Deutsche Geschichte aus internationaler Perspektive
Mit Beiträgen von David Blackbourn, Young-sun Hong, George N. Njung, Baijayanti Roy und anderen
Liebe
Leserinnen
und Leser,
was wird sichtbar, wenn wir die deutsche Geschichte „von außen“ betrachten? Ein solcher Perspektivwechsel ist gerade in der momentanen Umbruchszeit wichtig, in der viele Koordinaten der deutschen und europäischen Politik grundlegend hinterfragt werden müssen. Das vorliegende Heft nimmt ihn vor.
Die Beiträge des Titelthemas „Ein anderer Blick. Deutsche Geschichte aus internationaler Perspektive“ setzen gängigen Gewichtungen nationaler Geschichtsschreibung neue Schwerpunkte entgegen, rücken Unerwartetes in den Fokus und verschieben Relevanzen: Sichtbar wird eine andere deutsche Geschichte – von der Antike bis zum Ende des Kalten Krieges.
Editorial
René Bloch zeigt frühe ethnografische Blicke auf die „Germani“, Philippe Depreux das Ringen um Identität der deutsch-französischen Erben Karls des Großen, und Robyn D.Radway, was am „Deutschen Haus“ im osmanischen Konstantinopel „deutsch“ war. Liliane Weissberg beschreibt, wie gleichermaßen zahlreich und unbeliebt im 18. Jahrhundert die deutschen Immigranten in Pennsylvania waren, Agnieszka Pufelska die Massenabschiebung von Polen aus Preußen und George N. Njung die deutschen Verbrechen in Kamerun im Ersten Weltkrieg: Hier kaum erinnerte Aspekte der Geschichte, die dort jedoch den jeweiligen Blick auf Deutschland nachhaltig prägten. Baijayanti Roy zeichnet den Weg der Indischen Legion der Wehrmacht nach, Volha Bartash die Geschichten dreier Mädchen, die in der Sowjetunion die deutsche Besatzung überlebten. Young-sun Hong stellt mit den südkoreanischen Krankenschwestern eine Gruppe Gastarbeiterinnen vor, an die bei diesem Begriff kaum jemand denkt.
Modelle legendärer Bühnenbilder aus der DHM-Sammlung zeigt die Bildstrecke im zweiten Teil des Heftes: Janina Audick, Julia Franke und Jan Lazardzig sprechen über die theaterhistorischen und -theoretischen Hintergründe. Beständen des DHM widmen sich auch Florian Grundmüller und Sabine Witt in ihren Texten über Mail Art und Massefiguren. Ausgehend von unserer Ausstellung Gewalt ausstellen ist Niklas Krekeler dem Wirken Zwi Horowitz‘ nachgegangen; Franka Maubach und Shuyang Song zeigen, was die Ausstellung Preußen. Versuch einer Bilanz mit dem DHM und der Frage der deutschen Identität zu tun hat. Über einen bislang kaum beachteten Punkt in ihrer Biografie – ihre Arbeit am Museum für Deutsche Ge-
schichte, ihr dortiges Wirken als Oppositionelle und die Versuche des Staates, dies zu unterbinden – hat die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe mit Matthias Struch gesprochen. Der diesjährige Essay zum Thema „Historische Urteilskraft“ stammt von Ursula Krechel, die, wie kurz vor Redaktionsschluss bekannt wurde, in diesem Jahr den Georg-Büchner-Preis erhält.
Das Ziel des Deutschen Historischen Museums ist die Stärkung historischer Urteilskraft. Das Magazin und die gleichnamige Symposiumsreihe werden seit 2018 großzügig von Christiane und Nicolaus Weickart ermöglicht, denen ich für die ungebrochene Unterstützung unserer Arbeit und unseres Vorhabens besonders danke.
Ich wünsche Ihnen eine anregende und erhellende Lektüre,
Ihr Raphael Gross
Inhalt
Raphael Gross
1 Editorial
4 Autorinnen und Autoren
Ursula Krechel
6 Schuld und Sinnlichkeit
TITELTHEMA
Ein anderer Blick. Deutsche Geschichte aus internationaler Perspektive
René Bloch 10 Germani
Über Gebrauch und Missbrauch von Ethnografie
Philippe Depreux
15 „Der König von Frankreich ist Kaiser in seinem Reich“
Ein Prestigestreit im Europa des Mittelalters?
Robyn D. Radway
20 „Deutsch werden“ im osmanischen Konstantinopel des 16. Jahrhunderts
Liliane Weissberg
26 Unliebsame Immigranten
Deutsche Siedler im kolonialen Pennsylvanien
Agnieszka Pufelska
32 Abschiebung aus Preußen
Zur „Polenausweisung“ von 1885 und ihrer Aktualität
George N. Njung
37 Entgrenzter Kolonialkrieg
Flucht und Vertreibung in Kamerun 1914–1916
Volha Bartash
Überlebende Kinder deutscher Genozide in der belarussisch-litauischen Grenzregion Baijayanti Roy
Zwischen politischem Kalkül und nationalsozialistischer
Südkoreanische Krankenschwestern in der Bundesrepublik
David Blackbourn im Gespräch mit Julia Voss
Vorhang auf!
Bühnenbildmodelle aus der Sammlung des Deutschen Historischen Museums
Janina Audick und Jan Lazardzig im Gespräch mit Julia Franke
Guckkasten und Weltmodell
Florian Grundmüller
Mail Art – grenzenlose Kunst
Niklas Krekeler
Sichtbar machen
Zwi Horowitz und der Versuch der Erinnerung jüdischer Geschichte nach 1945
Franka Maubach und Shuyang Song 98 Auf der Suche nach der deutschen Identität
Die „Preußenrenaissance“ und die Gründung des Deutschen Historischen Museums
Sabine Witt
Krieg spielen im Kinderzimmer
Ulrike Poppe im Gespräch mit Matthias Struch
Autorinnen und Autoren
Philippe Depreux ist Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg und ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg.
Sebastian Ahlers ist Fotograf am Deutschen Historischen Museum
Janina Audick ist Professorin für Bühnenbild an der Universität der Künste Berlin.
Volha Bartash ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG -AHRC Kooperationsprojekt „Romani Migration between Germany and Britain (1880s-1914): Spaces of Informal Business, Media Spectacle, and Racial Policing“ an der Universität Münster und Research Fellow am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung. Demnächst erscheint Survival as a daily routine: Roma in the Germanoccupied Belarusian-Lithuanian border region
David Blackbourn ist Cornelius Vanderbilt Distinguished Chair of History Emeritus an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee. 2024 erschien Die Deutschen in der Welt. Siedler, Händler, Philosophen: Eine globale Geschichte vom Mittelalter bis heute.
René Bloch ist Professor für Judaistik an der Universität Bern und 2025/2026 Distinguished Fellow an der Hebrew University of Jerusalem. 2022 erschien Ancient Jewish Diaspora. Essays on Hellenism
Julia Franke ist Sammlungsleiterin Alltagskultur: Zivile Kleidung und Textilien – Politik – Religiöse Kulturen – Sonderinventar –Abzeichen am Deutschen Historischen Museum.
Florian Grundmüller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Postcards and Postcarding Culture in Germany and Israel 1960–2000: Addressing an Ambivalent Habitual Object in Times of Historical Upheavals“ an der Georg-August-Universität Göttingen.
Young-sun Hong ist Professor of History an der State University of New York at Stony Brook.
Ursula Krechel ist Schriftstellerin, Mitglied der Akademie der Künste Berlin, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. 2025 erhält sie den Georg-BüchnerPreis.
Niklas Krekeler ist wissenschaftlicher Volontär am Deutschen Historischen Museum.
