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„MEIN LEbEN IsT EIN RoaDMoVIE“
Sollten wir das ganze Konzept Geld generell in Frage stellen?
Ich würde Geld als Mittel nicht abschaffen wollen, es ist weder gut noch schlecht. Es könnte gut funktionieren, denn es drückt aus, wie wir uns als Gesellschaft untereinander behandeln. Es ist auch das Mittel schlechthin; darauf können wir uns in der Welt besser einigen als auf alles andere. Aber man muss neben dem wirtschaftlichen noch ein soziales und politisches Verständnis von Geld haben. Wenn wir offen über Geld reden und die mitschwingenden Beziehungsdynamiken anerkennen, dann wird sich auch unser Umgang damit anders gestalten.
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Ist das in unserem kapitalistischen System möglich?
Ich würde schon grundsätzlich die Systemfrage stellen, aber ich will nicht alles über den Haufen werfen. Die Juristin und Autorin Katharina Pistor spricht von „institutioneller Autopsie“: Wir sollten uns immer anschauen: Was funktioniert und sorgt für Wohlstand? Und wo gibt es Ausbeutungsverhältnisse und ungesunde Abhängigkeiten? Wir sollten das System als etwas begreifen, das sich permanent weiterentwickelt, weil Menschen und Gesellschaften das auch tun. Das ist hochkomplex. Aber nur so kommen wir von den „Ismen“ weg. Ich finde die Debatten, ob Kapitalismus besser ist als Sozialismus, nicht hilfreich. Das beschwört: Ich habe die Antwort. Aber es ist gar nicht möglich, eine letztgültige Antwort zu finden. Es gibt nur den Prozess des Antwortens. Das ist sehr unbefriedigend, aber unglaublich wichtig, anzuerkennen.
Wie kann dieser Prozess auf gesamtgesellschaftlicher Ebene stattfinden?
Man sollte sich die Frage stellen, wer die Öffentlichkeit überhaupt gestaltet. Wer hat Zugang zum Sprechen? Wer darf diskutieren? Wenn immer in derselben Suppe gekocht wird, wird immer das Gleiche entstehen. Wir brauchen ein Bild der Öffentlichkeit, das nicht nur den Blick der Privilegierten widerspiegelt. Idealerweise braucht es auch meine Stimme in der Öffentlichkeit irgendwann nicht mehr – denn meine Inhalte sind, genau wie meine Klassenzugehörigkeit, bereits stark vertreten. Nur, dass ich deren scheinbare Widersprüchlichkeit zusammenbringe, ist für viele überraschend.
Suchen Sie die Debatte auch mit anderen Überreichen? Ja, und die Resonanz ist meistens positiv. Ich darf mich da gar nicht rausnehmen: Ich bin lange mit Privilegien-Scheuklappen durch die Welt spaziert. Und – ich kann ja das beste Gerechtigkeitsverständnis haben, es bringt aber nichts, wenn ich es nur mit mir herumtrage. Es gibt
Lesekreise zu Karl Marx von Überreichen, die kennen sich blendend aus. Aber was ist dann die Konsequenz? Ich kann nicht behaupten, dass ich das politische Zusammensein einer Gesellschaft verstanden habe, wenn ich nicht bereit bin, das in ein konsequentes Handeln umzusetzen.
Nur wenige Überreiche tragen ihre Privilegien so offen vor sich her wie Sie. Warum?
Viele Überreiche, die ich kenne, fürchten, dass Öffentlichkeit bedeutet, alle Privatsphäre aufzugeben. Sie unterschätzen dabei, wie sichtbar ihre Privilegien ohnehin sind. Menschen wissen auch, dass ich reich bin, wenn ich es nicht sage. Sobald ich fürchte, auf meinen Überreichtum reduziert zu werden, beginne ich selbst, mich darüber zu definieren. Ich habe Überreiche schon in Tränen ausbrechen sehen, als sie sich ernsthaft mit der Frage befasst haben: Wer bin ich eigentlich ohne mein Geld?
Angenommen, Vermögen wird zukünftig fair besteuert und Sie werden Ihr Geld los. In welchem Arbeitsverhältnis sehen Sie sich in zehn Jahren?
Ich bin klassenprivilegiert aufgewachsen und werde es mein Leben lang sein. Aber ich bin mir nicht zu schade zum Arbeiten, im Gegenteil: Ich glaube, es ist wichtig und schön, wenn wir Arbeit irgendwann als Beteiligungsmittel in der Gesellschaft begreifen können, das keine Machtgefälle befördert und Ausbeutung systematisiert. Kein Vermögen könnte das ersetzen.
