Leseprobe Historische Urteilskraft 02

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Harald Welzer

„Es gibt neue Perspektiven auf die documenta und die Nachkriegszeit, die der Behauptung eines ästhetischen Neuanfangs nach 1945 entgegenstehen. Sie machen deutlich, wie wichtig es ist, den Blick nicht von Wünschen, Phantasien und Klischees verstellen, sondern von Fakten, kritischen Fragen und Diskussionen leiten zu lassen.“ Raphael Gross

Maria Eichhorn über das Rose Valland Institut auf der documenta 14 Julia Friedrich über die Moderne als Medizin Walter Grasskamp über Installationsaufnahmen als Zeitmaschinen

Historische Urteilskraft Magazin des Deutschen Historischen Museums

Farid Rakun über Geschichten-Vielfalt auf der documenta 15 Aya Soika über Emil Nolde im Bundeskanzleramt

„Ich kann die Zeugen und die Quellen der Vergangenheit so lange und gründlich studieren, wie ich will, ich werde dadurch keine Aussage über die Eigenschaft geschichtlicher Ereignisse in der Zukunft treffen können.“ Lukas Bärfuss

TITELTHEMA

documenta. Geschichte / Kunst / Politik

ISBN 9783861022169

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Historische Urteilskraft

„Gesellschaften sprechen immer über das, was sie nicht haben, deshalb reden wir so viel über Innovation und Nachhaltigkeit.“

Mit Beiträgen von Lukas Bärfuss, Regine Falkenberg, Ágnes Heller, Harald Welzer und anderen

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die Unterstützung und Förderung einer Öffentlichkeit, in der historische und ethische Urteile dargestellt und diskutiert werden können, ist das Ziel dieses Magazins.

wurden? Die Beiträge in diesem Heft ­gehen diesen Fragen nach. Sie eröffnen neue Perspektiven auf die documenta und die Nachkriegszeit, die der Behauptung eines ästhetischen Neuanfangs nach 1945 entgegenstehen. Und sie machen deutlich, wie wichtig es ist, den Blick nicht von Wünschen, Phan­ta­sien und Klischees verstellen, sondern von Fakten, kritischen Fragen und Diskussionen leiten zu lassen.

Mit unserem diesjährigen Titelschwerpunkt documenta. Geschichte / Kunst / Politik befassen wir uns schon jetzt mit den Themen zweier Ausstellungen, die im Deutschen Historischen Museum gerade erst erarbeitet werden: Eine beschäftigt sich mit der politischen Geschichte dieser bedeutenden zeitgenössischen Kunstausstellung, die sich als Gegenentwurf zur Entartete Kunst-Ausstellung verstand, tatsächlich aber selbst nicht ganz frei von NS-Kontinuitäten war. Die andere rückt

Vielleicht gelingt es auf diese Weise, hinter den etablierten Sichtweisen auch die blinden Flecken zu entdecken und zu beleuchten. Deutlich wird so auch die Bedeutung dessen, was fehlt: auf der ersten documenta etwa statt des Werks des nur vermeintlich verfolgten Emil Nolde jenes solch bedeutender jüdischer Künstler wie Otto Freundlich, Jankel Adler oder Felix Nussbaum, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Zu ihm finden Sie im vorliegenden Heft einen Beitrag.

Liebe Leserinnen und Leser,

Editorial

Editorial parallel die heute fast unbekannten „Gottbegnadeten“ in den Blick: Künstler, die zu dieser von Adolf Hitler und Joseph Goebbels ernannten Gruppe gehörten, wurden während der NS-Zeit aufgrund ihrer Bedeutung für das Regime als „unabkömmlich“ erklärt und unter anderem vor dem Fronteinsatz verschont. Doch auch in der Bundesrepublik bekamen sie weiterhin Professuren, Preise und Aufträge, darunter zahlreiche für Gestaltungen des öffentlichen Raums.

Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Auseinandersetzung mit einem Wort, das in den letzten Jahren in aller Munde war: Nachhaltigkeit. Regine Falkenberg zeigt anhand von Kleidung und Textilien unserer Sammlung, dass dies auch in vergangenen Jahrhunderten auf vielfältige Weise immer ein Thema war; Harald Welzer stellt die These auf, dass „Gesellschaften immer über das sprechen, was sie nicht haben, deshalb reden wir so viel über Innovation und Nachhaltigkeit.“

Was verändert es, wenn wir von der ­NSDAP-Mitgliedschaft Werner Haftmanns erfahren, dem Spiritus Rector der ersten documenta-Ausstellungen? Welche Bedeutung hat es, wenn Bildhauer, die für die Ausgestaltung des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg oder des nationalsozialistischen „Kraft durch Freude“-Seebads in Prora verantwortlich waren, in den 1950er und 1960er Jahren mit Mahnmalen zur Erinnerung an die NS-Zeit beauftragt

Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre,

Ihr Raphael Gross

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TITELTHEMA documenta. Geschichte / Kunst / Politik

