Die Zeitlos #15 - Jubiläumsausgabe: 10 Jahre Die Zeitlos

10 Jahre Die Zeitlos

Ausgabe 15 | WS 2021

Dürfen wir noch in die Berge?

Leben in einer schwarz-weißen Welt Bildung nicht nur für Annas und Pauls

Welt

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Alina Müller, Claudia Ploner, Lisa Birti, Eva Mattle, Heidi Siller, Helena Hantelmann, Matthias Eisl, Hannah Winkler, Inés Condoy Franco, Isabella Walder, Jonas Heitzer, Nadine Schulte, Patrizia Pierdomenico, Marie Damisch, Merle Hubert, Sofie Amann

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Das sind wir

Liebe Studierende, liebe Innsbrucker*innen, seit mittlerweile 10 Jahren wird bei der Zeitlos fleißig recherchiert, interviewt, getippt und veröffentlicht. Mit der vorliegenden Ausgabe wollen wir, die Mitglieder* der Zeitlos, unser langjähriges Bestehen feiern. Dabei trägt das Magazin diesmal den Namen und den Fokus in einem: auf den folgenden Seiten werden Themen behandelt, die für die Redakteur*innen als zeitlos angesehen wurden. Doch was ist zeitlos? Über das Konstrukt der Zeit und ihre (Un-)Endlichkeit haben sich schon die größten Größen der Philosophie ihre Köpfe zerbrochen.

Für Augustinus ist Zeit eine Ausdehnung der menschlichen Seele, die sich erinnert (Vergangenheit), wahrnimmt (Gegenwart) und erwartet (Zukunft). Die Gegenwart muss in Vergangenheit übergehen, um an Dauer zu gewinnen und das Erinnern führt zur Vergegenwärtigung von Vergangenem. So bekommt der Mensch erst durch diesen Akt des Erinnerns eine Ahnung von der Zeitlosigkeit.

Nach Hegel wiederum ist Zeit das Hervorbringen der Geschichte durch die Gesellschaft. Die Gegenwart enthält für ihn die Vergangenheit und ist bereits Vorwegnahme der Zukunft.

So haben auch wir uns diesem Diskurs angeschlossen und darüber nachgedacht, diskutiert, ein wenig auch philosophiert. Grund dafür ist unser 10-jähriges Jubiläum. Für die einen erscheinen die imposanten Berge als zeitlos – sie waren vor uns da, sind es jetzt und werden auch in Zukunft noch Teil des Landschaftsbildes sein.

Für die anderen sind es eher die großen Gefühle, wie Liebe(skummer) und Freundschaft. Aber auch die Wohnsituation und die Mietpreise in Innsbruck sind andauernde Aspekte, zumindest in der Geschichte der Stadt. Beim Erstellen dieser Ausgabe stellten wir uns zudem Zeit überdauernde Fragen: Was kann die österreichische Bildungspolitik besser machen, um die soziale Ungleichheit hinsichtlich der Bildung endgültig aus der Welt zu schaffen?

Wie muss sich der Konsum und die Art des Lebens ändern, damit die Ressourcen unserer Erde nicht bereits nach der ersten Hälfte des Jahres erschöpft sind? Überlegungen dazu und vielem mehr findet ihr auf den nächsten Seiten.

Für uns hat diese Ausgabe einen besonderen Stellenwert. Wir wollen damit feiern, uns aber auch bedanken, dass es uns nun seit einem Jahrzehnt möglich ist, studentischen Journalismus zu betreiben. Viel Vergnügen mit den folgenden Artikeln, die auch uns zu dem machen, was Thema ist: zeitlos.

EURE, NICOLE, KATHARINA, MAGDALENA, SARAH, DIANA, TOBI und die Redaktion

Wir danken der ÖH der Universität Innsbruck für eine finanzielle Unterstützung bei den Druckkosten.

Alle Inhalte stammen von Studierenden verschiedener Hochschulen und werden frei von den AutorInnen gewählt. Wir geben keinerlei Gewähr auf Aktualität, Qualität, Vollständigkeit oder Korrektheit der bereitgestellten Inhalte und Informationen. Haftungsansprüche gegen das Magazin, welche sich auf Schäden ideeller und materieller Art beziehen, die durch die Nutzung oder Nichtnutzung der angebotenen Informationen bzw. durch die Nutzung fehlerhafter oder unvollständiger Informationen verursacht wurden, sind grundsätzlich ausgeschlossen. Copyright auf alle Inhalte durch den Verein Zeitlos 2020.

Inhalt Lokal – Innsbruck: Eine zeitlose Sportstadt

S. 6-7

– Erholungstipps Alpen

S. 8-9

– Dürfen wir noch in die Berge?

S. 10-13

– Tirols Wasserkraft: Ist die Energiefrage gelöst?

S. 15-17

– Explodierende Mietpreise in Innsbruck

S. 18-21

Kultur – Allein auf einem Tandem

S. 22-25

– When it comes to art

S. 26-29

– Warum positiv denken?

S. 30-33

– Zeitlosigkeit S. 36-37

Gesellschaft – Die Juden, die Medien, die Ausländer - Verschwörungstheorien

S. 38-41

– Der Weg der Frau

S. 42-45

– Der Wunsch nach dem Tod

S. 46-49

– Der Schatten einer sexuellen Revolution - die Antibabypille

S. 50-53

– Leben in einer schwarz-weißen Welt

S. 52-57

– Freundschaftsfragmente

S. 58-61

Campus – Bildung nicht nur für Annas und Pauls

S. 62- 63

Global – Unnötige Qual: Tierversuche

S. 64-65

– Plastikverschmutzung S. 66-67 – Aber sonst gesund?

S. 68-71

– Die Kinder, die wir riefen

S. 72-77

– Heimatlos - Perspektivenlos - Hoffnungslos?

S. 78-83

– Die „Mastgans Mensch“

S. 84-87

– Time for a radical rethink: Earth Overshoot Day

S. 88-91

Innsbruck

Eine Zeitlose Sportstadt geschrieben von Tobias Goller

© Manuel Will (unsplash.com)

Nach Innsbruck kommen dutzende Menschen, um zu wandern, zu klettern oder zu biken. „Das Wandern ist des Innsbrucker’s Lust!“ steht sogar auf der Homepage der Stadt. Ich, selbst Innsbrucker, konnte mich komischerweise nie wirklich für diese Sportarten begeistern. Um ehrlich zu sein, machten mir Sportarten ohne Ball nie wirklich Spaß. Aber wie kam es dazu, dass sich die Sportstadt Innsbruck vor allem durch diese Sportarten definiert? Welche Sportarten finden in der Tiroler Landeshauptstadt noch ihren Platz und wie sieht es mit den klassischen österreichischen Winterdisziplinen aus?

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Lokal

Klettereuphorie

hauptstadt. Nicht nur die 29 Sport-

„Gehst du mit mir ins KI?“, fragt

klettergebiete in der Region laden

mich eine Freundin jetzt schon

Kletternde zum Sporteln ein. Vor

zum dritten Mal in den letzten Wo-

allem die Eröffnung des Kletter-

chen. Wieder verneine ich mit der

zentrum Innsbruck im Jahr 2017

Begründung „Keine Zeit, das nächs-

ließ die Zahl der Kletter-Begeister-

te Mal bin ich fix dabei!“. „In der

ten exponentiell nach oben schie-

CLIMBERS‘ CITY INNSBRUCK wird

ßen. Im vom Alpenverein betrie-

bei jeder Witterung und zu jeder

benen Kletterzentrum findet man

Jahreszeit geklettert.“, erklärt mir

unglaubliche 5700 Quadratmeter

wieder die Website der Landes-

reine Kletterwandfläche, darunter

auch

Weltcup-taugliche

Kletter-

gingen durch die Decke. Zahlreiche

beliebt. Die Swarco Raiders Tirol

wände. Neben dem klassischen

Skandale und Schlagzeilen prägten

wurden 1992 gegründet und sind

Seilklettern kann man dort auch

die damaligen Tagesblätter. Um nur

seit vielen Jahren eines der erfolg-

bouldern. Unter www.kletterzent-

einige zu nennen: Der persische

reichsten American Football Teams

rum-innsbruck.at/kletterzentrum/

Schah durfte, als Funktionär ge-

Europas. Zu den Erfolgen des Ver-

du-bist-zum-ersten-mal-hier findet

tarnt, heimlich die Abfahrtsstrecke

eins zählen nicht nur Österreichi-

man Informationen für Menschen,

der Damen herunterfahren. Au-

sche Meistertitel, sondern auch

die noch keine Erfahrung mit dem

ßerdem litten diese Olympischen

einige europäische und internatio-

Klettern haben und auch für Inns-

Winterspiele unter akutem Schnee-

nale Erfolge. Außerdem bildeten sie

brucker*innen, die vielleicht das

mangel. Damals musste das öster-

den einzigen österreichischen Feld-

nächste Mal dann wirklich „fix“ da-

reichische Bundesheer anrücken,

spieler in der NFL, Sandro Platz-

bei sind.

um 20.000 Eisblöcke und 40.000

gummer, aus. Die Saison der Aust-

Kubikmeter Schnee anzuschaffen.

rian Football League beginnt jedes

Innsbruck als Gastgeber der

Besonders war auch, dass es in den

Jahr im Frühling. Ab da kann man

olympischen Winterspiele

Alpinbewerben erstmals die Zeit-

den Raiders wieder im Tivoli Sta-

Im Jahr 1964, als Österreich im

messung mit Hundertstelsekunden

dion beim Spielen zuschauen und

Medaillenspiegel sogar den zwei-

gab, welche heutzutage nicht mehr

gemeinsam den Touchdown-Song

ten Platz nach der Sowjetunion er-

wegzudenken ist. 1976 war die Be-

anstimmen.

reichte, und im Jahr 1976 hielt man

völkerung sogar so sehr an den

in Innsbruck die Olympischen Win-

Olympischen Spielen interessiert,

Wie du siehst, hat Innsbruck noch

terspiele ab. Vor allem 1964 waren

dass alle Schüler*innen in Wien be-

mehr zu bieten als Wandern und

die Winterspiele für die Innsbru-

reits um 11:00 frei hatten.

Ski fahren. In dieser Stadt gibt es

cker Bevölkerung ein Highlight.

zahlreiche Möglichkeiten sportlich American Football: Eine

etwas Neues auszuprobieren und

den Nebenräumen der Geschäfte

Innsbrucker Erfolgsgeschichte

eine Begeisterung dafür zu ent-

extra Fernsehgeräte aufgestellt, da-

Zusätzlich zu vielen klassischen

wickeln. Man muss nur offen für

mit die Angestellten vom Ladenpult

Innsbrucker Sportarten, ist auch

Neues sein und sich einfach trau-

die Spiele verfolgen konnten. Die

ein US-amerikanischer Sport in

en. Vielleicht sieht man mich dann

Verkaufszahlen

der Landeshauptstadt Tirols sehr

doch mal im KI.

von

TV-Geräten

© Waldemar Brandt (unsplash.com)

Damals wurden in Innsbruck in

Lokal

7

ERHOLUNGSTIPP ALPEN! geschrieben von Hannah Winkler

Das Highlight des Jahres? Früher war dies oft die Sommerfrische in den Bergen. Auch heute haben viele Menschen nicht nur Sehnsucht nach dem Meer, sondern wünschen sich auch in schroffe Felswän-

Sommerfrische und ein Hauch

sondern auch gesundheitliche Vorteile

Nostalgie

hat, weiß man bis heute.

Es ist zwar schwer vorzustellen, aber

Exercise? Go green!

Die Luft ist rein!

den Urlaub, wie wir ihn heute ken-

© Hannah Winkler

© Hannah Winkler

de, an kühle Bergseen und zu einem „Kaiserschmarrn“ in grüne Almen. Aus langer Sommerfrische sind mittlerweile zwar eher spontane Wochenendtrips geworden, welche sich über das ganze Jahr verteilen, die Berge üben aber nach wie vor eine große Faszination auf uns aus.

nen, gibt es eigentlich noch gar nicht

Das gesamte Ausmaß der positiven

so lange. Früher war es nur dem Adel

Auswirkungen, die Sport auf unsere

Wer

möglich, zu reisen und dies war eher

Gesundheit tatsächlich hat, ist uns

green-exercising erst recht ausprobie-

beschwerlich. Die Sommerhitze war,

meist gar nicht bewusst. Regelmäßi-

ren. Der Grund? Die frische Bergluft.

in den Bergen, aber doch um einiges

ge körperliche Aktivität fördert nicht

Denn die reinere Luft in der Höhen-

besser zu ertragen als in der Stadt.

nur die Herz-Lungen-Fitness, son-

lage reinigt auch die Atemwege und

Begonnen hat die Flucht vor der Hit-

dern stärkt auch das Immunsystem.

die Lunge. Das kann man sich wie

ze schon bei den Römer*innen. Auch

So wird sogar Herzinfarkten, Schlag-

eine grüne Insel in einem Meer von

sie verbrachten die heißen Sommer-

anfällen, Diabetes, Osteoporose, Rü-

Feinstaub vorstellen. Viele heimische

tage bereits gerne in den kühleren

ckenschmerz oder bestimmten Krebs-

Pflanzen filtern die Luft zusätzlich.

Höhenlagen. Bei ihnen noch villegi-

arten effektiv vorgebeugt. Bewegung

Die Latsche, auch Bergkiefer genannt,

atura genannt, wird die sommerliche

draußen im Grünen macht nicht nur

hat sogar die höchste Kapazität,

Auszeit im Laufe der Jahre zur Som-

Spaß, sie hat erwiesenermaßen sogar

Feinstaub zu binden. Auch Menschen,

merfrische. Heute scheint der Begriff

noch stärkere Gesundheitseffekte als

die von Allergien betroffen sind, soll-

nicht mehr allzu modern und birgt

Bewegung in der Stadt oder in Innen-

ten über Urlaub in den Bergen nach-

eher einen Hauch von Nostalgie in

räumen. Kein Wunder also, dass der

denken, denn die kürzere Blühsaison

sich. Trotzdem: Dass ein Urlaub in ho-

Trend green-exercising immer belieb-

der Pflanzen bedeutet kühle, pollenar-

hen Lagen nicht nur wunderschön ist,

ter wird!

me Luft.

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Lokal

in

den

Alpen

lebt,

sollte

Strahlende Sonne genießen Nicht nur die Luft ist in den Bergen

Berge machen happy und fit!

© Hannah Winkler

reiner, auch die Sonne hat den in höheren Lagen ein vollständigeres

Gesundheit ist für viele aber nicht der

Lichtspektrum.

ent-

Hauptgrund für eine Auszeit im Ge-

spricht damit einem natürlicheren

birge. Bei vielen wirkt die unberührte

Sonnenlicht als das in den Industrie-

Natur der Alpen stimmungsaufhellend

zonen und Städten. Im Gebirge sollte

und steigert sogar das Selbstbewusst-

aber die Sonnencreme auf keinen Fall

sein. Menschen die naturverbunden

vergessen werden. In den Bergen ist

leben, haben eine höhere Vitalität, Le-

auch der Anteil an Infrarotlicht höher.

benszufriedenheit und mehr positive

Infrarot ist ein langwelliges Licht, das

Emotionen. Bewegung in freier Natur

tief in den Körper eindringt. Dadurch

kann auch vor psychischen Erkran-

wird die Durchblutung und der Ener-

kungen schützen und dies, ähnlich wie

gieverbrauch erhöht. Es wirkt zudem

bei der physischen Gesundheit, auch

stark antibakteriell und kann chroni-

viel effektiver als Bewegung in urba-

sche Infekte bekämpfen. Zusätzlich

nen oder geschlossenen Räumen. Die

werden auch die Immunzellen durch

Höhenlage in den Alpen hat zusätzlich

Infrarotlicht stärker aktiviert, wir wer-

auch einen leistungssteigernden Ef-

den also weniger oft krank.

fekt. Das liegt vor allem am verstärk-

Zusätzlich kann in den Bergen aber

ten Aufbau von vitalisierenden roten

auch der unerwünschten Strahlung,

Blutkörperchen. Dieser Effekt stellt

wie Elektrosmog und Handystrah-

sich bereits nach drei Tagen in Hö-

lung, entgangen werden. Diese wird

henlagen ein und kann bis zu 120 Tage

nämlich immer mehr und stärker. In

lang anhalten.

den Bergen sind Menge und Intensität

Es ist also vollkommen egal, ob wir

an Strahlung aber deutlich geringer als

neue Trendsportarten ausprobieren

in der Stadt. Ein Trip in höhere

oder lieber auf entspanntes Wan-

Lagen gibt dem Stoffwechsel und dem

dern setzen. Auch ob wir im Winter

zentralen Nervensystem also eine Ge-

die Pisten unsicher machen, oder im

legenheit, sich zu erholen. Das kann

Sommer den Mountainbike-Trail, es

sogar dazu führen, dass wir besser

ist für jeden etwas dabei. Schon ein

schlafen können.

Fotos: Die Natur in den Al-

ausgedehnter Spaziergang in der Na-

pen Isabella macht Strieder, also tatsächlich gesund.

tur kann große Auswirkungen auf Ge-

Höhensonne

Catcallsofibk bei der

sundheit und Psyche haben. Es ist also

Kundgebung gegen

nicht notwendig den höchsten Gipfel

Gewalt an Frauen

zu erklimmen, die Hauptsache bleibt

in Innsbruck am

die Freude an der Bewegung im Frei-

10.12.2020

en. Also: Nicht lange warten, raus auf den Berg!

Lokal

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DÜRFEN WIR NOCH IN DIE BERGE? geschrieben von Sofie Amann Ob Skifahren, Mountainbiken, oder Wandern. Wir erreichen Gipfel, um die Aussicht zu genießen, uns frei zu fühlen, zu entspannen oder uns körperlich zu verausgaben. Die Alpen bieten wunderbare Möglichkeiten, um dem Alltag zu entfliehen. Doch unser Verlangen nach der Bergidylle hat auch seine Kehrseite. Die Natur leidet immer mehr unter der wachsenden Zahl an begeisterten Bergsportler*innen und Naturgenießer*innen. Und so stellt sich die Frage: Dürfen wir noch in die Berge?

Der Anfang des Alpinismus

gründer des Alpinismus. Die Beson-

Metern Höhe heute Flip-Flops-tra-

April 1336. Francesco Petrarca er-

derheit dieser Besteigung ist nicht

gende Weltreisende, die an jenem

reicht nach stundenlanger Anstren-

die Höhe, die Steilheit oder der

Tag schon den dritten Gipfel per

gung den knapp 2000 Meter hohen

technische Anspruch der Wande-

Seilbahn erreicht haben. Perfekt

Gipfel des Mont Ventoux. Überwäl-

rung an sich, sondern sein innerer

inszenierte Bilder werden dann im

tigt vom Freiheitsgefühl und dem

Antrieb. Petrarcas Aufstieg gilt als

Tal auf Instagram mit den Hashtags

Naturschauspiel, welches der Blick

der erste dokumentierte Aufstieg,

auf die Provence bietet, schlägt der

welcher nicht der Forschung oder

italienische Dichter ein Buch auf.

der Kriegsführung diente. Allein

Darin liest er – der Überlieferung

der Neugierde und Selbsterfüllung.

nach – zufällig die folgenden Worte: „Und es gehen die Menschen hin, zu

Wenn wir heute in die Berge

bestaunen die Höhen der Berge, die

gehen

ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahinfließenden Ströme, die

Im Mittelalter war das Bergsteigen

Weite des Ozeans und die Bahnen

aus Spaß und Freude an der Natur

der Gestirne und vergessen darü-

noch neu und ungewöhnlich. Dies

ber sich selbst.“ ~ aus dem Werk:

hat sich im Laufe der Zeit jedoch

Confessiones des Augustinus

stark geändert. Aus ehemals klei-

Petrarca selbst schrieb über sei-

nen Bergdörfern werden Städte,

nen Aufstieg, dass er dies „allein

neben Bauernhöfen sprießen Ho-

vom Drang beseelt, diesen außer-

tels aus dem Boden. Trampelpfade

gewöhnlich hohen Ort zu sehen“

werden zu Forststraßen und natur-

tat. Seine Bezwingung des Mont

belassene Hänge zu Skipisten. Den

Ventoux wird des Öfteren als die

Menschen zieht es in die Berge.

kulturhistorische

vom

War einst das Erreichen des Gipfel-

Mittelalter zur Neuzeit angesehen.

kreuzes nur für die trainiertesten

Und vor allem gilt Petrarca damit

und erfahrensten Bergsteiger*in-

als Vater der Bergsteiger und als Be-

nen möglich, tummeln sich auf 3000

10

Schwelle

© Sofie Amann

Lokal © Sofie Amann

#Mountainlover und #Wanderlust

werden und Bergquellen werden

zerstört neben der Pflanzendecke

gepostet. Das weckt den Wunsch

ausgeschöpft, was langfristig ei-

in der Folge auch Lebensraum für

nach der alpinen Idylle bei den Fol-

nen Teufelskreis für unsere Um-

Tiere. Schmetterlinge und Käfer

lowern, die bald darauf die immer

welt darstellt. Neben dem hohen

sind

gleichen Hotspots besuchen.

Energieverbrauch ist Kunstschnee

auf die bunte Vielfalt angewiesen.

Die Bergwelt hat einen Wandel

auch für die Vegetation ein Desas-

Sie müssen sich eine neue Heimat

durchlebt. Tourismusverbände und

ter. Über Jahrtausende hinweg an-

suchen oder sie sterben aus. Und

Gemeinden bieten Tourist*innen,

gepasste

Pflanzengesellschaften

noch während des Winters, wenn

Zugezogenen und Einheimischen

müssen den unnatürlich hohen

Skifahrer*innen die Hänge hinun-

eine fast unendliche Vielfalt, wie

Wassermengen weichen und so

terrasen, werden Tiere durch den

die Natur für die eigene Freizeit

hinterlässt die weiße Abfahrt nach

Freizeitanspruch der Menschen ge-

bestmöglich genutzt werden kann.

der Schneeschmelze nur noch öde

stört. Das laute Rattern und Brum-

Es werden Kettensägen geschwun-

Allerwelts-Vegetation. Von der viel-

men der Schneekanonen in den

gen und schwere Bagger den Berg

fältigen Pflanzenwelt der unter-

Abendstunden beeinträchtigt die

hinaufgehievt.

schiedlichen Höhenstufen müssen

Ruhephasen der Wildtiere. Dazu

Hubschrauber transportieren nicht

sich diese Regionen verabschieden.

kommen

nur Verletzte, sondern auch die ge-

Die Waldrodungen und das groß-

durch nächtliche Skifahrer*innen

kühlte Cola in die hoch gelegene

flächige Planieren für Skipisten

und Pistengeräte. Der Stress raubt

Schutzhütte.

Schweres

nach

der

Schneeschmelze

Lichtverschmutzung

Geschütz

wird aufgefahren, um unseren Bedürfnissen nach Sport und Erholung bestmöglich nachzukommen.

Die Natur leidet Doch welche Auswirkungen hat das unstillbare Verlangen der Menschen nach den Bergen für die Natur selbst? Die Natur leidet bereits durch den Klimawandel unter dem Menschen. Mit der Zunahme des Bergtourismus und des Bergsports umarmen sich zwei Probleme. Der Klimawandel sorgt vielerorts für geringere Schneemengen. Und so werden Skipisten flächendeckend beschneit, um von September bis Mai den perfekten Ski-Spaß zu garantieren. Dafür muss das Wasser aus

künstlich

angelegten

Spei-

cherseen energieintensiv gepumpt

© Sofie Amann

Lokal

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ihnen überlebensnotwendige Ener-

seit Corona sieht man immer öfter

gie. Auch wenn der Wintersport

Masken zwischen den Zweigen im

eindeutig die umweltschädlichste

Wind flattern, die wohl unachtsam

Aktivität für den Alpenraum ist,

aus der Tasche gefallen sind. So lei-

haben Wanderwege, Mountainbi-

det die Natur unter dem Unwissen

ke-Trails oder schlichtweg die Mas-

und wohl auch unter der Ignoranz

se an Bergbegeisterten allesamt

der Menschen.

eine negative Auswirkung auf die Natur. Alles wird für den Menschen ausgelegt. Beim Ausbau neuer Freizeitmöglichkeiten wird der Gedanke, ob die neue Forststraße oder der neue Trail denn zur Natur und in die Umgebung passt, vollends ausgeblendet.

Grausam ist auch der direkte Fußabdruck vieler Wanderer in den Alpen. Anstatt dass die Verpackung des

High-Protein-Riegels

wieder

in der Hosentasche verschwindet, verrottet das Plastik auf dem Waldboden. Und auch wenn nach jahrzehntelanger Zersetzung die Spur des Riegels irgendwann verschwunden ist, dann hat sich das Mikroplastik doch in jeden Quadratmeter des Waldes eingenistet und greift in seinen ökologischen Kreislauf ein.

Nebenbei wird noch die Entspannungszigarette geraucht, der Filter fliegt auf den Boden und wird dort noch sieben Jahre lang sein Gift ausbreiten. Genauso schädlich und doch ein wenig anders verhält es sich mit vermeintlich organischem Müll, wie Bananen- oder Orangenschalen. Auf ihnen befinden sich häufig Spritzmittel wie Pestizide, sie verrotten in der Höhe kaum und brauchen bis zu drei Jahre bis zu ihrem Verschwinden. Und

12

Lokal

© Sofie Amann

Der Berg ist nicht nur für den

falsch, die Höhe für die körperliche

zerstörung, fahren für Speckknödel

Menschen da

und seelische Gesundheit zu nut-

auf 2000 Meter mit der Gondel und

zen. Dennoch sollten wir dem Aus-

achten beim „Downhillen“ darauf,

Es ist ein Geschenk, dass die Natur

maß der heutigen Bergindustrie

möglichst jede Wurzel mitzuneh-

unseren Augen solch eine Schön-

bewusst sein und es hinterfragen.

men.

heit bietet. Es ist nicht falsch, die-

Sollte der Mensch nicht ein Teil der

ser Idylle möglichst nahekommen

Natur sein? Ein Teil des natürlichen

Es fällt alles auf den Menschen

zu wollen. Es ist nicht falsch in den

Ökosystems, von welchem jede*r

zurück

Bergen zu sein. Und es ist auch nicht

von uns profitiert, es aber auch nährt. Sollte der Mensch nicht im

Unser Egoismus und kurzfristiges

Einklang mit seiner Umwelt leben

Denken fallen letztendlich auf uns

und sie nicht nur für seine Zwecke

zurück. Die Natur kann die vom

ausnutzen?

Menschen verursachten Schäden

Wir nehmen die majestätischen

nicht mehr kompensieren und so

Berge, Täler und Wälder als gege-

leidet letztendlich auch wieder

ben wahr. Als Geschenk ohne Ge-

der Mensch unter seinem eigenen

genleistung, mit dem wir tun und

Verhalten. Damit ist nicht nur der

lassen können, was wir wollen.

traurige Anblick kahler Hänge und

Aber warum stellen wir unsere

vertrockneter Pflanzen gemeint.

Sehnsüchte über die Bedürfnis-

Wir nehmen uns durch das um-

se von Pflanzen und Tieren? Was

weltschädliche Handeln nicht nur

rechtfertigt die gravierende Zerstö-

die traumhafte Szenerie, wegen

rung von Lebensraum und Vielfalt?

der der Alpinismus einst begonnen

Als Rechtfertigungen dienen wohl

hat. Nein, wir schaden uns auch

Geld, Bequemlichkeit und Spaß. Je

physisch. Der durch das Planieren

nachdem, ob man Seilbahnvertre-

verdichtete Boden kann nicht mehr

ter*innen, Flip-Flops-tragende In-

so viel Wasser aufnehmen wie zu-

fluencer*innen oder skibegeisterte

vor. Die Gefahr von Erosion steigt.

Tourist*innen fragt.

Häuser und Infrastruktur werden

Dass wir unsere eigene Lebenswei-

immer

se unter die Lupe nehmen sollten

Steinschläge oder Schlamm- und

und unser Verhalten für die Ret-

Geröll-Lawinen bedroht. Solche La-

tung der Umwelt ändern sollten,

winen können aufgrund der groß-

ist im Kontext des Klimawandels

flächigen Verbauung nicht mehr

allseits bekannt. Tatsächlich selbst

von der Natur aufgehalten werden.

Veränderungen durchzuführen, ist

Diese Katastrophen könnten als

wieder eine andere Sache. Und so

Rache der Natur angesehen wer-

verhält es sich auch mit unserem

den. Doch eigentlich ist es das un-

Umgang mit den Bergen. Wir holen

zähmbare Wesen der Natur selbst,

uns wie jedes Jahr das Freizeitti-

welche die vom Menschen gelegten

cket, das Abonnement für Umwelt-

Ketten sprengt.

häufiger

durch

Muren,

Lokal

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Mehr als ein neuer Wochenmarkt Schon mal von „urbainable“ gehört?

Urban und sustainable oder nachhaltig in der Stadt – das ist die große Idee, die hinter dem derzeit noch kleinen, aber feinen Markt steht, der jeden Freitag Nachmittag auf dem Parkplatz vor dem ehemaligen Bauhaus in der Innsbrucker Bachlechnerstraße stattfindet.

