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fatale defizite in der armutsbekämpfunG
Der Mediziner Prof. Dr. Gerhard Trabert behandelt kostenlos Menschen, die sich keinen Arzt leisten können. Deutschlandweit bekannt wurde er durch seine Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten, die von der Linken unterstützt wurde. In seinen Vorträgen über Armut in Deutschland, wie kürzlich in Stuttgart, geht er hart mit der Politik ins Gericht. Die Politik nehme die Armut mehr hin, als sie wirkungsvoll zu bekämpfen.
Interv I ew: nI co nI ssen
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Nico Nissen: Man kennt Sie bereits als ehrenamtlich engagierten Arzt. Jetzt sind Sie auch als Vortragsredner unterwegs. Ist das was Neues? Was ist der Grund?
Gerhard Trabert: Ich wurde schon immer gebeten, auch über die Arbeit zu reden. Die Kandidatur für das Bundespräsidialamt hat dazu geführt, dass mich mehr Menschen kennen und die Anfragen zugenommen haben. Ja, ich verstehe mich da auch als Lobbyist der Betroffenen und fühle mich irgendwie verpflichtet, über die Situation der wohnungslosen Menschen zu reden – als jemand, der in einem intensiven Austausch mit den Betroffenen ist.
Gleich am Anfang des Vortrages haben Sie Ihre Enttäuschung und Frustration erwähnt. Ist das auch etwas, was Sie antreibt?
Nun ja, so richtig motivierend ist das nicht. Motivierend sind die Begegnungen mit den Menschen. Aber ich weigere mich, den Gedanken aufzugeben, dass man etwas verändern kann. Und deshalb muss man trotz Frustration die Politik immer wieder konfrontieren mit diesen Ungerechtigkeiten, um dann doch etwas strukturell verändern zu können.
Und in aller Munde ist ja derzeit das geplante Bürgergeld. Was finden Sie da gut und was schlecht?
Insgesamt ist der Duktus ein anderer, und das finde ich gut. Dass den Betroffenen mehr Förderung zuteil wird und eine respektvollere Sprache mit ihnen gesprochen wird. Ich hoffe, dass dies dann auch zur Realität in den Jobcentern wird. Ich finde es gut, dass in den ersten Jahren keine Sanktionen verhängt und Vermögen nicht überprüft werden und dass man nicht die Wohnung wechseln muss. Aber der Betrag für das Bürgergeld, diese 502 Euro, die geplant sind, die sind viel zu wenig. Da ist ganz klar die Forderung, es muss um 200 Euro pro Monat erhöht werden. (Anm. d. Red.: Bundestag und Bundesrat stimmten am 25. November 2022 dem im Vermittlungsausschuss erzielten Kompromiss zum Bürgergeld zu. Damit kann die neue Grundsicherung für Langzeitarbeitslose wie geplant zum 1. Januar 2023 in Kraft treten. Sanktionen bleiben weiter möglich, auch das ursprünglich geplante Schonvermögen fällt deutlich niedriger aus.)
Wenn die Sätze für soziale Hilfen viel zu niedrig sind und Deutschland eigentlich als soziale Marktwirtschaft definiert ist, weshalb dulden die deutschen Gerichte das?
Das wird jetzt kompliziert, denn die Bemessungsgrundlage ist immer wieder in der Diskussion. Was ist der Parameter oder was ist der Betrag, den man heranzieht, um das Existenzminimum ausrechnen zu können? Das ist sehr komplex, da will ich gar nicht so einsteigen. Aber ich gebe zu, dass ich auch nicht verstehe, warum deutsche Gerichte immer noch sagen, dass dieser Betrag ausreicht. Denn es ist offensichtlich, wenn man zum Beispiel das Budget für Ernährung nimmt, dass man sich von diesem Geld nicht gesund ernähren kann. Alle wissenschaftlichen Expertisen, da gibt es etliche, sagen, dieser Betrag ist zu gering. Und nicht umsonst wird von der Nationalen Armutskonferenz aller Wohlfahrtsverbände gefordert, dass es 200 Euro mehr sein müssen. Die Grünen haben vor zwei, drei Jahren eine Expertise in Auftrag gegeben, in der die Berechnungsgrundlage hinterfragt und wissenschaftlich eindeutig belegt wurde, dass sie falsch ist und dass der Betrag bei 650 Euro liegen müsste. armut ist teuer – gesamtgesellschaftlich okay, also diese Terminologie, diese Sprache, aber es muss mindestens 650 Euro betragen und noch mehr Arbeitsfördermaßnahmen bieten. Also das jetzt einfach als erster Rundumschlag. All das wird dann noch weitergehen.