Lars Bang Larsen und Dorothee Wierling

12 Einführung

Inhalt

Maria Eichhorn im Gespräch mit Lars Bang Larsen

13 Das Rose Valland Institut auf der documenta 14 Julia Friedrich

18 Moderne ist die beste Medizin Bernhard Fulda

24 d ocumenta 1: Neuanfang durch Kanonisierung? Eckhart J. Gillen

30 Kunst als Einklang mit der universalen Harmonie

Raphael Gross

01

Editorial

04

Autorinnen und Autoren

Aya Soika

36 Emil Nolde im Bundeskanzleramt

Lukas Bärfuss

06

Wahrheit und Wirklichkeit

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Regine Falkenberg

Harald Welzer im Gespräch mit Oliver Schweinoch und Gesa Trojan

Wolfgang Brauneis

41 „Gottbegnadete“ in der Bundesrepublik

86

Die Zukunft bestimmt die Vergangenheit

Inhalt

64 Nachhaltig beleuchtet. Kleidung und Textilien aus der Sammlung des Deutschen Historischen Museums

Stefan Bresky und Sabine Wit

Sabine Eckmann

94 Vorsicht, Ansteckung?

45 Im Schatten des Kalten Krieges

Thomas Weißbrich

98 Tradition verpflichtet. Preußische Grenadiermützen

Pietro Rigolo

50 Besser sehen durch documenta?

Ágnes Heller im Gespräch mit Monika Boll

100 Das Paradox der Philosophen

Walter Grasskamp

Fritz Backhaus

55 Die Installationsaufnahme als Zeitmaschine

106 Vor den Trümmern der ­europäischen Kultur. Zu Felix Nussbaums Zerstörung (2)

Farid Rakun im Gespräch mit Julia Voss

110

60 Was bringt die documenta 15?

Jahrestage

112 Impressum und Bildnachweis

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Autorinnen und Autoren

Stefan Bresky

Julia Friedrich

ist Leiter des Bereichs Bildung und ­Vermittlung am Deutschen Historischen Museum und der Fachgruppe „Öffentlichkeitsarbeit und ­Museumspädagogik“ des Landesverbands der Museen zu Berlin e. V.

ist Kuratorin am Museum Ludwig Köln und leitet die Grafische Sammlung.

Fritz Backhaus ist Abteilungsdirektor Sammlungen am ­Deutschen Historischen Museum.

Bernhard Fulda ist Chatong So Fellow und Director of Studies in History am Sidney Sussex College der University of Cambridge.

Sabine Eckmann ist Direktorin und leitende Kuratorin des Mildred Lane Kemper Art Museum an der Washington University in St. Louis, wo sie auch am Department of Art History and Archaeology lehrt.

Lukas Bärfuss ist Schriftsteller. 2019 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.

Eckhart J. Gillen

Maria Eichhorn ist Künstlerin und nahm an der documenta 11 (2002) und der documenta 14 (2017) teil. Sie lehrt an der Zürcher Hochschule der Künste.

ist Kunsthistoriker und freier Kurator. Er kuratierte u. a. die Ausstellung Art of Two Germanys im LACMA, Los Angeles (zusammen mit Stephanie Barron, 2009), die unter dem Titel Kunst und Kalter Krieg ­später auch im Germanischen N ­ ationalmuseum Nürnberg und im Deutschen Historischen ­Museum gezeigt wurde.

Monika Boll ist Philosophin, Publizistin und Kuratorin der Ausstellung Hannah Arendt und das 20. Jahr­ hundert im Deutschen Historischen Museum.

Regine Falkenberg

Walter Grasskamp

ist Sammlungsleiterin des Bereichs Alltagskultur am Deutschen Historischen Museum, zu dem auch die umfangreiche ­Textilsammlung gehört.

war bis 2016 Ordinarius an der Akademie der Bildenden Künste München. 2016 erschien bei C. H. Beck sein Buch Das Kunstmuseum. Eine erfolgreiche Fehlkonstruktion.

Wolfgang Brauneis ist freischaffender Kunsthistoriker. Im Frühjahr 2021 eröffnet im Deutschen Historischen ­Museum die von ihm kuratierte Ausstellung Die „Gottbegnadeten“. Künstler des Nationalsozia­ lismus in den 1950er und 1960er Jahren (AT).

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Ágnes Heller (†)

Oliver Schweinoch

Thomas Weißbrich

war Philosophin und Hannah Arendts Nachfolgerin an der New School for Social Research in New York. Sie starb im Juli 2019.

ist Projektleiter bei LeMo – Lebendiges Museum Online am Deutschen Historischen Museum.

ist Sammlungsleiter des Bereichs Militaria am Deutschen Historischen Museum. Er hat u. a. zu Preußischen Regiments­chefinnen 1806–1919 geforscht.

Lars Bang Larsen

Aya Soika

ist Kurator für internationale Kunst am Moderna Museet in Stockholm sowie der Ausstellung zur Geschichte der documenta, die 2021 am Deutschen Historischen Museum eröffnet wird.

ist Professorin für Kunstgeschichte am Bard College Berlin. Mit Bernhard Fulda und Christian Ring kuratierte sie zusammen die Ausstellung Emil Nolde – Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus.