Der Anspruch ist hoch, die Anforderung niedrig. Wer dabei sein will, muss weder früh aufstehen noch viel Geld ausgeben. Das gilt für jene, die im SUPER MARKT einkaufen, bummeln oder einfach etwas Raffiniertes essen wollen ebenso wie für die Anbieter*innen selbst - als Gebühr fällt nur ein geringer Unkostenbeitrag an, denn der Markt wird von MPREIS als Gastgeberin ermöglicht. Die Produkte sollen möglichst regional, nachhaltig und originell sein. Derzeit reicht die Palette vom handgemachten Tiroler Stieleis, lokaler Pasta Manukaktur über Garnelen aus den Alpen bis zum veganen Streetfood.

Das Team vom SUPER MARKT will mehr als nur einen weiteren Bauernmarkt organisieren: „Wir wollen etwas Unkonventionelles bieten, Menschen zusammenbringen und letztlich neue Impulse für die Stadtentwicklung setzen“, so Brigitte Singer aus dem Organisationsteam.

Der SUPER MARKT macht den Parkplatz zum PARK Platz und gibt den Auftakt zu etwas Größerem. Es ist ein Weckruf für das Quartier, in dem die Organisatorinnen großes Potenzial sehen. Dabei geht es viel um Partizipation.

Wer also kulinarische Interessen, stadthaltige Konzepte, Ideen und Ambitionen hat sollte sich bei markt@stadthaltig.at melden. Denn neben dem PARK Platz wartet ein ganzes Gebäude auf neue Aufgaben.

Weitere Informationen zu laufenden Veranstaltungen findet ihr unter www.stadthaltig.at

14

Welt

bezahlte Werbung

TIROLS WASSERKRAFT: IST DIE ENERGIEFRAGE BEREITS GELOST?

W

de. Die dort bereitgestellte Energie, reichte aus um ca. 4.000 Münzen täglich zu prägen. Zum Vergleich: Händisch schaffte man nur etwa 300 pro Tag. Wir sehen, Wasserkraft half bereits im Mittelalter die Energiefrage zu beantworten. Das tut sie bis heute, nicht wahr?

Aktuelles Wie sieht nun die jetzige Energiesi-

geschrieben von Matthias Eisl

asserkraft hat in Tirol eine lange Tradition, bereits seit dem Mittelalter wird die Kraft des Wassers genutzt und es wird wohl auch in Zukunft so bleiben. Aktuell liegt der Anteil der Wasserkraft am heimisch produzierten Strom bei ca. 86% und ist damit der größte Lieferant für erneuerbaren Strom in Tirol. Ein wesentlich größerer Anteil der benötigten Energie (also Strom plus andere Formen der Energie wie Wärme zum Heizen etc.) wird allerdings durch fossile Energieträger importiert. Eine groß angelegte Studie des Landes Tirol in Zusammenarbeit mit der TIWAG, der Universität Innsbruck und dem MCI zeigt, dass der Weg zur Energieautonomie (100% der benötigten Energie werden in der Region selbst erzeugt und verbraucht) rein technisch nicht zu bewerkstelligen ist, aber zumindest rein theoretisch möglich wäre. Konkret geht es also um

Meter Durchmesser betrieben wur-

tuation in Tirol aus? Der Gesamte-

die Frage: Wie viel mehr Wasserkraft ist in Tirol überhaupt noch möglich? Und kann die Energie aus Wasser die Energiefrage Tirols in Zukunft beantworten?

nergiebedarf Tirols im Jahr 2018 ist um ca. 2% gestiegen und beläuft sich somit auf knapp 90.000TJ (Terajoule). Laut Tiroler Energiemonitoring

2019 werden davon immer noch knapp 60% der Energie (also Strom plus andere Energieformen wie

Historie

Heizenergie, etc.) aus importierten,

Wasserkraft in Tirol ist altbekannt

fossilen Energieträgern gewonnen

und in den Tälern und Dörfern

– hauptsächlich Diesel, Benzin und

durchaus gern gesehen, ist es doch

Erdgas – und nur ca. 40% aus er-

eine vergleichsweise saubere, ru-

neuerbaren Energieträgern – vor

hige und natürlich anmutende Art

allem Wasserkraft. Damit liegt Tirol

Energie zu erzeugen. Tirols Topo-

aber immer noch über dem Öster-

graphie, also die Berge und Täler

reichschnitt von etwa 33% erneuer-

mit ihren Flüssen und (Speicher-)

barem Energieanteil.

Seen, eignet sich hervorragend für

Die Energiebereitstellung in Tirol

Wasserkraft und das schon seit ge-

verteilt sich dabei hauptsächlich

raumer Zeit. In vielen Gegenden

auf die beiden Bereiche Importe

Tirols kann man heute noch die da-

und Erzeugung. Neben den über-

mals dazu notwendige Infrastruk-

wiegend fossilen Importen wird

tur, also die zum Teil original oder

viel erneuerbare Energie regional

nachgebaut erhaltenen Wasserrä-

erzeugt, diese wird nahezu aus-

der bewundern. Beispielsweise in

schließlich in den drei Sektoren

Hall, direkt neben dem Münzturm,

- Gebäude (plus Sonstiges), Produk-

befindet sich eine Walzen-Prägema-

tion und Mobilität - genutzt. Die

schine, die bereits im 16. Jahrhun-

größten Endabnehmer innerhalb

dert Münzen prägte und welche

dieser Sektoren sind Heizwärme

durch zwei Wasserräder mit ca. vier

(27.000TJ), Mobilität (7.500TJ) und Lokal

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© unsplash

Mechanische Arbeit (6.100TJ). Es erschließt sich eine generelle Problemlage aus diesen Zahlen, nämlich, dass der Energieverbrauch in den Wintermonaten am höchsten ist, wo erneuerbare Energien wie Wasserkraft und insbesondere die Solarthermie die geringste Jahresleistung erbringen. Umgekehrt ist in den Sommermonaten, wo erneuerbare Energien mehr leisten können, der Bedarf geringer. Das bedeutet, dass die Speicherung von Energie und zum Teil auch die Überbrückung von Energieflauten in Zukunft priorisiert werden muss.

Welche Rolle spielt aber nun die viel beschworene Wasserkraft auf Tirols Energiemarkt?

Im Jahr 2018 wurde ca. ein Viertel (22.000TJ) des Gesamtverbrauches in Tirol (90.000TJ) durch Wasserkraft abgedeckt (Tiroler Energie-

Energienachfrage ab.

durch nicht nachhaltige Stoffe im-

monitoring 2019). Ca. 80% der

Wasserkraft selbst hat natürlich

portiert wird? So viel zum Ist-Stand,

Kraftwerke in Tirol werden von

ebenso negative Einflüsse auf uns

aber wie optimistisch oder pessi-

öffentlichen Unternehmen betrie-

und unsere Umwelt; zum Beispiel

mistisch dürfen wir in die Zukunft

ben (45% TIWAG und 30% Verbund

Lebensraumverlust beim Bau der

der Wasserkraft schauen?

AG), die restlichen Kleinkraftwerke

Anlagen, Überschwemmungen mit-

werden privat oder gemeindlich

verursacht durch Flussverbauun-

Zukunft

geführt. Der überwiegende Groß-

gen oder Eingriffe in das Tierleben

Das Land Tirol hat das Ziel, bis 2050

teil

(72%)

in den Flüssen und Seen. Aber ver-

energieautonom zu sein, das heißt,

wird von 24 Großanlagen geleistet,

glichen mit anderen Konsequenzen

dass derzeit verwendete fossile

wohingegen 778 Kleinstkraftwerke

und Risiken der Energieproduktion

Energieträger vollständig gegen er-

lediglich 4% erzeugen. Das heißt,

erscheinen

Auswirkungen

neuerbare – möglichst heimische –

dass momentan nur ein Teil unse-

leichter erträglich. Aber was nützt

ausgetauscht werden sollen. Ener-

res Strombedarfs durch Wasser-

die grundsätzlich eher positive

gieautonom zu sein, also sich selbst

kraft gedeckt wird - davon Großan-

Umweltbilanz dieser Art Strom zu

bzw. eine Region oder ein Land

lagen die wichtigste Rolle spielen.

produzieren, wenn diese nicht aus-

vollständig mit Energie versor-

Fossile Importe decken den noch

reicht und an anderer Stelle ein

gen zu können, heißt zwar streng

fehlenden und größeren Rest der

Großteil der Energie doch wieder

genommen nicht, dass nur noch

16

der

Stromerzeugung

Lokal

diese

ökologisch und nachhaltig Energie

Chance zu haben, das angestrebte

politische Veränderungen zu drän-

erzeugt und verbraucht wird, aber

Ziel der Energieautonomie (zumin-

gen. Jeder und jede Einzelne kann

das ist das erklärte Ziel.

dest theoretisch) zu erreichen.

Einfluss nehmen, sich engagieren

Die

eingangs

Ressourcen-

erwähnte

und

Studie

Technologie-

und aktiv werden.

Fazit

Auf die Frage, ob die Wasserkraft

einsatz-Szenarien Tirol 2050 des

Es wird schnell deutlich, dass die

unsere

Landes Tirol beschreibt fünf Sze-

Wasserkraft einen großen Beitrag

wird, kann es nur eine uneindeuti-

narien, welche auf unterschiedli-

zur energetischen Entwicklung in

ge Antwort geben: Sie wird helfen,

che Energielieferanten setzen. Sie

Tirol zu mehr Nachhaltigkeit leis-

mehr erneuerbare Energie bereit-

fokussieren sich jeweils auf maxi-

ten kann und voraussichtlich auch

zustellen, also ja. Andererseits ist

mierten Strom-Einsatz, auf Wasser-

wird, nichtsdestotrotz sind auch

die Antwort sicher auch ein Nein,

stoff, zwei weitere auf maximier-

diesem Wachstum enge Grenzen

weil die physikalischen Kapazitä-

ten Methan-Einsatz und das letzte

gesetzt und diese Grenzen sind

ten nicht ausreichen und technolo-

auf einen Energiemix. Alle weisen

dort erreicht, wo technologische

gisch-geographische

unterschiedliche

Spezifikationen

Lösungen alleine nicht mehr aus-

bestehen. Die Wasserkraft in Tirol

wie Gesamtenergieverbrauch der

reichen. Wie die obige Studie be-

ist stark, auch wenn ihr gutes und

notwendigen Umbauten oder Wir-

stätigt, ist ein energieautonomes,

grünes Image manchmal davon ab-

kungsgrade bei der Umwandlung

– geschweige denn ein klimaneu-

lenkt, dass auch sie selbst Schäden

von einem zu anderen Energieträ-

trales – Land Tirol „alleine durch

verursacht und noch mehr, wie viel

gern auf, aber alle (!) Szenarien er-

Technologieeinsatz nicht zu errei-

fossile Energie in Tirol immer noch

fordern, als Grundvoraussetzung,

chen“. Wir brauchen Veränderun-

abgenommen wird. Ebenso positiv

einen maximalen Ausbau der Was-

gen auf breiter gesellschaftlicher

ist, dass Tirols Wasserkraft viel Po-

serkraft oder anders formuliert:

Front und in fast allen Aspekten

tenzial hat – zumindest mittelfristig

„[Der Wasserkraftausbau ist] für

unseres Lebens, insbesondere in

- dennoch bleibt die Frage, wie wir

eine Zielerreichung absolut not-

den Bereichen Wohnen bzw. Ge-

unseren Energiebedarf in Zukunft

wendig und muss prioritär voran-

bäude und der Mobilität. Gefragt

gestalten und schlussendlich öko-

getrieben werden“. Im Jahr 2011

sind Ansätze, welche insbesondere

logisch und nachhaltig decken kön-

betrug die Wasserkrafterzeugung

unseren

nen.

20.600TJ und laut dieser Erhebung

siven Lebensstil kritisch hinterfra-

besteht in Tirol ein Ausbaupoten-

gen und vielleicht weniger versu-

zial von 30.600TJ bis 2050 also ein

chen, die Grenzen des Wachstums

Plus von rund einem Drittel. Das

auszuloten.

sind durchaus beachtliche Mengen,

Die Energiefrage erfordert vor al-

Tiroler Energiemonitoring 2019:

allerdings wird auch das - laut dem

lem ein Umdenken auf politischer

https://www.tirol.gv.at/umwelt/

Bericht - nicht ausreichen mit Blick

Ebene, weil Individuen nur bedingt

energie/energiestrategie/

auf den zukünftigen Energiever-

Einfluss haben, wo und wie unse-

brauch Tirols. Des Weiteren müs-

re Energie erzeugt wird. Eine Vor-

sen laut Autor*innen Photovoltaik,

aussetzung für Veränderungen in

Ressourcen- und Technologieeinsatz-Szenarien Tirol 2050:

Energieholz, Biogas, Wind sowie

Demokratien sind ja bekanntlich

https://www.tirol.gv.at/umwelt/

die Umweltwärme maximal ausge-

Mehrheiten. Was wir als einzelne

energie/downloads/

baut werden, um überhaupt eine

Menschen also tun können, ist auf

strukturell-energieinten-

Energieprobleme

lösen

Limitationen

Links:

Lokal

17

EXPLODIERENDE MIETPREISE IN INNSBRUCK UND DEREN ZUSAMMENHÄNGE ZU DEN LEERSTÄNDEN geschrieben von Nadine Schulte Mit etwa 132.000 Einwohner*innen ist Innsbruck die fünftgrößte Stadt in Österreich. Als Winterparadies für Skifahrer*innen und Snowboarder*innen erfreut sie sich wachsender Beliebtheit. Im Sommer verwandelt sich die Schneelandschaft in die perfekte Wanderumgebung, und auch Kletterbegeisterte und Mountainbike-Fans kommen auf ihre Kosten. Die Mietpreise in Innsbruck zählen jedoch zu den höchsten in ganz Österreich. Mit durchschnittlich über zwölf Euro pro Quadratmeter ist Innsbruck ähnlich teuer wie Kitzbühel und teurer als Wien oder Graz. Zusammen mit Salzburg zählt das Bundesland Tirol zum Bundesland mit den höchsten Mietpreisen in Österreich.

Die Stadt Innsbruck wächst expo-

ten Wohnungen zuordnen lassen

Ladenleerstände neu zu bespielen

nentiell, Mietpreise explodieren und

(Innsbruck Informiert, 2021).

und der Öffentlichkeit zugänglich zu

Lebenshaltungskosten werden im-

Mangel an Daten macht nicht nur

mer höher, während Raum für krea-

die Quantifizierung von Leerstand

tive Entfaltung langsam, aber sicher,

im Wohnraum unmöglich, sondern

im gesellschaftlichen Treiben einer

auch die von leerstehenden Läden,

Die Zeitlos: Was ist die Idee hinter F.I.L?

jungen, urbanen Bevölkerung ver-

Geschäftslokalen und Gewerbeflä-

Basti: Die Idee hinter F.I.L. ist, dass

loren geht. Die Innsbrucker Stadtpo-

chen. So lässt sich der aktuelle Leer-

ein vereinbetriebenes Pop-up-Café

litik beschäftigt sich mit dieser The-

stand in Innsbruck nicht in Zahlen

von Leerstand zu Leerstand und so-

matik schon seit einigen Jahren, da

fassen. Diese Problematik lässt sich

mit von Stadtviertel zu Stadtviertel

die Datenerhebung zu Leerständen

auch nicht ohne weiteres lösen. Das

zieht. So soll der jeweiligen Nach-

ein äußerst schwieriges Unterfan-

heißt aber nicht, dass leerstehende

barschaft Raum für Begegnung und

gen ist. Leerstehende Wohnungen

Räumlichkeiten ungenutzt bleiben

Austausch geboten werden. Auch

sind in einer Stadt, in der sehr viele

müssen. Die Zeitlos hat sich mit

Raum zur freien Entfaltung soll

Menschen leistbare Wohnungen su-

zwei Studierenden unterhalten, die

hier nicht zu kurz kommen. So kön-

chen, schwer zu argumentieren.

Leerstände nutzen und andere ins-

nen sich im bezogenen Leerstand

Melderegister und Wohnungsregis-

pirieren möchten, Potenziale in ih-

kreative Köpfe einbringen, Kunst

ter lassen sich nur schwer in Ein-

rer Nachbarschaft auszuschöpfen.

kann ausgestellt werden, Musik ge-

klang bringen, da sich tatsächlich

Sie arbeiten seit dem Frühsommer

macht oder aber auch Workshops

gemeldete Personen nur Gebäuden

2020 an der Idee „F.i.L. – Freiraum

und Weiterbildungskurse angebo-

und nicht den von ihnen bewohn-

im Leerstand“, die darauf abzielt,

ten werden.

18

Lokal

Der

machen.

Lokal

19

©Nadine Schulte

Welche Ziele verfolgt ihr als Verein?

king und gegen Abend dann eine

Nachbarschafts- und Demokratie-

Marvin: Wir wollen die Vernet-

andere Angebotsvielfalt.

förderung mit einbringen können.

zung von Kultur- und Weiterbil-

Wir haben dann schnell gemerkt, Woher kam die Idee zu eurem

dass wir Leerstand als gesellschaft-

Einwohner*innen Innsbrucks vo-

Projekt?

liche Problematik, den Bedarf nach

rantreiben. Wir wollen auch die

Basti: Meine Inspiration kommt

Freiraum und den gesellschaftli-

unmittelbare Nachbarschaft aktiv

schon ein bisschen aus meinem

chen Wunsch nach mehr Austausch

in die Programmgestaltung mit ein-

Bachelorstudiengang in Pforzheim,

und Miteinander mit unserem Pro-

binden. Natürlich ist eines unserer

wo es zwei Vereine gab, die ähnli-

jekt angehen wollen und der Ver-

Ziele auch, Leerstände wiederzu-

che Ideen umgesetzt haben, die wir

einsamung in der Stadt entgegen-

beleben und der Bevölkerung zu-

jetzt in einem Verein kombinieren.

wirken möchten.

gänglich zu machen – ungenutzte

Aber diese Ursprungsidee ist mitt-

Marvin: Außerdem hatten wir ein-

Potenziale zu nutzen und die Ge-

lerweile schon so viel weiter und

fach

sellschaft unabhängig von Einkom-

hat eigentlich nicht mehr viel mit

Wir wollen Grauzonen austesten

mensgrenzen und der eigenen Bub-

dem zu tun, was wir jetzt machen.

und schauen, wo man im Rahmen

ble hinweg zusammenzubringen.

Und

dungsanbieter*innen

mit

den

warum

jetzt

Lust

was

auszuprobieren.

ausgerechnet

der Gesetze auch noch Spaß haben

hier und in dieser Form? Weil uns

kann und am Rand dieser Gesetze

Was mach ihr anders als zum Bei-

der Leerstand hier in Innsbruck

interessante Lücken finden, die

spiel „die Bäckerei“? Was grenzt

aufgefallen ist, und weil wir einige

man austesten kann.

euch ab?

Freunde und Bekannte haben, die

Basti: Wir wollen ganz bewusst

sich gerne kreativ betätigen wollen,

Wie geht es mit den Leerständen

die Nachbarschaft um uns herum

aber ihnen fehlt der richtige (Frei)

weiter, nachdem ihr mit eurem

mit einbeziehen, ihren jeweiligen

Raum dafür.

Pop-up-Café weitergezogen seid?

Wird dann der vermeintlich ge-

Viertelcharakter widerspiegeln. Es soll die Möglichkeit geben, aktuelle

Marvin: Als wir uns kennengelernt

nutzte Leerstand wieder zum un-

Themen in der Nachbarschaft auf-

haben, haben wir einfach gemerkt,

genutzten Leerstand?

zugreifen und aktiv anzugehen.

dass wir Bock haben, eigene Projek-

Marvin: Im besten Fall finden wir

Marvin: Uns grenzt natürlich vor

te zu starten. Und noch vor Corona

in der Zeit, in der wir den Leer-

allem ab, dass wir mobil sind.In

haben wir abends zusammengeses-

stand bespielen, zusammen mit

Form eines Pop-up-Cafés, tauchen

sen und beschlossen, dass wir das

anderen Initiativen, Anbieter:in-

wir immer wieder an verschiede-

jetzt wirklich angehen wollen. Im

nen und Kulturschaffenden eine

nen Orten auf, heißt: Über die Zeit

ersten Lockdown habe ich dann ei-

Lösung, die sich auch nachhaltig

hinweg bespielen wir verschiede-

nen Monat bei Basti gewohnt, und

dann eben in diesem Raum etablie-

ne Räume und Flächen.

in der Zeit haben wir versucht un-

ren kann, sodass z.B. eine Gruppe

sere Idee in Worte zu fassen.

aus Künstler*innen, die sich dort

Basti: Außerdem wird es bei uns in

Basti: Wir haben dann schnell ge-

kennenlernt, feststellt, dass ihnen

aller Regel auch keine festen Flä-

merkt, dass wir das Ganze als Star-

der Raum „voll taugt“, um dort zu

chen für bestimmte Sachen geben,

tup angehen wollen und haben

arbeiten und sich zu präsentieren.

wie zum Beispiel in der Bäckerei

uns deshalb an SETup gewendet.

Oder jemand aus der Nachbar-

im 2. Stock der Co-Working Platz,

Sie haben uns darauf aufmerksam

schaft merkt: „So ein Café wollte

bei uns wird es eher zeitlich be-

gemacht, dass wir in dieser Leer-

ich eigentlich selber immer mal be-

stimmt, heißt vormittags Co-Wor-

standsproblematik auch gut die

treiben.“.

20

Lokal

©Nadine Schulte

wir nur zu bergen und nutzen lernen müssen. Wir wollen auch das Mindset weitergeben, dass nicht alles perfekt sein muss, es geht ums Ausprobieren in einem zwanglosen Umfeld. Einfach machen! Wer eine coole Idee hat, soll sie auch teilen, wir bieten die Plattform zum Austausch und zur Vernetzung. Alles ist einfacher, wenn man Miteinander denkt. Wenn man Bock hat was zu machen, einfach mal anfangen.

Marvin: Auch wenn anfangen erstmal bedeutet, dass man teilt und erzählt. Haltet Ideen nicht zurück,

Basti: Der Gedanke ist ja auch, dass

Kann jede*r bei euch mitmachen

davon werden sie nicht umgesetzt.

die Leute sich bei uns ausprobie-

bzw. sich im Verein integrieren?

Wir wollen Aktionismus pushen.

ren können und im Optimalfall

JA! Einfache kurze Antwort.

entsteht dann auch ein gewisser

Marvin: Natürlich müssen gewisse

Was wünscht ihr euch für die Zu-

Rückhalt in der Nachbarschaft.

Werte vorhanden sein und einge-

kunft?

Und genau darum geht es uns, dass

halten werden, aber das ist für uns

Marvin: Wir wollen gemeinsam als

man eben sagt, wenn sich dort

selbstverständlich.

Gesellschaft was erreichen, es liegt

Künstler*innen zusammenschlie-

Basti: Jede*r kann sich einbringen,

soviel Potenzial im gemeinsamen

ßen, diese auch merken, dass sie

wie sie oder er es möchte und der/

Anpacken. Aber leider geht die

als Künstler*innen mit dem, was

die wenigstens eine Minimalbasis

Tendenz eher dahin, dass man viel

sie hier tun, auch in der Nachbar-

an unseren Grundwerten teilt. Was

mehr übereinander, als miteinan-

schaft gewünscht, akzeptiert und

mir auch wichtig zu erwähnen wäre

der redet. Wir wollen eine Diskus-

gewollt sind. Dass man dadurch

ist, dass wir keine Aufgaben zu ver-

sionskultur aufleben lassen.

dann auch eine ganz andere Basis

geben haben, sondern der Verein

Basti: Die Gesellschaft soll wieder

schon von Anfang an hat. Es kann

so gestaltet ist, dass jede*r mit einer

zueinanderfinden, wir wollen als

aber auch oft vorkommen, dass

Idee bei uns eine Plattform findet,

Inspiration dienen, in Innsbruck

schon vorher feststeht, was nach

um diese Idee umzusetzen. Denn

eine tragende Rolle übernehmen,

uns reinkommt und wir nur eine

am Ende des Tages ist es eine VER-

als mobiles Konzept, an verschie-

Übergangslösung darstellen.

WIRKLICHUNGSPLATTFORM.

densten Ecken und mit den unter-

Marvin: Aber nicht immer wird

schiedlichsten Leuten.

eine Aufwertungsvision dabei ver-

Was sind denn eure Werte? Was

folgt, manchmal wird das Gebäude

würdet ihr jemandem raten, der

eventuell auch abgerissen, was für

seine/ihre Version vorantreiben

uns aber nicht schlecht ist, son-

möchte?

dern eventuell heißt, dass wir in

Basti: Tolerantes und konstrukti-

dem Leerstand noch freier agieren

ves Miteinander. Es gibt in unserer

können.

Gesellschaft viele Potenziale, die Lokal

21

ALLEIN AUF EINEM TANDEM geschrieben von Claudia Ploner

DIE EXPLOSION: FALLEN UND LIEGENBLEIBEN

passieren wird. Ich fühle mich, als

weil es nicht still werden darf. Weil

würde ich die ganze Zeit an einem

mich das alles nie einholen darf.

Die Zukunft hat sich auf einen

Abgrund balancieren, jederzeit ei-

Und manchmal tut es das dann

Schlag verändert. Und mit ihr die

ner Gefahr laufend ins Nichts zu

doch, und plötzlich bin ich das wei-

Welt um mich herum, obwohl alles

stürzen, weil ich das Gleichgewicht

nende, kotzende Mädchen auf der

gleichgeblieben ist, außer, dass du

verloren habe. Weil ich die Gravi-

Party, auf der es keinen kennt, das

weg bist, und sich damit alles ver-

tation verloren habe. Weil ich jeg-

dann früher geht als alle anderen.

ändert hat. Ich habe die rosarote

liche Kraft verloren habe, die mich

Seit du weg bist, fühlt sich mein

Brille abgesetzt, und übrig bleibt

davor zusammengehalten zu haben

Leben an, als hätte ich die Party

nur eine graue Welt, die sich mir un-

scheint. Fast als wäre ich flüssig ge-

früh verlassen und würde jetzt in

erbittlich entgegenstellt. Im Super-

worden, überflüssig, und ich wür-

meinem Bett liegen und mich da-

markt habe ich plötzlich das grüne

de mich wie Quecksilber über eine

für hassen, weil alle anderen einen

Pesto bemerkt, welches ich in mei-

glatte Oberfläche verteilen. Nichts

schöneren, aufregenderen Abend

nen Einkaufskorb aus Gewohnheit

hält mich auf. Ich muss immer wie-

haben als ich, während ich allein

gelegt habe. Das, das ich dir immer

der an den Satz denken, den ich

und an die dunkle Decke starrend,

gekauft habe, für das Sandwich,

kurz bevor ich gegangen war zu dir

in meinem Bett liege. Und allein im

welches ich dir immer zubereitet

gesagt hatte: “Ich weiß nicht, wie

Bett zu liegen, tut wahnsinnig weh,

habe. Und ich konnte es nicht über

ich dich nicht vermissen soll!“ Und

und wenn ich zu meinem Waschbe-

mich bringen, es wieder zurück-

es stimmt. Ich weiß es nicht. Ich

cken sehe, sehe ich dich immer dort

zustellen, weil es mich so arrogant

weiß nicht was tun, und ich weiß

stehen, deine Kontaktlinsen aus

von unten angesehen hat, und sich

nicht wohin, und ich schwebe so

den Augen nehmend. Das sind die

in dem Moment all die Wut und die

orientierungslos irgendwie irgend-

Momente, in denen alles einbricht,

Enttäuschung darauf projizierten.

wo umher, aber mir fehlt das Zen-

wo mich alles einholt, weil ich in

Ich hätte es am liebsten auf den kal-

trum des Sonnensystems, das mich

Gedanken versunken, vergesse zu

ten, hässlich pissgelben Boden ge-

auf der Bahn hält. Seit du weg bist,

rennen. Diese Momente, die sich

schallert, aber stattdessen habe ich

scheint jeder Schritt weh zu tun.

so anfühlen, als würde sich meine

es dann einfach trotzdem gekauft.