Das Grundgesetz schützt besonders die Menschenwürde und Sie sind auch auf den Aspekt eingegangen, dass Armut auch Todesursache ist. Sollte das nicht Grund genug sein für die Gerichte, da einzuschreiten und eine andere Definition von Armut und mehr soziale Sicherheit zu fordern?

Da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Diese bekannte erhöhte Sterblichkeitsquote, also dass Armut ganz klar mit einer geringeren Lebenserwartung korreliert, wird immer wieder individualisiert. Man spricht dann vom erhöhten Risikoverhalten, Rauchen, Trinken, Bewegungsmangel, ungesunder Ernährung und so weiter. Aber ohne jemanden aus der Eigenverantwortung zu entlassen, muss eben auch gesehen werden, dass es häufig strukturelle Ursachen sind, die für dieses ungesunde Verhalten verantwortlich sind.
Zum Beispiel können Rauchen und Trinken eine Kompensation darstellen für Frust, Einsamkeit und Entwertungserfahrungen. Das ist sicher nicht bei allen so, aber man muss eine Sensibilität dafür schaffen, dass auch so ein scheinbar individuelles Fehlverhalten in einem gesellschaftlichen Kontext gesehen werden muss. Das macht es, glaube ich, so schwierig, auch juristisch etwas einzufordern.
Und wenn man diese Diskussionen auf politischer Ebene führt, heißt es oft, wer arm ist, sei zumindest ein Stück weit selbst daran schuld.
„Fatal!“ In Traberts Vorträgen, wie hier in Stuttgart, nimmt der Mediziner kein Blatt vor den Mund, was er über die aktuelle Politik denkt.
Dann käme sicher die Frage aus der Politik: „Und woher soll man das Geld nehmen?“ ritätensetzung haben und die soziale Sicherheit doch nicht als so wichtig betrachten? armutsbekämpfung möglich – aber nicht gewollt
Das gilt dann auch im übertragenen Sinne für alle Folgen ihrer* seiner Armut: Sie*Er ist selbst schuld an ihrer*seiner Erkrankung, ihrem*seinem Tod und so weiter. Was entgegnen Sie darauf?
Dass das einfach nicht stimmt. Da gibt es viele Untersuchungen, die zeigen, dass es ganz andere Faktoren gibt.
Zum Beispiel: Wie ist die finanzielle Situation? Wo lebt jemand? Wir wissen, dass zum Beispiel auch die Mieten gerade dort günstiger sind, wo eine höhere Luftverschmutzung oder Lärmbelästigung ist, weil das die Miete senkt. Wir wissen, dass unser Gesundheitssystem zu hochschwellig ist, dass gesunde Ernährung zu teuer ist, dass selbst Sport teuer ist, wenn Sie in einem Verein irgendwo aktiv werden wollen. Da müssen Sie Beiträge zahlen. Das ist immer wieder eine neoliberale Form, um von strukturellen Versäumnissen abzulenken. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass der Familienstatus, zum Beispiel alleinerziehend zu sein oder drei oder mehr Kinder zu haben, so stark mit Armut korreliert. Das offenbart fatale Defizite in der Armutsbekämpfung. Natürlich gibt es auch eigene Anteile. Aber Armut hat sehr viel mit sozialer Ungerechtigkeit in unserer reichen Gesellschaft zu tun.
Nehmen wir an, Sie wären in der Politik und hätten die Möglichkeit, eine Sozialreform anzustoßen, also „Trabert I“ statt Hartz IV. Wie würde die aussehen?
