Leseprobe Historische Urteilskraft 05

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Historische Urteilskraft Magazin des Deutschen Historischen Museums Jens Bisky über den Palast der Republik Rosemarie Burgstaller über Das Sowjetparadies Barbara Honigmann über die Erzählung der Geschichte TITELTHEMA

Koloniales und antikoloniales Denken Mit Beiträgen von Elisio Macamo, George Steinmetz, Lora Wildenthal, Chunjie Zhang u.a.

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Liebe Leserinnen und Leser, unser Titelbild zeigt die gestürzte und be­ sprühte Statue des Kolonialgouverneurs Hermann von Wissmann. 1908 auf Initia­ tive der Deutschen Kolonialgesellschaft in Daressalam aufgestellt, später als Kriegs­ trophäe im Imperial War Museum in Lon­ don ausgestellt, 1922 vor der Universität Hamburg wiedererrichtet, 1945 bei einem alliierten Bombenangriff getroffen, im Zuge der 68er-Proteste von Studierenden schließlich gestürzt und seither in ver­ schiedenen Ausstellungen kritisch kon­ textualisiert – unter anderem 2016/17 im Deutschen Historischen ­Museum. Die Statue verbindet zwei Aspekte der deutschen Kolonialgeschichte: Koloniales wie antikoloniales Denken und Handeln, beide Strömungen reichen weit in die deutsche Geschichte hinein.

Daneben führt die Schriftstellerin Barbara Honigmann aus, warum die Erzählung der Geschichte immer auch die Geschichte der Erzählung ist. Nach Daniel Kehlmann, Lukas Bärfuss, Julia Franck und Olga Grjasnowa stellt sie ihr Nachdenken über den Begriff „Historische Urteilskraft“ vor. Im zweiten Teil des Heftes beleuchtet ­Dominique Hipp den Stammtisch als deut­ sches Phänomen; Rosemarie Burgstaller schreibt über die nationalsozialistische Propagandaausstellung Das Sowjetparadies, die 1942 gegenüber dem heutigen Deutschen Historischen Museum im Berliner Lustgarten stattfand. Philipp ­ Springer fragt, was Menschen Museen schenken und warum sie es tun. Der Mu­ siker Frank Bretschneider erzählt, wie es ihm und seiner Untergrundband AG Geige gelang, in der DDR elektronische Musik zu machen und zu verbreiten. Jens Bisky spürt einem weiteren Nachbarn des DHM, dem untergegangenen Palast der Republik, nach.

Während die koloniale Geschichte in den letzten Jahren vermehrt im Zentrum vie­ ler Diskussionen stand – wie dieses Heft auch dokumentiert –, scheint die Kritik am Kolonialismus vergleichsweise noch we­ nig erforscht. Wie haben sich etwa bereits im Zeitalter der Aufklärung Kant, Herder und Hegel zum Kolonialismus positioniert? Vor welchem Hintergrund wurde in der Kaiserzeit Kritik am deutschen Kolonialis­ mus formuliert? Welche Konflikte traten im Nationalsozialismus zur Wiedererlan­ gung der deutschen Kolonien auf? Und worin unterschied sich der Antikolonialis­ mus in der DDR von den kolonialismuskri­ tischen Stimmen in der Bundesrepublik vor 1989? Die Antworten unserer Autorinnen und Autoren – Historiker und Soziolo­gen, ­Philosophinnen und Politikwissenschaft­ lerinnen – finden Sie in den Beiträgen zu unserem Titelthema „Koloniales und anti­ koloniales Denken. Von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert“.

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Editorial

Editorial Das Ziel des Deutschen Historischen ­Museums ist die Stärkung historischer ­Urteilskraft. Seit 2018 unterstützen uns Christiane und Nicolaus Weickart in vol­ lem Umfang darin, dieser Idee in dem gleichnamigen Magazin und einer Sympo­ siumsreihe nachgehen zu können: Das Vertrauen, das sie uns entgegenbringen, und die Freiheit, die uns dies ermöglicht, sind ein besonderes Geschenk, für das ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.