Weil sich jeder Schritt anfühlt, wie

Haut und alle meine Organe ein-

Mittlerweile stehen vier davon in

ein weiterer Schritt, den ich ohne

mal auf links drehen, so sehr tut

meinem Vorratsschrank. Denn viel-

dich, von dir weg gehe. Jeder Schritt

es weh. Manchmal kann ich auch

leicht kommst du ja irgendwann

seither scheint mehr Distanz zwi-

endlich mal wieder weinen. Gerade

zurück, und willst dein Sandwich

schen dich und mich zu bringen.

regnet es zum ersten Mal wieder,

um vier in der Früh, denke ich bei

Gleichzeitig stehe ich trotzdem nie

seit du weg bist. Es hat immer die

dem Anblick, und weiß, dass ich da-

still. Ich habe das Gefühl seither zu

Sonne geschienen, aber ohne dich

rauf nicht hoffen darf, weil es nicht

rennen, immer weiter zu rennen,

fühlt sich jeder Tag an wie schlech-

22

Kultur

© Claudia Ploner

tes Wetter. Und dann gehst du eben

den, warum mich Musks Satelliten

schönen Erinnerungen und diese

trotzdem raus, und trifft sich eben

am Nachthimmel aufregen, aber

unglaublich hartnäckigen Was-wä-

doch mit Menschen, und jeder fragt

trotzdem hätte ich es dir gerne er-

re-Wenn-Momente, die Gespenster

dich „Was geht?“ und ich kann

zählt. Und wir hätten wieder disku-

der Nicht-Mehr-Kinder. Es tut weh,

nur denken „Eigentlich gar nichts

tiert, weil du auf den Mars ziehen

und ich wünschte ich könnte mein

mehr, seit du weg bist.“ Denn du

würdest, und ich nicht, und wir

gebrochenes Herz austauschen, wie

bist ein Ignotum X - für mich nicht

beide so überzeugt sind von unse-

den zersprungenen Bildschirm ei-

zugänglich, aber du affizierst mich

ren Meinungen, aber das wäre okay

nes Smartphones. Und ich wünsch-

immer noch. Ich weiß, das würdest

gewesen. Denn du warst eben LA

te irgendwie, ich wäre gläubig.

du nicht verstehen, aber das wäre

und ich New York, und irgendwie

Denn ich glaube dann würde ich

okay. Ich weiß, so hat er das nicht

hat das trotz aller Diskrepanzen,

vielleicht zum ersten Mal in mei-

gemeint, aber Immanuel Kann(t)

Unterschiede und Distanzen funk-

nem Leben wirklich und inbrünstig

mich mal. Das hättest du sicher

tioniert. Bis es eben nicht mehr

zu irgendwem oder irgendwas da

lustig gefunden. Ich habe bemerkt,

funktioniert hat. Weil New York

oben, oder von mir auch da unten,

dass ich immer noch lieber dir Din-

von einem Unwetter heimgesucht

beten. Dafür, dass der Fakt, dass

ge erzähle, die du nicht verstehst,

wurde, mit dem jemand von der

wir uns lieben, genug wäre. Dafür,

als irgendwem anderen, der es tut.

Westküste nicht umgehen konnte.

dass all die Probleme ganz klein

Du hättest zum Beispiel nie verstan-

Und alles was übrigbleibt, sind die

werden würden, wie Kieselsteine,

Kultur

23

und leicht wie Styropor. Und wenn das nicht geht, in dieser Welt, dann bitte Welt, halte an. Denn ich will keine Welt ohne dich weiterdrehen sehen. Und dann könnte zumindest so viel Zeit vergehen, während alles in einer starren Stille schlummert, dass es vielleicht ein bisschen weniger weh tut, wenn sie sich irgendwann weiterdreht. Die Zeit soll gefälligst vergehen, und meine Wunden heilen. Und dann müsste ich nicht dauerhaft Angst haben dich irgendwo zu sehen, oder eines der tausend Lieder plötzlich zu hören, das mich an dich erinnert, oder irgendetwas überall sehen zu müssen, das mich an dich erinnert. Ich fühle mich wie eine Fremde in dieser Stadt, die unsere war, und deshalb voller Erinnerungen von uns ist. Ich fühle mich, als würde ich allein auf einem Tandem fahren.

NACH EINIGER ZEIT: LANGSAM AUFSETZEN VIELLEICHT? Wir haben unsere Serie nie zu Ende geschaut, und Netflix erinnert mich immer noch jeden Tag daran. Oder zumindest würde es das, wenn ich noch so viel auf Netflix wäre wie früher. Aber weißt du, ich geh jetzt wieder raus. Ich treffe auch wieder Leute, und das ein oder andere Mal

© Claudia Ploner

kann ich wieder Lachen. Am Samstag habe ich zum ersten Mal wieder Musik gehört, seit du weg bist, und es war okay. Es war nicht unsere Musik, aber es war ein großer Schritt für mich (und ein kleiner für

24

Kultur

die Menschheit, schon klar.) Später

siert habe, dass ich nie wieder gute

nur, dass ich mittlerweile froh sein

dann war der erste Abend, an dem

Neuigkeiten mit dir teilen werden

kann, dass sich alles verändert hat,

ich eine ganze Zeit am Stück nicht

kann, hat es sich irgendwie sinn-

weil ich nicht dorthin zu meinem

an dich gedacht habe. Und meine

los angefühlt, mich allein darüber

Ich, in diesem Wir, zurückwollen

Haare haben dann nach Lagerfeu-

zu freuen. Und trotz alledem, und

würde. Ich habe vor ein paar Ta-

er gerochen und das war sogar ein

obwohl es mir das Herz zerreißt,

gen zum ersten Mal jemanden an-

bisschen schön. Ich trink jetzt auch

wünsche ich dir, wie ich dir schon

deren geküsst. Du warst in diesem

Bier, hätte ich auch nie gedacht,

damals gesagt habe, dass du glück-

Moment nicht in meinem Kopf. Und

dass das mal passiert. Ich vermisse

lich bist. Und wenn ich nicht Glück

natürlich fühlt sich das immer noch

dich nicht weniger, aber es ist an-

für dich bedeute, dann brennt das

komisch an, denn natürlich vermis-

ders. Dieses exzessive, beinahe ent-

wie glühendes Eisen auf meiner

se ich dich, weil Gefühle nicht ein-

zugsgleiche, stumm, aber aggressiv

Haut, aber dann kann ich das ak-

fach weg sind, wenn die Person es

in die Welt schreiende Vermissen

zeptieren, solange du irgendwann

ist. Aber ich denke, ich bin okay. Ich

ist dumpf geworden und still. Es ist

glücklich wirst. Immerhin wirst du

hoffe, du bist es auch. Ich wünsche

allgegenwärtig, und ich versuche so

für immer meine erste große Liebe

dir das aller Beste, und trotzdem

gut es geht damit zu leben. Zumin-

bleiben.

hoffe ich, dass du irgendwann ver-

dest habe ich es endlich geschafft

stehst, wie viel ich gegeben habe,

darüber zu schreiben, zum ersten

EINE ACHTERBAHNFAHRT/

und gegeben hab und warum ich

Mal, seit du weg bist. Zu Menschen,

NOCHMAL SEHR VIEL SPÄTER

dann irgendwann einfach nur noch

die umgefallen sind, die am Boden

so verdammt müde war. Ich habe

liegen wird häufig gesagt: „Setz dich

Ich weiß, dass du nicht weißt, dass

schon als wir uns das letzte Mal

wenigstens auf, damit dein Kreis-

es mir gut geht, und das ist okay.

gesehen haben nicht gewusst, wie

lauf wieder in Schwung kommt“

Denn vielleicht würdest du das gar

ich mich von dir verabschieden

und ich hoffe, mein Kreislauf wird

nicht wissen wollen. Vor ein paar

soll, und genau so wenig weiß ich

wieder in Schwung kommen, ir-

Tagen haben wir uns drei Nach-

es jetzt. Denn Abschiede zerreißen

gendwann.

versuche

richten geschrieben, und das hat

alle Bände, die da vielleicht noch

wirklich mein Bestes gerade, mich

ein bisschen weh getan, so ein ganz

zwischen uns hängen, solange wir

wenigstens aufzusetzen, wenn Auf-

bisschen Rest-Weh. Es tut mir leid,

sie vor uns hinschieben. Seit Mi-

stehen noch nicht funktioniert. Ich

dass ich gerade nicht nochmal mit

nuten sitze ich da und weiß nicht

vermisse deine Stimme, und un-

dir reden will, aber du hättest so

was ich sagen soll, weil ich das läh-

sere gemeinsamen Sonntage, und

viel Zeit gehabt, um mit mir zu re-

mende Gefühl habe, dass es dann

dass unsere Körper so gut aneinan-

den und hast es nicht getan. Außer-

wirklich vorbei ist. Ich habe Angst,

dergepasst haben, wenn wir da so

dem ist auch irgendwie alles gesagt.

ich bin nicht bereit dazu. Aber ich

gelegen sind. Ich vermisse sogar,

Irgendwie natürlich auch nicht,

denke, das ist keiner von uns nie so

dass du immer mehr als die Hälfte

weil jede*r von uns vieles erst ei-

wirklich.

des Bettes gebraucht hast, obwohl

nige Zeit später begreift. Aber was

das eigentlich etwas ist, was keiner

bringt es mir jetzt noch wütend zu

EINE EWIGKEIT / 10 MINUTEN

sonst vermissen würde. Mein ers-

sein, zu schreien, zu weinen, ver-

SPÄTER

tes Gedicht wird veröffentlicht, und

letzt zu sein oder traurig zu sein?

--- immer noch Leere, immer

die erste Person, der ich es erzählen

Ich weiß es nicht. Ich weiß gerade

noch Stille.

wollte, warst du. Und als ich reali-

nichts so wirklich genau. Ich weiß

Denn

ich

Kultur

25

Das Bild der klassischen Künstler*in ist nicht selten einer Person gleich, welche sich auf dem schmalen Pfad zwischen Selbstverherrlichung und Selbstzerstörung befindet. Ein wenig Narzissmus und der Hang zur depressiven Verstimmung. Aber muss das so sein?

Und trifft dies wirklich auf die meisten Kunstschaffenden zu? Gleichzeitig gilt die Annahme, die Kunst verlangt nach Extremen und auch erst dann ist Kunst interessant. Daher scheint es nicht abwegig, dass ein kleines bisschen Wahnsinn genau das ist, was die Kunst abverlangt und belebt.

Es ist nicht die Aufgabe der Kunst und schon gar nicht die Aufgabe ein*er Künstler*in, etwas zu kreieren, was für den*die Betrachter*in einfach nur „schön“ aussieht. Die Kunstschaffenden wollen aufwühlen, anstatt zu beruhigen, wollen zu einem Thema mehr Fragen in den Raum stellen als Antworten zu liefern, wollen zu Diskussionen anregen.

26

Kultur

When it comes to

geschrieben von Sarah Schurian

Kultur

27

art ©lisamarielehner_

©lisamarielehner_

“Art is chaos taking shape.” – Pablo Picasso “We have art in order not to die from the truth.”

– Nietzsche “Whats’s bad for your heart, is good for your art.” – Rachel Wolchin „Künstler wird man aus Verzweiflung.“ – Ernst Ludwig Kirchner 28

Kultur

Der kreative Schaffensprozess und

Folge eines kreativ-genialen Geis-

Interessant ist auch, dass psychi-

Wahnsinn.

tes, als künstlerischer Akt, als Opfe-

sche Probleme oder eine depressi-

Zwei Zustände, welche offensicht-

rung gesehen.

ve Verstimmung von vielen Künst-

lich nah beieinander liegen. Bereits

ler*innen als Antrieb für kreatives

in der Antike wurde eine Verbin-

Das Buch The Creative Brain von

Schaffen gesehen werden. Edvard

dung

Nancy C. Andreasen beschreibt die

Munch beispielsweise hat in dem

Wahnsinn gezogen. Damals galt die

Beziehung

Entgegenwirken

Annahme, dass nur jene Menschen

und Kunst. Kreative Menschen ha-

schen Krankheiten auch das Entge-

Künstler*innen werden können,

ben eine verstärkte Offenheit gegen-

genwirken seiner kreativen Ideen

die an einer psychischen oder kör-

über Neuem und Unbekanntem und

gesehen und wollte seine psychi-

perlichen Krankheit leiden. Es wur-

besitzen die Fähigkeit, Dinge von

sche Erkrankung aus diesem Grund

de also davon ausgegangen, dass

unterschiedlichen Seiten und Win-

nicht behandeln.

lediglich kranke Personen Kunst

keln zu betrachten. Menschen mit

Gleichzeitig wird Kunst auch als

erschaffen können, wie in einem

kreativem Lebensansatz leben in ei-

Therapie zu Behandlung mentaler

Artikel vom Warda Magazin erklärt

ner fluiden Welt, wie die Autorin be-

Krankheiten und depressiver Ver-

wird.

schreibt, und reagieren in Situatio-

stimmung verwendet. Der thera-

nen eher weniger nach vorgelebten

peutische Prozess des Malens und

Eine Studie des Office of National

Verhaltensmustern. Des Weiteren

Zeichnens will durch das Verbild-

Statistics, welche von 2011 bis 2015

leiden viele Künstler*innen am so-

lichen innerer Seelenzustände und

durchgeführt

zwischen

Kreativität

zwischen

Depression

seiner

psychi-

behauptet,

genannten „Hochstapler“-Syndrom.

Gefühle psychische Inhalte sym-

Menschen, die kreativ tätig sind,

Personen mit diesem Syndrom mei-

bolisch darstellen, um sie dann im

sind vier Mal mehr davon gefähr-

nen, den Erfolg gar nicht verdient zu

nächsten Schritt wahrnehmen und

det, an Suizid zu sterben. In der

haben und zweifeln an ihren Fähig-

behandeln zu können. Das Entwi-

Kunst wird Suizid sogar als logische

keiten und Leistungen.

ckeln einer ausgeprägten Ich-Stärke und Wahrnehmung stehen im Mittelpunkt der Therapie. ©lisamarielehner_

wurde,

und

Es ist paradox. So scheinen einige Künstler*innen an psychischen Erkrankungen zu leiden und diese auch als Antrieb für ihr kreatives Schaffen zu sehen. Gleichzeitig wird Kunsttherapie in heil- und sozialpädagogischen Bereichen zur Behandlung von Angst- und Panikzuständen,

psychischen

Erkran-

kungen und zur Bewältigung von traumatischen Erlebnissen verwendet. Die Kunst also als Freund*in aber auch als Bekämpfer*in des Wahnsinns?

Kultur

29

Warum positiv denken? geschrieben von Diana Eschbach Wie oft hören wir: „Denk positiv!“ „Versuch das Positive daran zu sehen.“ Oder: „Mit dieser pessimistischen Einstellung schaffst du es sicher nicht.“ Doch warum sollten wir positiv denken? Spielt die Einstellung wirklich eine Rolle dabei, ob wir etwas schaffen oder nicht? Wie schaffen es manche Menschen, selbst in schwierigen Situationen, positiv zu bleiben und warum gehen andere sofort vom Schlimmsten aus? Und: Kann aus einem halb leeren Glas ein halb volles werden?

Gedanken und Gefühle entstehen

In unserem Gehirn sind alle mög-

im Kopf, genauer gesagt im Ge-

lichen (unterbewussten) Denkme-

hirn. Das Gehirn ist in der Lage,

chanismen gespeichert, die unser

Substanzen herzustellen, die den

Verhalten und unsere Befindlich-

Menschen

Es

keit beeinflussen. Darunter sind

kann also unter anderem Zufrie-

positiv

stimmen.

allerdings fast immer auch des-

denheit und gute Laune erzeugen.

truktive Mechanismen, die uns

Dafür produziert es Botenstoffe,

manchmal an einer positiven Ein-

die die Stimmung und die Gefühle

stellung hindern. Doch es gibt Me-

beeinflussen. Für jede Befindlich-

thoden, die dabei helfen können,

keit und jede Stimmung gibt es

manche Denkgewohnheiten zu än-

einen speziellen „Cocktail“ an Bo-

dern, die Außenwelt aus einer an-

tenstoffen, der durch den Körper

deren Perspektive wahrzunehmen

geschickt wird. Durch bestimmte

und den Input von außen anders

Denkweisen wird das Gehirn an-

zu verarbeiten.

geregt, bestimmte Botenstoffe zu produzieren, die dann für eine gewisse Befindlichkeit sorgen.

30

Kultur

führen, hinterlassen demnach ihre

wollen, sollten unsere Gedanken

Das Gehirn

Spuren in unserem Gehirn. Dassel-

positiv gestimmt sein. Sich eine po-

Wissenschaftler*innen haben he-

be gilt auch für die Gedanken, die

sitivere Gesinnung anzueignen ist

rausgefunden, dass das Gehirn im

wir denken.

nicht immer einfach, da manche

Laufe des Lebens verschiedenen

Denkgewohnheiten – leider auch

Veränderungen unterworfen ist. Es

Früher waren die Wissenschaft-

negative – tief verankert sein kön-

steuert unser Verhalten und ist der

ler*innen

neuronale

nen. Es gibt stärkende Gedanken,

Ort, an dem Erinnerungen, Wissen

Verbindungen seien fest verdrahtet

die uns guttun und schwächende

sowie Fähigkeiten gespeichert wer-

und somit unveränderbar. Doch

Gedanken, die uns sabotieren.

den. Wenn wir uns neues Wissen

im Zuge weiterer Forschungen ent-

oder neue Fähigkeiten aneignen,

deckten Neurolog*innen die schon

Konstruktive Gedanken sind grund-

verändert sich etwas in unserem

beschriebene Fähigkeit des Gehirns

sätzlich freundlich – freundlich zu

Gehirn auf physischer Ebene: Zwi-

sich zu verändern. Der Fachaus-

uns selbst und zu anderen. Solch

schen den Nervenzellen (Neuronen)

druck dafür lautet „Neuroplastizi-

freundliche Gedanken entspannen

werden neue Verbindungspunkte

tät“. Es gibt zunehmend Beweise

und harmonisieren das Gehirn, das

(Synapsen) gebildet oder bereits

dafür, dass das Gehirn in der Lage

Nervensystem sowie den Körper,

bestehende verstärkt. Diese Ver-

ist, auf einen gleichen Input anders

denn das Gehirn setzt dann „Gu-

bindungen sind die Grundlage für

zu reagieren. Die Neuroplastizität

te-Laune-Hormone“ (z.B. Serotonin

funktionale Schaltkreise im Gehirn,

bietet dem Gehirn die Möglichkeit,

und Dopamin) frei. Über Ärgerli-

die unter anderem für Lernvorgän-

seine Ausprägungen zu verändern.

ches nachzudenken, führt hingegen

ge und für das Gedächtnis wichtig

So können auch Denkmuster ver-

zu ablehnenden und negativen Ge-

sind. Als Reaktion auf Handlungen

ändert werden. Die Steuerung der

fühlen, die das Gehirn veranlassen,

und Erfahrungen kann das Gehirn

Gedanken wiederum hat einen

den „Kampf- bzw. Wachmodus“ zu

also die Verbindungen in diesen

Einfluss auf die Gehirnschaltkrei-

aktivieren und Stresshormone (z.B.

Schaltkreisen, die ein bestimmtes

se. Wenn wir bewusst versuchen

Adrenalin und Cortisol) zu produ-

Verhalten oder Denken steuern,

destruktive Gedanken zu erkennen

zieren. Infolgedessen fühlen wir

entweder verstärken oder lockern.

und mit ihnen anders umzugehen,

uns angespannt, weil wir die in uns

Im Gehirn gibt es verschiedene

können sich die Gehirnschaltkrei-

entstandene Unruhe (z.B. Ärger,

Bereiche, die für unterschiedliche

se – die diese Gedanken erzeugen

Wut oder Aggression) unter Um-

Funktionen verantwortlich sind.

– verändern.

ständen nicht ausagieren können,

überzeugt,

Diese Gehirnbereiche können sich

da eine tatsächliche Gefahrsituati-

je nach Inanspruchnahme über

Gedanken und Gefühle

die Zeit hinweg verkleinern oder

Psycholog*innen

vergrößern. Die Gehirnbereiche,

peut*innen

die für häufig genutzte Funktio-

würden aus Gedanken entstehen.

nen verantwortlich sind, sind also

Gedanken können sorgenvoll, trau-

Unter anderem sorgen also auch

sichtbar größer. So bekommt jedes

rig oder fröhlich gestimmt sein.

unsere Gedanken für unsere Ge-

Gehirn seine individuelle Ausprä-

Je nachdem wie die Gedanken ge-

fühle, die wiederum unser Wohlbe-

gung.

wir

stimmt sind, haben sie unterschied-

finden, unser Verhalten und unsere

treffen, Fähigkeiten, die wir erler-

liche Einflüsse auf die Befindlich-

Gedanken

nen und Handlungen, die wir aus-

keit. Wenn wir uns also gut fühlen

Wenn wir in unserem Leben etwas

Entscheidungen,

die

on – in der wir wirklich kämpfen

und

Thera-

behaupten,

Gefühle

oder fliehen müssten – nicht besteht.

beeinflussen

können.

Kultur

31

zum Positiveren ändern möchten,

Sichtweisen.

rungen aus dem späteren Leben

kann es helfen, dort anzufangen,

Negative Glaubenssätze wirken oft

geprägt. Wir fühlen und verhalten

wo alles beginnt: in unserem Kopf –

selbstsabotierend und können zu

uns also auf eine bestimmte Weise,

bei unseren Gedanken und inneren

Limitierungen im Leben führen. Die

weil die Schaltkreise in unseren Ge-

Einstellungen.

gute Nachricht ist, dank der Neuro-

hirnen auf eine bestimmte Weise

plastizität ist es möglich, sie „umzu-

geprägt sind. Doch, wie bereits er-

Glaubenssätze

schreiben“. Menschen können also

wähnt, zeigen Forschungen, dass es

Glaubenssätze sind vor allem ein

lernen, ihre negativen Glaubenssät-

möglich ist, neue Schaltkreise anzu-

Begriff aus der Psychotherapie. Es

ze zu erkennen und sie „auflösen“.

legen und zu stärken und alte dafür

handelt sich dabei um „Wahrhei-

Gewisse Therapieformen können

abzuschwächen. Es ist also möglich,

ten“, von denen wir fest überzeugt

dabei helfen, Denkmuster zu ver-

negative Glaubenssätze – selbst die,

sind – also Meinungen oder Einstel-

ändern. Eine sogenannte „kogniti-

deren Entstehung auf die Kindheit

lungen, die wir uns im Laufe der

ve Therapie“ verstärkt zum Beispiel

zurückgeht – aufzulösen.

Zeit gebildet oder die wir unreflek-

neue Lernmuster und hilft so dem

tiert übernommen haben. Oft sind

Gehirn, neue Schaltkreise anzule-

Positives Denken hat viele Vorteile.

diese Glaubenssätze Verallgemeine-

gen, sich wiederholendes negatives

Wenn wir in unserem Leben etwas

rungen, die sich wie ein Filter über

Denken abzuschalten und anders

ändern möchten, hört es natürlich

unsere Wahrnehmung und unser

mit negativen Gedanken und Ge-

beim bloßen Denken nicht auf.

Denken legen. Viele Menschen er-

fühlen umzugehen.

Es braucht meist mehr als nur die

kennen ihre inneren Glaubenssätze

richtigen Gedanken, um etwas zu

nicht als solche und nehmen sie als

Außerdem haben Forscher*innen

erreichen. Eine positive Einstellung

„die Realität“ wahr. Die persönlich

Hinweise darauf gefunden, dass

ist allerdings eine weitaus bessere

wahrgenommene Realität eines In-

regelmäßige Meditation ebenfalls

Voraussetzung für Erfolg und ein

dividuums ist also nicht unbedingt

positive Veränderungen im Gehirn

glückliches Leben als eine negati-

die tatsächliche Wahrheit, sondern

hervorrufen kann, die zu gestei-

ve. Selbstverständlich sind negati-

nur eine von vielen möglichen

gertem Glücksempfinden führen.

ve Gedanken auch ein natürlicher

(Es gibt viele unterschiedliche For-

Bestandteil unseres Lebens. Zu

men sowohl der Therapie als auch

versuchen, sich auf das Positive zu

der Meditation. Bei Interesse ist es

konzentrieren, soll nicht heißen,

empfehlenswert, sich im Vorhinein

negative Gedanken oder Gefühle

zu informieren.)

krampfhaft zu unterdrücken. Es

„Whether you think you can, or you think you can’t, you’re right.”

Henry Ford

32

Kultur

geht vielmehr darum, sie zu erkenPsycholog*innen gehen davon aus,

nen und zu lernen, wie wir nach

dass unsere Glaubenssätze mit un-

Möglichkeit anders mit ihnen um-

serer Vorgeschichte und mit unse-

gehen können.

ren Erfahrungen zusammenhängen. Unsere Einstellungen, unser Verhalten und unter Umständen sogar unsere Persönlichkeit sind zumindest teilweise von frühkindlichen Erlebnissen und von Erfah-

che Methoden und Übungen, um

Kreativität und das Energielevel.

das Gehirn positiv zu stimmen.

Studien zeigen, dass das Gehirn in

Aber eines haben sie alle gemein-

einem positiven Zustand um ca.

Negationen

sam: Dankbarkeit. Wenn wir jeden

30% produktiver ist. Ohne Stress

Unser Gehirn verarbeitet Nega-

Abend dankbar ins Bett gehen, be-

bzw. belastende Gedanken kann

tionen verspätet. Wenn ich sage:

ginnt das Gehirn mit der Zeit von

das Gehirn also weitaus besser

„Denk bitte nicht an einen grünen

selbst, die Welt zuerst nach positi-

funktionieren und in einem glück-

Apfel“, dann denkst du zuerst an ei-

ven Dingen abzusuchen, statt sie

lichen Modus sind wir besonders

nen grünen Apfel, damit du weißt,

auf negative zu scannen. Das haben

leistungsfähig.

woran du nicht denken sollst. Wenn

Studien gezeigt. Und wir haben alle

du zu dir beispielsweise sagst: „Kei-

etwas, wofür wir dankbar sein kön-

ne Angst!“ oder „Keine Sorge!“, ver-

nen. Wir müssen nur üben, es be-

steht dein Gehirn hauptsächlich

wusst wahrzunehmen. Uns diese

„Angst!“ und „Sorge!“.

Dinge vor dem Einschlafen bewusst

Wusstest du?

ins Gedächtnis zu rufen, schafft

Horrorfilme

eine gute Basis für optimistisches

Unmittelbar vor dem Schlafen-

Denken.

gehen Horrorfilme zu gucken, ist nicht unbedingt die beste Methode,

Gesundheit

um das Wohlbefinden zu steigern.

Wissenschaftler*innen haben fest-

Brutale Gewaltszenen könnte das

gestellt, dass Gefühle und Denk-

Gehirn als Gefahr wahrnehmen

weisen auch Einfluss auf Körper-

und so für die Ausschüttung von

funktionen haben und somit die

Stresshormonen sorgen, die nor-

physische Gesundheit beeinflussen.

malerweise in tatsächlichen Ge-

Positives Denken kann somit die

fahrsituationen ausgeschüttet wer-

Gesundheit verbessern, das Im-

den. Diese Hormone sorgen unter

munsystem stärken und auch das

anderem auch dafür, dass wir wach

körperliche Wohlbefinden steigern.

bleiben – was bei echter Gefahr

In einer Studie wurden Zusammen-

sehr hilfreich sein kann, vor dem

hänge zwischen dem Herz-Kreis-

Schlafengehen hingegen weniger.

lauf-System, der Mortalität und

Wir schlafen dann wahrscheinlich

einer

schlecht und sind am nächsten Tag

festgestellt. Der Studie zufolge ver-

müde.

ringert optimistisches Denken das

optimistischen

Denkweise

Risiko für Herz-Kreislauf-Probleme

Dankbarkeit

und senkt die Gesamtsterblichkeit.

Den Tag mit positiven Gedanken abzuschließen, erweist sich hinge-

Leistungsfähigkeit

gen als bessere Methode für gestei-

Neben der Gesundheit verbessert

gertes Wohlbefinden und für guten

positives Denken auch die Konzen-

Schlaf. Es gibt viele unterschiedli-

tration, die Intelligenzleistung, die

Kultur

33

BE curious. exceptional. creative.

Be Zeitlos. ..

34

Welt

DAS UNABHANGIGE STUDIERENDENMAGAZIN IN INNSBRUCK

Gönn deinen Synapsen doch auch eine Party!

Bleib offen!

Welt

35

ZEITLOSIGKEIT geschrieben von Alina Müller Zeit – ein wirklich interessantes

lebt habe ich dieses Phänomen

Phänomen. Wie Albert Einstein

noch nicht, aber da ich bereits jetzt

bereits feststellte: Zeit ist relativ.

Probleme damit habe ausgemach-

In unserer Gesellschaft ist Zeit vor

te Zeitpunkte einzuhalten, ist das

allem relativ wichtig. Sie ist allge-

wahrscheinlich besser so.

genwärtig und läuft scheinbar un-

Das Konstrukt der Zeit an sich wur-

aufhaltsam weiter. Wir sind nicht

de vom Menschen künstlich er-

in der Lage, sie zu beeinflussen – so

zeugt, um dem Gefühl von Dauer

zumindest die Theorie.

eine Maßeinheit zu geben und in

Was gerade noch Gegenwart ist,

unseren sowieso schon komplexen

wird innerhalb einer Sekunde zur

Leben eine gewisse Ordnung zu

Vergangenheit und die Zukunft be-

schaffen. Unser Gefühl von Dauer

ginnt bereits jetzt. Das Konstrukt

entspricht jedoch oftmals nicht der

von Zeit ist, wenn man darüber

Zeit, die am Ziffernblatt tatsächlich

nachdenkt, ziemlich verwirrend.

vergeht. Jede*r kennt den Moment,

Wir sind uns zwar darüber be-

wenn er*sie realisiert, dass das

wusst, dass so etwas wie Zeit exis-

Jahr schon wieder fast um ist und

tiert, können diese jedoch nicht

wir uns fragen, wo die ganze Zeit

wirklich greifen oder verstehen.

geblieben ist. Im Gegensatz dazu

Wir Menschen haben ein Gefühl

vergeht die Zeit im Wartezimmer

davon, dass Zeit vergeht oder dass

oder in der Schlange vor den Toilet-

etwas andauert, wir nehmen Zeit

ten oft gefühlt langsamer als sonst

jedoch sehr individuell und unter-

und jede Minute fühlt sich wie eine

schiedlich wahr.

halbe Ewigkeit an.

