjödin ein ganz besonderes Verhältnis hat, sein Verschwinden überleben soll.

Ingrid Müller-Münch

Tove Alsterdal: Erdschwarz. Rowohlt Polaris 2022, 17,50 Euro.

ISBN 978-3-49900-779-8 naTo, magst ruhig sein – Deutschland übernimmt turnusgemäß die Führung der schnellen NATO–Eingreiftruppe. Derweil zieht Verteidigungsministerin Lambrecht mit einem mißglückten Video-Gruß zu Neujahr erneut Kritik auf sich.

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Christina Bacher (Hrsg.)

DiE lETZTEn hiER Köln im sozialen Lockdown

Wie erleben Obdachlose die Corona-Pandemie in Köln? Wie geht eine Großstadt mit dem Lockdown um, wenn nicht alle zu Hause bleiben können? Was, wenn Armut in einer Stadt plötzlich deutlich sichtbarer wird? Haben sich Strukturen des Hilfesystems verändert?

Und: Hat sich durch die Krise vielleicht sogar etwas zum Guten gewandt für diejenigen, die sonst durchs Raster fallen? Mit eben diesen Fragen hat sich Deutschlands ältestes Straßenmagazin DRAUSSENSEITER beschäftigt und nun eine Auswahl an Texten und Fotos zusammengestellt, teilweise von Betroffenen selbst.

Daedalus Verlag

144 Seiten (mit zahlreichen Abbildungen)

12,­ Euro, ISBN 978­3­89126­267­2

Erhältlich im Straßenverkauf oder im Buchhandel

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