Ihr Raphael Gross


TITELTHEMA Koloniales und antikoloniales Denken. Von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert

Benedikt Stuchtey

10 „Die Idee der Kolonie selbst ist eine unmora­lische“

Inhalt

Über die Freiheit des Menschen und die Kritik am Kolonialismus

Thomas Khurana

15 Die „europäischen W ­ ilden“

Kants Verteidigung und Kritik des Kolonialismus

Chunjie Zhang

19 Die Rache der Geschichte Relativismus, Historismus und Kritik am Kolonialismus bei Johann Gottfried Herder

Susan Buck-Morss

Raphael Gross

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Editorial

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Autorinnen und Autoren

22 Hegel, Haiti und der ­Kolonialismus Elísio Macamo

27 Was, wenn Hegel am Ende doch nicht so schlimm war?

Barbara Honigmann

6 Die Erzählung der Geschichte ist immer auch die Geschichte der Erzählung

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George Steinmetz

31 Irrtümer der Menschheitsgeschichte Richard Wilhelm, China und der Antikolonialismus

David Simo

38 Der Versuch, einem ­illegalen Akt eine legale Grundlage zu verleihen

Dominique Hipp und Peter Brüchmann

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Demokratie und Therapie

Zur rechtlichen Situation im kolonialen Kamerun

Rosemarie Burgstaller

80 „Ein Sowjetpanzer in Berlin!“ Zur nationalsozialistischen Feindbildausstellung Das Sowjetparadies

Willeke Sandler

44 In der Zwickmühle Philipp Springer

Die kolonialistische Bewegung im Nationalsozialismus

84 Von Stühlen, Spielsteinen und ­einem anonymen Geschirrtuch

Pascal Grosse

Schenkungen ans Museum

50 „Wir sind nie als Eroberer nach Europa gekommen“

Frank Bretschneider im Gespräch mit Oliver Schweinoch

90 „Volkskunstkollektiv der aus­ gezeichneten Qualität“

Facetten einer Kolonialismus­kritik im national­ sozialistischen Deutschland

Die DDR-Untergrundband AG Geige

Christiane Bürger

55 „Afrika den Afrikanern“ Geschichtsschreibung und Antikolonialismus in der frühen DDR

Lora Wildenthal

60 Kolonialismuskritik in der alten Bundesrepublik

Jens Bisky und Christian v. Steffelin

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Der verschwundene Palast

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Jahrestage

104 Impressum und Bildnachweis

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Inhalt

Eine kurze Geschichte des Stammtisches


Autorinnen und Autoren

Christiane Bürger

Dominique Hipp

ist Koordinatorin des Projekts Koloniales Erbe in Thüringen der Universitäten Erfurt und Jena. 2017 erschien ihr Buch Deutsche Kolonialgeschichte(n). Der Genozid in Namibia und die Geschichts­ schreibung der DDR und BRD.

ist Referentin der ­Projektgruppe Interdisziplinäre Bildung und Vermittlung „Landshut“ bei der Bundeszentrale für politische Bildung.

Jens Bisky ist geschäftsführender Redakteur des Nachrichtenportals Soziopolis und der Zeitschrift des ­Hamburger Instituts für Sozial­forschung, Mittelweg 36.

Barbara Honigmann

ist Senior Research Fellow am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Ihr Buch ­Inszenierung des Hasses. Feind­ bildausstellungen im National­ sozialismus erschien 2022.

ist Autorin und Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. 2022 erhielt sie den Literaturpreis der KonradAdenauer-Stiftung und den JeanPaul-Preis für ihr Lebenswerk. 2023 folgte der Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main.

Pascal Grosse

Thomas Khurana

ist als Neurologe und Historiker an der ­Charité – ­Universitätsmedizin Berlin tätig. Er arbeitet vor allem zur Geschichte und Theorie der Biopolitik, u. a. zur Geschichte des deutschen und europäischen Kolonialismus. 2000 erschien seine Studie ­Kolonialismus, Eugenik und b ­ ürgerliche Gesell­ schaft in Deutschland 1850–1918.

ist Professor für Philosophische Anthropologie und Philosophie des Geistes an der ­Universität Potsdam und Leiter des ­dortigen Center for Post-Kantian ­Philosophy.

Rosemarie Burgstaller

Frank Bretschneider ist Musiker, Komponist und Videokünstler. Er ist Gründer der DDRUntergrundband AG Geige, über deren Geschichte er mit Oliver Schweinoch sprach.

Susan Buck-Morss ist Distinguished Professor of Political Philosophy am CUNY Graduate Center, New York. Hegel und Haiti. Für eine neue Universal­ geschichte erschien 2011.