Das Zeitgefühl wird, unter ande-

Zeit vergeht für uns also unter-

rem, sehr stark von Tag und Nacht,

schiedlich

sowie von den Jahreszeiten beein-

Uhren unermüdlich im gleichen

flusst. Wie wir die Zeit ohne die-

Tempo weiter ticken. Das liegt auch

se

wahrnehmen

daran, dass Zeit in unserer Gesell-

würden, ist schwer einzuschätzen.

schaft einen sehr hohen Stellenwert

Sogenannte Polarnächte und Polar-

hat. Wir hören von allen Seiten,

tage kommen dieser theoretischen

dass wir bloß keine Zeit verschwen-

Vorstellung am nächsten. Tag und

den dürfen, sondern immer das

Nacht gibt es nicht mehr, sondern

Bestmögliche aus ihr herausholen

mehrere Monate Dunkelheit und

sollen – denn Zeit ist ja bekanntlich

mehrere Monate Licht. Selbst er-

Geld. Aber was heißt es überhaupt,

36

Gegebenheiten

Kultur

schnell,

obwohl

die

das Bestmögliche aus der Zeit her-

ist Zeitlosigkeit jedoch nicht immer

ben wollen, ecken wir in der Gesell-

auszuholen?

etwas Positives. Es beschreibt auch

schaft an. Denn „out-of-the-box“ zu

In der Leistungsgesellschaft, in der

das Gefühl, sich ständig den Kopf

denken ist nur okay, solange man

wir leben, geht es darum, zeiteffi-

darüber zu zerbrechen, dass man

pünktlich ist. Dieses ständige Unter-

zient zu sein und die 24 Stunden,

Zeit verschwendet, wenn man ein-

Druck-Sein steigert für viele Men-

die uns tagtäglich zur Verfügung

fach mal lange schläft, einen Ter-

schen die Produktivität und gibt

stehen, auszunutzen. Das Wider-

min absagt oder einen ganzen Tag

ihnen das Gefühl von Ordnung und

sprüchliche daran ist, dass wir

lang nicht das Haus verlässt.

Sinn im Leben. Ich gehöre jedoch

Menschen meistens dann das Ge-

Das Gefühl, nie genug Zeit zu ha-

nicht zu diesen Menschen. Ich bin

fühl haben, keine Zeit zu haben,

ben, kennt höchstwahrscheinlich

produktiv und kreativ, wenn ich

wenn wir versuchen, die Zeit so

auch jede*r Student*in. In Prü-

entspannt bin, habe bessere Laune,

effizient wie möglich zu nutzen.

fungsphasen schlafen und essen

wenn ich mich nicht hetzen muss,

Wir machen Termine, hetzen von

wir kaum, sitzen stundenlang vor

und nehme die Momente in mei-

einer Verabredung zur andern und

unseren Unterlagen und der Tag

nem Leben viel intensiver wahr,

planen unser Leben im Voraus –

hat trotzdem nicht genug Stunden,

wenn ich nicht alle zwei Minuten

oftmals auf die Minute genau. Wir

um alles zu schaffen. Das Ergebnis:

auf die Uhr schaue.

sind im Zeitstress, streben danach,

Wir sind gestresst, unglücklich und

Wir Menschen machen uns das

eine bessere Zeit zu verbringen und

fiebern stets den Ferien entgegen –

Leben

schwelgen liebend gerne in Gedan-

denn dann haben wir endlich wie-

Vielleicht sollten wir anfangen,

ken an die guten alten Zeiten. Da-

der Zeit.

dass Leben wieder etwas zu ent-

mals war doch sowieso alles besser

Doch mit unserer Auffassung von

schleunigen, mehr darauf achten

– zumindest reden wir uns das oft

Zeit limitieren wir Menschen uns

was wir erleben und uns nicht auf

ein. Aber war es das tatsächlich?

selbst in unseren Möglichkeiten.

Zeitpunkte versteifen. Wir sollten

Mit der Zeit verändern auch wir

Stress hemmt die Kreativität. Wir

uns selbst wieder etwas mehr Luft

uns, entwickeln uns weiter, setzen

sind unglücklicher und verlieren

zum Atmen geben und den Alltag

neue Prioritäten. Wir haben unsere

die Schönheit des Lebens aus den

bewusster wahrnehmen und wert-

beste Zeit noch nicht verpasst, da

Augen. Denn wer nicht in das Sche-

schätzen, statt immer nur sehn-

wir nicht einmal einschätzen kön-

ma passt und unpünktlich ist, fällt

süchtig in die Vergangenheit und in

nen, was noch auf uns zukommt. Es

negativ auf. Wir planen oftmals

die Zukunft zu schauen. Vielleicht

bringt auch nichts, nur in die Ver-

krankhaft unsere Zukunft, stressen

müssen wir uns alle von dem aktu-

gangenheit oder nur in die Zukunft

uns täglich, um unsere Termine

ellen Konstrukt der Zeit lösen und

zu schauen, da jede Minute unseres

einzuhalten, und trauern der Zeit

einen gesünderen Umgang mit der

Lebens, technisch gesehen, gleich

nach, die bereits vergangen ist, und

Zeit finden, um wieder wirklich

lang ist und genauso viel Potenzial

in der wir meinen, glücklicher ge-

glücklich zu sein. Denn Zeit ist re-

hat, wie die Minute davor oder die

wesen zu sein.

lativ und irgendwie tickt die Uhr

danach.

Zeit ist, meiner Meinung nach, Se-

dann doch für manche von uns an-

„Zeitlosigkeit“ wird grundsätzlich

gen und Fluch zugleich – eine Ge-

ders, selbst wenn das eigentlich un-

als etwas Positives angesehen. Als

sellschaftskrankheit, für die es kein

möglich scheint.

zeitlos gelten Kunst, Musik oder

Heilmittel gibt. Wir können ihr

der Einfluss bestimmter Menschen

nicht entkommen und wenn wir

auf unsere Gesellschaft. Für mich

statt „zeitlos“ eher „zeiterfüllt“ le-

selbst

ziemlich

schwer.

Kultur

37

Die Juden, die Medien, die Ausländer!

Verschwörungstheorien als gesellschaftliches Gift

geschrieben von Jonas Heitzer

Verschwörungstheorien sind im Zuge der Pandemie stärker in den Fokus der medialen Berichterstattung geraten.

Mit der Impfung bekäme man Mikrochips implantiert, SARS-CoV2 existiere gar nicht, Bill Gates stecke hinter allem - so einige der gängigen Theorien, welche auch auf Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung verbreitet wurden und werden. Verschwörungstheorien sind jedoch ein altes Phänomen, das in der Geschichte immer wieder zu gesellschaftlicher Spaltung beigetragen und großes menschliches Leid zumindest mitverursacht hat. Dabei gäbe es neben den erwähnten Hirngespinsten auch echte Verschwörungen, die spannend, erschreckend und gefährlich genug sind, um ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Eine kleine Historie der Verschwörung, in Theorie und Praxis.

38

Gesellschaft

Die Medien!

Im Jahr 2014 wurde in Deutschland bei den sogenannten „Montagsdemonstrationen” der rechtsradikalen Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA) eine Parole aus dem 19. Jahrhundert ausgegraben: Lü-gen-pres-se! Journalist*innen wurden bei diesen Demonstrationen, die vor allem auf dem Höhepunkt der Fluchtbewegungen nach Europa stattfanden, pauschal als “Volksfeinde” dargestellt, welche „die

Die Juden!

Wahrheit verdrehen” würden. Die Kommunikationswissenschaftlerin Irene Neverla erkennt darin das alte

Verschwörungstheorien sind vermutlich annähernd

Muster einer vermuteten Verschwörung der Eliten aus

so alt wie die Menschheit selbst, und eine vollständige

Politik, Wirtschaft und Medien, welche sich gegen “das

Geschichte würde Bibliotheken füllen. Sie haben meist

Volk” gewandt hätten und deshalb als Feinde wahrge-

eines gemein: einen Sündenbock. Eine Personengruppe

nommen werden. Fakten sind in einem solchen Weltbild

wird verdächtigt, das Weltgeschehen zu steuern und

Meinungen gleichgesetzt. Alleiniger Träger der Wahrheit

somit für alle gesellschaftlichen Missstände verantwort-

ist schließlich „das Volk” und deren Mehrheitsmeinung -

lich gemacht. Diese Gruppe waren in der Vergangenheit

oder das, was als solche wahrgenommen wird.

nur allzu oft Jüd*innen oder als solche identifizierte

Dieser Antagonismus den „Mainstream-Medien” gegen-

Personen. Viele der bis heute gängigen antisemitischen

über wird durch die Funktionsweise des professionellen

Vorurteile haben ihre Wurzeln in einer der gefährlichs-

Journalismus verstärkt. Journalist*innen suchen stell-

ten Verschwörungstheorien der Geschichte, welche bis

vertretend für ihre Leser*innen, Hörer*innen oder Zu-

heute auch im Original noch verbreitet wird: Die „Pro-

seher*innen kontinuierlich nach neuen und gesellschaft-

tokolle der Weisen von Zion”.

lich relevanten Themen und recherchieren zu diesen.

Die „Protokolle” wurden Anfang des 20. Jahrhundert

Trotz der Bemühungen der meisten Journalist*innen,

zunächst im russischen Zarenreich veröffentlicht. Sie

Nachrichten objektiv und faktenbasiert zu vermitteln,

enthielten angebliche Mitschriften des internationalen

kann auf diese Weise nur eine eingeschränkte Konst-

Zionistenkongresses in Basel 1897, in denen Juden be-

ruktion der Realität vermittelt werden, auf die je nach

zichtigt wurden, Bourgeoisie und Proletariat aufeinan-

politischer Ausrichtung des Mediums aus verschiedenen

der zu hetzen, um die Weltordnung zu stürzen und die

Sichtweisen geblickt wird.

Macht an sich zu reißen. Ab 1919 verbreitete sich die

Ob die große Fluchtbewegung nach Europa Mitte der

übersetzte Version des Buches im deutschsprachigen

2010er-Jahre wirklich als Krise eingestuft werden sollte,

Raum und erfreute sich dort aufgrund des herrschen-

sei dahingestellt. Wenn die veröffentlichte Meinung der

den antisemitischen Zeitgeistes großer Beliebtheit.

reichweitenstärksten Medien nicht mit der Wahrneh-

Auch führende Nationalsozialisten lasen das Buch und

mung größerer Teile der Bevölkerung übereinstimmt,

integrierten es in ihr jüd*innenfeindiches Weltbild, so-

führt dies jedenfalls zu Wahrnehmungen von Betrug und

gar in Hitlers “Mein Kampf” finden sich Erwähnungen

Lüge.

der „Protokolle”. Mit der Machtergreifung der Nazis wurde das Buch zum offiziellen Pflichtschul-Lehrstoff und vergiftete Generationen von Schulkindern mit antisemitischen Vorurteilen - obwohl die englische Times es bereits 1921 als Fälschung entlarvte.

Gesellschaft

39

Die Ausländer!

Ebenfalls im Zuge der großen Fluchtbewegung nach Europa wieder in den Fokus des gesellschaftlichen Diskurses gerückt ist das Thema Ausländer*innenfeindlichkeit. Viele gängige Verschwörungstheorien haben teilweise xenophobe Inhalte, eine ist bereits seit einiger Zeit besonders beliebt unter Personen, die dem rechten Rand des politischen Spektrums zugeordnet werden können und hatte bereits reale und gefährliche Auswirkungen. Die Rede ist vom Schreckgespenst des „Bevölkerungsaustausches”.

Die Theorie stammt ursprünglich von Renaud

die Wirtschaft zu sichern. Dies würde zu einem

Camus, einem Mitglied einer rechtsradikalen

Verlust der „nationalen Identität” des Landes

französischen Kleinpartei. Camus behauptete

führen. Besonders erfolgreich scheinen die an-

2011, Frankreich stehe kurz davor, unter „mus-

geblichen Eliten dabei nicht gewesen zu sein:

limische Herrschaft” zu geraten. Dies geschehe,

Frankreichs Bevölkerung wächst seit 60 Jahren

wer hätte das gedacht, auf Bestreben von „Eli-

relativ konstant, die Fertilität ist seit 2011 leicht

ten”. Hintergrund des Ganzen: Die sinkende

gesunken.

Fertilität französischer Frauen sollte angeblich durch Einwanderer*innen ausgeglichen wer-

Auch Österreich hört man immer wieder von

den, um ausreichend „Menschenmaterial” für

Politiker*innen des rechten politischen Lagers, dass ein „Bevölkerungsaustausch” stattfände.

Heinz-Christian Strache sprach etwa in einem Interview von 2019 davon, dass seine damalige Partei, die FPÖ, einen „Kampf gegen den Bevölkerungsaustausch” führe. Auch in den Reden und Interviews des heutigen Parteivorsitzenden der FPÖ, Herbert Kickl, findet sich der Begriff „Bevölkerungsaustausch” häufig, etwa bei einer Parlamentsrede aus dem Oktober 2020.

40

Gesellschaft

Verschwörung in der Realität: Das Tag-X-Netzwerk Private Chatgruppen, in denen sich Angehörige von Polizei, Militär und der öffentlichen Verwaltung auf einen „Tag X” vorbereiten. Versteckte Waffen, gefälschte Identitäten, Todeslisten, Leichensäcke. Was sich wie der Plot eines mittelmäßigen Thrillers liest, war jahrelang Realität in Deutschland und Österreich.

Im Februar 2017 wurde Franco A., ein Offizier der deutschen Bundeswehr, am Flughafen Wien-Schwechat verhaftet, weil er eine Pistole nach Deutschland schmuggeln wollte. Im Laufe der Ermittlungen stellte sich heraus, dass A. Teil eines Netzwerks von rechtsextremen Chatgruppen war, dessen Mitglieder* sich auf einen erwarteten Zusammenbruch der staatlichen Ordnung vorbereiteten. Hierfür wurden verschiedene Szenarien diskutiert, etwa, dass Geflüchtete aus Syrien gemeinsam mit Fremdenlegionär*innen und US-Söldner*innen Deutschland ins Chaos stürzen würden.

Teile des Netzwerks wollten diesen Systemzusammenbruch auch selbst herbeiführen, um in dem entstandenen Chaos die Macht an sich zu reißen.

Unter anderem gab sich Franco A. als syrischer Flüchtling aus und stellte erfolgreich einen Asylantrag. Mit dieser falschen Identität plante er, Anschläge zu verüben, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu zerstören und den Staat zu destabilisieren.

Für den „Tag X” planten die Verschwörer Treffen in sicheren Rückzugsorten (Safe Houses), zu denen neben Privathäusern auch die Kaserne des Kommando Spezialkräfte (KSK), einer Spezialeinheit der Bundeswehr, zählte.

Soldaten und Polizisten, die Teil der Verschwörung waren, sollten Waffen und Munition besorgen, weiters wurden Gegenstände wie Kabelbinder und Leichensäcke gehortet. Ermittler*innen fanden außerdem mehrere „Todeslisten”, auf welchen unter anderem unliebsame Politiker*innen wie Bundestagspräsidentin Claudia Roth oder Bundespräsident Joachim Gauck angeführt waren. Zum Zeitpunkt der Aufdeckung des Netzwerkes hatten deren Mitglieder bereits begonnen, gelistete Personen auszukundschaften.

Die Ermittlungen zum Tag-X-Netzwerk gehen bis heute nur schleppend voran. Nach wie vor fehlen aus den Beständen des KSK 85.000 Schuss Munition und 62 Kilogramm Sprengstoff. Es wäre also gar nicht notwendig, sich absurde Verschwörungstheorien auszudenken oder anzueignen. Die real existierenden Verschwörungen sind bereits beängstigend und gefährlich genug.

Gesellschaft

41

© pexels

Der Weg der 42

Gesellschaft

Frauen standen über Jahrhunderte hinweg rechtlich im Schatten der Männer. Erst gegen Ende des 18.

Jahrhunderts begann sich das langsam zu ändern, als die Bevölkerung für mehr bürgerliche Rechte – vor

Frau

allem in der Französischen Revolution von 1789 – zu kämpfen begann. In Österreich begannen sich Frauen Mitte des 19. Jahrhunderts zu organisieren, um für ihre Rechte einzutreten. Die wichtigsten Ziele der Frauenbewegung waren, dass Frauen auch ein Recht darauf haben, arbeiten zu gehen und ihr eigenes Geld zu verdienen, dass sie ein Recht auf Bildung haben. Ein großer und einschneidender Punkt

geschrieben von Nicole Kaßberger Heute dürfen Frauen in Österreich wählen und gewählt werden. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht ist in der österreichischen Verfassung festgeschrieben. Auch die Gleichheit vor dem Gesetz und die tatsächliche Gleichstellung von Mann und Frau stehen in der Verfassung und sind damit Grundbausteine unserer Gesellschaft. Dass Frauen dieselben Rechte haben wie Männer, ist aber in der Praxis selten der Fall.

in der Geschichte war der Kampf um das Wahlrecht für Frauen.

Jede Stimme zahlt Bereits im 19. Jahrhundert war es wohlhabenden Großgrundbesitzerinnen möglich, Vertreter in die Landtage zu wählen, wenn sie genug Steuern bezahlten. Das Wahlrecht war somit an Vermögen gebunden. Durch den 1. Weltkrieg veränderte sich die Stellung der Frau in der Gesellschaft stark.

Sie ersetzten die Männer, die an der Front waren, im Beruf und im öffentlichen Leben. Mit der Gründung der Republik Österreich wurde 1918 das allgemeine Wahlrecht

Gesellschaft

43

für Frauen eingeführt; erstmals gin-

enrechtskonvention unterzeichnet

gen Frauen in Österreich 1919 zur

haben, sind zu politischen Maßnah-

Wahl. Heute dürfen österreichische

men zur Beseitigung der Diskrimi-

Staatsbürgerinnen

nach

und noch immer aufzeigen.

Vollen-

nierung von Frauen verpflichtet.

dung des 16. Lebensjahres wählen,

Der Internationale Frauentag, der

unabhängig davon, wie viel Geld sie

jedes Jahr am 08. März begangen

besitzen, welches Geschlecht sie ha-

wird, erinnert weltweit an die Ein-

Die Konvention zur Beseitigung

ben und welcher sozialen Schicht

haltung der Frauenrechte.

de Neuseeland das erste Land, das

Diese Frauenrechte sind Menschen-

Frauen das Wahlrecht auf nationa-

rechte. Dazu gehören das Recht,

jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women,

ler Ebene gewährte.

frei von Gewalt und Diskriminie-

CEDAW, 1979) ist ein wichtiger

rung zu leben, das Recht auf Bil-

internationaler Vertrag, der sich mit geschlechtsspezifischer Diskriminierung befasst und die Rechte von Frauen besonders schützt. Die Konvention legt einen internationalen Katalog von Rechten für Frauen und Mädchen fest und definiert, welche Verpflichtungen Staaten haben, um sicherzustellen, dass Frauen diese Rechte genießen können.

Mehr als 180 Staaten haben die Konvention ratifiziert.

sie angehören. Im Jahr 1893 wur-

Doch trotz dieser Entwicklungen

dung und auf Eigentum, und das

gibt es immer noch viele Orte auf

Recht, zu wählen und den gleichen

der Welt, wo es für Frauen sehr

Lohn zu erhalten. Doch weltweit

schwierig ist, dieses Recht auszu-

werden immer noch viele Frauen

üben. Zum Beispiel in Syrien, wo

und Mädchen aufgrund ihres bio-

Frauen effektiv von politischer

logischen und sozialen Geschlechts

Teilhabe ausgeschlossen sind, ein-

(Gender) diskriminiert. Ungleich-

schließlich

Frie-

heit zwischen Geschlechtern liegt

densprozesses. In Pakistan ist das

vielen Problemen zugrunde, von

Wahlrecht zwar in der Verfassung

denen Frauen und Mädchen unver-

verankert, aber in einigen Gegen-

hältnismäßig stark betroffen sind:

den ist es Frauen faktisch verboten

Häusliche und sexuelle Gewalt, ge-

zu wählen, weil mächtige Persön-

ringere Bezahlung, fehlender Zu-

lichkeiten in ihren Gemeinden pa-

gang zu Bildung und unzureichen-

triarchale lokale Bräuche nutzen,

de Gesundheitsversorgung.

des

laufenden

um sie vom Wählen abzuhalten.

Viele Jahre lang haben Frauen-

Frauenrechte sind Menschenrechte

rechtsbewegungen hart dafür ge-

Weltweit gibt es noch immer gro-

seitigen. Aktivist*innen verlangten

ße Ungerechtigkeiten und Gewalt

Gesetzesänderungen und gingen

gegen Frauen. Aus diesem Grund

auf die Straße, um die Einhaltung

wurde 1981 die „UN-Konvention

ihrer Rechte zu fordern. Im digi-

zur Beseitigung jeder Form von

talen Zeitalter sind neue Bewe-

Diskriminierung der Frau“ in Kraft

gungen entstanden, wie die #Me-

gesetzt, die kurz als „UN-Frau-

Too-Kampagne, die die Verbreitung

enrechtskonvention“

bezeichnet

geschlechtsspezifischer Gewalt und

wird. Alle Staaten, die die UN-Frau-

sexueller Belästigung aufzeigten

44

Gesellschaft

kämpft, diese Ungleichheit zu be-

Selbstbestimmung über den eigenen Körper

Feminismus als Wegbereiter

chern, Abhandlungen und Studien

In vieler Munde, in dutzenden Me-

an Universitäten behandelt. Ein

Dass Frauen selbst über ihren Kör-

dien, an Hauswänden oder in Zim-

paar wichtige Punkte konnten hier

per entscheiden können, klingt für

mertüren: beinahe überall kommt

in Kürze zusammengefasst werden,

viele selbstverständlich, ist in der

einen der Begriff des Feminismus

alles konnte und kann jedoch nicht

Praxis jedoch ein Ausnahmefall. Be-

entgegen. Viele erachten dies als

skizziert werden. Gesagt werden

reits Ende der 1960er Jahre setzten

Modewort, als Beleidigung oder

kann aber folgendes: Es hat sich

sich Frauen immer mehr für Selbst-

als Farce, doch wenn man sich mit

bereits vieles getan. Sehr viele po-

bestimmung ein. Eine zentrale For-

Frauenrechten beschäftigt, ist es

sitive Entwicklungen entstanden

derung war das Recht auf Schwan-

hilfreich, ein Verständnis davon zu

durch die Arbeit der Frauenrechts-

gerschaftsabbruch. Viele Frauen

haben, was Feminismus ist. In sei-

bewegungen und -organisationen.

und Mädchen auf der ganzen Welt

nem Kern ist Feminismus die Über-

Solange aber nicht in allen Ländern

haben beispielsweise immer noch

zeugung, dass Frauen Anspruch auf

Frauen, Männer, Transgender Per-

keinen Zugang zu sicheren und le-

politische, wirtschaftliche und sozi-

sonen, LGBTIQA+ Anhänger*innen

galen Schwangerschaftsabbrüchen.

ale Gleichberechtigung haben. Fe-

und

In mehreren Ländern werden Men-

minismus strebt danach, dass Frau-

gleich ist, ist die Schlacht nicht ge-

schen, die eine Schwangerschaft

en ihre Rechte in vollem Umfang

schlagen. Der Weg ist geebnet, es

beenden wollen oder müssen, oft

und gleichberechtigt mit Männern

liegt an uns, diesen weiter zu be-

vor eine unmögliche Wahl gestellt:

wahrnehmen können.

schreiten und die Arbeit fortzu-

ihr Leben aufs Spiel zu setzen oder ins Gefängnis zu gehen.

grundlegend

der

MENSCH

führen, um schlussendlich in einer Besonders zukunftsebnend ist der

gleichberechtigten Zukunft mitein-

sogenannte Intersektionale Femi-

ander und füreinander da zu sein.

Besonders auffällig ist dies bei-

nismus. Hinter ihm steckt die Idee,

spielsweise in Ländern wie Argenti-

dass alle Gründe, aus denen jemand

nien, Irland oder Polen. Der Kampf

diskriminiert werden könnte, unter

um die Selbstbestimmung des ei-

anderem aufgrund der Hautfarbe,

genen Körpers in Polen war unter

des Geschlecht, der sexuellen Ori-

anderem auch besonders im mittel-

entierung, Geschlechtsidentität, des

europäischen Raum sehr präsent in

sozialen Status und einer Behinde-

den Medien. Die Leute gingen mas-

rung, sich überschneiden und mit-

senhaft auf die Straße, um sich für

einander verschränkt sind. Um die

die eingeschränkten Frauenrechte

Probleme und Ungleichheiten so-

stark zu machen. Mehr als 200 Men-

wie Ungerechtigkeit zu bekämpfen,

schen- und Frauenrechtsorganisa-

ist es demnach auch unumgänglich,

tionen aus der ganzen Welt haben

diese Querverbindungen und Über-

eine gemeinsame Erklärung gegen

schneidungen wahrzunehmen und

das „Stoppt-die-Abtreibung“-Gesetz

zu thematisieren.

in Polen mitunterzeichnet, das den

Die Geschichte des Frauseins ist

Zugang zu sicheren Schwanger-

lang und umfangreich. Das Spek-

schaftsabbrüchen noch weiter ein-

trum des Feminismus ist komplex

schränkt.

und wird daher auch in vielen Bü-

Gesellschaft

45

TRIGGERWARNUNG Dieser Artikel behandelt das Thema Suizid, welches Leserinnen und Leser beunruhigen könnte.

Informationen und Ressourcen für Menschen, die Hilfe benötigen, sind verfügbar unter:

Telefonseelsorge Österreich:

142 (täglich 0 bis 24 Uhr) Universitätsklinik für Psychiatrie Innsbruck Tel.:

050 504 (täglich 0 bis 24 Uhr) Krisenintervention des roten Kreuzes:

144

46

Gesellschaft

Der Wunsch nach dem Tod geschrieben von Magdalena Altmiks & Katharina Högler

„Es gibt eine Zeit zum Leben und eine Zeit zum Sterben.“ So heißt es schon im Alten Testament im dritten Kapitel des Buchs Kohelet. Das Sterben gehört unweigerlich zum Leben dazu, es gibt keine Ausnahmen. Über die ganze Menschheitsgeschichte lässt sich auch beobachten, dass Menschen den Zeitpunkt ihres Todes selbst wählen. Sei es aus einer psychischen Erkrankung heraus, die Flucht in den Freitod bei einer folgenschweren Diagnose oder als letzten Ausweg bei einer aussichtslosen Belagerung, wie es 73 nach Christus während der Belagerung Masadas in der römischen Provinz Judäa der Fall war. Die 900 Belagerten entschieden sich lieber als freie Menschen durch einen Massensuizid zu sterben, als durch die römischen Truppen erobert zu werden.

Suizid im Wandel der Zeit

auf hin: Hauptursache für Suizid

Das Suizidvorkommen ist seit den

sind Depressionen.

1980er Jahren im Rückgang. Jedoch

Laut dem Basisbericht der Republik

verlangsamte sich dieser während

Österreich zum Suizid und der Su-

der Wirtschaftskrise 2008 und sta-

izidprävention aus dem Jahr 2019

bilisierte sich auf einer Ebene. In-

war die Zahl der Suizidtoten 2019

teressanterweise ist der Rückgang

dreimal so hoch wie die Anzahl der

von Suizidfällen seit 1986 bei Frau-

Verkehrstoten. Im Jahr 2014 wur-

en stärker ausgeprägt als bei Män-

den mehr als ein Drittel aller Suizi-

nern. Warum, lässt sich nur rätseln.

de von älteren Menschen (>65 Jah-

Aus mehreren Studien zum Thema

re) durchgeführt, was wiederum

lassen sich soziale Standards als

beweist, dass Suizid nicht nur ein

Grund dafür folgern. Der Druck auf

Problem der jungen Leute ist. 2019

Männer in unserer Gesellschaft ist

änderte sich diese Statistik leicht:

enorm, und wird nicht genug wahr-

die anteilsmäßig meisten Suizide

genommen. Vor allem das Ideal des

werden in der Altersgruppe 45-59

„starken Mannes“, dem Tränen un-

Jahren begangen (28% der Suizide).

bekannt sind, kann massive psychi-

Bevölkerungsbezogen steigt die Su-

sche Auswirkungen haben. Gefüh-

izidrate mit dem Alter. Fünfmal so

le sind ein ‚weiblich‘ konnotiertes

hoch wie die Suizidrate der Durch-

Phänomen und kein Kernbestand

schnittsbevölkerung ist die Suizid-

des Konstrukts der Männlichkeit.

rate bei den 85- bis 89- Jährigen.

Wie ein fernverwandter Cousin

Bundesländerbezogen hatten zwi-

sollen diese ‚weiblichen‘ Gefühle

schen 2014 und 2019 das Burgen-

wahrgenommen werden - es gibt

land und Vorarlberg die

sie, näher jedoch sollte man(n) sich

ten Werte, wobei Kärnten und die

nicht

auseinandersetzen.

Steiermark die höchsten aufwie-

Eine Auseinandersetzung mit die-

sen. Zu Suizidversuchen gibt es we-

sen Gefühlen auf Frauen - und Män-

nig verlässliche Statistiken, da sie

nerseite ist aber psychisch wichtig.

schwieriger zu identifizieren sind,

Denn es ist kein Zufall, dass Frauen

unter anderem, weil sie oft nicht

häufiger unter psychischen Erkran-

gemeldet werden. Dennoch wird in

kungen leiden, die Suizidrate bei

internationalen Studien geschätzt,

Männern aber bis zu dreimal so

dass die tatsächliche Anzahl an Su-

hoch ist wie bei Frauen. „Je stärker

izidversuchen die offizielle um das

sich Männer an diesen klassischen

10 - bis 30-fache übertrifft.