Jan Lazardzig ist Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Franka Maubach vertritt die Professur für Allgemeine Geschichte unter Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld.
George N. Njung
ist Assistant Professor of African History an der Baylor University in Waco, Texas. 2026 erscheint Violent Encounters: Gender, Colonialism, and the First World War in Cameroon, 1884–1916
Ulrike Poppe ist Bürgerrechtlerin und Mitglied des Fachbeirates Gesellschaftliche Aufarbeitung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED -Diktatur.
Agnieszka Pufelska ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Nordost-Institut an der Universität Hamburg und ordentliches Mitglied der Historischen Kommission zu Berlin e. V.
Robyn D. Radway
ist Associate Professor of Historical Studies an der Central European University Wien. 2023 erschien Portraits of Empires. Habsburg Albums from the German House in Ottoman Constantinople
Baijayanti Roy ist Lehrbeauftragte am Historischen Seminar an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. 2024 erschien The Nazi Study of India and Indian Anti-Colonialism: Knowledge Providers and Propagandists in the ‘Third Reich‘
Shuyang Song ist Mitgründerin und Koordinatorin der Arbeitsgruppe „Preußenausstellung 1981“.
Matthias Struch ist Sammlungsleiter Plakate und Postkarten am Deutschen Historischen Museum.
Julia Voss ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Präsidium des Deutschen Historischen Museums.
Liliane Weissberg ist Christopher H. Browne Distinguished Professor in Arts and Sciences und Professor of German and Comparative Literature an der University of Pennsylvania in Philadelphia.
Sabine Witt ist Sammlungsleiterin Alltagskultur: Alltagsgeschichte –Technik – Landwirtschaft –Spielzeug – Tonträger am Deutschen Historischen Museum.
Ethnografie, also die Beschreibung von Völkern, ist kaum je ein harmloses Unternehmen. Insbesondere vor der Festlegung wissenschaftlicher Standards im 20. Jahrhundert wurden ethnografische „Erkenntnisse“ gerne für weitergehende Absichten – politische, religiöse, literarische – instrumentalisiert. Dies trifft schon für die reiche ethnografische Literatur der griechisch-römischen Antike zu, wo Völkerbeschreibungen zwar durchaus einem genuinen Interesse am Anderen entstammten, häufig aber noch weitergehende Ziele verfolgten. Wie François Hartog am Beispiel Herodots zeigen konnte, dient die Ethnografie nicht zuletzt als Spiegel: Das ultimative Interesse gilt nicht dem Anderen, sondern sich selbst. Ethnografie ist ein Hilfsmittel zur Selbstverortung.1
Weitere Beispiele sind schnell zur Hand. Die Beschreibungen der Germanen, in der Antike wie in der Moderne, sind besonders einschlägig für die – teils toxische –Mixtur aus Interesse am tatsächlich Ethnografischen und seiner Instrumentalisierung. Der Bogen reicht von Caesar und Tacitus bis zum Germanen-Bezug bei Elon Musk. Dabei hat sich, wer von „den Germanen“ spricht, bereits ins Land der Verkürzungen begeben2 – zumal in der englischen
Germani
Über Gebrauch und Missbrauch von Ethnografie
Sprache, die zwischen Germanen und Deutschen nicht unterscheidet. Das Englische kann zur (historisch unhaltbaren) Vorstellung einer Kontinuität zwischen Germans und Germans besonders rasch verführen.
Von Germanen (griechisch Germanoi, Γερμανοί) wusste schon der griechische Historiker und Philosoph Poseidonios im 1. Jahrhundert v. Chr. zu berichten. Sie waren in der Folge aber vor allem ein römisches Konstrukt, das einem Konglomerat von Gruppen, die in einem bestimmten Gebiet und nach scheinbar ähnlichen Sitten lebten, übergestülpt wurde.3 Tacitus berichtet in seiner Monografie Germania (98 n. Chr.), dass der Begriff noch neu sei. Germani sei ursprünglich der Name eines Stammes, nicht eines ganzen Volkes gewesen. Die Tungrer, die als Erste den Rhein überschritten und die Gallier vertrieben, seien früher Germanen genannt worden: „So habe der Name eines Stammes, nicht eines ganzen Volkes, allmählich weite Geltung erlangt: zuerst wurden alle nach dem Sieger (a victore), aus Furcht vor ihm, als Germanen bezeichnet, bald aber nannten auch sie selbst sich so, nachdem der Name einmal aufgekommen war“ (2,3).4 Der Altphilologe Eduard Norden hat 1920 in seiner wegweisenden, von deutschem
Ernst Pittschau sen. als titelgebender Held in einer Inszenierung von Heinrich von Kleists Die Hermannsschlacht am Deutschen Theater in Berlin, 1888
Philippe Depreux
Die Wahrnehmung der Geschichte hängt sehr vom Betrachtungskontext ab, wie die Rezeption eines Werkes des USamerikanischen Historikers Patrick J. Geary über das frühmittelalterliche Europa zeigt.1 Dieses Buch erschien zunächst auf Englisch, dann auf Französisch und Deutsch unter ganz unterschiedlichen, sich auch widersprechenden Titeln, die den vermeintlichen Erwartungen des jeweiligen Zielpublikums entsprechen sollten. Before France and Germany: The Creation and Transformation of the Merovingian World (1988) lautet der Originaltitel des Buches. Darin thematisiert der Autor unter anderem, dass unsere heutige Vorstellung eines von unterschiedlichen Nationen geprägten Europas den Menschen der Merowingerzeit fremd war.
„Der König von Frankreich ist Kaiser in seinem Reich“
Ein Prestigestreit im Europa des Mittelalters?