Oh ja, da könnte ich jetzt eine Stunde erzählen. Also einen Mietpreisdeckel, Förderung des sozialen Wohnungsbaus, kein duales Krankenversicherungssystem, also nicht gesetzlich und privat, sondern eine Bürgerversicherung, kein zweiklassiges Rentensystem mit Renten und Pensionen. Auch das muss in Form einer Bürgerversicherung zusammenfallen. Der Mindestlohn muss mindestens 13 Euro hoch sein. Bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung von Pflegekräften und Hebammen. Das Bürgergeld ist
Ich sage immer wieder: Wir sind ein reiches Land. Wir haben sehr viele sehr reiche Menschen. Es muss eine Vermögenssteuer geben, es muss eine höhere Einkommenssteuer geben – unter Helmut Kohl war die Einkommenssteuer höher –, es muss eine modifizierte Erbschaftssteuer geben. Das sind alles Faktoren, die dem Sozialsystem mehr finanzielle Ressourcen zuführen. In der momentanen Zeit muss es natürlich eine Übergewinn- oder Zufallsgewinnsteuer geben. Und die Rüstungsindustrie muss ihre Solidaritätsabgabe zahlen. Also wir haben das Geld, wir sind ein reiches Land. Es ist keine Frage, dass wir zu wenig finanzielle Ressourcen haben. Es ist eine Einnahme- und Verteilungsfrage.
Sie haben auch den Widerspruch angesprochen, dass die Bürger*innen laut Umfragen gerne mehr soziale Sicherheit hätten, aber nicht danach wählen. Wie erklären Sie sich das?
Ich kann es Ihnen gar nicht sagen. Die Linke fordert und kämpft für all die Faktoren, die zu einer größeren sozialen Gerechtigkeit in unserem Land führen würden. Warum sie nicht gewählt wird, weiß ich letztendlich auch nicht.
Ja, warum ist das so? Vielleicht muss noch mehr vermittelt werden, müssen noch mehr Dinge klar angesprochen werden. Noch mehr denen entgegnet werden, die immer wieder vollkommen falsche Zusammenhänge vermitteln. Aber letztendlich weiß ich es nicht. Aber man weiß, dass das Potenzial der Linken, zum Beispiel, bei 15 Prozent und darüber liegt. Ist es auch eine Form der Resignation, der Enttäuschung? Und natürlich ist ein Fakt, das haben wir zuletzt in Italien gesehen, dass gerade Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, nicht mehr an die Politik glauben und dann ihr Recht nicht wahrnehmen. Ich empfand es bei meinem Wahlkampf als Parteiloser als eines der wichtigsten und schönsten Erlebnisse, dass mir wohnungslose Menschen gesagt haben, sie waren das erste Mal wählen. Es ging mir nicht darum, dass sie mich gewählt haben, sondern dass sie gesagt haben: Ja, jetzt hatten wir die Motivation, mal zu wählen. Und das gilt es zu vermitteln: Bitte nehmt euer Recht wahr und wählt die, die auch Politik für euch machen.
Kann es auch sein, dass die Leute, wie so oft in Umfragen, das sagen, was sozial gewünscht ist, aber persönlich eine ganz andere Prio-
Es kann bestimmt sein, dass Menschen häufiger Ängste entwickeln, auch von einem sozialen Abstieg bedroht zu sein. Und in solchen Situationen tendiert man leider dazu, die zu wählen, die man kennt und die schon immer die Politik gemacht haben, und dann hofft, dass der Status erhalten bleibt und man nicht in diese Armuts-Abwärtsspirale gerät. Dann wird häufig mehr konservativ gewählt. Warum das so ist, dass man glaubt, Sicherheit zu wählen, indem man die bekannten, etablierten, festen Strukturen wählt, die die letzten Jahre genau das Gegenteil bewirkt haben, das hat wohl etwas mit psychologischen Verhaltensmustern in persönlichen Krisenzeiten zu tun.
Jobcenter beraten falsch
Sie haben sowohl Krankenkassen als auch Behörden vorgeworfen, oft falsch zu beraten. Sollte man Haftungsregeln einführen, um eine falsche Beratung bei so wichtigen Institutionen von vornherein zu verhindern?
Es muss deutlicher werden, dass Jobcenter, Sozialamt und Krankenkassen Dienstleister sind, die ihrer Dienstleistungsfunktion und Verantwortung in solchen Fällen nicht gerecht werden. Das heißt, hier muss eine weitergehende, fundierte Ausbildung umgesetzt werden. Die Mitarbeiter*innen müssen mehr geschult werden, damit sie auch das vermitteln, was wirklich rechtskonform ist. Unsere Sozialarbeiter*innen wissen häufig mehr als die Sachbearbeiter*innen vom Jobcenter. Darauf muss ein Akzent gesetzt werden. Ob man das repressiv mit Bestrafung, Verantwortung und Reglementierung schafft? Man kann und sollte natürlich die Qualität überprüfen können, zum Beispiel Beratungsgespräche evaluieren. Das muss transparenter geschehen.