Männlichkeitsnormen orientieren,

Laut Statista 2021 liegt Österreich

desto größer ist eigentlich auch ihr

mit einer Suizidrate von 13,91 Pro-

Risiko, eine Depression zu entwi-

zent relativ hoch auf Platz 10 al-

ckeln“, sagt die deutsche Forscherin

ler europäischen Länder. Litauen

Anne-Marie

weist die höchste Suizidrate von

damit

Möller-Leimkühler.

Und mehrere Studien weisen dar-

niedrigs-

25,82 Prozent auf.

Gesellschaft

47

Suizidtabuisierung im Wandel der Zeit

Strafe entzogen haben zu wollen

tigen Handeln in solchen Momen-

(was schwere finanzielle Folgen für

ten steht oft ein weiterer Mythos

Nicht nur Suizidrate zu beobach-

dessen Familie hatte, die als Folge

entgegen. Die Scheu davor, Men-

ten erweist sich als vielaussagend,

enteignet wurde), oder die „Melan-

schen direkt auf Suizidgedanken

sondern auch die gesellschaftlichen

cholie“.

anzusprechen, ist oft durch die Sor-

Einstellungen dem Thema gegen-

Seit dem Mittelalter mag sich vieles

ge geweckt, diese erst auf die Idee

über. Historisch betrachtet hat sich

verändert haben, dennoch ist ein

zu bringen. Genau das ermöglicht

hier viel verändert. Die Bibel gibt

gewisses Tabu in unserer Gesell-

den Betroffenen jedoch oft eine

sich „neutral“ zum Suizid, dennoch

schaft spürbar. So wie es bei vie-

wichtige Lockerung der suizida-

wurde von Kirchenvater Aurelius

len schwierigen Themen der Fall

len Einengung. Suizidpläne dürfen

Augustinus im 5. Jahrhundert der

ist, wird Suizid wenig thematisiert,

angesprochen werden und sollten

Begriff „Selbstmörder“ eingeführt,

und eher totgeschwiegen als disku-

ernst genommen werden. Wichtig

was eine Gleichstellung mit Mord

tiert. Diverse Mythen rund um den

dabei: Je ausgereifter die Tat ge-

impliziert.

Suizid tragen auch dazu bei, dass

plant ist, desto höher auch das Risi-

Aufgrund der engen Verbindung

eine gewisse Angst besteht, das The-

ko des tatsächlichen Vollzugs.

von staatlicher und christlicher

ma überhaupt anzusprechen. Doch

Macht im Mittelalter war ein christ-

was sind das für Mythen? Wie viel

Hilfeleistung zum Suizid

liches Begräbnis auf einem Fried-

ist dran, an diesen vermeintlichen

Mit dem Erkenntnis des österrei-

hof für Selbstmörder verboten: sie

Fakten?

chischen

waren ab dem 6. Jahrhundert zu

Verfassungsgerichts-

hofes von Dezember 2020 wird

Über Suizid reden

ausdrücklich klar, dass es verfas-

Leichen

Die Momente sind selten, doch sie

sungswidrig ist, jede Art der Hilfe

auch an einer Wegkreuzung begra-

existieren. Es wird eine Andeu-

zum Suizid ausnahmslos zu ver-

ben. Suizid wurde als schwere Sün-

tung gemacht, ein Kommentar, der

bieten. Der Straftatbestand der

de betrachtet, auf Grund der stark

eine*n irgendwie stutzig werden

„Hilfeleistung

von Religion und Glaube gepräg-

lässt. Eine Handlung, die uns ver-

verstößt demnach gegen das Recht

ten Gesellschaft. Der Wunsch sich

dächtig erscheint. Aber sofort kom-

auf Selbstbestimmung. Mit dem 31.

umzubringen wurde als Leugnen

men die Gedanken: „Ach, das war

Dezember 2021 tritt dieser Straf-

des Glaubens angesehen. Damals

doch gar nicht so ernst gemeint“,

tatbestand außer Kraft. Nicht nur

glaubte man, dass ein Selbstmord

„Wer darüber spricht, tut es doch

der Wille des Patienten wird hier

auch Auswirkungen auf die Umge-

sowieso nicht“ oder „Die will doch

grundrechtlich beachtet, sondern

bung habe: Stürme, Unwetter und

sowieso nur Aufmerksamkeit“. Sol-

auch ein Recht auf ein würdevol-

Dürre könnten eine Region befal-

che Gedanken zeugen allergings

les Sterben sieht der Verfassungs-

len. Andere glaubten der Tote wür-

vor allem von Unwissenheit. 80

gerichtshof vor. Mit diesem Schritt

de als Geist die Stadt mit Krankheit

Prozent der Suizide werden vor-

ist eindeutig eine größere Akzep-

infizieren. Im Mittelalter wurde ein

her angekündigt. Hinter einer un-

tanz der Selbsttötung, auch mit der

Gerichtsverfahren

durchgeführt,

scheinbaren Andeutung kann sich

Hilfe von Dritten, erkennbar: Der

das den Grund eines Suizids fest-

also sehr wohl auch ein wichtiges

Wille der Person steht höherran-

stellen sollte. Dabei waren die zwei

Warnzeichen erkennen lassen, das

gig, und das Tabu rundum Suizid

in Betracht gezogenen Begründun-

allerdings auch gesehen oder ge-

beginnt sich, wenn auch sehr lang-

gen, sich entweder einer anderen

hört werden muss. Doch dem rich-

sam, zu lösen.

sogenannten verbannt.

48

Oft

„Eselsbegräbnissen“ wurden

Gesellschaft

zum

Selbstmord“

Suizidprävention und die Medien

mord und untergrabe moralische

Eine neue Entwicklung und laut

prominentes Beispiel für eine ähn-

dem vorher erwähnten Bericht der

liche Reaktion ließ sich im Jahr

Republik Österreich eine Erfolgsge-

1981 nach der Veröffentlichung des

schichte, sind die medialen Richt-

ZDF-Films „Tod eines Schülers“ be-

linien zur Berichtserstattung über

obachten, der zu einer statistischen

Suizide. Der Papageno Effekt (be-

Häufung von Eisenbahnsuiziden

nannt nach der Figur des Papageno

unter Jugendlichen führte. Den-

in Mozarts Oper „Die Zauberflöte“)

noch wagen sich Filmemacher*in-

zeigt, dass eine gewisse Form von

nen immer wieder an diese kom-

Berichtserstattung Personen nicht

plexe Thematik. So erschien 2017

„Ideen gibt“, sondern auch im Na-

erstmals die Netflix-Serie „13 Rea-

men der Suizidprävention wirken

son Why“ (auf Deutsch „Tote Mäd-

kann. Genau wie in der Oper wird

chen lügen nicht“), in welcher sich

Leuten stattdessen, wie Papageno

die Protagonisten Hannah mit den

in der Hoffnungslosigkeit seines

Gründen für ihren Suizid auseinan-

Liebeskummers selbst, geholfen,

dersetzt. Jedoch konnten auch hier

ihre suizidalen Gedanken zu be-

Forscher*innen der Ohio State Uni-

kämpfen und zu überkommen.

versity College of Medicine einen

Dieser Effekt wurde durch Studi-

signifikanten Anstieg der Suizidrate

en wissenschaftlich bewiesen, und

bei den Zehn- bis Siebzehnjährigen

wurde daher im Jahr 2017 von der

beweisen.

und religiöse Werte.“ Ein weiteres

Weltgesundheitsorganisation in die internationalen Medienempfehlun-

Der Wunsch nach dem Tod ist eine

gen zur Suizidberichtserstattung

Thematik, die den Menschen schon

eingeführt.

Der Zusammenhang

ewig begleitet und immer relevant

zwischen Medienberichterstattung

bleiben wird. Reden wir darüber,

und einer Zunahme an Suiziden

können wir betroffenen Menschen

wird dagegen als „Werther-Effekt“

helfen – diese mit ihren Gedanken

bezeichnet. Ursprung des Namens

nicht allein lassen und es anspre-

war eine Entwicklung nach der

chen, wenn wir uns Sorgen machen.

Veröffentlichung

bekannten

Wir können alle dazu beitragen, in-

Briefromans „Die Leiden des jun-

dem wir mit offen Augen durch un-

gen Werther“, in dem sich der Pro-

ser Leben gehen. Denn wir es schon

tagonist aufgrund einer hoffnungs-

in der Einleitung heißt: „es gibt eine

losen Liebe dem Suizid hingibt.

Zeit zum Sterben“, aber eben auch

Eine Handlung, die in vielfacher

„eine Zeit zum Leben.“

des

Weise zur Nachahmung anregte. So meinten Kritiker, „[Werther] verführe junge Menschen zum Selbst-

Gesellschaft

49

Der Schatten einer sexuellen Revolution

Sexuelle Selbstbestimmung ohne oder zumindest mit geringem Risiko einer Schwangerschaft. Was für uns vollkommen selbstverständlich klingt, war nicht immer so einfach. Erst seit 60 Jahren existiert einer der Klassiker der Empfängnisverhütung – die Antibabypille. 2019 ergab eine Untersuchung im Zusammenhang mit dem „Gynmed Verhütungsreport“, dass nach dem Kondom die Antibabypille mit 34 Prozent als zweithäufigstes Verhütungsmittel der Österreicher*innen verwendet wird.

Insgesamt entscheiden sich seit 2012 jedoch immer mehr Österreicher*innen gegen hormonelle Verhütungsmittel. Doch was hat es damit auf sich?

50

Gesellschaft

- die Antibabypille geschrieben von Magdalena Altmiks

Der Weg zur Antibabypille Am 18. August 1960 erschien in Ame-

Schwangerschaften und die Folgen

rika ein Produkt namens „Enovid“,

gefährlicher

welches bereits ein Jahr später auch

brüche. Durch die finanzielle Un-

für verheiratete Frauen in Deutsch-

terstützung einer Freundin konnte

land erhältlich war. Die Rede ist

das Vorhaben in die Welt umgesetzt

vom ersten Medikament zur hor-

werden. Dies gelang jedoch nicht

monellen

Empfängnisverhütung.

ohne gesellschaftliche Folgen. Papst

Dass sich ein Forschungsteam um

Paul VI. verurteilte die Antibabypille

den Pharmakologen Gregory Pincus

in seiner Enzyklika und verbot 1968

dem Thema überhaupt zuwandte,

seinen Gläubigen die Verwendung

ist der Verdienst einer Kranken-

künstliche Verhütungsmittel. In San

schwester namens Margaret Sanger.

Francisco dagegen setzte sich die

In ihrem Beruf erlebte sie regelmä-

68er-Bewegung für „make love, not

ßig die Auswirkungen ungewollter

war“ ein. Es kam zu einer sexuellen

Schwangerschaftsab-

Revolution, welche die Enttabuisie-

gegen unreine Haut. Ein Wunder-

Jahr in den Fokus gerückte Neben-

rung der Sexualität forderte. Eine

mittel für all jene, die den Beipack-

wirkung ist das zwar seltene, aber

Entwicklung, der die Antibabypille

zettel nicht gelesen haben. Oder

mögliche erhöhte Risiko für Throm-

den Weg ebnete.

schlichtweg ihre Augen davor ver-

bosen und Schlaganfälle, besonders

schließen. Doch für diese Schönheit

wenn weitere Risikofaktoren wie

Wie wirkt die Antibabypille?

und den Genuss zahlen viele einen

beispielsweise eine Blutgerinnungs-

hohen Preis. Ein Grund für die Un-

störung, Rauchen oder Übergewicht

Die Einnahme der Antibabypille

wissenheit vieler jungen Mädchen

vorliegen. Vielleicht doch ein Grund

und ihrer enthaltenen Hormone

spielt laut einer exemplarischen

mal den Roman von Beipackzettel

Östrogen und Gestagen haben ei-

Online-Analyse über Informations-

zu lesen?

nen Einfluss auf den hormonellen

gehalt und -qualität zur „Pille“ von

Regelkreis von Gehirn und Eierstö-

Tamara Jesch die mangelhafte Qua-

Gibt es Alternativen?

cken. Ihre hohe Wirksamkeit bei

lität von Onlineangeboten, die Ju-

Ohne Frage war die Entwicklung

der Empfängnisverhütung erreicht

gendliche aufklären.

der Antibabypille vor 60 Jahren ein

sie auf mehreren Wegen. So wird

wichtiger Meilenstein für ein selbst-

ein Ausbleiben des Eisprungs zur

Strahlend von außen

Folge hat. Sollte dennoch eine Eizel-

Glänzendes Haar und reine Haut

viele Alternativen, die gerne unter

le befruchtet werden kann sich die-

sind Nebenwirkungen der Anti-

dem Radar bleiben und gar nicht

se durch die Verhinderung des Auf-

babypille, die den meisten jungen

erst zur Sprache kommen. Eine un-

baus von Gebärmutterschleimhaut

Mädchen vermutlich erstmal ein

ter Verfechtern der hormonfreien

nicht einnisten. Als dritte Wirkung

Lächeln auf die Lippen zaubert.

Verhütung beliebte Alternative ist

wird das Eindringen von Spermien

Doch wie sieht es um unsere Psy-

zum Beispiel die Kupferspirale, die

durch ein dickflüssigeres Sekret des

che auch? Die Einnahme dieses

einen Einfluss auf die Biochemie in

Gebärmutterhalses unterbunden.

Hormonpräparats nimmt Einfluss

der Gebärmutter hat und damit die

auf unser Seelenleben. Von den be-

Beweglichkeit der Samenzellen ein-

Nebenwirkungen auf der Waagschale

rüchtigten

schränkt.

gen haben die meisten schon einmal

Doch natürlich hat jede Verhütungs-

Die eine Antibabypille gibt es schon

etwas gehört, manche schon am

art ihre Vor- und Nachteile, aber es

lange nicht mehr, sondern mehr

eigenen Leib erfahren, doch damit

gibt eine ganze Reihe von verschie-

als 50 davon haben mittlerweile

ist es noch nicht getan. Depressive

denen Präparaten und Methoden,

den Weg in unsere Apotheken ge-

Verstimmungen und Depressionen,

die auf die vielfältigsten Weisen wir-

funden – und mit ihnen eine lange

die in seltenen Fällen bis zu Selbsttö-

ken. Die Suche nach dem ganz per-

Liste an Nebenwirkungen. Begleit-

tungsgedanken führen können, sind

sönlich passenden Verhütungsmittel

symptome, die sich je nach Zusam-

im Beipackzettel als Nebenwirkung

ist alles andere als aussichtslos. Lite-

mensetzung unterscheiden und die

zu entdecken.

ratur wie „Für (fast) jede Frau die

tagtäglich in Kauf genommen wer-

Doch auch körperlich macht sich

passende Verhütung“ von Dr. med.

den, sei es aus dem Wunsch heraus

die Antibabypille bemerkbar. Kopf-

Maximilian Franz geben dazu eine

nach sexueller Selbstbestimmung,

schmerzen

Brustschmerzen

erste Hilfestellung. Die Entschei-

im Kampf gegen Menstruationsbe-

sind nur zwei von einer langen Liste

dung für die Antibabypille ist also

schwerden oder als Kriegserklärung

an Nebenwirkungen. Eine in diesem

ein kann, aber eben kein muss.

die Eizell-Reifung unterdrückt, was

schön nur

Heutzutage gibt es jedoch auch

Stimmungsschwankun-

und

bestimmtes Leben junger Frauen.

Gesellschaft

51

Leben in einer schwarzweissen Welt geschrieben von Alina Müller Rassismus ist tief in unseren gesellschaftlichen Systemen verankert. Als Ursprung wird die Kolonialisierung Afrikas und Südamerikas angesehen, bei welcher die Versklavung von Millionen Menschen ein Machtund Überlegenheitsgefühl bei den europäischen Kolonialisten erzeugte. Rassismus hat sich über die Jahrzehnte verändert, ist weniger offensichtlich geworden. Dass Rassismus jedoch auch in Österreich oder Deutschland immer noch ein ernstzunehmendes Problem ist, ist vielen Menschen jedoch spätestens seit den zunehmenden internationalen Protesten und Ausschreitungen, wie der „Black-Lives-Matter“-Bewe gung, bewusster geworden.

52

Gesellschaft

Ich selber habe noch nie Diskrimi-

der Berufsschule Kontakt zu sei-

nierung aufgrund meiner Haut-

nen Mitschüler*innen aufnehmen

farbe oder Herkunft erlebt und es

sollte, weshalb er in der Regel al-

ist mir bewusst, dass ich nicht für

lein am Tisch saß. Er fühlte sich oft

People of Colour sprechen kann. Ich

separiert von den anderen – durch

möchte mit diesem Artikel betroffe-

Taten, Aussagen aber insbesondere

nen Menschen eine Stimme geben,

durch das Verhalten einiger Lehr-

weshalb ich mich mit Mamadou ge-

kräfte. Er bekam Aussagen zu hö-

troffen habe und seine Sichtweisen

ren wie: „Du bist doch der Dumme,

und Erfahrungen wiedergebe. Er ist

der nichts versteht“. Mamadou war

mittlerweile achtundzwanzig Jahre

zuvor nie in dieser Klasse gewesen.

alt kam mit vierzehn alleine über

Der Lehrer verwechselte ihn mit

Spanien nach Österreich – ohne Fa-

dem einzigen anderen dunkelhäu-

milie, Geld oder Perspektiven. Er

tigen Schüler, der die Berufsschule

war nicht darauf vorbereitet gewe-

besucht hatte.

sen, was alles auf ihn zukommen würde. Er erzählt mir, dass die erste

Stereotype, welche mit Rassismus

Zeit im Flüchtlingslager schwer war,

zusammenhängen,

er jedoch Unterstützung bekam. Er

das Handeln der Menschen und

fand Anschluss, nachdem er anfing,

sind sehr gefährlich. Durch ein-

mit anderen Kindern Basketball zu

zelne Negativbeispiele fühlen sich

spielen, und bekam schließlich die

diese Menschen dann oft in ihrer

Möglichkeit, einen Hauptschulab-

Meinung bestätigt, glauben weiter-

schluss zu absolvieren.

hin an die alten Vorurteile und ver-

beeinflussen

breiten sie weiter. Wir glauben alle Im Jahr 2013 fing er eine Lehre zum

an viele Stereotype, unterbewusst

Metall- und Maschinenbau-Techni-

oder bewusst. Wir haben es viel-

ker an – als einziger Dunkelhäuti-

leicht nicht anders gelernt und sind

ger in seiner Klasse. Deutsch sprach

nicht gut genug informiert. Doch

Mamadou zu dieser Zeit noch nicht

das lässt sich ändern!

gut. Deshalb besuchte er zwei Sprachkurse in Innsbruck, um seine

Ein Lehrer in der Berufsschule be-

Ausbildung erfolgreich zu absolvie-

handelte Mamadou von Anfang

ren und den Einbürgerungstest zu

an unfair. So gut Mamadou seine

bestehen. Die meisten Lehrer*in-

Aufgaben auch erfüllte, bekam er

nen waren sehr hilfreich. Einer

unabhängig davon immer wieder

nahm sich sogar morgens oft Zeit

schlechte Noten. Einmal setzten

und traf sich mit Mamadou noch

Mamadou und ein sehr guter Schü-

vor den Unterrichtsstunden, um mit

ler seines Kurses ihre Namen auf

ihm einige Themen zu wiederholen.

den jeweils anderen Test, um zu

Mamadou wusste nicht, wie er in

überprüfen, ob der Lehrer nur auf-

© pexels

grund von Mamadous Namen eine

chen Leben zurückziehen. Außen-

schlechtere Note gab. Ihr Verdacht

stehenden fällt das meist gar nicht

wurde bestätigt.

auf, denn verschiedene Menschen nehmen

Rassismus

sehr

unter-

Dieser Lehrer sah seine Pflicht da-

schiedlich und auf verschiedenen

rin, den Direktor davon zu unter-

Ebenen war. Manche Betroffenen

richten, dass Mamadou die anderen

werden sehr stark mitgenommen,

am Lernen hindere und nicht an

andere lassen nichts an sich her-

die Schule gehöre. Zu Mamadous

an. Mamadou sagt dazu: „Es ändert

Glück hielt der Direktor jedoch

nichts an meiner Persönlichkeit, ich

Rücksprache mit Mamadous Klas-

bleibe wer ich bin und lasse keinen

senkamerad*innen und verglich

Hass in mir entstehen“.

© pexels

seine Noten in den verschiedenen Kursen. Die anderen Schüler*in-

Kommunikation und der Austausch

nen setzten sich daraufhin für ihn

mit anderen Menschen können hel-

ein und bestätigten die rassistische

fen, mit Problemen und Gefühlen

Beurteilungspraxis

Lehrers.

umzugehen. Mamadou versucht,

Hätten sich seine Mitschüler*innen

die Worte oder Taten nicht an sich

nicht für ihn eingesetzt und hätte

heran zu lassen, sich nicht von ih-

der Direktor dem Lehrer Glauben

nen runterziehen zu lassen. Er

geschenkt, dann hätte Mamadou

versucht stattdessen, die Situation

seine Ausbildung vielleicht nicht

zu lösen oder ignoriert die betref-

beenden können. Er hätte Öster-

fenden Personen. Aggressiv zu re-

reich wieder verlassen müssen –

agieren, vermeidet er bewusst, um

nach allem, was er durchgemacht

die Täter keinesfalls in ihren Vor-

hatte und all seinen Anstrengun-

urteilen zu bestätigen. In der Rea-

gen, um einen Berufsabschluss zu

lität ändert es jedoch oftmals nichts

erlangen.

daran, wie Menschen wahrgenom-

des

© pexels

men werden, ob sie sich „richtig“ Auch mit jungen Leuten hat Ma-

oder „falsch“ verhalten. Möchte je-

madou bereits schlechte Erfah-

mand einen anderen Menschen in

rungen gemacht. Direkte rassisti-

schlechtem Licht sehen, findet er

sche Kommentare oder abfällige

auch Argumente, um seine vorge-

Äußerungen hinter vorgehaltener

fertigte Meinung zu bestätigen.

Hand, nachdem er eine Bar oder einen öffentlichen Ort betreten hat,

Systematischer Rassismus findet

sind keine Seltenheit. Für manche

nicht nur in den USA statt, auch

Betroffenen sind derartige Reak-

wenn besonders Fälle aus diesem

tionen und Angriffe durch ihre

Land, wie beispielsweise der Mord

Mitmenschen so verletzend, dass

an George Floyd, weltweit Schlag-

sie sich vermehrt aus dem öffentli-

zeilen machen. In den Vereinigten

Gesellschaft

53

Staaten leben viele People of Co-

Mithilfe des Internets können sich

Deutsch. Das bedeutet nicht, dass

lour, während der Rassismus dort

die Menschen heute immer besser

die Situation für diese Menschen

eine lange Geschichte hat und tief

organisieren, Berichte und Auf-

automatisch besser ist, sondern

in der Gesellschaft verwurzelt ist.

zeichnungen von rassistischen Ta-

nur, dass gegebenenfalls andere

Dementsprechend nehmen die Re-

ten teilen und Aufklärung über das

Möglichkeiten oder Kontakte beste-

aktionen auch innerhalb des Lan-

Ausmaß des Problems betreiben.

hen. Mamadou erklärt es mir so: Er

des an Aggressivität und Fassungs-

Opfer und Zeug*innen fungieren

kam hier an und kannte nieman-

losigkeit über die Situation und das

als Erzähler*innen und Täter*in-

den. Gleichzeitig kannte niemand

System zu.

nen werden durch massiven öf-

ihn oder seine Geschichte. Es gab

fentlichen Druck immer öfter zur

zwar Menschen, die anfangs für

Rassismus existiert auch, wenn wir

Rechenschaft gezogen. Ungerech-

ihn zuständig waren oder die als

ihn nicht direkt wahrnehmen – was

tigkeiten und brutale Behandlung

Ansprechpartner*innen fungieren

insbesondere oft bei „weißen“ Bür-

können durch das Internet etwas

sollten, auf sie war jedoch schlecht

ger*innen der Fall ist. Doch syste-

schwerer ignoriert werden. Die

Verlass.

matischer Rassismus zerstört Chan-

Menschen haben immer weniger

cen, Leben, Familien und muss

Angst, sich zu wehren, da sie sich

Nachdem Mamadou seine Ausbil-

aufgezeigt und bekämpft werden.

weniger allein fühlen. Es ist nicht

dung

Viele betroffene Menschen haben

mehr nur ihr persönlicher Kampf –

hatte, hatte er erhebliche Proble-

Angst, etwas zu sagen oder sich

es ist ein gemeinsamer Kampf von

me, einen Job zu finden. Er hatte

zu wehren, da mögliche negativen

vielen.

auch keine Familie, auf die er zu-

Konsequenzen drohen. Wer sich

erfolgreich

abgeschlossen

rückgreifen hätte können, falls er

gegen Vorgesetzte, die Polizei oder

Auch hier in Österreich hat nicht

nicht genug Geld gehabt hätte, um

das System im Allgemeinen wehrt,

jede*r die gleichen Möglichkeiten.

die Miete zu zahlen. Deshalb mel-

wird nicht selten Opfer über-stren-

Die

unter-

dete er sich bei der Jobvermittlung

ger rechtlicher Konsequenzen und

schiedlicher People of Colour sind

des AMS (Arbeitsmarktservice) an,

ungerechtfertigter

Ma-

nicht immer gleich. Manche haben

da er auch keine Kenntnisse über

madou sagt, diese Art von Unter-

vielleicht einen weißen Elternteil,

Bewerbungsprozesse oder das Er-

drückung und Machtausnutzung

sind hier aufgewachsen oder spre-

stellen eines Lebenslaufs hatte. Er

kenne er gut.

chen von Kindesalter an fließend

arbeitete eine Zeit lang beim Paket-

© pexels

Strafen.

Ausgangssituationen

54

Gesellschaft

dienst DHL, um seine Lebenskosten

Um die Miete und seine Lebens-

können hier in einem geschützten

zu decken, doch die Kommunikati-

haltungskosten zahlen zu können,

Rahmen geteilt werden und es wird

on mit der Agentur stellte sich als

arbeitete Mamadou nach seiner

versucht,

schwierig heraus und Mamadou

Kündigung in saisonalen Jobs – als

ansätze zu finden. Die Gruppe

hatte das Gefühl, sich mit seinen

Touristenführer in Hintertux, Kü-

nimmt an Events und Demos teil,

Problemen an niemanden wenden

chenhilfe in Mayrhofen, bei Vapi-

klärt auf und schreitet in schwie-

zu können.

ano und als Liftmitarbeiter an der

rigen Situationen ein. Innerhalb

gemeinsame

Lösungs-

Nordkettenbahn und den Elferbah-

der Gruppe werden Informationen

Glücklicherweise hatte er noch Kon-

nen im Stubaital. Zwischenzeitlich

ausgetauscht, es gibt eigene Kul-

takt zu einigen seiner Kolleg*innen

versuchte er immer wieder, in sei-

turangebote, viele Inklusionshilfen

aus der Lehrzeit und kam so end-

nen erlernten Beruf zurückzukeh-

und natürlich auch immer ein offe-

lich an einen Job in seinem Berufs-

ren und konnte auch kurzzeitig bei

nes Ohr für jede*n Interessierte*n.

feld. Er konnte eine Arbeit in einer

einem Unternehmen in Salzburg

Denn für ein verbessertes Mitein-

Holzverarbeitungsfirma beginnen.

arbeiten.

ander ist es wichtig, dass auch von

Eineinhalb

Jahre

später

wurde

Benachteiligung nicht betroffene

Mamadou jedoch gekündigt, da er

Ich habe Mamadou gefragt, was

Personen dahingehend sensibili-

aufgrund seiner Rückenprobleme

er Menschen raten würde, die neu

siert werden und sich ein Bild von

durch die schwere körperliche Ar-

nach Innsbruck kommen oder in ei-

der Situation machen können. Die

beit zu oft krankgeschrieben war.

ner ähnlichen Situation sind wie er.