Der französische Titel Le monde mérovingien: Naissance de la France (1989) hingegen betont, dass die Merowinger die Geburtsstunde Frankreichs eingeläutet hätten. Einige Jahre später wurde dem deutschsprachigen Publikum die Lektüre mit Bezug auf Karl den Großen und Europa schmackhaft gemacht – der deutsche Titel Die Merowinger: Europa vor Karl dem Großen (1996) nahm neben den Merowingern auch die Karolinger in den Blick. Diese Bezugnahme ist grundsätzlich nicht verwunderlich. Das Karolingerreich, das mehr oder weniger den Konturen der 1951 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl inklusive der Schweiz, des westlichen Teils Österreichs und Kataloniens entsprach, entwickelte sich aus dem Merowingerreich, das sich von der Gegend zwischen Maas und Rhein
bis nach Südwestfrankreich und Thüringen erstreckte. Die Karolinger spielten eine bedeutende Rolle in der Geschichte West- und Mitteleuropas: Ihr Zeitalter markiert das Ende der Antike und läutet das Mittelalter ein. Allerdings variiert die Bedeutung des Karolingerreichs in der Geschichtsschreibung der „Nachfolgeländer“ Deutschland und Frankreich.2
In der Bundesrepublik ist die Verbindung zwischen Karl dem Großen und Europa spätestens seit der Gründung des Aachener Karlspreises 1950 allgegenwärtig – der Preis ehrt Personen oder Institutionen, die sich um Europa verdient gemacht haben. Eine Ausstellung des Europarats 1965 in Aachen mit dem Titel Karl der Große. Werk und Wirkung läutete eine Tradition großer Ausstellungen über das Mittelalter ein, deren Beliebtheit kurz vor der Jahrtausendwende in der Ausstellung 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit in Paderborn gipfelte, die über 300 000 Besuchende innerhalb von drei Monaten anlockte. Das Interesse für den Erneuerer des antiken Kaisertums in Europa war allerdings nicht neu. Unter der Herrschaft der NationalKreuzigung Jesu mit Schutzheiligen der französischen Könige, außen links König Ludwig IX. von Frankreich, außen rechts Karl der Große
sozialisten beispielsweise wurde leidenschaftlich gestritten, ob Karl ein Deutscher oder ein Franzose gewesen sei. Die Frage „Karl der Große oder Charlemagne?“ ist jedoch unsinnig, weil sie ganz und gar anachronistisch ist:3 Zur Zeit Karls des Großen (ab 768 n. Chr. fränkischer König, 800–814 Kaiser) gab es weder Deutschland noch Frankreich. Das im 6. Jahrhundert gegründete Frankenreich dehnte sich im frühen 9. Jahrhundert infolge vieler Kriege vom Ebro bis zur Elbe und von der Atlantikküste bis zum Böhmerwald und zur italienischen Halbinsel aus. Eine Generation nach dem Tod Karls des Großen wurde das Reich durch den Vertrag von Verdun 843 in drei Reiche geteilt: Aus dem westlichen Teil ist Frankreich, aus dem östlichen Teil ist nach der Eroberung Italiens durch Otto den Großen um die Mitte des 10. Jahrhunderts das Heilige Römische Reich entstanden. Nachdem einige Jahrzehnte lang die Völker im Osten und im Westen des Frankenreichs von Königen unterschiedlicher – jedoch durch Heirat verbündeter –Dynastien beherrscht worden waren, entwickelte sich erst im 11. Jahrhundert ein unterschiedliches „Wir-Gefühl“:4
Robyn D. Radway
Am 18. November 1575 trug sich Wentzl Martin von Wiernitz in das Album Amicorum von Stephan Haymb von Reichenstein ein. In genretypischer Form notierte er das Jahr zusammen mit einem flammenden Herzen, den Initialen seines Leitspruchs und vier kurzen Zeilen, in denen er vermerkte: „Geschriben zu Constantinopoli bey den Schlafdrunkh“. Das Blatt zeigt sein Wappen sowie die Darstellung einer Muslima, die ihren Schleier lüftet. Wer waren Wentzl Martin von Wiernitz und sein Freund Stephan Haymb von Reichenstein, und weshalb kamen sie in der Verwaltungshauptstadt des Osmanischen Reiches „zum Schlaftrunk“ zusammen?
„Deutsch werden“ im osmanischen Konstantinopel des 16. Jahrhunderts
Die beiden Männer waren Teil einer fluktuierenden Hausgemeinschaft von Mitteleuropäern, die im osmanischen Konstantinopel in einer als Deutsches Haus bekannten Residenz zusammenkamen. Dort hatte der Ständige Gesandte der Habsburger mit seinem umfangreichen Gefolge seinen Sitz, in dem er einen steten Strom von Gästen beherbergte.1 Tausende Personen kamen und gingen im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts. Einige blieben lediglich wenige Tage oder Monate, manche ein paar Jahre, andere sogar mehr als ein Jahrzehnt. Sie unterschieden sich in ihrem sozialen Status, ihrem sprachlichen Hintergrund, ihrer regionalen Herkunft und ihrem legalen Subjektstatus gegenüber dem Habs-
„Deutsch werden“
Blick in den Innenhof: Zeichnung des Deutschen Hauses von Johannes Lewenklau, 1586
Liliane Weissberg
Warum verlassen Menschen das Land, in dem sie geboren sind? Warum nimmt ein anderes Land sie auf? Und was macht aus Emigranten „gute“ Immigranten? Diese Fragen sind von besonderer Aktualität. Sie stellen sich nicht nur Staaten, die die Bezeichnung „Einwanderungsland“ für sich ablehnen, sondern auch Staaten, welche die Zuwanderung von Menschen begrüßen. Ein historisches Beispiel bilden im 18. Jahrhundert die britischen Kolonien in Nordamerika und die neu gegründeten Vereinigten Staaten.
Die Deutschen kommen
Bernard Bailyn beschreibt das 18. Jahrhundert in Europa als eine Zeit der mobilen Bevölkerungen und weist Zahlen und Statistiken auf, die dies beweisen sollen.1 Einen dauerhaften Wohnsitz hatten demnach nur wenige. Handwerker waren auf der Wanderschaft, Handelsleute reisten, Dienstboten folgten ihren Herrschaften oder wechselten sie, und selbst die eigentlich an das Land gebundene Bauernschaft
Unliebsame Immigranten
Deutsche Siedler im kolonialen Pennsylvanien
war aufgrund von Kriegen und ökonomischen Veränderungen nicht immer sesshaft. Während es die meisten Menschen nicht weit zog, wanderten andere auf einen „neuen“ Kontinent aus.
Die 13 nordamerikanischen Kolonien von Neuengland bis Virginia hatten neben den britischen Kolonialisten und den in ihren Diensten Stehenden jene Europäer aufgenommen, die wirtschaftliche Schwierigkeiten hatten oder sich als Abenteurer verstanden. Aber man suchte auch aktiv nach Farmern und Handwerkern, die den Kontinent produktiv besiedeln konnten. Jung sollten die neuen Einwandernden sein und kräftig, vor allem arbeitswillige und anpassungsbereite Männer.
So waren die englischsprechenden Immigranten aus England, Schottland und Irland nur ein Teil der Bevölkerung des britischen Gebiets, in dem sich vormals auch Niederländer oder Schweden niedergelassen hatten, und man musste nicht in das französisch oder spanisch besetzte Hinterland gehen, um andere Sprachen zu hören. Man konnte, wie Aaron Fogleman ausführt, von Philadelphia bis nach
Carolina wandern, ohne sich auf Englisch verständigen zu müssen.2
Dass eine britische Kolonie nicht unbedingt die politische und soziale Situation in England widerspiegelte, wurde in Pennsylvanien deutlich. In der 1681 gegründeten Provinz plante der in England geborene Quäker William Penn ein „heiliges Experiment“:3 Er wollte die Kolonie durch einen Vertrag mit den Einheimischen begründen und versprach allen Einwandernden religiöse Freiheit – eine implizite Einladung an jene, die nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen Europa verlassen hatten, sondern auch wegen ihrer Religion Diskriminierungen ausgesetzt waren.