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Elísio Macamo

David Simo

Benedikt Stuchtey

ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Afrika an der Universität Basel und Mitglied im Leitungsgremium des dortigen Zentrums für Afrikastudien.

ist Professor emeritus der Université de Yaoundé I, Kamerun. Er wurde mit einem Literatur­ vergleich deutscher antifaschistischer und afrikanischer antikolonialistischer Autoren promoviert und habilitierte sich mit der S ­ tudie Interkulturalität und ästhetische Erfahrung. Untersuchungen zum Werk Hubert Fichtes.

ist Professor für Neueste Geschichte (19. und 20. Jh.) an der Philipps-Universität Marburg. 2010 erschien Die Europäische Expansion und ihre Feinde. Kolonialismuskritik vom 18. bis in das 20. Jahrhundert; 2021 Geschichte des Britischen Empire.

Willeke Sandler ist Associate Professor am Department of History der Loyola University Maryland. 2018 erschien ihr Buch Empire in the Heimat: Colonialism and Public Culture in the Third Reich; derzeit arbeitet sie an einer neuen Studie über die deutsche Besiedlung der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika in der Zwischenkriegszeit.

Oliver Schweinoch ist Projektleiter bei LeMO – Lebendiges Museum Online am Deutschen Historischen Museum. Mit Frank Bretschneider sprach er über die DDR-Untergrundband AG Geige.

Lora Wildenthal Philipp Springer ist einer der beiden Leiter des Bereichs „Wechselausstellungen und Projekte“ am Deutschen Historischen Museum.

ist John Antony Weir Professor of History und Direktorin des Center for the Study of Women, Gender and Sexuality an der Rice Univer­ sity. Ihr erstes Buch German Women for Empire, 1884–1945 erschien 2001; ihr zweites Buch The Language of Human Rights in West Germany 2013.

George Steinmetz ist Charles Tilly Collegiate Professor of Sociology an der University of Michigan. Seine Studie The Devil’s Handwriting: Precoloniality and the German Colonial State in Qingdao, Samoa, and South­west Africa erschien 2007.

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Chunjie Zhang ist Associate Professor of German an der University of California, Davis. Ihr erstes Buch Transcul­ turality and German Discourse in the Age of European Colonialism erschien 2017; aktuell arbeitet sie an ihrer zweiten Monografie The Quest for Liberation: Philosophy and the Making of World Cultures in China and the West, 1900—1960.


Um 1970 hörte ich meine Tante Mischka – sie war nicht meine richtige Tante und sie nannte mich dotschenka, Töchterchen, obwohl ich nicht ihre Tochter war – Sätze sagen, die mein Leben oder jedenfalls mein politisches Denken ein für alle Mal veränderten.

Barbara Honigmann

Ich besuchte sie in Moskau und wohnte bei ihr durch die Vermittlung von Hilde Eisler, der Journalistin und Chefredak­ teurin der in der DDR legendären Kultur­ zeitschrift Das Magazin. Hilde war eine alte Freundin von Mischka und gehörte auch zum engen Freundeskreis meiner Mutter. Mischka und Hilde kannten sich aus der Zeit, als sie beide im brodelnden Berlin der Zwanzigerjahre bei der Inprekorr arbeiteten, der Zeitschrift der Kom­ munistischen Internationale, die dort in

sie zu dieser Einschätzung kam, hatte sich meine Tante Mischka durch die Erfahrun­ gen im Gefängnis, im Gulag und in der ­Verbannung erworben, alles zusammen 20 Jahre. Als ich sie in Moskau besuchte, hatte ich vor, über den avantgardistischen Theater­ regisseur Wsewolod Meyerhold zu for­ schen und damit auch zu seiner Wieder­ entdeckung im deutschen Sprachraum beizutragen. Unnötig zu sagen, dass mir alle Archive verschlossen blieben. So hatte ich viel Zeit, in den Dissidenten­ kreisen um Tante Mischka solche Sätze zu hören, die ich aus der DDR und auch aus meinem Elternhaus nicht gewohnt war. Man traf sich in den Küchen und Wohn­ zimmern Moskaus, und noch immer ka­ men Leute „aus dem Norden“ zurück oder

