Leseprobe Historische Urteilskraft 03

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Barrie Kosky

Alexander Kluge

Sabine Beneke über Marx und Wagner als Ikonen Jonathan Sperber über Marx als Antikapitalisten

Historische Urteilskraft

„Nur wenige Persönlichkeiten der Geschichte konnten mit ihren Werken eine derart überzeugte, ja fanatische Gemeinde an Anhängern erwecken: Marxisten und Wagnerianer scheinen sich in ihrem bisweilen kritiklosen Glauben an die Unfehlbarkeit ihres ‚Meisters‘ nicht unähnlich.“

„Wir sind wie Ausgräber tätig. Es ist viel Lava über Marx ausgegossen worden und viel Lava liegt, auch durch eigenes Verschulden, über Wagner.“

Historische Urteilskraft Magazin des Deutschen Historischen Museums

Michael P. Steinberg über Wagner als Ideologen Raphael Gross, Rahel Jaeggi, Harold James und Alexander Kluge über Marx und Wagner als Entfremdungstheoretiker TITELTHEMA

Marx und Wagner. Der Kapitalismus und das deutsche Gefühl Mit Beiträgen von Julia Franck, Barrie Kosky, Thomas Macho, Christina Morina und anderen

„Im Blick zurück will Geschichte uns heute Erinnerung und Orientierung zwischen Ereignissen, Entscheidungen und Handlungen unserer Gesellschaft entlang ihrer Zeitachse lehren. Geschichte kuratiert Urteile.“ Julia Franck

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Liebe Leserinnen und Leser, im Titelthema der dritten Ausgabe der ­Historischen Urteilskraft widmen wir uns zwei sehr einflussreichen Männern aus dem 19. Jahrhundert: den Zeitgenossen Karl Marx (1818-1883) und Richard Wagner (1813-1883). Diese Kombination irritiert im ersten Moment. Angesichts ihrer b ­ einahe identischen Lebensdaten, der Parallelen innerhalb dieser Leben und ihrer Wirkung auf das 20. und anhaltend auch das 21. Jahrhundert ist jedoch erstaunlich, wie selten sie bislang zusammengedacht worden sind. Für beide ist die Revolution von 1848/49 ein lebenseinschneidendes Erlebnis; beide sind anschließend auf der Flucht und im Exil, Marx in London, Wagner in Zürich. Kurz davor, 1843, hat Marx seine Rezen­ sion Zur Judenfrage geschrieben; kurz danach, 1850, verfasste Wagner seinen Artikel

Dass wir überhaupt die Idee der historischen Urteilskraft im Deutschen Historischen Museum seit 2018 jedes Jahr in Form eines inter­ nationalen, interdisziplinären Symposiums sowie der hier publizierten Texte verwirklichen können, verdanken wir einer privaten Förderinitiative: ­Christiane und Nicolaus Weickart unterstützen von Anfang an dieses Projekt in vollem Umfang. Für ihr fortwährendes und vertrauensvolles Engagement, das uns als Institution alle Freiheiten lässt und uns ermöglicht, schnell auf Themen reagieren zu können, bin ich und sind wir besonders dankbar. Auf den Seiten 6-7 antwortet die Schriftstellerin Julia Franck auf die Essays von Daniel Kehlmann und Lukas Bärfuss in den ersten beiden Ausgaben der Historischen Urteilskraft und schreibt, dass es ein Irrtum wäre, Historie und Literatur als Konkurrenten zu betrachten. Im zweiten Teil dieses Heftes kritisiert Christian Kämpf die

Das Judenthum in der Musik. Beider Haupt­ werke, Marx’ Kapital und Wagners Ring, werden – das eine näherliegend, das andere vermittelt – auch als antikapitalistische Manifeste gelesen. Beider Ideengebäude haben nicht nur ihre Zeit und ihre Umgebung entscheidend geprägt, sondern wirken weltweit fort. Bis auf wenige Jahre haben sie die gleiche Welt erlebt, die gleichen wirtschaftlichen und gesellschaft­lichen Umbrüche beobachtet, letzten Endes jedoch sehr unterschiedliche Schlüsse daraus gezogen. Was wird sichtbar, wenn wir Marx und Wagner nun zusammen in den Blick nehmen? In welcher Weise können wir sie historisieren? Und was geschieht, wenn wir dies tun? Für dieses Zusammendenken von Marx und Wagner haben wir uns drei Diskurse herausgegriffen, die für beide prägend sind, an denen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeigen lassen: Antisemitismus, Entfremdung und Revolution. Die sehr unterschiedlichen Perspektiven darauf finden Sie auf den Seiten 8-55.

Editorial

Editorial instrumentalisierende Rezeption L ­ udwig van Beethovens. Fritz Backhaus erklärt, warum ein Museum eine Sammlung antisemitischer Objekte erwirbt. Carola Jüllig erinnert anhand der Tatort-Fotografien von Regina Schmeken an die Mord-Serie des selbst ernannten NSU. Sabine ­Josefine Brand und Sven Lüken zeichnen den langen Weg eines Türkischen Zeltes in das Berliner Zeughaus nach. Und Andrea von H ­ egel zeigt anhand historischer Plakate, dass auch die AHA-Regeln, die heute Pandemie-bedingt unseren Alltag prägen, eine lange Geschichte haben. Ich wünsche Ihnen eine anregende ­Lektüre,

Ihr Raphael Gross

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TITELTHEMA Marx und Wagner. Der Kapitalismus und das deutsche Gefühl