Dies galt insbesondere für Anabaptisten (Täufer), die Penn bei einem Aufenthalt in Deutschland zwischen 1671 und 1677 kennengelernt hatte. Aber auch deutsche Katholiken und Lutheraner oder Protestanten aus Salzburg sollten in Pennsylvanien eine neue Heimat finden. Philadelphia, eine Hafenstadt am Delaware River, wurde zum Ziel vieler Schiffe aus Übersee und dabei zu einem riesigen „Lagerhaus“ von Immigranten.4 Etwa 75 Prozent aller deutschen Einwanderer landeten in dieser Stadt.5 Eine Statistik zeigt, dass nach den Versklavten aus Afrika, die den Mangel an Arbeitskräften in der Landwirtschaft ab dem 17. Jahrhundert zunehmend ausgleichen sollten, Deutsche zu einer führenden Einwanderergruppe der britischen Kolonien wurden. Zwischen 1700 und 1775 kamen 278 400 versklavte Afrikanerinnen und Afrikaner ins Land, im gleichen Zeitraum 84 500 Einwandernde aus den deutschen Ländern.6 Die „Deutschen“ wurden oft als „Pfälzer“ bezeichnet. Sie kamen aus Krefeld, aber auch aus dem Elsass bis einschließlich der Schweiz. Auch Niederländer, die sich vor ihrer Abreise in Deutschland befanden, wanderten als „Deutsche“ in die Kolonien ein.7 Mitte des 18. Jahrhunderts ließen sich zwischen 60 000 und 100 000 Deutsche in Pennsylvanien nieder und machten über ein Drittel der Bevölkerung dieser Kolonie aus; ihre Zahl glich nahezu jener der englischen Bevölkerung.8 Während einige dieser Neuankömmlinge in Philadelphia blieben, zogen viele andere weiter. Landwirtschaftliche Siedlungen bildeten sich in Lancaster County. Die Amish und Mennoniten, Nachfahren dieser Einwanderer, pflegen noch heute die Bräuche ihrer Vorfahren und sprechen einen deutschen Dialekt, genannt Pennsylvania Dutch Penn hatte Francis Daniel Pastorius, einem Lutheraner und Einwanderer aus Sommerhausen bei Würzburg, Land für eine großzügige Siedlung verkauft. Und so liegen zwei Gründungsdaten nahe beieinander. Die Stadt Philadelphia wurde 1682 gegründet. Ein Jahr später, 1683, rief Pastorius einen Ort für deutsche Einwanderer ins Leben, der sich in direkter Nachbarschaft befand, und nannte ihn Germantown. Damit gab es nicht nur deutsche Einwanderer, sondern auch eine deutsche Stadt in Pennsylvanien. Heute ist Germantown ein Stadtteil von Philadelphia. Der Politiker, Schriftsteller und Erfinder Benjamin Franklin war im 18. Jahrhundert der wohl bekannteste Bewohner Pennsylvaniens. Er wurde 1706 als Sohn eines Eng-
länders in Boston geboren; 1723 zog er nach Philadelphia. Seinen ersten Tag in der neuen Stadt beschreibt er als Ankunft eines mittellosen Einwanderers, der schließlich in einem Quäker-Meetinghouse Unterkunft fand. Bald etablierte er sich als Zeitungsverleger und Buchdrucker. Er gab die Pennsylvania Gazette heraus, die er 1729 kurz nach ihrer Gründung übernahm und sich zur meistgelesenen Zeitung der britischen Kolonien entwickelte, sowie Bücher wie den Poor Richard’s Almanack. Als Geschäftsmann hatte er auch die deutsche Bevölkerung im Auge, und so gründete er 1732 die Philadelphische Zeitung. Es war die erste nicht englischsprachige Zeitung, die in den britischen Kolonien gedruckt wurde; sie wandte sich an „alle teutsche Einwohner der Provinz Pennsylvanien“.9 Leider musste Franklin die Zeitung noch im gleichen Jahr nach nur vier Ausgaben aufgeben. Die Leserschaft stellte sich nicht ein, was wohl auch daran lag, dass Franklin keine deutschen Fraktur-Typen besaß.
Keine andere Einwanderungsgruppe in den Kolonien schien sich derart autonom zu verhalten wie die Deutschen.
Andere Verleger folgten mit deutschen Zeitungen. Johann Christoph Sauer (oder Saur) aus Ladenburg in der Kurpfalz arbeitete zunächst als Schneider und etablierte sich schließlich als Verleger deutscher Schriften, er wurde Franklins großer Konkurrent. Über das 1732 in Lancaster County etablierte Ephrata-Kloster bezog er Schrifttypen aus Nürnberg und druckte 1738 einen ersten deutschen Almanach. 1739 erschien die erste Ausgabe der Zeitung Hoch-Deutsch Pensylvanische Geschichts-Schreiber. Zudem druckte er 1743 die Bibel in der Übersetzung von Martin Luther. Damit wurde Sauer nicht nur Verleger der ersten Bibel in deutscher Sprache auf dem amerikanischen Kontinent, sondern auch der ersten Bibel, die in einer europäischen Sprache in den Kolonien erschien. Gab er als Publikationsort seines ersten Almanachs noch Lancaster an, so erschien diese Bibel nun in Germantown. Erst 40 Jahre später sollte Robert Aitken die erste Bibel in englischer Sprache in Amerika drucken; sie erschien ebenfalls in Philadelphia.10 Sauer war nicht der Einzige, der die deutschen Siedlungen bedienen wollte. Anton Armbrüster betrieb eine Druckerei, und Samuel Holland und Johann Boehm druckten zweisprachige Publikationen. Während Sauer die Pensylvanischen Berichte vertrieb, druckte Holland die Lancastersche Zeitung. Keine andere Einwanderungsgruppe in den Kolonien schien sich derart autonom zu verhalten wie die Deutschen.
Unliebsame Immigranten
Agnieszka Pufelska
Die Pickelhaube, Symbol preußischer Macht, gilt in Polen bis heute als Sinnbild der deutsch-polnischen Beziehungen im 19. Jahrhundert. In Deutschland repräsentiert sie Disziplin, Stärke und Ordnung des Staates, in der polnischen Erinnerung hingegen die preußischen Repressionen unter Otto von Bismarck, allen voran die sogenannte Polenausweisung von 1885. Diese Ausweisung ist als die größte Massenabschiebung in der Geschichte Preußens anzusehen. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert betrieb Preußen eine expansive Politik gegenüber dem benachbarten Polen. Mehr noch: Erst die Teilungen Polens (1772, 1793, 1795) ermöglichten dem Hohenzollernstaat den Aufstieg zur europäischen Großmacht. Nach der Auflösung des polnischen Vielvölkerstaates durch die Nachbarmächte Preußen, Russland und Österreich stellten die meist katholischen Polinnen und Polen sowie die polnischen Jüdinnen und Juden mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung des preußi-
Abschiebung aus Preußen
Zur „Polenausweisung“ von 1885 und ihrer Aktualität
Helm mit Spitze als Symbol Preußens: Otto von Bismarck trägt die sogenannte Pickelhaube, um 1890
schen Staates. In weiten Teilen der neuen Ostprovinzen wie Westpreußen und Posen bildeten sie die Mehrheit. Die neuen Gebiete mit ihrer ethnischen, kulturellen und religiösen Vielfalt bedeuteten für die preußische Führung mehr als bloße Territorien: Sie waren ein heterogenes Gemisch, das mit der klaren, geordneten Vorstellung eines deutschen Nationalstaats kaum in Einklang zu bringen war. Die Integration sollte daher durch die Stärkung der deutschen Dominanz vollzogen werden. Besonders deutlich wurde dies nach der Reichsgründung 1871, als Preußen Teil des Deutschen Reiches wurde.
Die sogenannte Ostkolonisation war die Antwort auf die virulente „Polenfrage“ – ein Versuch, das polnische Übergewicht systematisch zurückzudrängen und die östlichen Provinzen endgültig in die deutsche Ordnung einzugliedern.1 Um die angestrebte kulturelle und ethnische Homogenität herzustellen, kam eine Vielzahl von Strategien zum Einsatz. Anders als bei klassischen kolonialen
George N. Njung
Wenn heute über die afrikanische Flüchtlingskrise gesprochen wird, werden ihre Ursprünge auf dem kolonialen Schlachtfeld während des Ersten Weltkriegs selten bedacht. Doch in Kamerun, das 1884 zur deutschen Kolonie erklärt worden war, wurde in den 18 Monaten zwischen September 1914 und Februar 19161 eine Welle der Gewalt entfesselt, die mehr als 100 000 Menschen aus ihrer angestammten Heimat vertrieb. Ganze Gemeinschaften flohen aus niedergebrannten Dörfern und Kampfgebieten, als Opfer nicht nur der globalen Kriegsführung, sondern auch einer rücksichtslosen kolonialen Ordnung, deren Ziel es war, jeglichen Widerstand zu brechen und die menschliche Arbeitskraft auszubeuten. Diese massenhafte Vertreibung, die weitgehend aus der deutschen historischen Erinnerung getilgt wurde, war keine Folgeerscheinung des Weltkriegs, sondern das Ergebnis politischen Kalküls. Die von deutschen Kolonialbeamten im Rahmen einer imperialen Strategie organi-
Entgrenzter Kolonialkrieg
Flucht und Vertreibung in Kamerun 1914 –1916
sierte Flüchtlingskrise in Kamerun gehört heute zu den am wenigsten beachteten Episoden der deutschen Kolonialgeschichte. Wie führte das Zusammentreffen von deutschem Kolonialismus und Erstem Weltkrieg dazu, dass zahllose Menschen entwurzelt, Gesellschaften zerstört und die historischen Grundlagen Kameruns tiefgreifend verändert wurden? Um die heutige Politik der Vertreibung in Afrika tatsächlich verstehen zu können, müssen wir uns zunächst dem vergessenen Vermächtnis der kolonialen Schreckensherrschaft widmen.