Nochmal zurück zu Ihrer möglichen Sozialreform: Könnten Sie sich vorstellen, für uns einen Gastbeitrag zu schreiben, in dem Sie Ihre Reformvorschläge vorstellen?
Das kann ich gerne machen, aber erst im Jahr 2023. Aber gerne schreibe ich das als Artikel.
Danke für das Gespräch.
Erstmalig erschienen in der Straßenzeitung Trott-war in Stuttgart.
MIRIJaM GÜNTER
LassEN sIE MEINE TR auRIGkEIT IN RuhE!
Wir müssen es benennen, Deine Traurigkeit – Dr. Lück schaut mich mit diesem Blick an, der mir sagen soll: Wenn ich nur richtig mitarbeite, werde ich wieder ein gutes und vollständiges Mitglied der Gesellschaft. Ich werde nie dazugehören. Nie. Es rauscht in meinen Ohren.
Wenn man nur lange genug auf seine Schuhspitzen schaut, fällt man in einen Traum, auch mit offenen Augen. Es klappt nicht. „Wir können Deine Traurigkeit nur benennen, wenn wir ihr einen Namen geben!“ Wieso will der Doktortitel mich bekämpfen? Ich muss meine Traurigkeit beschützen. „Du bist doch bei mir wegen Deiner Traurigkeit?“
„Ich bin hier, weil meine Umwelt meint, dass meine Seele erkrankt ist.“ Das war ja wohl super formuliert, ist eigentlich nicht so meine Art. Ich hätte auch sagen können: Meine letzten Getreuen denken, ich hätte einen an der Waffel. Wobei ich schon in eine solche Traurigkeit über die Frage verfalle, wer eigentlich meine Getreuen sind. Und warum verlassen sie mich nicht? Dr. Lück guckt genervt. „Es ist schon okay, wie es ist.“ „Du bist doch bei mir, weil Du Hilfe brauchst?!“ Ich zucke mit den Schultern.
„Wir waren bei dem Thema Traurigkeit. Wir benennen sie und versuchen sie so zu bekämpfen.“ „Lassen Sie meine Traurigkeit in Ruhe!“ „Versteh‘ das nicht falsch, ich will nicht Dich bekämpfen!“ Er schaut mich mit einem Blick an, der sagt: Ich überfordere ihn mal wieder. „Ich möchte Deine Traurigkeit analysieren und heilbar machen.“ „Heilbar?“
Wie redet der denn? „Sie wollen meine Traurigkeit umbringen!“
Er schaut mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. Habe ich ja auch nicht, sonst wäre ich nicht hier. Vielleicht gehen auch nur gesunde Menschen hier her. Vielleicht können kranke Seelen gar nicht gesunden. Woran sind Sie denn erkrankt? Ich bin unheilbar an der Seele erkrankt. Prognose? Lebenslänglich. Kann man da gar nichts machen? Woran denkst Du?
Dr. Lück räuspert sich. Fürs Schweigen sitzen wir ja nicht hier. „Ich werde nicht zulassen, dass Sie meiner Traurigkeit etwas antun!“ „Aber Du hast doch gesagt, dass sie Dich hindert und hemmt.“ „Sie darf das!“ Ich muss sie verteidigen. Oder ist die Traurigkeit ein Er?
„Schreib doch in der nächsten Woche mal auf, wann die Traurigkeit Dich befällt. Führe mal ein Traurigkeitstagebuch.“ Er will meine Traurigkeit lokalisieren, damit er sie überfallen kann. „Lassen Sie mich in Ruhe!“ „Bis zu unserem nächsten Termin hätte ich gerne gewusst, was Du eigentlich von mir willst. Ganz ehrlich: auf postpubertäre Spielchen habe ich keinen Bock. Das nervt mich, da fühle ich mich verarscht.“ Darf man als Doktor so reden?
„Ich möchte eine Familienaufstellung machen. Ich bin die Schildkröte.“ „Du hast doch gar keine Familie.“ „Meine Gefährten sind meine Familie.“ „Wir sehen uns nächste Woche! Denk an das Tagebuch.“ „Ich will eine Familienaufstellung.“ Jetzt werde ich wütend. „Nur richtig Kranke machen eine Familienaufstellung. Ich will richtig krank sein!“ „Ja, machen wir.“ Der Typ würde mir alles versprechen, wenn ich nur gehe.