Die Erzählung der Geschichte … ist immer auch die Geschichte der Erzählung

Deutsch, Französisch und Englisch ver­ legt wurde. Beide Freundinnen stammten aus gutbürgerlichem jüdischem Hause, die eine aus Riga, die andere sagte immer aus Frankfurt, obwohl sie noch in Tarno­ pol geboren war. Im jugendlichen Über­ schwang waren sie zu revolutionären Ideen aufgebrochen und folgerichtig in Berlin bei der Komintern gelandet. Beide haben ihre Eltern nie mehr wiedergese­ hen, sie wurden in Auschwitz oder in ir­ gendeinem anderen Lager ermordet. Hilde überlebte die Nazizeit in den USA, und Mischka erfuhr in Sibirien vom Zwei­ ten Weltkrieg nur vom Hörensagen. Einer der Sätze, die Mischka sagte, lau­ tete: „Wir werden den Zusammenbruch der Sowjetunion noch erleben.“ Das war 1971. Die historische Urteilskraft, mit der

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aus der psychiatrischen Anstalt, für die Geld und Kleider für einen Neuanfang ge­ sammelt werden mussten. In diesen Jah­ ren erschienen die Bücher von Jewgenija Ginsburg, Nadeschda Mandelstam, den Brüdern Roi und Schores Medwedew und Solschenizyns Archipel Gulag, alle zu­ nächst im Samisdat (sam heißt „selbst“), also illegal mit der Schreibmaschine ab­ getippt und im Selbstverlag verbreitet, und später im Tamisdat (tam heißt „dort“), also im Westen, veröffentlicht. Jewgenija Ginsburg war eine enge Freun­ din von Mischka, und wir besuchten sie ­einige Male. Ich sagte ihr natürlich, wie sehr mich ihr Buch beeindruckt und poli­ tisch aufgeweckt habe und dass ich nun versuchen wolle, über Meyerhold zu ar­ beiten. Sein Name taucht gleich auf den


Zu ebendieser Zeit fanden auch in Deutsch­ land ähnliche kulturpolitische Säuberun­ gen statt, von den Bücherverbrennungen 1933 bis zu der großen Ausstellung Entartete Kunst 1937 in München, die genau wie in der Sowjetunion nur das Vorspiel zu physischer Verfolgung und Vernichtung waren. Die Nationalsozialisten in Deutsch­ land wie die Bolschewiki in Russland saßen zu dieser Zeit fest im Sattel. Der französische Historiker François Furet konstatiert in seinem Buch Le passé d’une illusion (1995), dass der Bolschewismus und der Faschismus fast gleichzeitig, als Letztgeborene des europäischen Reper­ toires, die Weltbühne betreten.3 Und er fasst seine große Studie über das „Ende der Illusion“ auch als Trauerarbeit zum Verständnis des 20. Jahrhunderts und seiner eigenen ehemals revolutionären Leidenschaft auf.4 Trauerarbeit war nötig, aber sie ließ sich nur schwer an. In Deutschland brauchte es dafür nach dem Krieg und der Niederlage eine ziem­ lich lange Zeit; erst eine zweite Gene­ ration, die den heroischen oder Mitleid heischenden Erzählungen der Eltern­ generation zu misstrauen begann, leis­ tete sie. Die Erzählung der Geschichte ist immer auch die Geschichte der Erzählung. Ich erinnere mich noch genau an all die befremdlichen Fotos der Wehrmachts­