Vorgeschichte: 1884 bis 1914
Die kolonialen Gräueltaten der Deutschen im südafrikanischen Namibia und in Ostafrika sind inzwischen ins öffentliche Bewusstsein gelangt und zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Dies trifft auf Westafrika nur in sehr geringem Umfang zu. Dabei war auch Kamerun ein Schauplatz sich schnell ausbreitender, systematischer und verheerender kolonialer Gewalt.
Im Jahr 1884 erklärte das Deutsche Reich das neu geschaffene Territorium Kamerun zum deutschen „Schutzgebiet“, nachdem unter Federführung des Reichskommissars für Deutsch-Westafrika Gustav Nachtigal und der mächtigen Handelsgesellschaft Woermann hastig ein Abkommen mit Anführern der an der Küste ansässigen Duala getroffen worden war. Der Widerstand gegen das weitere deutsche Vordringen in das Hinterland wurde mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. Küstenorte der Duala wie Hickory und Joss wurden als Vergeltungsmaßnahme für den Widerstand niedergebrannt, was eine erste Welle der Massenflucht auslöste, da die Überlebenden Schutz bei Gemeinschaften im Landesinneren suchten.2 Als der stellvertretende Gouverneur Heinrich Leist zeitweilig die Amtsgeschäfte führte, steigerte er die koloniale Herrschaft in ein Regime der Gewalt, mit öffentlichen Auspeitschungen, Vergewaltigungen, zwangsweisen Umsiedlungen und Landnahme, wobei sich seine brutalen Maßnahmen insbesondere gegen die einheimischen Frauen richteten.3
Von 1892 bis 1894 leiteten Gerichtsassessor Ernst Wehlan und Leutnant Hans Dominik Strafaktionen gegen die Abo, Bakoko und Mabea. Diese fanden ihren Höhepunkt 1893 im Feldzug gegen die Mabea, bei dem ganze Siedlungen ausgelöscht wurden und König Benga hingerichtet wurde.4 Unter dem späteren Gouverneur Jesko von Puttkamer wurden Umsiedlungen schließlich zur offiziellen Politik. Die einheimische Bevölkerung wurde zur Zwangsarbeit auf Plantagen zusammengetrieben – die Sterblichkeit war so hoch, dass die Einrichtung von Friedhöfen vorgeschrieben war.5
Der von König Rudolf Manga Bell angeführte Aufstand der Duala von 1910 bis 1914 war ein letzter Akt des legalen und diplomatischen Widerstands gegen den Landraub. Das Deutsche Reich reagierte mit Unterdrückung. Manga Bell wurde 1914 hingerichtet, seine Anhänger gefangen genommen oder getötet und die Einwohner der Stadt Duala vertrieben.6 Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs stand Kamerun unter einer Schreckensherrschaft: Ganze Gemeinschaften waren verschwunden – ins Exil getrieben von einem kolonialen Regime, für das die Vertreibung nicht ein Nebenprodukt der Unterwerfung war, sondern als Instrument eingesetzt wurde.. Es ist eine vergessene Geschichte der Gewalt und einer Flüchtlingskrise, die mit dem Untergang des Deutschen Kaiserreichs begraben wurde. Gleichwohl handelte es sich erst um das Vorspiel einer noch größeren Flüchtlingskrise, die sich durch eine weitaus systematischere und umfassendere Vertreibung während des Ersten Weltkriegs in der deutschen Kolonie Kamerun ausbreitete.
Vertreibung und Flucht während des Krieges: 1914 bis 1916
Im September 1914, als in Europa der Krieg immer heftiger wütete, wurde der Konflikt infolge der imperialen Ausbreitung der europäischen Mächte auch tief in die Regenwälder
und Savannen Kameruns getragen. Unter der Führung britischer, französischer und belgischer Offiziere und auf dem Rücken Zehntausender west- und zentralafrikanischer Soldaten startete eine Koalition verbündeter Staaten einen massiven Angriff, um die Kolonie der deutschen Kontrolle zu entreißen.7 Es folgte ein brutaler, 18-monatiger Feldzug, der Kamerun in einen der grausamsten Schauplätze in Afrika verwandelte.
Die deutschen Verantwortlichen waren entschlossen, die Kolonie um jeden Preis zu verteidigen, und führten einen rücksichtslosen Krieg. Unter dem Gouverneur Karl Ebermaier und dem Kommandeur der „Schutztruppe“, Oberstleutnant Carl Heinrich Zimmermann, entfesselte ein Stab von Offizieren – darunter die Majore Paul Hädicke und Fritz Rammstedt, die Hauptmänner Karl Gaisser, Kurt von Crailsheim, Ernst von Raben, Hugo Eymael und Günther von Hagen sowie Oberleutnant Arnold von Engelbrechten – eine Politik der verbrannten Erde, die sich bewusst auch gegen die Zivilbevölkerung richtete. Dörfer wurden niedergebrannt, Vorräte vernichtet und ganze Gemeinschaften vertrieben, da die deutschen Truppen die Kontrolle nicht nur über das Land, sondern auch über die Bevölkerung anstrebten.8 Das Ergebnis war eine katastrophale humanitäre Krise. Kamerun wurde zu einem Kriegsgebiet, in dem die einheimische Bevölkerung die ausweglose Lage der deutschen Kolonialmacht in vollem Umfang zu spüren bekam. Es handelte sich nicht einfach um ein koloniales Scharmützel, sondern um einen Vernichtungsfeldzug auf afrikanischem Boden, der tiefe Narben hinterließ und durch den Zehntausende Schutzsuchende über die gesamte Region verstreut wurden.
Als die alliierten Truppen in Kamerun immer weiter vorrückten, fiel die deutsche Reaktion zunehmend verzweifelt und brutal aus. Einheimische Männer wurden aus ihren Dörfern verschleppt, in Ketten gelegt und zum Dienst als Träger oder Hilfssoldaten gezwungen. Massenhafte Zwangsrekrutierungen waren alltäglich, jeder Widerstand wurde umgehend mit öffentlicher Hinrichtung bestraft, um den Willen der Bevölkerung zu brechen. Dorfgemeinschaften flohen aus Angst in die Wälder und Wüstengebiete oder über die Grenzen.
Das deutsche Militär, das der Feuerkraft der Alliierten nichts entgegenzusetzen hatte, machte Dörfer dem Erdboden gleich, zerstörte die Felder und vergiftete Brunnen; es entstanden „Sperrgebiete“ oder „freigeräumte Gebiete“ –erbarmungslose Euphemismen für die Siedlungen, aus denen die Menschen zwangsvertrieben wurden. Als „entbehrlich“ angesehene Zivilisten wurden in behelfsmäßigen Lagern zusammengepfercht, in denen Hunger, Krankheiten und Verzweiflung herrschten. Logistische Anforderungen hatten Vorrang vor dem Leben. Das Leiden der Menschen war kein Kollateralschaden, es war Strategie.