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von 20er (A) International Network of Street Papers
An meine früheste Kindheit kann ich mich nicht erinnern, ich wuchs bei einer Pflegefamilie auf, meine Schwester und mein Bruder wurden anderswo untergebracht. Meine Pflegemutter war eine gute, ich habe sie ‚Großmami‘ genannt. Als ich mit sieben eingeschult wurde, kam ich mit meinen Geschwistern zurück zu den Eltern. Damals hatten wir so etwas wie ein Familienleben.

Marlene Engelhorn –Geld
Kremayr & Scheriau, 2022
ISBN 978-3-218-01327-7
An den Kindergarten und die Schule denke ich nur ungern zurück, das war dramatisch und traumatisch für mich. Depressionen, Ängste und Hilflosigkeit bestimmten mein junges Leben. Am schlimmsten war, dass ich mehrmals im Jahr für Wochen ins Spital musste, zur Behandlung diverser Geburtsgebrechen. Meine Kindheitserinnerungen bestehen nur aus Spritzen, Narkosen und Operationen. Die Ärzt*innen hatten Probleme, mich ruhigzustellen. Ich erinnere mich gut an diese Angst in mir und das Gefühl, ich müsse unbedingt weg. Diese Fluchtgedanken sollten mich ein Leben lang begleiten. Nach der Schule ging ich auf die Dolmetscherschule, ich machte Sprachaufenthalte in England und Italien. Dann traf ich meine spätere Frau, sie überredete mich, zu ihrer Familie nach Mexiko zu ziehen. Nach einiger Zeit musste ich zurück, ich wollte meine C–Bewilligung (Anm. d. Red.: permanente Niederlassungsbewilligung in der Schweiz) nicht aufs Spiel setzen. Sie kam später nach, wurde schwanger. So musste ich die Schule abbrechen und Arbeit suchen. Es kamen harte Jahre, ich hatte teilweise zwei Jobs auf einmal. Den einen tagsüber als Lagerist, den anderen als Nachtportier. Auch für die Familie war das eine Belastung, wir hatten inzwischen zwei Söhne. Ich dachte immer: Wenn du nur fleissig bist, hast du auch Arbeit und kannst deine Familie durchbringen. Denkste! Ich verlor den Job. Hinzu kamen Herzprobleme. Ich musste kürzertreten.
Mit den Existenzängsten kamen die Depressionen wieder. Ein schlimmer Zustand, man hält nichts mehr von sich selbst, will nur noch eins: sterben. Trotzdem habe ich mich immer wieder aufgerafft und versucht, einer Arbeit nachzugehen und für meine Kinder zu sorgen. Unsere Ehe hielt der Belastung nicht stand, wir ließen uns scheiden. Meine Ex-Frau und ich versuchten, unsere Kinder zu ihrer Familie nach Mexiko zu bringen. Zwar konnten sie dort auf eine Privatschule und waren umsorgt, trotzdem war die Trennung für mich schlimm. Ich hatte damals zwar Arbeit, eine Freundin, eine Wohnung. Und doch fühlte ich mich verloren – noch immer war ich der Ausländer, der Italiener, der Fremde. Dann verlor ich wieder einmal den Job, die Depressionen nahmen zu, ich hatte keinen Halt mehr. So stieg ich in mein Auto und fuhr einfach auf und davon. So begann mein Roadmovie. Ein Jahr war ich unterwegs. Ich schlief in meinem weißen Kombi, im Wald, in Klöstern, suchte mir Arbeit, manchmal musste ich mir Essen und Benzin stehlen. Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen. In dieser Zeit traf ich aber auch Menschen, die mir vertrauten und für die ich nicht der Ausländer war – das tat mir gut. Mit der Zeit wurde ich polizeilich gesucht, da wusste ich: Jetzt muss ich zurück und wieder vernünftig werden. Zum Glück fand ich rasch Arbeit, sodass ich wieder für die Kinder – sie waren inzwischen aus Mexiko zurück –sorgen konnte.
Mehr kann ich zu dieser Lebensphase nicht sagen, ich muss selber noch einen Weg finden, um das Ganze einzuordnen. Ich glaube, was ich als ‚Roadmovie‘ bezeichne, ist ein Muster und hat viel damit zu tun, dass ich flüchten will, wenn ich enttäuscht werde, Ängste spüre oder wenn schwere Entscheidungen anstehen. Diese Fluchtgedanken hatte ich schon als Kind. Damals konnte ich nicht fliehen, als Erwachsener schon. Aber das soll keine Ausrede sein. Heute versuche ich, in diesen Situationen zwei Schritte zurückzutreten, weitere Kurzschlusshandlungen zu vermeiden – was nicht immer klappt – und möglichst keinen Mist mehr zu bauen.
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Surprise (CH), International Network of Street Papers