Farid Rakun

Gesa Trojan

ist Künstler, Architekt und Teil von ruangrupa, dem 2000 in Jakarta gegründeten Kollektiv, das die documenta 15 (2022) in Kassel kuratiert.

ist Referentin am Deutschen Historischen Museum und Doktorandin am Center for Metropolitan Studies der TU Berlin.

ist Soziologe und Sozialpsychologe. Am ­Deutschen Historischen Museum kuratiert er zusammen mit Melanie Huchler die Ausstellung Von Luther zu twitter. Medien und politische Öffentlichkeit, die im Sommer 2020 eröffnet.

Autorinnen und Autoren

Harald Welzer

Dorothee Wierling war bis 2015 Stellvertretende Direktorin der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in ­Hamburg. Zusammen mit Lars Bang Larsen und Julia Voss kuratiert sie die Ausstellung Die politische Geschichte der ­documenta (AT), die im Frühjahr 2021 am Deutschen ­Historischen Museum eröffnet wird.

Julia Voss Pietro Rigolo ist Assistant Curator for Modern and Contemporary Collections am Getty Research Institute in Los Angeles. Er bearbeitete dort u. a. die Harald Szeemann Papers.

ist Kolumnistin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und Honorarprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg. Am ­Deutschen ­Historischen Museum gehört sie zum Team der Ausstellung zur documenta.

Sabine Witt ist Sammlungsleiterin des Bereichs Alltags­ kultur am Deutschen Historischen Museum, zu dem auch die Medizingeschichte zählt: Im vorliegenden Heft schreibt sie über die sogenannten Pestmasken.

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documenta. Geschichte / Kunst / Politik

Wahrheit und Wirklichkeit

Titelthema

Hans Haacke, Fotonotizen, documenta 2, 1959

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Lars Bang Larsen und Dorothee Wierling

Die deutsche Nachkriegszeit erscheint gerade international stark durch zeitgenössische künstlerische Positionen geprägt: durch Joseph Beuys, Hanne Darboven, Sigmar Polke und andere. Anhand der alle fünf Jahre stattfindenden ­documenta wollen wir mit einer 2021 eröffnenden Ausstellung im Deutschen Historischen Museum der ästhetischen Geschichte in ihrem politischen Kontext nachgehen. Im Sommer 1955 eröffnete die erste documenta im Kasseler Museum Fridericianum – bewusst zeitgleich mit der populären Bundesgartenschau, die in diesem Jahr im nahe gelegenen Auepark stattfand. Durch die umfassende Präsentation wichtiger Maler und Bildhauer der westlichen Moderne, ausgerechnet in einer westdeutschen Provinzstadt an der „Zonengrenze“, wurde sie unmittelbar zu einem Erfolg. In den kommenden Jahrzehnten etablierte sich das „100-Tage-Museum“ des Gründers Arnold Bode an der Spitze des internationalen Kunstgeschehens. Seither spielt die documenta eine prägende Rolle bei der Kuratierung, Vermittlung und Theoretisierung moderner und zeitgenössischer Kunst. Sie hat eine kanonisierende Wirkung auf Künstlerinnen und Künstler und ganze Kunstrichtungen ausgeübt und ist im gleichen Maße selbst zu einer kanonisierten Institution geworden. Die historische Bedeutung der

Einführung d­ ocumenta geht aber über das internationale Kunstereignis hinaus. Gleichermaßen durchzogen von zeitgeschichtlichen, kunsthistorischen und ausstellungsgeschichtlichen Ereignissen ist sie auch eine deutsche Institution, die beispielhaft deutlich macht, dass Kunst – sowohl konzeptionell wie praktisch – nie unabhängig von ihrem kulturellen Umfeld entsteht. Uns interessieren die Rahmenbedingungen, die in der Nachkriegszeit des Kalten Krieges die documenta ermöglichten. Einerseits war sie bestimmt von dem Versuch, sich vom Nationalsozialismus und seiner antimodernen Kunstpolitik zu distanzieren, während zugleich eine offene Aus­ einandersetzung damit fehlte. Andererseits bildete sie den Prozess der kulturellen Westernisierung ab, mit der eine entschiedene Abgrenzung gegenüber dem staatssozialistischen Block und dessen Kunstpolitik verbunden war. Vom künstlerischen Leiter der documenta 12, Roger M. Buergel, als „zivilisatorischer Akt“ charakterisiert, wurde die documenta durch ihre Rolle in der kulturellen Rehabilitation der Nachkriegszeit zu einem der Gründungsmythen der Bundesrepublik Deutschland. Diesen Mythos gilt es zu hinterfragen. Die folgenden Beiträge setzen mit ihrem Schwerpunkt auf der historisch-kritischen Analyse der frühen documenta-Ausstellungen Maßstäbe für dieses Unternehmen.

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