Unter beiden Kriegsparteien zahlte die Zivilbevölkerung den höchsten Preis. Bauernhöfe wurden niedergebrannt, Häuser geplündert und Siedlungen beschossen. In Duala war die Hinrichtung von König Rudolf Manga Bell im
Volha Bartash
Vorkriegsfotografien aus dem heutigen Grenzgebiet zwischen Litauen und Belarus vermitteln einen lebendigen Eindruck vom Leben einer multiethnischen Gemeinschaft. Sie zeigen Momente der Freude und des traditionellen Lebens – Familien, die Feste feiern, Eltern, die ihre Kinder zur Schule bringen, und Nachbarn im Gespräch auf der Straße.
Eine dieser Aufnahmen entstand in Tetėnai. Die Fotografie zeigt die kleine Yaffa Sonenson, wie sie die Hühner im Hof des Sommerhauses ihrer Familie füttert. Es ist derselbe Tag, an dem deutsche Truppen ihren Heimatort Eišiškės besetzten. Dort lebten große jüdische und RomaGemeinschaften sowie Polen und Belarussen. Die Augen der kleinen Yaffa strahlen, das Gesicht leuchtet – es ist die Lebensfreude und Unbekümmertheit eines Kindes, das geborgen in seiner Welt lebt. Hinter der Kamera stand ihre Großmutter Alte Katz, die im Ort ein Fotostudio besaß. Anstelle von Yaffa könnte das Bild auch zwei andere Mädchen ihres Alters zeigen: die beiden Romnja Galina
Yaffa, Galina und Hanna
Überlebende Kinder deutscher Genozide in der belarussisch-litauischen Grenzregion
Vantsevich und Hanna Martsinkievich, die zu jenem Zeitpunkt ebenfalls friedlich im Kreise ihrer Familien lebten. Keine von ihnen hätte sich die Schrecken vorstellen können, die kurz darauf über sie hereinbrachen.
Die deutsche Besatzung war von furchtbarer Gewalt gekennzeichnet und zerstörte das Leben der vielfältigen Gemeinschaften in der Region. An die Stelle friedlicher Familienfotos trat eine neue visuelle Erzählung: Aufnahmen, die Besatzungssoldaten in Ortschaften überall in Litauen und Belarus machten. Diese Fotografien bezeugen nicht nur die Anwesenheit der Besatzer, sondern sind auch ein Zeugnis der schrecklichen Erlebnisse vieler Bewohnerinnen und Bewohner und der Fremdherrschaft.
Auf einer dieser Fotografien, die 1943 entstand und sich heute in der Sammlung des Deutschen Historischen Museums befindet, sind zwei gepflegt aussehende deutsche Wehrmachtssoldaten in einem litauischen Dorf an einem akkurat gedeckten Tisch zu sehen. Sie trinken aus weißen Porzellantassen, rauchen und strahlen das Selbstvertrauen von Männern aus, die sich als Herren über ihre
Umgebung verstehen. Die dörfliche Kulisse im Hintergrund mit den heruntergekommenen, strohgedeckten Holzhütten und verfallenen Zäunen steht im völligen Gegensatz dazu.
Das Bild fängt nur vordergründig einen Moment der Ruhe ein. Vielmehr offenbart es ein verstörendes Ungleichgewicht. Als Vertreter einer Besatzungsmacht übten diese Männer nicht nur militärische Kontrolle aus, sie brachten auch tiefgreifende Unsicherheiten und umfassende Zerstörungen mit sich. Sie raubten materielle Güter, plünderten lokale Ressourcen und setzten willkürliche Regeln gewaltsam durch. Die lokale Bevölkerung war unablässig der Drohkulisse einer kollektiven Bestrafung ausgesetzt. Eine weitere, unausgesprochene Form der Herrschaftsausübung war der Zugriff der deutschen Männer auf die einheimischen Frauen, insbesondere auf jene, die als besonders attraktiv galten. All diese Erinnerungen an die deutsche Besatzung sind bis heute in der einheimischen Bevölkerung tief verankert.
Die Besatzung in der damaligen Sowjetunion verlief besonders brutal. Im Zuge des „Generalplans Ost“ wollte das nationalsozialistische Deutschland weite Teile Osteuropas unterwerfen und in Gebiete mit rein deutscher Bevölkerung
umwandeln. Ausgehend von Hitlers „Lebensraum“-Ideologie legitimierte der Plan die Expansion durch Massenmord, bewussten Hungertod, Zwangsarbeit und Terror gegen die einheimische Bevölkerung. Auch wenn der Plan aufgrund der deutschen Niederlage nicht endgültig umgesetzt wurde, waren die Folgen verheerend. Ganze Ortschaften wurden dem Erdboden gleichgemacht, die demografischen Einschnitte wirkten langfristig nach.1
Was wurde aus der multiethnischen Gemeinschaft in der Region, was aus den Menschen, die einst Feste feierten, ihre Kinder zur Schule brachten und Hühner fütterten?
Die kleine Yaffa Sonenson gehörte zu den wenigen Überlebenden des Massakers an der jüdischen Gemeinde von Eišiškės im September 1941. In jenem Jahr wurde im gesamten Grenzgebiet von Belarus und Litauen ein Großteil der jüdischen Bevölkerung ermordet, oftmals mit Unterstützung einheimischer Kollaborateure. Die Nationalsozialisten nutzten bestehende Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen sowie den weitverbreiteten Antisemitismus, um den Genozid umzusetzen. Zu den Opfern zählte auch Yaffas Großmutter Alte Katz, die als Fotografin in der Gemeinschaft ein hohes Ansehen genoss.
Yaffa Sonenson am 23. Juni 1941. Es war das letzte Foto, das ihre Großmutter Alte Katz machte, bevor sie im September bei den Massenerschießungen in Eišiškės ermordet wurde
Es ist bekannt, dass beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 auch nichtdeutsche Truppen, vielfach Freiwilligenverbände, aufseiten der Wehrmacht kämpften. Weniger bekannt ist, dass im Zuge der militärischen Erfolge in Nordafrika auch außereuropäische Einheiten in die Wehrmacht integriert wurden, etwa arabische Verbände und eine indische Legion. Letztere trug offiziell den Namen Indisches Infanterie-Regiment 950, inoffiziell wurde sie „Tiger-Legion“ genannt, da ihre Soldaten am rechten Arm der Wehrmachtsuniform ein Abzeichen mit einem Tiger trugen, der zum Sprung ansetzt. Die Geschichte der Legion und ihre Einsätze waren bereits Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Ihre Rolle in der politischen und militärischen NSPropaganda aber ist bislang kaum beachtet worden, ebenso wenig die unterschiedlichen Formen von Rassismus, mit denen sie konfrontiert war.1
Die Indische Legion der Wehrmacht
Zwischen politischem Kalkül und nationalsozialistischer Propaganda
Feldwebel der Legion Freies Indien, Italien 1944
Im Jahr 1941 begann die Wehrmacht, indische Kriegsgefangene, die als Soldaten des Britischen Empire in Afrika gegen die Achsenmächte gekämpft hatten, auf freiwilliger Basis zu rekrutieren und im Deutschen Reich auszubilden. Anfang 1943 umfasste die Legion rund 3500 Soldaten, die im Mai 1943 an die niederländische Nordsee für den Küstenschutz abkommandiert wurden. Die dortige kühle und feuchte Witterung beeinträchtigte offensichtlich die psychische Verfassung der Soldaten, der deutsche Führungsstab hegte zudem den Verdacht, dass die indischen Legionäre zu gute Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung unterhielten. Ähnliche Befürchtungen hatte es auch schon in den Ausbildungslagern in Deutschland gegeben, wo die als exotisch betrachteten Inder womöglich eine große Anziehungskraft auf die deutschen Frauen ausübten. Liebesbeziehungen dieser Art galten als Bedrohung für die „rassische Reinheit“ der vom NS -Regime angestrebten „deutschen Volksgemeinschaft“.