Gruppe ist auf Instagram (Black

Während seiner Zeit in der Firma

Er meint, es hänge immer davon ab,

Community Innsbruck) und Face-

hatte er mehrmals gefragt, ob er in

inwieweit jemand vorbereitet sei,

book ((D)ort) zu finden.

einen anderen Bereich wechseln

hierher zu kommen; ob er*sie eine

könne, da er die Arbeit nicht ohne

Arbeits-

Aufenthaltsgeneh-

Laut Mamadou ist das Vorhanden-

Schmerzen ausführen konnte. Sein

migung hat und eventuell bereits

sein solcher Gruppen äußerst wich-

damaliger Chef verweigerte dies je-

Menschen in Innsbruck kennt. Ma-

tig und sollte in jeder Stadt der Fall

doch und gab an, dass es keine an-

madou sagt, er habe Glück gehabt,

sein. Die Gruppen müssen an Ein-

dere Aufgabe für ihn in der Firma

dass er durch den Boulder-Sport

fluss gewinnen, in der Gesellschaft

gäbe.

viele Freunde gefunden hat und

anerkannter werden und ein Netz-

mittlerweile Teil einer Gruppe ist,

werk bieten. Es braucht Menschen,

Während dieser Zeit fing Mamadou

in der er um Hilfe bitten kann,

die andere verstehen und für sie

an, zu bouldern. Das half ihm, mit

wenn er sie braucht.

einstehen, wenn sie allein nichts

und

dem Stress auf der Arbeit und den

erreichen können. So eine Gruppe

Schmerzen umzugehen. Er kriti-

Mamadou ist außerdem Mitglied

hätte beispielsweise zu Mamadous

siert, dass Menschen aufgrund ih-

der „Black Community Innsbruck“

Arbeitsplatz gehen und nachfragen

res Aussehens, ihrer Herkunft, ih-

– einer Gruppe von engagierten

können, weshalb ein Jobwechsel

rer Hautfarbe oder ihres Namens

Menschen, die im Sommer 2020 aus

nicht möglich sei. So hätte die Si-

benachteiligt werden. Beförderun-

der

Black-Lives-Matter-Bewegung

tuation womöglich geändert wer-

gen, Gehaltserhöhungen oder ange-

heraus entstand. Die Black Commu-

den können. Mamadou wäre nicht

nehmere berufliche Beschäftigun-

nity Innsbruck hat zum Ziel, Diskri-

krank geworden und hätte viel-

gen bekommen in der Realität oft

minierung öffentlich sichtbarer zu

leicht nie seinen Job verloren.

andere, egal ob diese qualifizierter

machen und gegen sie anzukämp-

dafür sind oder nicht.

fen. Erfahrungen mit Rassismus Gesellschaft

55

Dafür braucht es mehr Gruppen

positiv zu verändern. Unsere Gesell-

engagierter Menschen – egal ob

schaft braucht mehr Verständnis,

schwarz oder weiß –, die Situati-

mehr Denken vor dem Sprechen

onen für Menschen ohne gleich-

und mehr Unvoreingenommenheit.

wertige Optionen besser machen

Es ist wichtig, dass wir unsere indi-

können und wirklich helfen. Wir

viduellen Privilegien erkennen und

als Gesellschaft müssen begreifen,

sie nicht ausnutzen -- insbesondere

dass die Hautfarbe oder die Her-

nicht auf Kosten anderer.

kunft eines Menschen nichts über dessen Persönlichkeit aussagt! So-

Wie schon die US-amerikanische

wohl „gute“ als auch „schlechte“

Bürgerrechtlerin Angela Davis in

Menschen gibt es in jeder äußerli-

den 70ern betont hat: Es ist in einer

chen Erscheinungsform, in jeder

rassistischen Gesellschaft nicht ge-

Glaubensrichtung und in jedem

nug, nicht rassistisch zu sein. Wir

Land. Von außen kann niemand be-

müssen anti-rassistisch sein, um

urteilen, was für ein Mensch einem

die bestehenden Strukturen aufzu-

gegenübersteht – besonders nicht

brechen.

allein anhand der Hautfarbe.

Wie und ob sich die aktuelle Situation in Zukunft ändern wird, weiß Mamadou nicht genau. Dafür sei das Thema zu komplex und zu individuell, sagt er. Außerdem ist unklar, ob die Menschen wirklich dazu bereit sind, ihre persönlichen Ziele nicht mehr auf Kosten anderer zu verfolgen, sondern jedem Mitglied der Gesellschaft den gleichen Respekt zu zollen. Mamadou ist jedoch davon überzeugt, dass jeder Mensch die Verantwortung für das eigene Handeln trägt, sich verändern kann und entscheiden kann, wie er*sie sich verhält.

Nächstenliebe, Offenheit und Hilfsbereitschaft sind Werte, die zukünftig wieder mehr Bedeutung erlangen müssen, um die Situation innerhalb des Systems nachhaltig

56

Gesellschaft

Gesellschaft

57

© pexels

© pexels

Freundschaftsfragmente Dialogische Ansätze zur Reflexion (oder der Super-Hippie-Kitsch-time-to-love-Artikel) geschrieben von Helena Hantelmann und Eva Mattle

Vor einiger Zeit saß ich mit Freundinnen bei Kaltgetränken und Pide beisammen. Es war sonnig, um uns herum die Geräusche eines Stadtzentrums: laute Stimmen, Absatzgeklacker, Presslufthammer, Motorenlärm, Kirchenglocken. In einem Quatschgespräch ordneten wir uns gegenseitig in stereotypische Kategorien und Schubladen ein. Laute Beschwerden kamen auf, wenn eine mit dem ihr Zugeschriebenen unzufrieden war. Mich selbst beschreibend sagte ich: „Zuallererst bin ich Freundin“, und verfehlte damit die ursprüngliche Leichtigkeit dieser sinnfreien Thematik. Ich hatte dies aus einem Impuls heraus gesagt, dessen Tiefe ich erst im Nachhinein verstand.

58

Gesellschaft

Freundschaft ist etwas Grundlegendes. In diesem Aspekt überschneidet sich die Mehrzahl wissenschaftstheoretischer Meinungen diverser Philosophen, Soziologen etc. über alle Zeitalter hinweg. Bereits Aristoteles war der Auffassung, die Freundschaft sei der Grundbaustein für eine funktionierende Gesellschaft. Das trifft nach „Freundschaft bezeichnet ein auf gegenseitiger Zunei-

wie vor zu – ich erlaube mir hier ein albernes Wortspiel:

gung beruhendes Verhältnis von Menschen zueinander,

„Freundschafft“.

das sich durch Sympathie und Vertrauen auszeichnet.

Gehen wir von hier aus weiter, wird es jedoch zuneh-

Eine in einer freundschaftlichen Beziehung stehende

mend komplizierter, da die Meinungen anfangen,

Person heißt Freund oder Freundin. Freundschaften

auseinanderzugehen. Welche Voraussetzungen hat

haben eine herausragende Bedeutung für Menschen

Freundschaft? Wie müssen die Mitglieder eines freund-

und Gesellschaften. […] Das Gegenteil von Freundschaft

schaftlichen Verhältnisses zueinanderstehen, um eine

ist Feindschaft.“ (Wikipedia. Die freie Enzyklopädie.)

Freundschaft eingehen zu können? Die Allgemeinheit ist sich nicht einig, ob sich Personen auf gleichgestellter

Was bedeutet es also, Freundin zu sein? Beschränkt sich

Ebene begegnen müssen, damit eine freundschaftliche

der Zustand der Freundschaft auf Kaltgetränke und

Beziehung zustande kommen kann, oder ob eine sol-

Pide und Schubladen? Geht Freundschaft nicht irgend-

che Beziehung einen Raum schafft, in dem zwei (oder

wie weiter als der herrlich unkomplizierte Moment, in

mehrere) Personen einander auf Augenhöhe begegnen

dem wir uns befinden? Aus dem Gefühl heraus wäre die

können und so ihre Freundschaft funktionsfähig wird.

klare Antwort: ja. Denn Freundschaft ist nicht nur Beisammensein, sondern auch getrennt sein und trotzdem

Vielleicht fühle ich mich heute im Stadtzentrum nicht

zu wissen, dass jemand da ist. Freundschaft ist mehr

siegreich, weil das Verhältnis nicht passt, weil wir nicht

als ein Band zwischen Menschen, Freundschaft ist ein

stimmig sind, weil wir nicht auf Augenhöhe sind. Statt-

Geschenk. Wenn man eine Freundin hat, hat man ge-

dessen andere Meinungen vertreten, andere Werte ha-

wonnen. Warum sitze ich also trotzdem hier, mit Freun-

ben, uns in falsche Schubladen ordnen und vor allem,

dinnen im Stadtzentrum und ordne uns Stereotype zu

weil wir nicht einmal wissen, was es denn überhaupt

und fühle mich nicht wie eine Siegerin, sondern viel be-

bedeutet, Freund*in zu sein.

drückter als es der sonnige Tag erlauben würde?

© Privat

Freundschaft bietet einen sicheren Raum der Reflexion für einen selbst. Dieser geht aus gegenseitiger Akzeptanz voneinander und durch verschiedene Differenzen zwischen einander hervor. Durch Liebe, die keine Forderungen stellt, lässt sich auch lernen, geduldig, anerkennend und liebevoll zu sich selbst zu sein.

Noch vertrackter wird es, wenn von Freundschaft zwischen Ländern oder ähnlichen Institutionssystemen die Rede ist. Hier begegnen sich keine Personen, sondern höchst komplexe Konstrukte mit ebenso komplexen wie unterschiedlichen Hintergründen und Prägungen.

Gesellschaft

59

Es sei mir hier die Behauptung erlaubt, dass ein sol-

In der Literatur ist der Begriff der Freundschaft vor-

ches Verhältnis wenig mit tatsächlicher Zuneigung und

wiegend männlich geprägt. Diverse Philosophen und

dem daraus hervorgehenden Wohlwollen zu tun hat,

andere Wissenschaftler, darunter zum Beispiel Michel

sondern dem Anschein nach einem infantilen Benen-

de Montaigne, waren der Meinung, Frauen seien zu so

nungswillen unterworfen ist. Aber trotzdem – oh ganz

etwas Starkem wie der Freundschaft nicht in der Lage.

hoffentlich – irgendwie mit Frieden.

Hier macht sich das Schema des abendländischen Den-

Bei all dieser Unklarheit ist Freundschaft, wie die Lie-

kens bemerkbar, dessen Gegensatzpaare auch Mann/

be auch, doch allgegenwärtig. Vielleicht trifft das kit-

Frau beinhaltet und diese aus scheinbar logischen

schige Beispiel der Blume oder des Grashalms, die aus

Schlussfolgerungen mit gegensätzlichen Eigenschaften

einem Betonspalt wachsen, es hier ganz gut. Freund-

versehen sind.

schaft scheint sich in allen, noch so engen Verhältnis-

Bedeutende Werke der sogenannten Weltliteratur, an-

sen einnisten zu können. Der Halm der Hoffnung also.

gefangen bei Homer, weisen mehrheitlich starke und

Eine Handlungsbasis, die ganz am Anfang kommt, die

einflussreiche

so selbstverständlich ist, dass sie droht, vergessen zu

So waren Verbündete im Krieg meist auch Freunde:

werden und für die ich hiermit plädiere, aktiv und be-

Kampfgenossen, oft sogar Verwandte. Und auch wenn

wusst einzutreten. Denn leben wir aus ihr heraus, kann

die freundschaftlichen Beziehungen der Antike nicht

im Grunde nur Gutes folgen, kann nur tatsächliche Ver-

mit gegenwärtigen gleichzusetzen sind, können die

nunft, kann nur Erwachen folgen.

beschriebenen Verbindungen zwischen Männern, im

männliche

Freundschaftsbilder

auf.

© Privat

geschichtlichen Kontext betrachtet, als Freundschaft interpretiert werden. Interessant ist, dass die Freundschaft dabei über einen weiblichen Artikel verfügt.

Nicht nur im Deutschen, sondern auch in anderen europäischen Sprachen (siehe zum Beispiel spanisch: „la

© Privat

amistad“), ist dies der Fall.

Also nein, vielleicht ist es doch so, dass keine Definition notwendig ist, dass wir einfach genießen können wie die Situation ist, dass das Bedürfnis nacheinander ausreicht - weil wir ausreichen. So erzählen wir uns weiter Geschichten und philosophieren über Gott, die Welt und am meisten über uns selbst. So hinterfragen wir unsere eigene Position als Freund*in, so haben wir andere Meinungen, andere Zuschreibungen und bereichern uns doch.

60

Gesellschaft

In der Gegenwart hat sich das Verhältnis von Ge-

Dennoch - egal welchem Geschlecht wir uns zuordnen,

schlechterrollen zu Freundschaft verscho- ben und so

brauchen wir Freund*innen, Bros, Kolleg*innen, Sis-

werden Eigenschaften, die durch kulturelle Zuschrei-

ters. Und das hoffentlich nicht nur, um uns in Schub-

bungen weiblich konnotiert sind, zentraler in Freund© Privat

schaften. Ein liebevoller Umgang, verständnisvolles Zuhören, achtsame Ratschläge, Mitleid, kurz gesagt: Fürsorgearbeit in Freundschaften scheint gegenwärtig immer mehr in den Fokus zu treten. Sie spiegelt sich auch in dem Bild, das ich von Freundschaft habe, wider. Und wie wir wissen, ist genau diese Fürsorgearbeit Frauenarbeit. Oder? In Anbetracht der Tätigkeiten, die Frauen in Familien innerhalb meines Bekanntenkreises ausführen, könnte ich das tatsächlich annehmen. Den Mädchen in diesen Familien werden genau die Wichtigkeit ebendieser Attribute vermittelt. Nicht nur im Zuge der elterlichen Erziehung oder dem sozialen Umfeld,

laden zu ordnen, sondern um uns im Leben zu ordnen.

sondern in allen Medien, die konsumiert werden - in Fil-

Und jetzt gerade, als die Sonne mich blendet und meine

men, Büchern, Spielen, ja sogar in Kleidung - oder hast

Freundin, deren Freundin auch ich bin, ein paar Zen-

du schon einmal ein T-Shirt in der, für Jungen sortierten

timeter zur Seite rutscht, um mir durch ihren Körper

Kinderabteilung gesehen auf dem etwas steht wie „be

Schatten zu spenden, bin ich dankbar für die Freund-

nice“? Also ich nicht.

schaft, die wir haben. Die freiwillig ist und auf nichts anderem beruht als auf der gegenseitigen Liebe zuein-

Im Vergleich zu den Veränderungen, die Freundschaf-

ander. Die nichts mit einer Liebe in einer Liebesbezie-

ten zwischen Frauen in den letzten 2000 Jahren durch-

hung gemeinsam hat, sondern eine platonische Liebe

gemacht haben - vom nicht-sichtbar sein, bis hin zur

ist, ohne Kribbeln, ohne Erröten, ohne Sex. Nichts Ge-

beinahe ausschließlichen Identifizierung als Freundin,

schlechtliches hält uns zusammen, nichts Körperliches,

unterliegt die Freundschaft zwischen Männern schein-

sondern etwas Anderes, etwas viel Tieferes. Etwas, das

barer Stagnation. Im Hinblick auf Freundschaften zwi-

mich motiviert, mich inspiriert, mich begeistert und mir

schen Männern - wieder in meinem Umfeld, vielleicht

Hoffnung schenkt. Und ich schaffe es nicht, dafür ein

liegt die engstirnige Betrachtung auch daran - findet

anderes Wort zu finden als Liebe.

man Merkmale der alten Schule: Zentral sind andere, dem „Männlichen“ zugeschriebenen Merkmale, wie

Freundschaft ist, über einen großen See zu schauen,

die von Gefühlskälte, „Toughness“, Distanz. Durch die

und sich einer vertrauten Person auf der anderen Seite

Verknüpfung von Freundschaft mit weiblichen Attribu-

gewiss zu sein. In Gedanken bei jener zu sein und ihr

ten wird, so scheint es mir, den Männern die Fähigkeit

gegenüber Zuversicht zu verspüren. Sich Tage später

zur Freundschaft abgesprochen. DER Mann hat einen

darüber auszutauschen, den gleichen Zeppelin gesehen

Kumpel, einen Bro, einen Kollegen - aber hat er einen

zu haben. Solch eine legere Romantik erfreut. Erfreut

Freund? Oder, vielleicht noch gewagter: eine (platoni-

nicht nur die Freundschaft, sondern auch die Seele ei-

sche) Freundin?

nes jeden Menschen.

Gesellschaft

61

Bildung nicht nur für Annas und Pauls Soziale Ungleichheit im österreichischen Bildungssystem

zent. Und auch nach der Matura,

Bevölkerung

nach welcher in einer idealen Welt

2018 im OECD-Schnitt 17 Prozent

alle Jugendlichen auf dem gleichen

der Jugendlichen mit Migrations-

Bildungs- und Chancenlevel sein

hintergrund im besten Viertel der

sollten, endet die soziale Ungleich-

PISA-Studie landeten, waren es in

heit nicht. Nur 22 Prozent der „Ar-

Österreich nur elf Prozent. In Me-

beiterkinder“ mit Matura beginnen

lisa Erkurts Buch „Generation Ha-

ein Bachelorstudium, bei „Akade-

ram“ werden einige Gründe für

mikerkindern“ sind es 67 Prozent.

diese Situation diskutiert.

Nach dem Bachelorabschluss be-

Erkurt, selbst in Sarajevo geboren

ginnen magere sieben Prozent der

und als Kleinkind mit ihrer Mut-

Menschen aus nichtakademischen

ter vor dem Bosnienkrieg nach Ös-

Elternhäusern

Masterstudi-

terreich geflohen, studierte unter

um, verglichen mit 25 Prozent der

anderem Deutsch auf Lehramt. Sie

geschrieben von Jonas Heitzer

Jungakademiker*innen. Was sind

beschreibt, wie sie das Lehramts-

die Gründe für diese Form der Un-

studium nicht darauf vorbereitet

Soziale Ungleichheit ist eines jener zeitlosen Themen, für deren Relevanz man sich ein baldiges Ablaufdatum wünschen würde.

In Österreichs Bildungssystem wird sie wohl noch länger ein Problem bleiben, wenn sich Entscheidungsträger*innen weiterhin vorrangig mit Symbolpolitik wie Kopftuch- und Kreuzverboten beschäftigen, anstatt Reformen durchzuführen und echte Probleme anzugehen. Solange dieser Zustand andauert, muss auf diese Probleme immer wieder hingewiesen werden.

gleichheit und wie lässt sich soziale

habe, Kinder mit Migrationshin-

Mobilität durch Bildung fördern?

tergrund zu fördern, sondern nur

Eine Studie aus dem Jahr 2008

darauf, „Annas und Pauls“ zu un-

macht die Vielzahl verschiedener

terrichten. Die in Österreich übli-

Schulformen in Österreich als ei-

che Halbtagsschule setze außerdem

nen Hauptgrund für die Vererbung

die aktive Mitarbeit der Eltern am

von Bildung aus. Hinweise auf die-

Schulerfolg ihrer Kinder voraus,

sen Zusammenhang liefert auch

so Erkurt – Mitarbeit, welche viele

eine auf Deutschland bezogene Stu-

Eltern aus unterschiedlichen Grün-

die aus 2007. Die gemeinsame Schu-

den nicht leisten können oder wol-

le aller Kinder und Jugendlichen bis

len, zum Nachteil ihrer Kinder. Ein

zum Ende der Schulpflicht wird als

einziges verpflichtendes Kindergar-

ein möglicher Lösungsansatz be-

tenjahr gibt es in Österreich, was

schrieben. In der neunten Schulstu-

nach Erkurt dazu führt, dass die

fe sollen Schüler*innen dann bei

Verantwortung für den Erwerb der

der Entscheidung über ihren weite-

deutschen Sprache nur zu oft an

ren (Aus-)Bildungsweg individuell

die Volksschulen weitergeschoben

Ein großes Problem des österreichi-

beraten werden, um die Zahl der

wird.

schen Bildungssystems ist die viel-

Schulabbrüche zu senken.

Auch

zitierte „Vererbung“ von Bildung.

Neben der Eigenschaft, der Ver-

le lähmen die Entwicklung vieler

Laut Statistik Austria absolvieren

erbung von Bildung kaum entge-

Kinder mit Migrationshintergrund

nur 37 Prozent der Kinder von El-

genzuwirken,

das

von Beginn an. Esin* hat türki-

tern ohne akademischen Abschluss

österreichische Bildungssystem au-

schen Migrationshintergrund, ihre

Matura – bei den Kindern, wo min-

ßerdem Migrant*innen und Men-

Familie ist seit zwei Generationen

destens ein Elternteil Hochschulbil-

schen mit Migrationshintergrund

in Tirol. Sie erzählt im Zeitlos-In-

dung erhalten hat, sind es 81 Pro-

– eine Gruppe, die 22 Prozent der

terview, dass sie schon in der Volks-

62

Campus

ein

benachteiligt

umfasst.

antimigrantische

Während

Vorurtei-

schule aufgrund ihrer Herkunft

sollte das gehen? Unterstützung

Neben der angesprochenen Verer-

diskriminiert wurde. Aussprache-

durch die Lehrperson: Fehlanzeige.

bung von Bildung und dem immer

fehler wurden von Mitschüler*in-

noch teilweise schockierenden Um-

nen mit Gelächter bestraft. Anstatt

Solche

am

gang mit Menschen mit Migrations-

sie zu unterstützen oder zu moti-

Selbstvertrauen junger Menschen

Erfahrungen

nagen

hintergrund im Einwanderungs-

vieren, kritisierten Lehrpersonen

mit Migrationshintergrund. Viele

land Österreich gibt es leider noch

ihre Schularbeiten mit Sprüchen

Kinder, denen schon in der Volks-

viele weitere Beispiele für soziale

wie „Eh klar, wenn man daheim

schule permanent eingeredet wird,

Ungleichheit im Bildungssystem.

nur Türkisch redet“. Bei der monat-

dass sie es aufgrund ihrer Herkunft

Bleibt zu hoffen, dass die österrei-

lichen Jausenbestellung um 20 Euro

„zu nichts bringen“ werden, ver-

chische Bildungspolitik ihren Fokus

fragte die Klassenvorständin Esin,

innerlichen diese Denkweise und

schleunigst

ob ihre Familie denn überhaupt so

die Prophezeiung erfüllt sich von

(Kopftücher in Kindergärten!) zu

viel Geld habe. In der Hauptschule

selbst. Lehrpersonen müssen in

den wahren Problemen verschiebt

kamen weitere Diskriminierungs-

Situationen, in denen Kinder auf-

und Lösungen ausarbeitet. Ideen

erfahrungen dazu: Als Esin etwa

grund ihrer Herkunft diskriminiert

gäbe es genug.

ein Referat über ihren damaligen

werden, unterstützend eingreifen,

Traumberuf Rechtsanwältin hielt,

anstatt selbst Teil des Problems zu

wurde sie von ihren Mitschüler*in-

werden. Die Strategien dazu müss-

nen ausgelacht. Eine Türkin in Ös-

ten in Lehramtsstudien stärker Be-

terreich als Rechtsanwältin, wie

rücksichtigung finden.

von

Scheindebatten

*Name von der Redaktion geändert.

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Welt

63

UNNÖTIGE QUAL: TIERVERSUCHE geschrieben von Hannah Winkler

© Hannah Winkler

Sind Tierversuche immer noch Realität? Traurigerweise schon! Immer noch werden die Auswirkungen von neuen Inhaltsstoffen an Tieren erforscht. Immer noch werden jährlich Millionen Tiere gequält und getötet, angeblich zum Wohl des Menschen. Mittlerweile gäbe es jedoch schon viele Methoden, die tierversuchsfrei sind. Warum werden Tierversuche also immer noch durchgeführt?

Sind Tierversuche nicht

unter anderem die Gefährlichkeit

tische Produkte (wie Wandfarbe,

eigentlich verboten?

von Test-Chemikalien an künstli-

Reinigungsmittel, etc.) Anwendung

chen menschlichen Hautschichten

finden, darf ja getestet werden.

Zwar wurden Tierversuche für

getestet werden. Laut dem Deut-

Auf das Testen an Tieren wird

neue kosmetische Inhaltsstoffe seit

schen Tierschutzbund, können die

auch dann zurückgegriffen, wenn

März 2009 in der EU abgeschafft,

besonders qualvollen Versuche an

eine eventuelle Gefahr für Kon-

ein Ende bedeutet dies aber noch

Tieren also ersetzt werden und wä-

sument*innen oder die Umwelt

lange nicht. Denn laut der Europä-

ren somit nicht mehr nötig. Die Er-

besteht. Dabei kann aber jedes Un-

ischen Kosmetikverordnung muss

gebnisse aus dem Labor sind sogar

ternehmen frei entscheiden, ob es

zwar der Nachweis für die sichere

zuverlässiger. Denn die Ergebnisse

Inhaltsstoffe verwenden will, die

Verwendung bei Kosmetik in der

aus Tierversuchen lassen sich nur

Tierversuche voraussetzen.

EU nun ohne Tiere auskommen, an-

schwer auf den Menschen übertra-

Und obwohl Tierversuche teurer

derweitige Tierversuche werden je-

gen und bringen oftmals gar nicht

sind als tierfreie Sicherheitstests,

doch nicht beachtet und sind somit

die erhofften Erkenntnisse. Tier-

gibt es auch aus wirtschaftlicher

auch nicht verboten. Einfach gesagt

versuche werden also nicht durch-

Perspektive einen scheinbar guten

bedeutet dies: Kosmetik darf in

geführt, weil sie besser sind. Den

Grund sie einzusetzen. Wer Pro-

der EU nur dann verkauft werden,

Grund dafür sieht der Deutsche

dukte nach China exportieren will,

wenn für die erforderten Sicher-

Tierschutzbund eher in der langen

muss sie nämlich zwangsläufig an

heitstests keine Tierversuche benö-

Tradition. Somit sind Tierversuche

Tieren testen lassen. Das schrei-

tigt werden. Durchgeführt werden

leider noch immer ein aktuelles

ben die Gesetze des Landes vor.

dürfen sie aber dennoch.

und scheinbar zeitloses Thema.

Auch wenn dies ein hoher Kostenaufwand ist, zahlt sich dieser für

Unnötige Qual!

Warum trotzdem Tierversuche?

Kosmetikfirmen auf Dauer aus. Der riesige chinesische Markt für Kos-

Mittlerweile gibt es aber schon

Tierversuche sind trotzdem, gera-

metik und die damit verbundene

zahlreiche Alternativen zu Tier-

de in der EU, immer noch Standard

Gewinnspanne sind deutlich grö-

versuchen.

Zellkulturen

für die Sicherheitsprüfung vieler

ßer als der (finanzielle) Verlust, der

beispielsweise ist es möglich, na-

Inhaltsstoffe außerhalb der Kos-

durch die Tierversuche entsteht.

hezu jede Art von Körpergewebe

metikbranche. Soll der Inhaltsstoff

im Labor zu züchten. Damit kann

zusätzlich auch für nicht-kosme-

64

Global

Durch

Augen auf!

Das

bedeutet

Was können wir selber tun? für

uns

Tierversuchsfreie Kosmetik-Unternehmen,

Konsu-

Immer häufiger gibt es Petitionen

ment*innen also weiterhin Augen

und Aktionen gegen Tierversuche.

die du leicht in deiner Nähe

auf, wenn wir Drogerie-Artikel ein-

Auch durch Spendenaktionen, zum

findest:

kaufen. Denn wer will, kann seine/

Beispiel durch jene des Deutschen

ihre Kosmetikprodukte auch ohne

Tierschutzbundes, kann der Kampf

Tierversuche entwickeln und ver-

gegen

kaufen. Dies beweisen unter ande-

•

Essence

werden. Grundsätzlich gilt aber: Je-

•

Catrice

rem bekannte Marken wie Catrice,

der Kassenbon ist ein Stimmzettel!

•

BH Cosmetics

essence, L.O.V und viele mehr. Sie

Den größten Unterschied können

entscheiden sich für Inhaltsstoffe,

wir bewirken, wenn wir nur noch

•

Dove

für die keine Tierversuche vorge-

tierversuchsfreie

•

e.l.f. Cosmetics

schrieben sind und verlangen dies

stützen. Auf der Website von PETA

•

GOSH

auch von den Zuliefer*innen.

Deutschland gibt es eine Liste von

•

Too Faced Cosmetics

•

wet n wild

•

L.O.V

Wer

sichergehen

möchte,

Tierversuche

unterstützt

Firmen

unter-

dass

Unternehmen, die garantieren kei-

die gekauften Produkte tatsäch-

ne Tierversuche durchzuführen.

lich ohne Tierversuche entwickelt

Zusätzlich sind mittlerweile viele

wurden, kann sich über bestimmte

Informationen über Unternehmen

kennzeichnende Siegel und die da-

und Produkte ganz leicht im Inter-

mit verbundenen Vergabekriterien

net zu finden. Das wichtigste Motto

informieren. Anschließend kann

lautet also: Augen auf beim Einkau-

Vorsicht vor der Bezeichnung

jeder selbst entscheiden, welches

fen!

oder dem Siegel Vegan. Dieses

Siegel den eigenen Ansprüchen

bezieht sich ausschließlich da-

bezüglich des Tierschutzes gerecht

rauf, ob das Produktes frei von

wird. Eine Orientierungshilfe bietet das PETA-Logo. Die Vorgaben, die

tierischen Inhaltsstoffen ist. Es

erfüllt werden müssen, um das Sie-

sagt nichts darüber aus ob in

gel verliehen zu bekommen, gehen

der Herstellung Tierversuche

sogar über die gesetzlichen Vorga-

angewandt wurden!

ben hinaus.

©Peta ©Cruelty-Free International

©Choose Cruelty-Free

Global

65

© Pexels

Die Zukunft unserer Meere erklärt anhand der Problematik:

Plastikverschmutzung geschrieben von Patrizia Pierdomenico

Laut dem World Wide Fund For Nature (WWF) schwimmen derzeit 86 Millionen Tonnen Plastikmüll in unseren Ozeanen.

Das bedeutet, dass jede Minute ein gesamter Müllwagen Plastikmüll direkt in den Ozean gelangt.