väter oder -söhne, die in den Wohnzim­ mern meiner Schulfreundinnen auf dem „Nudelmeier“-Vertiko aufgestellt waren, mit oder ohne Trauerflor. Bis heute habe ich nicht wirklich verste­ hen können, wie meine Eltern und ihre jü­ dischen Genossen freiwillig nach Deutsch­ land zurückkehren konnten, um inmitten der NS-Täter und -Mitläufer zu leben. Im Gegensatz zu anderen Juden, auch in ­ihren Familien, und auch im Gegensatz zu Mischka und Jewgenija Ginsburg waren sie von beiden totalitären Systemen rela­ tiv verschont geblieben, auch wenn sie sich in den 1950er Jahren in der DDR im­ mer wieder für ihr Exil in einem west­ lichen Land hatten rechtfertigen müssen. Sie waren als Kommunisten zurückge­ kehrt, ließen sich über das sowjetische Lagersystem und die stalinistischen Ver­ brechen belügen und belogen sich selbst, bis sie irgendwann zum Ende ihres Lebens resigniert die Asche ihrer ehemals revo­ lutionären Glut zusammenkehrten. So­ wieso bewegten sie sich hauptsächlich in einem engen Kreis jüdischer kommunisti­ scher ehemaliger Exilanten, von denen ­jemand wie Hilde Eisler die Verbindung nach Moskau spann. Über diese Verbin­ dung konnten sie sich auch einige der Sätze aus dem Munde von Mischka an­ hören, die mich so beeindruckten. „In der gesamten Sowjetunion gibt es heute ­keinen einzigen Menschen mehr, der noch an irgendeinen Marxismus, Sozialismus, Kommunismus glaubt, es sei denn, er wird dafür bezahlt“, konstatierte Mischka. Als ich später aus der DDR in den Westen auswanderte, wurde ich mit der dort im­ mer noch weitverbreiteten Verharm­ losung und selbst Unkenntnis der stali­ nistischen Verbrechen konfrontiert. Ich konnte mich nur zu gut mit dem leider früh verstorbenen serbokroatisch-unga­ risch-jüdischen Schriftsteller Danilo Kiš und seinem Werk identifizieren, mit dem er zur Aufklärung der westeuropäischen Linken beitragen wollte, deren Blindheit in Bezug auf das sowjetische Lagersys­ tem ihm skandalös anmutete. „Da mit diesen Leuten wegen ihrer vorgefaßten, aggressiven Standpunkte kein Gespräch möglich war, mußte ich meine Argumente in Gestalt von Anekdoten und Geschich­

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ten formulieren, die auf Solschenizyn, Štajner, Nadeschda Mandelstam, Med­ wedew usw. basierten.“5 Sein Buch Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch ist „im Grunde ein fiktionalisierter Kurzbericht über die Selbstzerstörung des rasenden Trojanischen Pferdes namens Komintern“, schreibt Joseph Brodsky im Vorwort.6 Meine Tante Mischka hat den von ihr vorausgesagten Zusammenbruch der ­ Sowjet­­union noch erlebt, bevor sie hun­ dertjährig starb, und ihre dotschenka, also ich, hat ihr Studium der Theaterwissen­ schaft 1972 tatsächlich mit einer Diplom­ arbeit über Das Theater Wsewolod Meyerholds abgeschlossen.

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Ginsburg, Jewgenija Semjonowna: Marschroute eines Lebens. Hamburg 1967, S. 9.

2 Ebd. S. 15. 3 Furet, François: Le passé d’une illusion. Essai sur l’idée communiste au XXe siècle. Paris 1995, S. 38. Auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert. München 1996. 4 Ebd. S. 18: „Or il faut faire ce travail du deuil pour comprendre le XXe siècle.“ (Diese Trauerarbeit ist jedoch notwendig, um das 20. Jahrhundert zu verstehen.) 5 Kiš, Danilo: Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch. München 2004, zit. aus dem Nachwort von Ilma Rakusa, S. 179. 6 Ebd. S. 9.

Die Erzählung der Geschichte ist immer auch die Geschichte der Erzählung

ersten Seiten ihres Buches Marschroute eines Lebens auf, wo sie die Atmosphäre in der Sow­ jetunion noch vor dem Beginn ihrer Odyssee durch Gefängnisse und ­ ­Lager schildert. „Das Jahr 1937 begann, genaugenommen, schon Ende 1934.“1 So lautet der erste Satz des Buches. Vor den großen Säuberungen und Schauprozes­ sen nämlich, berichtet sie, fand schon die „Aktion Reue und Geständnis“ statt. „Große, voll besetzte Hörsäle und Audito­ rien verwandelten sich in Beichtstühle und man bezichtigte sich, irgendwelche Sünder gekannt zu haben und sich für das Theater Meyerholds zu begeistern.“2 Meyerhold, der berühmte Regisseur, des­ sen Inszenierungen Bertolt Brecht 1930 in Berlin sah und ihn in seinem Konzept des Epischen Theaters bestärkten, wurde dann „erst“ 1939 sechsundsechzigjährig in Moskau verhaftet, gefoltert und hinge­ richtet.



Titelthema

Koloniales und antikoloniales Denken. Von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert Vom Denken zum Handeln: Studierende stürzen 1967 das Denkmal Hermann von Wissmanns vor der Hamburger Universität


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