Young-sun Hong
Wenn es darum geht, die Ausbeutung von Frauen aus dem Globalen Süden in Pflegeberufen zu analysieren, wird seit einigen Jahren gerne auf das Konzept der „globalen Sorgekette“ verwiesen. Das Phänomen gab es allerdings bereits in der Bundesrepublik der 1960er Jahre – und damit lange bevor die Women on the Move, die Arbeitsmigrantinnen, zu Symbolfiguren der strukturellen Ungleichheit der heutigen Globalisierung wurden.
Wie haben der westdeutsche Wohlfahrtsstaat und der südkoreanische Entwicklungsstaat ab den 1960er Jahren die breit angelegte Migration von Krankenschwestern aus Südkorea in die Bundesrepublik gemeinsam vorangetrieben? Dieses frühe Beispiel einer deutsch-koreanischen Verflechtung wird in den vorherrschenden Geschichtsdarstellungen trotz seiner historischen Bedeutung bisher weitgehend ausgespart. Für ein umfassenderes Verständnis des westdeutschen Wohlfahrtsstaats müssen beide Enden dieser globalen Verbindung betrachtet werden.
Vergessene Gastarbeiterinnen
Südkoreanische Krankenschwestern
In der Nachkriegszeit hatte die Kombination aus einer zunehmend älteren Bevölkerung und immer weniger Frauen, die eine anspruchsvolle, aber schlecht bezahlte Tätigkeit in der Pflege ausüben wollten, zu einem ernsthaften Arbeitskräftemangel im Gesundheitsbereich der Bundesrepublik geführt. Aufgrund des soziodemografischen Wandels stieg der Bedarf an Krankenschwestern, während gleichzeitig die Zahl der Frauen, die diese Tätigkeit ausüben wollten, sank. Auch bei den Ordensgemeinschaften, die früher den Großteil der Krankenschwestern gestellt hatten, gab es immer weniger Nachwuchs unter den Nonnen und Diakonissinnen.
Der Mangel an Krankenschwestern war derart gravierend, dass die deutsche Regierung ihre ablehnende Haltung gegenüber zugewanderten Arbeitskräften aus nichteuropäischen Ländern aufzugeben begann. Sie stimmte einer umfassenden Rekrutierung asiatischer Krankenschwestern
zu, und so stiegen südkoreanische Pflegekräfte rasch zur größten Gruppe unter den ausländischen Beschäftigten im westdeutschen Gesundheitssektor auf. Ohne sie, so der Konsens unter deutschen Gesundheitsexperten, hätten Krankenhäuser ihren Betrieb einstellen müssen. Ein Artikel in der Welt am Sonntag vom 27. Juli 1969 trug den passenden Titel „Letzte Hilfe für Krankenhäuser sind Asien und die dritte Welt“. Zwischen Januar 1969 und April 1970 wurden 83 Prozent der Arbeitserlaubnisse für nichteuropäisches Pflegepersonal an Südkoreanerinnen vergeben. Am 30. Juni 1972 lebten rund 5000 von ihnen in der Bundesrepublik, sie waren vorrangig im Gesundheitssektor beschäftigt.1
Die Entscheidung der Bundesregierung, Pflegepersonal in Südkorea zu rekrutieren, war keineswegs selbstverständlich oder gar zwangsläufig. Der zunehmende Bedarf an geringbezahlten Pflegekräften kam jedoch der Entwicklungsstrategie der südkoreanischen Regierung entgegen, bei der Frauen eine besondere Rolle zugedacht wurde. Auf verschiedene Art und Weise wurden sie in den 1960er und 1970er Jahren mobilisiert, um die Entwicklung ihres Landes zu unterstützen, etwa indem sie im Ausland arbeiteten und mit den dort verdienten Devisen ihre Familien unterstützten. Sie heuerten als „Industriesoldaten“ in freien Exportzonen an oder verdingten sich als Sexarbeiterinnen für US -Soldaten und japanische Touristen. Die Krankenschwestern waren insofern nur eine Facette eines umfassenderen Phänomens.
Südkorea war eines der ersten asiatischen Länder, die den Arbeitskräfteexport zu einem Eckpfeiler der nationalen Entwicklung machten. Federführend hierbei war Park Chung-hee, der 1961 durch einen Militärputsch an die Macht gelangte und in den folgenden annähernd zwei Jahrzehnten das Land beherrschte. Park hegte eine große Bewunderung für Deutschland und meinte eine ausgeprägte Verbindung zwischen beiden Ländern zu erkennen. Sein auch auf Englisch erschienenes Traktat mit dem Titel The Country, the Revolution, and I (Das Land, die Revolution und ich) enthielt ein Kapitel, das Deutschland gewidmet war: „The Miracle on the Rhine and the German People“ (Das Wunder am Rhein und das deutsche Volk).2 Laut Park beruhte das bundesrepublikanische Wirtschaftswunder auf einer unübertroffenen deutschen Liebe zur Ordnung und zur Arbeit. Daneben verwies er auf eine deutsche Tradition starker Führer. Es ließe sich nicht abstreiten, dass Bismarck und sogar Hitler Bedeutendes für ihr Volk erreicht hätten. Somit sei es durchaus berechtigt zu sagen, dass das Nachkriegswunder auf guter Führung beruhe.3 Das „Wunder am Rhein“ diente als Inspiration für die wirtschaftliche Transformation Südkoreas, das auch „Wunder am Han“ genannt wurde.4
Um dem südkoreanischen Wirtschaftswunder Schwung zu verleihen, organisierte die Regierung unter anderem den Massenexport von Krankenschwestern in die Bundesrepublik. In den Medien des Landes wurden die
Flughafen Berlin-Tegel, 1969
Bühnenbildmodell zu Die Räuber (Friedrich Schiller) // Bühnenbild: Wilfried Minks (1966) // Nachbau
am Goetheplatz in Bremen // DHM, Pol 2000/21
1999: Corinna Schasse mit freund licher Genehmigung von Wilfried Minks // Inszenierung von Peter Zadek am Theater
Guckkasten und Weltmodell
„Die ganze Welt ist eine Bühne“, proklamierten bereits 1599 die Schauspieler in William Shakespeares Stück Wie es euch gefällt. Aber ist die Theaterbühne dann nicht immer auch ein Spiegel der Welt? In der Sammlung Alltagskultur des Deutschen Historischen Museums befinden sich zahlreiche BühnenbildModelle bedeutender Inszenierungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Julia Franke hat sie sich gemeinsam mit Janina Audick, Bühnenbildnerin und Professorin für Bühnenbild an der Universität der Künste Berlin, sowie Jan Lazardzig, Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, genauer angesehen.
JULIA FRANKE Die Sammlung der Bühnenbild-Modelle im DHM entstand im Wesentlichen im Rahmen der Ausstellung Einigkeit und Recht und Freiheit. Wege der Deutschen 1949–1999, die gemeinsam vom Deutschen Historischen Museum, dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der Kunstund Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland erarbeitet und 1999 anlässlich des 50. Jahrestags der Gründung der Bundesrepublik im Berliner Martin-Gropius-Bau gezeigt wurde. In der Ausstellung wurden jeweils 20 Bühnenbild-Modelle von Inszenierungen aus der DDR und aus der BRD gezeigt. Nach dem Ende der Laufzeit wurde ein Teil der Modelle, die eigens für die Ausstellung 1999 angefertigt wurden, in die Sammlung des DHM übernommen. Erstaunlicherweise befand sich darunter nur ein Modell einer Inszenierung aus der DDR. Ich möchte gerne mit Ihnen über diese Modelle als zeithistorische Quellen sprechen: Was sagt die Sammlung über das Theater allgemein, über das Theater dieser Zeit, aber auch über die Sammlung im DHM aus?