66

Global

Wie wir alle wissen, kann Plastik

ein ewiger Kreislauf und Plastik-

nicht oder nur sehr langsam bio-

müll stellt nicht nur eine Gefahr für

logisch abgebaut werden und hat

Tiere, sondern auch für unsere Um-

zudem zahlreiche Gesundheitsfol-

welt dar, denn das Plastik gelangt

gen für Meerestiere und Menschen.

ans Land und verschmutzt damit

Diese Plastikteile werden erfah-

gesamte Strände und Küsten.

rungsgemäß von Möwen, Walen aber auch von Meeresschildkröten

Ein weiteres Problem: Das Mikro-

verschluckt und lagern sich in de-

plastik, welches durch den Zerfall

ren Mägen ab. Oder sie bleiben im

von Kunststoffprodukten entsteht.

Hals stecken und können dadurch

Kleine Kunststoffpartikel, die durch

den Verdauungstrakt verstopfen.

unseren Gebrauch von Kosmetika,

Zudem gibt es die Gefahr, dass sich

Cremen und so weiter entstehen,

Jungtiere im Plastik verheddern

gelangen nämlich über das Abwas-

und dies führt wiederum zu Defor-

ser in unsere Meere. Dieses Mikro-

mationen und Hautschäden. Es ist

plastik wird dann von den Meeren

aufgenommen. Des Weiteren wird

Kalifornien und Hawaii befindet.

auch Abfall durch Fischerboote

Ein weiterer Müllstrudel, der eben-

verursacht, da die Fischer*innen

falls aus 99 % Plastik besteht, liegt

Was können wir tun, um unseren Nachfahren eine bessere Welt zu hinterlassen?

ihre Netze ins Meer schmeißen

im Pazifik, zwei weitere im Atlantik

Ein junger Niederländer namens

und diese nachher verlieren oder

und es gibt einen weiteren im In-

Boyan Slat, hat ein besonderes Pro-

vergessen. Darin verheddern sich

dischen Ozean. Die genaue Größe

jekt ins Leben gerufen, welches zum

Meerestiere, was schwerwiegende

ist allerdings nicht messbar, da der

Ziel hat, die Meere zu reinigen. Es

Folgen für sie bedeutet.

Großteil der Plastikteile sich nicht

heißt „The Ocean Cleanup Project“

Nun wo die allgemeinen Gründe

oberhalb, sondern unterhalb des

und ist eine Art großer Müllstaub-

für die Meeresverschmutzung ge-

Wassers befindet.

sauger der aus u-förmigen Schläu-

nannt und deren Auswirkungen

chen besteht. In diesen Schläuchen

Wie kommt es zu diesen Müllstrudeln?

soll sich der Großteil des Plastik-

jetzt auf ein weiteres, oft vergessenes Phänomen eingehen, welches

Die Entstehung dieser Plastikins-

aber erfolgreich sein wird oder

in den letzten Jahren in unseren

eln hängt mit der Meeresströmung

nicht, wird sich erst durch weitere

Weltmeeren immer stärker zum

zusammen. Dort wo verschiedene

Anläufe ergeben oder in der Zu-

Problem geworden ist, nämlich die

Strömungen aus dem Norden und

kunft zeigen.

Plastikinseln.

Süden aufeinandertreffen, entste-

aufgezeigt wurden, werden wir

mülls ansammeln. Ob das Projekt

hen riesige Oberflächen an Plastik.

Jede*r von uns kann einen Beitrag

Wir alle wissen, dass es Unmengen

Gerät das Plastik dabei in einen

leisten: dafür braucht es keine son-

an Plastik im Meer gibt. Die Situati-

Strudel, verfängt es sich darin. Die

derlich neuen oder innovative Ide-

on hat sich vor allem in den letzten

Ansammlung der Plastikteile inner-

en, ganz nach dem Motto „im Klei-

Jahrzehnten dramatisch verändert,

halb dieses Strudels wird dann im-

nen beginnen”. Es ist wirklich nicht

sodass wir abermals bei unseren

mer größer und deshalb entstehen

mit großem Aufwand verbunden,

Strandspaziergängen an den Küs-

Plastikinseln. Der Großteil der Plas-

alte Gewohnheiten abzulegen und

ten oder auch beim Schwimmen im

tikansammlungen in den Ozeanen

umweltfreundliche

Meer auf Plastikflaschen, Plastikta-

besteht aus großen Plastikteilen

für den eigenen Haushalt zu finden.

schen und weitere Kunststoffverpa-

und nur acht Prozent besteht aus

Wenn jede*r Einzelne*r sich zum

ckungen treffen. Die Meisten wissen

Mikroplastik.

Thema Gedanken machen würde

aber nicht, dass es diese Plastikins-

Alternativen

und bereits in der eigenen WG da-

eln gibt, welche auch „Müllstrudel“

Ist es bereits zu spät?

rauf achten würde, den Plastikkon-

genannt werden. Insgesamt haben

Nein. Es besteht noch die Chance

sum zu reduzieren, dann wäre dies

wir weltweit fünf davon. Im Nord-

unsere Meere zu sauberen Lebens-

bereits ein großer Schritt in Rich-

pazifik entstand eine solche Plas-

räumen zurückzuführen. Beispiels-

tung effektiver Umweltschutz.

tikinsel aufgrund des Nordpazifik-

weise setzt sich der WWF für die

wirbels, der dem Müllstrudel auch

Schaffung

seinen Namen verlieh, nämlich

bieten ein, in denen die Fischerei

Great Pacific Garbage Patch oder

streng kontrolliert wird und wo

auf Deutsch „Großer Pazifischer

Bohrungen verboten sind. Zudem

Müllteppich“, der eine Fläche so

gibt es zahlreiche andere Umwelt-

groß wie Mitteleuropa bedeckt und

verbände, bei denen es die Möglich-

sich geografisch gesehen zwischen

keit gibt, beizutreten.

von

Meeresschutzge-

Global

67

© Michal Jarmoluk (Pixabay)

ABER SONST

GESUND? geschrieben von Marie Damisch

Was bedeutet es, gesund zu sein? Was bedeutet es, krank zu sein? Bin ich gesund, solange ich nicht diagnostiziert bin? Oder bin ich krank, solange ich mich nicht gesund fühle? Das sind provokative Fragen, die nicht eindeutig zu beantworten sind, da die Antworten je nach Kultur, sozialem Umfeld und Epoche variieren.

68

Global

Die

Weltgesundheitsorganisation

rer Gesellschaft: Psychische Krank-

(WHO) definiert Gesundheit in ih-

heiten werden in vielen Fällen und

rer Satzung als „Zustand vollkommenen

physischen,

psychischen

und sozialen Wohlbefindens“. Das ist eine ambitionierte Aussage und meiner Meinung nach nicht erreichbar. Denn wer kann schon von sich behaupten, 100 % Wohlbefinden in allen genannten Aspekten zu empfinden? Sind deshalb alle Menschen im Grunde krank? Laut WHO-Definition, ja. Doch viele von uns würden sagen, dass sie gesund sind, wenn sie sich gut fühlen und keine diagnostizierte Krankheit haben. (Und für die alltäglichen „Wehwehchen“ gibt es ja diverse Mittelchen, die schnelle Abhilfe schaffen – wie im Lied Aber sonst gesund der

Wise Guys pointiert beschrieben …)

Im westlichen Kulturkreis wird ‚Gesundheit‘ oft als ‚Abwesenheit von Krankheit‘ definiert. Diese Definition macht es mir zwar leichter, mich als ‚gesund‘ zu beschreiben, als die WHO-Definition, doch sie hat auch

DIE PSYCHISCH ERKRANKTE PERSON IST OFT DIE LETZTE, DIE VON IHRER KRANKHEIT ERFÄHRT. INGO VOGL

ihre Nachteile. In der westlichen

in vielen Kreisen noch immer nicht als gleichwertig zu körperlichen Krankheiten angesehen. Oft ist das Thema noch ein großes Tabu und die Betroffenen trauen sich lange nicht, professionelle Hilfe aufzusuchen. Zu oft kommt dann die Hilfe gar nicht oder zu spät. Körperliche Krankheiten hingegen sind durchaus legitim, werden ernst genommen

und

gesellschaftlich

akzeptiert. Die meisten haben kein Problem damit, über Knieschmerzen oder Kopfweh zu klagen, oder zuzugeben, dass sie einen hohen Blutdruck haben. Doch wenn es um psychische Probleme geht, wird vieles kleingeredet oder totgeschwiegen. Und wenn, dann wird oft nur

über die betroffene Person gesprochen statt mit ihr. Die folgende Aussage des Salzburger Kabarettisten, Sanitäters und Sozialarbeiters Ingo Vogl wird mir immer in Erinnerung bleiben: Die psychisch erkrankte Person ist oft die letzte, die von ihrer Krankheit erfährt …

Medizin werde ich tendenziell erst

dann meist größer als die Besorgnis

als krank „akzeptiert“, wenn ich

über die Krankheit selbst. Endlich

Es gibt die verschiedensten Me-

eine Diagnose für eine schon be-

kann ich sagen, „Ich habe X“ – und

dizinsysteme auf der Welt. Dabei

kannte Krankheit bekomme. Oft

endlich werde ich verstanden und

spielen Faktoren wie Umwelt, Ge-

wird von einer Odyssee der Diagno-

akzeptiert. Niemand munkelt mehr

sellschaft, Politik, Philosophie und

sefindung berichtet. Der Weg von

hinter meinem Rücken Dinge wie

Religion eine große Rolle. In vielen

Praxis zu Praxis, um bestehende

„Das ist sicher nur psychisch“ (also

Ländern und Kulturen gibt es sehr

Beschwerden abzuklären, dauert

eingebildet …), oder „So eine Hy-

andere

nicht selten mehrere Jahre. Die

pochonderin …“.

das Thema ‚Gesundheit‘. In China,

Erleichterung, wenn dann endlich

Herangehensweisen

an

zum Beispiel, wurde traditionell

jemand* „etwas findet“ – also eine

Hier zeigt sich ein, meiner Meinung

eine Präventivmedizin praktiziert

tatsächliche Diagnose stellt – ist

nach, erhebliches Problem in unse-

– es ging also grundsätzlich dar-

Global

69

um, Krankheiten von vornherein

Messbarkeit. Diagnosen beruhen

Ein weiteres Problem, das sich hier

zu vermeiden und die Gesundheit

meist auf festgelegten Normwer-

zeigt, ist die männliche Prägung

zu erhalten. Demnach wurden die

ten, die für den „Normmenschen“

in der Medizin. Androzentrismus

Ärzt*innen auch bezahlt, solange

gelten; Abweichungen von diesen

– der Mann als Normmensch und

die Patient*innen gesund blieben.

Normwerten sind dann ab einem

Maß aller Dinge – war bis vor we-

Das ist für westlich geprägte Men-

gewissen Grad krankhaft. Den wis-

nigen Jahren der unhinterfragte

schen schwer vorstellbar. Im Wes-

senschaftlichen Grundsatz bewerte

Standard in der medizinischen

ten lag und liegt der Fokus tenden-

ich als sehr positiv und vernünftig,

Forschung. Inzwischen ist jedoch

ziell mehr auf der Behandlung von

wenn auch bisweilen etwas engstir-

erwiesen, dass Frauenkörper ein-

schon bestehenden Krankheiten.

nig. Denn vieles, das den Gesund-

fach

Hierbei ist die Medizin stark ab-

heitszustand beeinflusst, ist nur

wirken andere Hormone, ande-

hängig von der wissenschaftlichen

bedingt wissenschaftlich messbar.

re Symptome zeigen sich, andere

anders

funktionieren.

Es

© Matthias Frank (Pixabay)

Dosierungen von Medikamenten sind erforderlich. Doch Jahrhunderte der Forschung, in denen die getesteten Personen größtenteils männlich waren oder nicht auf das Geschlecht geachtet wurde, haben Ansichten und Methoden hervorgebracht, die Frauen heute noch gesundheitliche Nachteile bringen. So wird, zum Beispiel, eine Frau, die auf offener Straße einen Herzinfarkt hat, weniger schnell ins Krankenhaus gebracht als ein Mann in der gleichen Situation. Einerseits können die typischen Symptome anders sein als bei Männern, andererseits werden Frauen generell öfter als Hypochonderinnen eingestuft oder ihre Beschwerden auf psychische Faktoren geschoben, die wiederum weniger ernsthaft eingeschätzt werden.

Doch, ob weiblich, männlich oder nicht definiert – der menschliche Körper ist keine Maschine, keine Zusammensetzung aus Teilen, die wir austauschen und reparieren können. Das war, besonders im

70

Global

de*r selbst positionieren und auch

Nachsatz: Die COVID-19-Pandemie

grundlegende Auffassung und die

realistische Ziele formulieren.

nimmt ohne Zweifel Einfluss auf

Motivation für die Entwicklung

© Pixabay

westlichen Kulturkreis, lange eine

alle Bereiche des Lebens. Auch

immer weiterer Möglichkeiten für

Von welcher Perspektive wir nun

unser

Operationen und Transplantatio-

Gesundheit und Krankheit betrach-

und Krankheit hat sich verändert.

nen. Die Vorteile der medizinischen

ten – es gibt viel mehr Einflüsse auf

Einerseits haben viele Menschen

Errungenschaften

wir

das Wohlbefinden, als wir manch-

nun mehr Angst, auch vor „kleine-

heute, ohne Zweifel. Dennoch liegt

mal sehen und beeinflussen kön-

ren“ Krankheiten (Krankheitserre-

der Fokus durch diese Sichtweise

nen. Vieles können wir gar nicht

ger lauern überall, jede*r könnte

eher darauf, kranke Menschen im-

beeinflussen, manches schon. Dop-

Überträger*in sein), andererseits

mer besser zu behandeln, und we-

pel-Standards und gesellschaftli-

schenken wir aber auch den Sig-

niger darauf, gesunde Menschen

che Problemzonen wie die bereits

nalen des Körpers mehr Aufmerk-

bestmöglich gesund zu erhalten.

genannten zeigen sich auch in an-

samkeit. Auch eine „banale“ Er-

Der Begriff der Salutogenese wur-

deren Bereichen. So ist es statis-

kältung könnte der Anfang einer

de nach dem zweiten Weltkrieg

tisch schlichtweg „ungesund“, aus

COVID-19-Infektion sein und das

vom Medizinsoziologen Aaron An-

einer unteren Gesellschaftsschicht

eigene Umfeld mitgefährden. Des-

tonovsky geprägt. Hierbei geht es

zu stammen, finanziell schlecht

halb sind viele Leute vorsichti-

um die Frage, wie Gesundheit ent-

gestellt zu sein, Migrationshinter-

ger und bleiben auch mit einem

steht und wie sie erhalten werden

grund zu haben, die Landesspra-

Schnupfen lieber ein bis zwei Tage

kann. (Im Gegensatz bzw. ergän-

che nicht sehr gut zu sprechen,

zu Hause, als sich noch mit 39° Fie-

zend dazu beschäftigt sich die Pa-

etc. Gesundheit besitzt körperliche,

ber in die Arbeit zu schleppen …

thogenese mit der Entstehung von

psychische, soziale, ökonomische

Wir werden also etwas sensibler,

Krankheiten.) Antonovsky regte an,

und ökologische Dimensionen, die

hören besser auf den eigenen Kör-

Gesundheit und Krankheit nicht

untereinander stark vernetzt sind

per und geben ihm so auch eher,

als Zustand, sondern als Prozess

und sich auch im Laufe der Zeit

was er braucht und durch die Sym-

zu sehen. Grundsätzlich ist es wohl

wandeln. Jede Epoche hat ihre he-

ptome einfordert: Ruhe, Erholung,

realistisch, das menschliche Wohl-

rausfordernden Epidemien gehabt,

Zeit. Dem Körper Zeit für Erholung

befinden auf einem Kontinuum

ihre „typischen“ Krankheiten. Der

zu geben, gleicht in unserer Leis-

zwischen

Extrempositionen

körperliche und seelische Zustand

tungsgesellschaft einem Luxus, den

‚krank‘ und ‚gesund‘ einzuordnen.

des Menschen wird immer relevant

sich nicht jede*r leisten kann. Doch

Auf diesem Spektrum kann sich je-

bleiben, solange es Menschen gibt.

vielleicht entwickeln nun mehr Ar-

den

genießen

Umgang

mit

Gesundheit

beitgeber*innen ein besseres Verständnis und eine größere Wertschätzung für die Gesundheit ihrer Angestellten. Vielleicht kann diese Welt-umspannende Krankheit uns eine gesündere Umgangsweise mit unseren gesundheitlichen Ressourcen schenken.

Global

71

©UNICEF

72

Global

Die Kinder, die wir riefen geschrieben von Nicole Kaßberger

Es sind herzzerreißende Bilder, die regelmäßig um die Welt gehen: Von Kindern, die in Fabriken schuften, in Minen kauern, oder auf Plantagen bei der Ernte helfen. Weltweit ist die Zahl der Kinder in Kinderarbeit auf 160 Millionen gestiegen – das ist eine Zunahme um 8,4 Millionen Kinder in den letzten vier Jahren. Niemand möchte dafür verantwortlich sein, dass Kinder auf diese Weise ausgebeutet werden, dennoch ist unser Lebensstil mit daran schuld.

Kinderarbeiten sind laut Definition

Unterschied bei der Kinderarbeit.

oder die gefährlich oder ausbeute-

Wie das Becken schwillt!

Wie sich jede Schale voll mit Wasser füllt!

risch sind, die körperliche oder see-

Insgesamt arbeiten mehr Jungen als

letzten Jahrzehnten erzielt werden

lische Entwicklung schädigen oder

Mädchen. Mädchen verrichten je-

konnten, sind nun zum ersten Mal

die Kinder vom Schulbesuch abhal-

doch häufig Arbeiten im Haushalt,

seit 20 Jahren ins Stocken geraten.

ten. Kinderarbeit beraubt Kinder

die auch heute noch weniger augen-

Damit hat sich der bislang positive

ihrer Kindheit und verstößt gegen

fällig sind und deshalb nicht unbe-

Trend umgekehrt: Zwischen 2000

die weltweit gültigen Kinderrech-

dingt in den Statistiken auftauchen.

und 2016 war die Zahl der Mädchen

te. Obwohl dies so genau definiert

Berücksichtigt man in der Statistik

und Jungen in Kinderarbeit noch um

ist, obwohl es globale Gesetze und

Hausarbeiten sowie Care-Arbeit, die

94 Millionen gesunken. Weltweit ist

Rechte gibt, die den Jüngsten unter

meist mindestens 21 Stunden pro

nun die Zahl der Kinder in Kinderar-

uns zugutekommen sollten, ist Kin-

Woche verrichtet werden, verrin-

beit auf 160 Millionen gestiegen.

derarbeit allgegenwärtig.

gert sich der geschlechtsspezifische

Dem aktuellen Bericht Child La-

Arbeiten, für die Kinder zu jung sind

Die Fortschritte bei der Überwindung von Kinderarbeit, die in den

Global

73

©UNICEF

sich die Situation für Kinder, die bereits arbeiten, weiter verschlechtert, weil sie beispielsweise mehr als zuvor oder unter noch schwierigeren oder schädlicheren Bedingungen arbeiten müssen. Auch die weltweiten Schulschließungen und fehlende Fernlernangebote in vielen Ländern könnten Kinderarbeit befördern.

Auf zwei Beinen stehe, oben sei ein Kopf, eile nun und gehe mit dem Wassertopf bour: Global Estimates 2020, trends

richtet wird. Insbesondere für die

Die Ursachen für Kinderarbeit sind

and the road forward („Kinderar-

Jüngsten diene die landwirtschaftli-

so dispers wie die verrichteten

beit: Globale Schätzungen 2020,

che Arbeit als verbreiteter Einstieg

Arbeiten selbst. Oft ist der Haupt-

Trends und der Weg in die Zu-

in die Kinderarbeit.

grund Armut, meist jedoch in Kom-

kunft”) zufolge leidet fast die Hälfte der arbeitenden Kinder (79 Mil-

bination mit anderen Faktoren: Bewaffnete Konflikte, Klimawandel,

die gefährlich oder ausbeuterisch

O du Ausgeburt der Hölle!

Soll das ganze Haus ersaufen?

sind – zum Beispiel in Goldminen

Als wäre der globale Schaden der

wirtschaftliche Not, der*die Haup-

in Burkina Faso, auf den Baumwoll-

Covid19-Pandemie

ternährer*in kommt ihrem*ihren

feldern in Indien, auf Kakaoplanta-

groß genug, warnt der Bericht von

vermeintlichen

gen in der Elfenbeinküste oder auf

ILO (International Labour Orga-

mehr nach oder ist von der Familie

Farmen in Lateinamerika.

nization) und UNICEF ebenso da-

getrennt. Die Felder können durch

lionen) unter Arbeitsbedingungen,

nicht

schon

Naturkatastrophen, Urbanisierung und Globalisierung verschärfen die

Pflichten

nicht

vor, dass weltweit neun Millionen

etwaige Katastrophen nicht bestellt

Die Ergebnisse zeigen zudem große

zusätzliche Kinder bis Ende 2022

werden oder andere Einnahme-

regionale Unterschiede. Während

durch die Pandemie in Kinder-

quellen fallen weg. Auch Mädchen

die Zahlen in Asien (inklusive des

arbeit gedrängt werden können.

und Jungen, die durch HIV/Aids

Pazifikraums) und Lateinamerika

Die wirtschaftlichen und sozialen

oder Ebola zu Waisen oder Halb-

(inklusive der Karibik) seit 2008

Folgen der Gesundheitskrise be-

waisen gemacht wurden, sind be-

konstant sinken, steigen sie in Af-

deuten für viele Familien rund um

sonders häufig von Kinderarbeit

rika weiter an. Außerdem komme

den Globus den Verlust ihrer Exis-

betroffen.

Kinderarbeit vermehrt in ländli-

tenzgrundlage. Ein Simulationsmo-

chen Regionen vor. Der Prozentsatz

dell zeigt, dass diese Zahl weiter

Grundlegend kann gesagt werden,

ist hier mit knapp 14 Prozent der

drastisch ansteigen könnte, wenn

dass die Gründe und Ursachen von

Kinder dreimal so hoch wie in den

gefährdete Kinder keinen Zugang

Kinderarbeit im wirtschaftlichen

Städten. Das liege zum Teil daran,

zu angemessenen sozialen Basis-

Ungleichgewicht dieser Welt lie-

dass ein Großteil der Kinderarbeit

schutzmaßnahmen haben.

gen und in einen Teufelskreis von

nach wie vor im Agrarsektor ver-

Außerdem ist zu befürchten, dass

mangelhaften Sozialsystemen, feh-

74

Global

lender Bildung, Armut und Ausbeu-

gen sammeln – solange es sich in

tung resultieren. Nicht selten be-

Grenzen hält und sie trotzdem zur

deutet das: Die Kinder müssen Geld

Schule gehen können.

heimbringen, egal wie. Oft geht es

Stehe! Stehe! Denn wir haben deiner Gaben vollgemessen Im Sommer 2014 sorgte ein neues

dabei um das blanke Überleben.

In Südasien sieht die Sache noch

Gesetz zur Kinderarbeit in Bolivi-

Statt zu lernen und eine richtige

einmal anders aus. Hier gibt es die

en für weltweite Schlagzeilen und

Ausbildung zu bekommen, müssen

sogenannte Schuldknechtschaft. Ar-

Diskussionen. Das Gesetz erlaubt

viele Kinder von klein auf arbeiten.

beitgeber*innen leihen ihren Ange-

in Ausnahmefällen schon Zehnjäh-

stellten zu Wucherzinsen Geld und

rigen zu arbeiten – ein Skandal? In

Aus verschiedenen Gründen also

lassen sie nicht mehr gehen, bevor

Bolivien hatten viele Mädchen und

wollen oder müssen Kinder und

alles zurückbezahlt ist. Wegen der

Jungen gesagt, dass sie ihren Ar-

Jugendliche Geld verdienen oder

Hungerlöhne hat kaum ein*e Arbei-

beitslohn zum Überleben brauchen.

ohne Bezahlung mithelfen, und

ter*in die Chance, das Geld mitsamt

Befürworter*innen

häufig sehen ihre Familien auch

den Zinszahlungen aufzubringen.

sind der Meinung, dass die Kinder

nichts Falsches darin. Es muss auch

Die Schulden werden an die nächste

sonst illegal arbeiten und dann viel

nicht generell schlecht sein, wenn

Generation weitergegeben und alle

mehr in Gefahr sind, ausgebeutet zu

Mädchen und Jungen zum Beispiel

Familienmitglieder, auch die Kin-

werden. Kritiker*innen befürchten

bei der Ernte oder im Familienbe-

der, werden zu Sklaven*innen des*-

hingegen, dass der Kinderschutz

trieb mit anpacken und Erfahrun-

der Unternehmers*in.

durch das Gesetz aufgeweicht wird.

Gesetzes

©UNICEF

des

Global

75

Erfahrungen aus mehreren Län-

ten tausende Kinder in der Demo-

nicht. Was Profit bringt, wird ge-

dern zeigen, dass es keine einfachen

kratischen Republik Kongo unter

macht, das scheint die Grundlogik

Lösungen für diese komplexen Pro-

Lebensgefahr in engen Steinminen.

zu sein.

blem gibt. Gesetze zum Schutz von

Sie bauen dort seltene Erden wie

Kindern sind wichtig, aber sie müs-

Kobalt oder Kupfer ab, die zur Her-

„Wenn wir Kinderarbeit beenden

sen auch konsequent umgesetzt

stellung von Smartphones benötigt

wollen, dann dürfen wir in Eu-

und von

begleitet

werden. Manche der Kinder ver-

ropa nicht länger zulassen, dass

werden, die tief liegende Ursachen

unglücken dabei tödlich oder schä-

unsere Konzerne ihre Profite auf

von Kinderarbeit bekämpfen.

digen dauerhaft ihre Gesundheit.

Kosten der Kinder im globalen

Und das letztlich deshalb, weil die

Süden steigern. Wir können die

Seh‘ ich über jede Schwelle doch schon Wasserströme

Nachfrage nach diesen Rohstoffen

Verantwortung für die skrupellose

noch immer steigt - weil viele Men-

Ausbeutung nicht auf diejenigen

laufen

schen regelmäßig ein neues Smart-

abwälzen, die nicht wissen wie

Um der Kinderarbeit den Kampf

phone kaufen wollen.

sie sich und ihre Kinder ohne de-

Maßnahmen

anzusagen, liegt es auch an uns, etwas dagegen zu tun. Offensichtlich

ren zusätzlichen Lohn ernähren

Nein, nicht länger kann ichs lassen; will ihn fassen

sollen. Wir müssen die Profiteure

ist, dass auch der Westen Mitschuld daran trägt: Wir konsumieren zu

Kinderarbeit kann aus den ver-

pa in die Haftung nehmen, wo sie

viel und lagern die Produktionen

schiedensten Gründen in der Welt,

damit ihr Geld machen. Die Mehr-

aus. Ob Smartphones, Kleidung

in der wir leben, noch nicht in ei-

kosten, die durch den Verzicht

oder Schokolade, viele unserer

nem Ausmaß verboten werden,

von Kinderarbeit entstehen sind

alltäglichen Konsumgüter werden

dass sich wirklich jede*r daran hält

so gering, dass sie nicht länger als

außerhalb Europas produziert – in

und dadurch noch überlebt. Sie

vermeintliches Argument vorge-

Ländern, in denen Arbeitsschutz-

lässt sich aber überwinden. Fast

schoben werden dürfen. Wir leben

standards weniger streng oder

alle Staaten der Welt haben sich

schließlich im Jahr 2021 und nicht

effektiv und die Löhne niedriger

2020 auf das Ziel geeinigt, jegliche

mehr im Mittelalter, wer wäre

sind. Denn dort gibt es zum einen

Form der Kinderarbeit bis zum

nicht dazu bereit 5 Cent mehr für

wichtige Rohstoffe, zum anderen

Jahr 2025 vollständig abzuschaffen.

einen Schokoriegel zu bezahlen,

lassen sich Waren billiger produ-

Hierzu können auch Unternehmen

wenn dafür keine Kinder ihre Ge-

zieren als hier. Und besonders bil-

einen entscheidenden Beitrag leis-

sundheit, ihre Kindheit und ihre

lig sind Kinderarbeiter*innen.

ten, zum Beispiel indem sie famili-

Zukunft aufgeben mussten?“, so

Das Bewusstsein für die Arbeits-

enfreundliche Arbeitsbedingungen

Veronika Bohrn-Mena, Sprecherin

bedingungen

und faire Löhne in der gesamten

der Bürgerinitiative zum Lieferket-

Lieferkette garantieren.

tengesetz.

der

beispielsweise

Modeindustrie

in

Hierzulande

wächst zwar – und damit auch der Druck auf die Industrie, trans-

Die Bürgerinitiative Lieferketten-

parent und fair zu produzieren.

gesetz

Dennoch ist Kinderarbeit immer

warum es gesetzliche Schranken

noch ein großes Problem, vor al-

für das Treiben der Multikonzerne

lem beim Baumwollanbau und in

braucht. Denn das Prinzip Freiwil-

den Spinnereien. Zusätzlich schuf-

ligkeit funktioniert nachweislich

76

Global

Österreich

untermauert,

der Kinderarbeit bei uns in Euro-

©UNICEF

„Die ich rief, die Geister,/Werd ich nun nicht los.“, ist ein Vers aus Goethes Zauberlehrling, der heute (zumeist fehlzitiert in der Form „die Geister, die ich rief“) als Topos gebraucht wird, wenn eine einsetzende Entwicklung außer Kontrolle gerät und auch von ihrem Urheber nicht mehr aufgehalten werden kann. So sind es nun die Kinder, die wir riefen, um uns zu „helfen“, für uns die Drecksarbeit zu machen, die nun in einem Teufelskreis leben, der nur schwer aufzuhalten ist. Der Kampf ist es jedoch allemal wert.