Jonathan Sperber

Inhalt

10 Karl Marx als Anti­ kapitalist Michael Steinberg

14 Richard Wagner als ­Ideologe Thomas Macho

18 Entfremdung Raphael Gross, Rahel Jaeggi, Harold James und Alexander Kluge im Gespräch

21 „Entfremdung zer­ trümmert Gefühle schon ­objektiv“

Raphael Gross

01

Editorial

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Autorinnen und Autoren

Gerd Koenen

30 Vom „Mammon“ zum „Kapital“

Julia Franck

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Eine schöne Provokation

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Barrie Kosky

34 „Talking about the ­revolution …“

Werben für Gesundheit

Inhalt

Andrea von Hegel

Christian Kämpf

76 Beethoven und die Freiheit – ­Freiheiten der Rezeption

Christina Morina

36 „Eine sonderbare Fügung“

Carola Jüllig

80 Blutiger Boden Leon Botstein

40 Marx, Wagner und der Deutungs­rahmen von Sprache und Denken im modernen Antisemitismus

Fritz Backhaus

85 Zeugnisse des Antisemitismus Sven Lüken

90 Ein Türkisches Zelt im Berliner Zeughaus

Pamela Potter

Sabine Josefine Brand

46 Wagners antisemitisches Vermächtnis

94 Odyssee eines Zeltes 100 Jahrestage

Sabine Beneke

51 Klassenkämpfer im Bild

102 Impressum und Bildnachweis

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Autorinnen und Autoren

Sabine Josefine Brand

Rahel Jaeggi

ist Textilrestauratorin am Deutschen ­Historischen Museum.

ist Professorin für Praktische Philosophie und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2016 erschien die Neuausgabe von Entfremdung – Zur Aktualität eines sozial­ philosophischen Problems.

Julia Franck ist Schriftstellerin. 2007 erhielt sie für ihren Roman Die Mittagsfrau den Deutschen Buchpreis.

Harold James ist Claude and Lore Kelly Professor in ­European Studies, Professor of History and Inter­ national Affairs sowie Direktor des Program in ­Contemporary European Politics and Society der Princeton University.

Fritz Backhaus ist Abteilungsdirektor Sammlungen am ­Deutschen Historischen Museum.

Raphael Gross ist Präsident der Stiftung Deutsches ­Historisches Museum.

Sabine Beneke

Carola Jüllig

ist Sammlungsleiterin des Bereichs Kunst: G ­ emälde - Skulpturen am Deutschen ­Historischen Museum.

ist Sammlungsleiterin des Bereichs ­Bildarchiv, Fotosammlung, Postkarten am Deutschen Historischen Museum.

Andrea von Hegel ist Sammlungsleiterin des Bereichs Plakate am Deutschen Historischen Museum.

Leon Botstein

Christian Kämpf

ist Präsident des Bard College, Leon Levy Professor in the Arts and Humanities ebenda sowie Chefdirigent des American Symphony Orchestra.

ist Musikwissenschaftler und kuratierte den Themenpfad Beethoven | Freiheit in der ­Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums.

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Alexander Kluge

Thomas Macho

Jonathan Sperber

ist Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller, Drehbuchautor, Philosoph und Rechtsanwalt.

ist Direktor des Internationalen ­Forschungszentrums Kulturwissenschaften der ­Kunstuniversität Linz in Wien.

ist Emeritus Curators’ Distinguished ­Pro­fessor of History an der University of Missouri und Wissenschaftlicher Berater der Aus­ stellung Karl Marx und der Kapitalismus (AT) am D ­ eutschen Historischen Museum. 2013 ­erschien Karl Marx. Sein Leben und sein Jahr­ hundert.

Gerd Koenen

Christina Morina

ist Historiker und Publizist. 2017 erschien Die Farbe Rot: Ursprünge und Geschichte des Kommunismus.

ist Professorin für Allgemeine ­Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der ­Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld. 2017 erschien Die ­Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte.

ist Barnaby Conrad and Mary Critchfield Keeney Professor of History and Music und ­Professor of German Studies an der Brown ­University sowie Kurator der Ausstellung ­Richard ­Wagner und das deutsche Gefühl am ­Deutschen Historischen Museum. ­2010–13 war er ­Dramaturg ­einer Koproduktion des Ring des ­Nibelungen der Mailänder Scala und der ­Berliner Staatsoper.

Autorinnen und Autoren

Michael P. Steinberg

Barrie Kosky ist Intendant und Chefregisseur der ­Komischen Oper Berlin. 2017 inszenierte er Die Meistersinger von Nürnberg bei den ­Bayreuther Festspielen.

Pamela Potter ist Professor of German and Music an der ­University of Wisconsin-Madison. 2000 ­erschien Die deutscheste der Künste. Musik­ wissenschaft und Gesellschaft von der ­Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reichs, 2016 Art of Suppression: Confronting the Nazi Past in Histories of the Visual and Performing Arts.

Sven Lüken ist Sammlungsleiter des Bereichs Militaria: Waffen, Rüstungen, militärisches Gerät am Deutschen Historischen Museum.

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Titelthema

Marx und Wagner. Der Kapitalismus und das deutsche Gefühl Inwieweit können die Ideologien dieser beiden „deutschen Denker“ aufeinander bezogen werden – und inwiefern handelt es sich bei ihnen um jeweils spezifisch deutsche Reaktionen auf Moderne und Kapitalismus? Eine Suche nach Antworten und Zugängen anhand der drei Diskurse „Antisemitismus“, ­„Entfremdung“ und „Revolution“. Karl-Marx-Skulptur von Lew Kerbel in Chemnitz, Richard-Wagner-Skulptur von Arno Breker in Bayreuth

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