Global

77

„Es gibt zu viele Flüchtlinge sagen die Menschen.

Es gibt zu wenig Menschen, sagen die Flüchtlinge“ (Ernst Ferstl) geschrieben von Merle Hubert Das Thema ‚Flucht‘ ist nicht nur zeitlos, sondern wird auch schon immer kontrovers diskutiert.

Die Zahl der Flüchtlinge weltweit ist hoch und wird in Zukunft weiter steigen. Doch was bedeutet das für die Menschheit und die Menschlichkeit?

Zeitlos

Heimatlos Perspektivenlos Hoffnungslos?

Ein Blick in die Vergangenheit: Der zweite Weltkrieg verwandelt Europa in ein Schlachtfeld. Bombenangriffe zerstören unzählige Häuser, Dörfer und Städte. Millionen von Menschen verlieren ihre Heimat, werden vertrieben, zwangsumgesiedelt oder müssen fliehen. Als die Rote Armee im Herbst 1944 in Osteuropa einmarschiert, beginnt eine Massenflucht. Aus Angst vor Vergeltung strömen hunderttausende

78

Global

© milene

Deutsche aus Ostpreußen, Schlesi-

rer Großeltern sind Zeitzeugen und

ren längst nicht der Vergangenheit

en und Pommern in Richtung Wes-

mussten damals vielleicht sogar

an. Das Kapitel ‚Krieg‘ scheint zwar

ten. Im Gepäck haben sie, wenn

selbst ihre Heimat verlassen. Doch

im momentan so heilen Europa

überhaupt, nur das Allernötigste.

wird mit der älteren Generation

vorerst vorbei zu sein, doch in vie-

Oftmals geraten die Flüchtlinge

auch die Erinnerung an die dama-

len anderen Teilen der Welt zwin-

zwischen die Fronten des Krieges.

ligen Verhältnisse sterben? Die Er-

gen bewaffnete Konflikte jeden Tag

Millionen von Menschen leiden

innerung an die Flucht, den Krieg

aufs Neue unzählige Menschen zur

Kälte und Hunger, werden Opfer

und die ständige Angst um das ei-

Flucht.

von Misshandlung, Vergewaltigung

gene Überleben? Die Erinnerung an

und Mord.

endloses Leid, Verlust und Trauer?

Diese schrecklichen Zustände sind

Die Antwort lautet: Nein! Denn sol-

nun über 70 Jahre her. Viele unse-

che dramatischen Zustände gehöGlobal

79

© milene

Heimatlos Stellen Sie sich vor, ganz Deutschland ist auf der Flucht. Laut dem UNHCR, der Flüchtlingshilfsorganisation der Vereinten Nationen, waren Mitte des Jahres 2020, über 80 Millionen Menschen auf der Flucht.

Das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl von Deutschland. Die meisten davon flohen innerhalb ihres Landes oder in einen benachbarten Staat. Nur die Wenigsten entscheiden sich, den weiten Weg nach Europa auf sich zu nehmen.

Trotzdem wurden im vergangenen Jahr in Österreich fast 15.000 und in Deutschland mehr als 100.000 Asylanträge gestellt. Die Pandemie verschlimmert die Lage der Staatenlosen und Geflüchteten zusätzlich.

Doch die Erinnerung an die Situation vor 70 Jahren scheint schon fast verblasst. Plötzlich sind Krieg und Flucht nicht mehr unser Problem, sondern allein das der Anderen und so lösten die Flüchtlinge in den letzten Jahren große Panik in Europa aus. Die Flüchtlingsproblematik ist unumstritten eine der größten sozialen Herausforderungen, damals wie heute, doch obwohl das Thema ein bedeutender Teil der europäischen Geschichte ist, wird es heute viel mehr als bedrohliche Krise für Europa dargestellt.

80

Global

Schamlos

„Die Flüchtlinge nehmen uns die Arbeitsplätze weg!“ „Abends trau’ ich mich in Ausländervierteln nicht mehr allein auf die Straße!“ „Wir können ja schlecht alle aufnehmen!“ „Ihre Kultur ist einfach so anders als unsere.“ „Ich hab’ ja wirklich nichts gegen Flüchtlinge, aber…“

Aussagen wie diese fallen oft, wenn

Jedoch nicht, weil sie dem Land,

es um das Thema der sogenann-

der Gesellschaft oder der Kultur et-

ten „Flüchtlingskrise“ geht. Durch

was anhaben wollen, sondern, weil

die Masse an Berichterstattung

ihnen in Europa anstelle von Gast-

in den öffentlichen Medien, aber

freundschaft und Hilfsbereitschaft

auch

Social-Media-Kanäle

auch viel Rassismus und Frem-

wird zusätzlich Öl ins Feuer ge-

denfeindlichkeit entgegengebracht

gossen und die Debatte spitzt sich

wird. Schuld an der Krise sind also

weiter zu. Für fremdenfeindliches

nicht die Geflüchteten. Vielmehr

Gedankengut,

Mei-

bedroht das rechtsextreme Gedan-

nungsmache rechter Parteien und

kengut und die zunehmend ver-

rechtsextreme Hetze bietet diese

breitete Xenophobie unsere demo-

Panikmache hervorragenden Nähr-

kratischen Werte.

boden. Flüchtlingsströme seien ein

Weder eine zu große Anzahl an

‚Übel, das die westliche Gesellschaft

Flüchtlingen, noch fehlende Ka-

und ihre Kultur gefährde.

pazitäten sind der Grund, warum

Trotz des Rückgangs der Asylbe-

derzeit nur begrenzt Flüchtlinge

werber*innen nach der Schließung

aufgenommen werden. Dient der

der Balkanroute 2017 bleibt die

Aufnahmestopp vielleicht nur dazu,

Anti-Asyl-Agitation in Deutschland

rechte Meinungsmache nicht wei-

und vielen anderen europäischen

ter zu befeuern, um bei den nächs-

Ländern konstant hoch oder steigt

ten Wahlen genug Stimmen für die

sogar noch – genau wie die Anzahl

eigene Partei sichern zu können? Es

fremdenfeindlich motivierter Ge-

sollen nicht noch mehr Flüchtlinge

walttaten. So waren 2019 drei von

angezogen und dazu ermutigt wer-

vier rechtsextremistischen Gewalt-

den, den gefährlichen Weg über das

taten gegen Ausländer*innen ge-

Mittelmeer auf sich zu nehmen – so

richtet. Einer dieser schrecklichen

wird oft argumentiert. Vor allem

Anschläge ereignete sich am 20.

potenzielle

Februar 2020 in Hanau: Neun Men-

dürften auf keinen Fall angelockt

schen mit Migrationshintergrund

werden, heißt es. Doch würden die

wurden erschossen. Zudem war bei

Menschen wirklich freiwillig ver-

der Bundestagswahl im Jahr 2017,

suchen, auf einem winzigen, zer-

also kurz nach der sogenannten

brechlichen und überfüllten Boot

„Flüchtlingskrise“ 2015 und 2016,

übers Mittelmeer zu fahren und da-

ein deutlicher Wähleranstieg bei

bei ihr Leben aufs Spiel zu setzen,

rechten Parteien und solchen, die

wenn es einen anderen Ausweg

mit einer Anti-Asyl-Politik werben,

gäbe? Und würden wir nicht alle

zu verzeichnen.

dasselbe tun, wenn es um unsere

Und so entsteht durch die Flüchtlin-

eigene Zukunft und die unserer

ge auf einmal tatsächlich eine Krise.

Kinder ginge?

durch

öffentliche

Wirtschaftsflüchtlinge

Global

81

Hilflos

Thema aus den Nachrichten ver-

Moria, der „Abgrund Europas“: Im

schwindet, verschwindet es auch

September 2020 überfluten Mas-

aus unseren Köpfen und denen der

sen an schrecklichen Bildern von

Politiker*innen. Doch Moria, Kara

hilflosen Flüchtlingen auf der grie-

Tepe und viele andere Flüchtlings-

chischen Insel Lesbos die Medien.

lager bleiben bestehen und sind

Unzählige Nachrichten werden ge-

nach wie vor ein Indiz für fehlen-

zeigt, in denen das Feuer im Camp

de Menschlichkeit und eine Verlet-

Moria und Aufnahmen von protes-

zung der Menschenrechte.

tierenden Menschen zu sehen sind.

Die griechische Polizei geht sogar

Grenzenlos

gegen Kinder mit Tränengas vor.

Auch wenn die Corona-Pandemie

All das zeigt nur, was schon lange

derzeit vieles überschattet, können

Tatsache ist: Die Flüchtlinge in Mo-

wir nicht weiter die Augen ver-

ria auf Lesbos und in anderen La-

schließen und die herrschenden

gern müssen seit Monaten oder so-

Zustände dulden. Hinzu kommt,

gar Jahren unter unmenschlichen

dass sich die Lage in Zukunft wei-

Bedingungen ausharren und war-

ter verschärfen wird. Schreitet der

ten verzweifelt auf Asyl in Europa.

Klimawandel in unvermindertem

Für einen kurzen Moment scheint

Tempo voran, werden in nicht all-

gewesen, die Asylabkommen und

es, als würde die mediale Aufmerk-

zu langer Zeit große Teile der Erde

EU-Verträge neu zu verhandeln. Zu

samkeit Wirkung zeigen. Endlich

für Menschen nicht mehr bewohn-

behaupten, all diese Menschen sei-

könnte der Druck auf die Politik

bar sein. Das Paradoxe an dieser

en eigentlich Wirtschaftsflüchtlinge

groß genug sein, um das Ruder

Situation ist, dass diejenigen, die

und hätten daher keinen Anspruch

herumzureißen und den hilflosen,

am wenigsten am Klimawandel

auf Asyl, ist jedenfalls keine Lösung.

heimatlosen Menschen aus diesen

schuld sind, am meisten von den

Genauso wenig wie der Bau neuer

unhaltbaren Zuständen zu helfen.

Auswirkungen betroffen sein wer-

Flüchtlingslager an den EU-Außen-

Zahlreiche Länder und Organisa-

den.

Nicht nur Kriege, sondern

grenzen. Doch nach wie vor scheint

tionen bieten ihre Bereitschaft an,

auch Naturkatastrophen, Ressour-

die Thematik zu sensibel und gela-

Flüchtlinge

Doch

cenknappheit, Desertifikation, der

den zu sein. Auch die Diskrepanzen

schon zwei Monate später ist da-

Anstieg des Meeresspiegels, Seu-

zwischen den EU-Mitgliedstaaten

von nichts mehr zu hören und zu

chen und vieles mehr werden also

sind einfach zu hoch. Es bleibt nur

spüren. Die Situation in den Flücht-

bald Millionen von Menschen zur

zu hoffen, dass sich trotzdem bald

lingslagern ist aber nach wie vor

Flucht zwingen. Wie werden wir

etwas verändert. Die EU, die Politik,

unverändert. Das Einzige, das sich

damit umgehen?

aber auch wir als Gesellschaft müs-

aufzunehmen.

geändert hat, ist, dass Moria für die

sen anfangen, uns die Grundsätze,

Berichterstattung nicht mehr inte-

Hoffnungslos?

auf denen die Europäische Union

ressant und aktuell genug zu sein

Längst wäre es an der Zeit gewesen,

fußt, zurück ins Gedächtnis zu ru-

scheint. Die Aufmerksamkeitsöko-

sich Gedanken über eine Reformie-

fen. Denn in Artikel 2 des EUV (Ver-

nomie der Medien hat zugeschla-

rung der Asyl- und Flüchtlingspoli-

trag über die Europäische Union)

gen. Und genauso schnell, wie das

tik zu machen. Längst wäre es nötig

steht es schwarz auf weiß:

82

Global

Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese

Gesellschaft gemeinsam,

© milene

Mitgliedstaaten in einer

© milene

Werte sind allen

die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.” © milene

Fangen wir also an, auch dementsprechend zu handeln und die aufgezählten Werte umzusetzen! Denn eines steht fest: Menschen auf der

© milene

© milene

“Die Werte, auf die sich die

Flucht brauchen unsere Hilfe! https://www.photosbymilene.com/photography/

Global

83

Die „Mastgans geschrieben von Nicole Kaßberger

Ohne Konsum läuft in unserer Welt heute nichts mehr. Ohne Konsum würde das bestehende Wirtschaftssystem schlichtweg zusammenbrechen. Um das zu vermeiden, werden immer neue Anreize gesetzt, die das Geldausgeben schmackhaft machen.

Diese Problematik thematisiert Frank Trentmann in seinem Buch Herrschaft der Dinge, indem er die letzten 600 Jahre der globalen Konsumgeschichte nachzeichnet.

84

Global

Mensch“ Wie die Menschen heute konsu-

Alles was du brauchst

den globalen Wohlstand fördern,

mieren, resultiert wie so vieles

Moderne

ver-

ohne zugleich unser Ökosystem ir-

aus einer weit zurückreichenden

sprachen den Menschen immer

reparabel zu schädigen? Mit diesen

historischen Entwicklung. Hinzu

mehr Konsum. Durch Werbung

und anderen Fragen beschäftigt

kommen ortsspezifische Rahmen-

wurde der Mensch manipuliert und

sich Frank Trentmann in seinem

bedingungen, die den jeweiligen

zu einer regelrechten „Mastgans“

2017 auf Deutsch erschienenen

Wandel

im

Massenideologien

Konsumverhalten

umfunktioniert. Der einzige Unter-

Buch Herrschaft der Dinge – Die

(mit-) determinieren. Dinge neh-

schied: der Mensch denkt, all das,

Geschichte des Konsums vom 15.

men schließlich eine besondere

was er in sich hineinstopft, bezie-

Jahrhundert bis heute (Deutsche

Stellung ein. Jeder Mensch hat so

hungsweise in sich hineinstopfen

Verlags-Anstalt, München).

etwas wie ein „materielles Selbst“,

lässt, wirklich zu brauchen und zu

denn Besitztümer werden als Teil

wollen. Besonders auffällig ist diese

Herrschaft der Dinge

der eigenen Identität gesehen. Die

Einstellung in manchen Regionen

Schon immer hatte die materielle

Menschen bauen darauf auf und

Asiens. Hier wurden auf der Kon-

Welt eine besondere Wirkung auf

definieren sich dann über ihr neu-

sum-Leiter mehrere Stufen gleich-

die Menschen. Dinge existieren

es Auto, den effizienten Entsafter

zeitig genommen.

nicht einfach nur, sondern Men-

oder die teure Jeans.

schen eignen sich Dinge an, indem Entgegen weit verbreiteten Ansich-

sie sie für sich passend machen. Sie

Die Ursachen für den rasanten

ten geht der Konsum auch nicht

erfreuen sich an ihnen und bringen

Aufstieg des Konsums lassen sich

zwangsläufig mit der Säkularisie-

ihnen Emotionen entgegen. Dinge

im 17. und 18. Jahrhundert ver-

rung einher, sondern verträgt sich

haben einen Einfluss auf das Leben

orten: Kolonialherrschaft, techni-

ebenso bestens mit diversen Religi-

der Menschen und ihren Alltags-

scher Fortschritt und Wachstum

onen. Es gibt kaum etwas, das nicht

rhythmus. Dinge sind nützlich, er-

der Städte. Mit dem Boom von

kommerziell ausgeschlachtet wer-

öffnen neue Möglichkeiten, haben

Kaufhäusern, Markthallen und Ge-

den kann. Dabei wird auch nicht

spirituelle Bedeutung und stellen

nossenschaftsläden Mitte des 19.

vor Gott, Allah oder Buddha Halt

ein Bekenntnis gegenüber der Um-

Jahrhunderts begann sich das Le-

gemacht.

welt dar. Zudem verbinden sich

ben in den Städten schließlich im-

über das Vererben von Dingen die

mer schneller zu drehen. Seitdem

Wie lässt sich nun aber das vorherr-

Generationen. All diese Facetten

hat diese Entwicklung nie mehr

schende drastische Wohlstandsge-

versucht Trentmann aufzuzeigen,

abgebremst, sodass wir heute in ei-

fälle zwischen den reichsten und

indem er auf über 1.000 Seiten die

ner Zeit leben, in der alles möglich

den ärmsten Gesellschaften der

letzten 600 Jahre Konsumgeschich-

sein soll und das möglichst schnell.

Welt verringern? Wie können wir

te nacherzählt.

Global

85

Wie wir im 21. Jahrhundert kon-

nehmendem Wohlstand umgehen

Bereichen

sumieren, ist das Ergebnis weit

und wie sie konsumieren, hängt je-

Wirtschaftspolitik

zurückliegender

Entwicklungen.

doch auch von sozialen, kulturellen

veränderten. Keynes prangerte die

In diesem Sinne sind Konsumge-

und anderen landestypischen Rah-

Sparpolitik des Staates an und rief

wohnheiten nicht naturgegeben –

menbedingungen ab und nimmt

„vaterlandsliebende

und somit auch nicht unveränder-

erstaunlich vielfältige Gestalten an.

dazu auf, tüchtig Geld auszugeben.

bar. Die Geschichte des Konsums ist bislang eine des ungebremsten

Makroökonomie

und

weitreichend

Hausfrauen“

Die Zeit nach dem Zweiten Welt-

Es ist nicht alles Gold was glänzt

krieg, von den 1950ern bis Anfang

Wachstums, begleitet von immer massiveren Umweltschäden. Der

Trentmann vergisst bei all der Fas-

regelrechten

Blick zurück kann helfen, Maßnah-

zination für den Wandel auch nicht,

Diese Phase ging als „Wirtschaft-

men und Wege einzuschätzen, die

die

„Sie-

wunder“, „il miracolo“ oder auch

uns erfolgreich in die Zukunft füh-

geszuges“ der Konsumherrschaft

„les trente glorieuses“ in die Ge-

ren können.

aufzuzeigen. Dabei beleuchtet er

schichte ein.

Schattenseiten

dieses

der 70er-Jahre, glich dann einem Konsumfeuerwerk.

beispielsweise die Beliebtheit von Trentmann beginnt seine Spuren-

exotischen Früchten und deren Ver-

Doch Trentmann schwelgt in sei-

suche im 11. Jahrhundert, da sich

arbeitung im 17. und 18. Jahrhun-

nem Buch nicht nur in der Vergan-

damals das Rad des Handels in Eu-

dert. Die aufregenden exotischen

genheit, sondern beleuchtet auch

ropa schneller zu drehen begann.

Getränke waren in Wirklichkeit

Praktiken der heutigen Zeit: darun-

Im 16. Jahrhundert nahm es dann

nichts anderes als Blutdiamanten

ter der Faire Handel. Groß im Be-

auch über die anderen Kontinente

der Getränkeindustrie, denn sie be-

wusstsein, aber klein im Einkaufs-

hinweg an Fahrt auf. Trentmann

ruhten auf Sklavenarbeit in den Ko-

wagen – so lässt sich das Verhältnis

fasst zusammen, was sich zwischen

lonien. Während der Konsum in Eu-

der Konsument*innen zu fairem

dem 11. Jahrhundert und der Ge-

ropa – gemäß dem Motto „Jede*r ist

Handel beschreiben. Gefühlsmä-

genwart ereignet hat, das unser

ein*e Konsument*in“ – dazu führte,

ßig ist der Faire Handel bei den

Konsumverhalten zu dem gemacht

dass Klassenschranken durchlässi-

Menschen angekommen, auf dem

hat, das es heute ist.

ger wurden, verhärteten sich durch

Weltmarkt spielt er allerdings so

Zeitlich

sich

die kolonialen Eroberungen die

gut wie keine Rolle. Die Zukunft des

im letzten Jahrtausend in unter-

versetzt

bildeten

Rassenschranken. Erst 1807 verbot

Fair Trade ist offen. Tief verwurzel-

schiedlichen Regionen drei große

Großbritannien

den

te Einkaufsgewohnheiten müssten

Konsumgesellschaften heraus: das

Sklavenhandel und setzte sich da-

verändert werden, um den Anteil

Italien der Renaissance (15. Jahr-

mit weltweit (weitgehend) durch.

des Fair Trade deutlich zu steigern

schließlich

hundert), das China der späten

und ihn einflussreich zu machen.

Ming-Zeit (um 1600) und schließlich

In den Jahren zwischen den Welt-

England und Niederlande im 17.

kriegen rückten die Konsument*in-

Läuft, aber holprig

und 18. Jahrhundert. Besitztümer

nen immer mehr in den Mittel-

Hat unser Konsum heute eine

in bisher nicht gekanntem Ausmaß

punkt des öffentlichen Interesses.

grundlegend andere Qualität als

hielten Einzug in diese Gesellschaf-

Frank Trentmann bringt an dieser

beispielsweise noch vor 50 Jahren?

ten. Das gesellschaftliche Muster,

Stelle auch John Maynard Keynes

Viele würden diese Frage sogleich

das daraus entstand, sollte sich in

ein, einen britischen Ökonomen

mit „Ja“ beantworten, sie werden

den folgenden Jahrhunderten wie-

und Politiker, dessen Überlegungen

aber von Trentmann gebremst.

derholen. Wie Menschen mit zu-

das Denken und Handeln in den

Zwar stellt er fest, dass der Kon-

86

Global

sum Ende des 20. Jahrhunderts „sowohl, was das materielle Ausmaß, als auch, was die globale Verbreitung betraf, ein in der Geschichte beispielloses Niveau erreicht“ hatte. Allerdings weist er die These einer durch staatliche Investitionsprogramme und neoliberale Wirtschaftspolitik herbeigeführten, exzessiven Konsumexpansion nach dem Zweiten Weltkrieg als überzogen zurück. Den Einfluss virtueller Shopping-Malls im Internet auf unser heutiges Konsumverhalten relativiert er ebenfalls.

Der Autor von Herrschaft der Dinge steht marktliberalen wie konsumkritischen Positionen gleichermaßen skeptisch gegenüber und plädiert abschließend für einen „historischen Realismus“, der die lange Tradition des Strebens nach materiellen Dingen – welches damit eben kein Produkt des industriellen Kapitalismus ist – ebenso ernst nimmt wie die Pluralität von Lebensstilen und Konsumgewohnheiten sowie die Erkenntnis, dass „Besitztümer in zunehmendem Maß wichtige Träger von Identität, Erinnerungen und Gefühlen“ sind. Eben weil die Menschen sich (auch) über den Besitz und Gebrauch von Dingen definie-

Frank Trentmann ist Geschichtsprofessor an der University

ren, gibt es laut Trentmann für das

of London. Er gehört zu den renommiertesten Kennern des

Problem steigenden Konsums und

Alltags- und Konsumlebens früherer Zeiten. Trentmann

Ressourcenverbrauchs keine einfa-

lehrte in der Vergangenheit in Princeton und Bielefeld. Sein

che Lösung. Doch das darf uns nicht

Studium absolvierte er an der Universität Hamburg, der

davon abhalten, eine Verbesserung

London School of Economics und in Harvard.

der Situation anzustreben, denn so wie sie ist, ist sie auf lange Sicht nicht haltbar.

Global

87

©pexels

TIME FOR A RADICA RETHINK:

EARTH OVERSHOOT DAY geschrieben von Katharina Högler

88

Global

AL

Earth Overshoot Day - what is it?

Earth Overshoot Day (deutsch: Welterschöpfungstag) marks the date when “humanity’s demand for ecological resources and services in a given year exceeds what Earth can

Our existence on this planet is only

regenerate in that year” (as stated

possible due to the natural resour-

by the official website www.eartho-

ces earth provides. From food and

vershootday.org).

water to energy - countless sources

In 2021, it fell on July 29th. A calcu-

sustain the human race and keep us

lation is also made per country: if

alive. Yet, with the ever rising po-

everybody worldwide lived an Aus-

pulation and the Western consume-

trian lifestyle, in 2021 Earth Over-

rist attitudes, the very sources that

shoot Day would be on April 7th.

have sustained life on this planet

The difference between countries

for millions of years are being pus-

is, at times, extreme. For example,

hed to their limit. Earth Overshoot

if everybody lived an Indonesian li-

Day marks the tragic day when this

festyle, Earth Overshoot Day would

limit is reached: Each year it creeps

be on December 18th. Further inte-

relentlessly further and further for-

resting comparative statistics can

ward, like sand flowing through an

be found on the Earth Overshoot

hourglass whose neck gets wider

Day website above.

and wider with each year of increased human consumption. The He-

How is it calculated?

rald Scotland describes it as a “day

Earth Overshoot Day is calculated

of shame to help drive change”.

by the Global Footprint Network

Ironically, there seems to be a con-

and is based on UN statistics. Sim-

sistent lack of such shame: the indi-

ply put the calculation is as follows:

(PLANET’S BIOCAPACITY / HUMANITY’S ECOLOGICAL FOOTPRINT)

X

365= EARTH OVERSHOOT DAY

vidualist outlook of companies and fierce competition in the international market (as between the USA and China) often mean environmental concerns are thrown to the

However, each year adjustments

Earth Overshoot Day was designed

wind. The ticking time bomb of our

are made in order to incorporate

to diffuse the ticking time bomb that

continuous excessive consumpti-

the latest data, meaning that the day

is our ever-increasing consumption

on is more like an annoying wrist-

itself varies depending on which

rate through two strategies: media

watch ticking away than the Big

calculation method is used. There-

coverage and subsequent raising

Ben it should be. Here is what you

fore, each year Earth Overshoot Day

of awareness. Less so is it a precise

can do to help drive change, and

is recalculated with the new me-

day, than a time period designed to

what exactly Earth Overshoot Day

thod for that year, so that the dates

make us responsible for the dama-

even means.

can be compared accurately.

ge we are causing.

Global

89

©pexels

The development of Earth Overshoot Day Back in 1970, the year of its introduction, Earth Overshoot Day fell on December 29th, just two days before the end of the year. Our competitive global industry, which is a product of international rivalry and the capitalist economic system, has driven overconsumption upwards and our planet to its limits.

The temporary absence (or rather significant reduction) of human activity in the COVID-19 pandemic has significantly impacted the natural world. Undoubtedly, the pandemic had rather more welcome side effects on our natural surroundings than it did on our population. The impact of the pandemic also became apparent with regards to Earth Overshoot Day: in 2020, Earth Overshoot Day was a whole three weeks later than in 2019, on the 22nd August 2020. It was predicted to occur at the end of July.

Steps to #movethedate When thinking of solutions or possible methods to tackle overconsumption, it is important to differentiate between “bottom down” solutions, where big companies take the initiative, and “top up” solutions, where individuals act collectively to achieve a desired result.

To reduce global consumption and thereby #movethedate there are many steps that can be taken, ranging from the use of clean energy to reduction of food waste. Here are just some ideas: 90

Global

TOP UP: - Local initiatives, from repairing bikes so they can be reused, to donating used clothes to charity shops, are small steps every individual

#MOVETHEDATE WWW.OVERSHOOTDAY.ORG

can take. To see some ideas, head to the solutions map on the website below, where you can register your project officially and be inspired by others!

- Alternatively, find out more about your own consumption rate and what Earth Overshoot Day would be if everybody lived like you!

BOTTOM DOWN:

Consumption calculators can be

- Regenerative agriculture and sus-

found online, most of which also

tainable fishing: In compliance

give you a breakdown of the areas

with the United Nations Sustain-

of your life which consume the

able Development Goals (SDGs) 14

most natural resources.

and 15, it is important that countries and big firms place value on

The ideas listed here are only ex-

- Since 17% of humanity’s carbon

the source of their food. Sustaina-

amples. To find more information

footprint is attributable to trans-

bility in terms of agriculture means

and tips on how to #movethedate

port, this is a large area which

meeting society’s food and textile

go to: www.overshootday.org.

needs drastic rethinking. On a

needs at present, without compro-

Instead of living our lives in a cons-

small scale, using public transport

mising future generations.

tant state of human poker against

is a simple but impactful approach.

the environment - where we will -Conservation:

Protecting

ever-

either run out of resources or have

- Reduce your food waste: If we

ything our planet has to offer me-

to develop the technology to ma-

could lower food waste to half the

ans conserving the biodiversity of

ximise our natural resources - let

current amount worldwide, we

flora and fauna on our planet. Figh-

us instead take responsibility and

would move Earth Overshoot Day

ting extinction of species needs to

#movethedate. Not only selfishly

by 13 days. This can also be a “bot-

be a major focus of climate politics

for ourselves but for the planet

tom down” method: in 2016, France

in the coming years.

and for future generations. This is

made it illegal for supermarkets to

undoubtedly a time for a radical

throw away unsold food products.

- Restoration: Repairing the damage

rethink of our consumerist beha-

Instead, these must be donated.

that has already been done is key. A

viour and the capitalist economic

Campaigning for legal changes such

simple example of this is reforesta-

systems that drive overconsumpti-

as this, for example in the form of

tion. If we reforested 350 million

on onwards because unfortunately,

petitions, is also an action that we

hectares of forests, we would move

our planet and its natural resources

can collectively take.

the date of Overshoot Day by 8 days.

are anything but timeless.

Global

91

92

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