JANINA AUDICK Es handelt sich um wichtige Stationen in der Geschichte der Bühnenbilder, insbesondere der 1960er bis 1980er Jahre. Mir fällt auf, dass es mehrheitlich Guckkasten-Bühnen sind, obwohl in dieser Zeit viele andere Bühnen-Arrangements entstanden sind. Die Guckkasten-Bühne mit ihren drei geschlossenen Wänden trennt klar zwischen Bühne und Zuschauerraum, wohingegen eine Raumbühne zum Beispiel von allen Seiten vom Publikum umgeben sein kann. Unter anderem in der Weimarer Republik gab es einen Paradigmenwechsel weg von der klaren Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum. Die Raumbühne ließ zwischen den Zuschauenden und den Akteuren eine andere Form der Zusammenarbeit zu. Passend zu den politischen Veränderungen damals wurden die hierarchischen Strukturen auf der Bühne aufgebrochen – also die klare Trennung zwischen Zuschauenden und Spielenden, weg vom Guckkasten hin zur bewussten Auflösung der vierten Wand und hin zum Publikum.
An den vorliegenden Modellen kann man auch die Entwicklung vom eher bildarmen politischen Theater der 1960er/70er Jahre zum Bildertheater späterer Jahre ablesen, dessen Bühnenbilder deutlich opulenter waren und das Theater an sich reflektierten. Und natürlich fällt mir als weiblich gelesene Bühnenbildnerin auf, dass nur männlich gelesene Bühnenbildner aus der Zeit in die Sammlung eingegangen sind und auch nur eine Regisseurin vertreten ist. Es handelt sich also um Inszenierungen, die sehr aus der männlich-weißen und dazu aus einer westdeutschen Perspektive heraus gedacht und auch bildnerisch präsentiert sind.
Wie äußerten sich diese Perspektiven auf der Bühne? Haben Sie ein konkretes Beispiel vor Augen?
JA Das Bühnenbild von Karl-Ernst Herrmann war zum Beispiel stilbildend in Peter Steins Inszenierung von Prinz Friedrich von Homburg 1972. Es zeigte eine kühle, preußische Ästhetik mit uniformierten Männern in strenger Symmetrie und spiegelte eine hierarchische, autoritäre Gesellschaft wider, die sich mit Gehorsam und Schuld beschäftigte, dabei aber strukturelle Gewaltverhältnisse wie Kolonialismus oder Geschlecht ausblendete. Im Zentrum steht das innere Drama eines weißen, männlichen Prinzen, der als universelles Subjekt dargestellt wird, während andere Perspektiven räumlich und narrativ an den Rand gedrängt werden. Das Bühnenbild repräsentierte somit eine weiße, patriarchale Gesellschaftsordnung, ohne diese zu hinterfragen. Trotz autoritätskritischer Ansätze blieb die Inszenierung in einer männlich-weißen Sichtweise verhaftet und ignorierte Themen wie Diversität oder Gender. Daran zeigt sich, wie Bühnenästhetik politische und kulturelle Perspektiven sichtbar macht und gleichzeitig andere ausschließt. Davon
Janina Audick
wollte ich mich als Bühnenbildnerin bewusst absetzen; meine Studierenden und ich blicken heute deutlich kritischer auf solche tradierten Bühnenkonzepte.
JAN LAZARDZIG Es ist in der Tat faszinierend zu sehen, dass es hier um diese Guckkästen geht, also um Illusionsbühnen, um Bühnenbilder, bei denen das Verhältnis von Zuschauenden und Agierenden eben nicht oder nur eingeschränkt infrage steht. Oder die Möglichkeit, das Verhältnis infrage zu stellen, nicht im gleichen Maße gegeben ist wie in einer Raumbühne, in der die Situation ja viel offener ist und man sich anders begegnet als in einem klassischen Theatersetting. Beim zweiten Hingucken ist mir aufgefallen, dass die Einschlägigkeit der Inszenierungen der Modelle des DHM im Großen und Ganzen nur in Bezug auf eine westdeutsche Theatergeschichte gegeben ist: von Gründgens’ Faust I von 1957 am Hamburger Schauspielhaus über Claus Peymanns FaustInszenierung in Stuttgart von 1977 bis hin zu Pina Bauschs Nelken von 1982. Oder auch Peymanns Publikumsbeschimpfung von 1966 oder Wilfried Minks’ Pop-Art-/Roy-Lichtenstein-Bühne für Die Räuber in Bremen im selben Jahr. Für die ostdeutsche Theatergeschichte finde ich die Sammlungsauswahl mit Die neuen Leiden des jungen W. von 1972 am Theater des Friedens in Halle ein bisschen zufällig und unbefriedigend. Diese war 1999 also lediglich kanonisch für West und nicht kanonisch für Ost.
Eine Auswahl und eine Sammlung sind immer auch Zeitgeschichte. Was erzählt uns das Konvolut über den Zeitpunkt seiner Entstehung?
Guckkasten und Weltmodell
Florian Grundmüller
Mail Art, das ist Kunst per Post. So oder so ähnlich lässt sich die in den 1960er Jahren entstandene Kunstrichtung auf eine kurze Formel bringen. Ihre Entstehung wird auf den US -amerikanischen Fluxus-Künstler Ray Johnson zurückgeführt. Seine Idee war es, über das internationale Postsystem Performance-, Fluxus- und Neo-Dadaismus-Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt in einen Dialog zu bringen und so ein globales Netzwerk zu knüpfen. Der Name „Mail Art“ wurde 1971 vom französischen Kunstkritiker Jean-Marc Poinsot eingeführt und beschreibt Kunst, die ausschließlich mithilfe des Postsystems entsteht.
Mail Art ist, ganz im Sinne des Fluxus, eine subversive Kunstform, die sich abseits der etablierten Kunstgalerien und Museen positioniert. Sie beginnt mit einem Aufruf im „ewigen Netzwerk“1: In Zines und Underground-Publikationen stellen die Mail Artists thematische Aktionen vor und rufen dazu auf, ihnen Postkarten, Briefe, Plakate, Objekte per Post zuzusenden. Elementarer Bestandteil der Mail Art ist, dass die Kunstwerke die Spuren
Mail Art –grenzenlose Kunst
des Postsystems tragen, also Briefmarke und Poststempel. Mail Artists gestalten aufwendige Briefumschläge, kreieren auf Postkarten Collagen mit satirischen und politischen Motiven, gestalten ihre eigenen Briefmarken, sogenannte Artistamps, und Poststempel aus Radiergummi. Mail Art-Sendungen sind bunt gestaltete Kunstobjekte, auf denen Artistamps neben offiziellen Briefmarken kleben, immer mit dem Ansinnen, die Post zum Publikum der Kunst zu machen. Der US -amerikanische Mail Artist John Held Jr. betont sogar, es sei eines der größten Ziele eines Mail Artists, dass die eigene Briefmarke unbemerkt in der Postfiliale abgestempelt werde.2 Die Mail Art wurde zu Beginn für das Postsystem zur ganz eigenen Herausforderung, denn nicht selten wurden auch Gegenstände wie Pflastersteine, Steinplatten, Holzpaletten oder Luftballons als „Postkarten“ verschickt. Da das Porto passend für Gewicht und Größe der Sendungen war, stellte die Post meist auch diese Gegenstände zu.
Mail Art findet also immer im Wechselspiel mit der Post statt. So gestaltete der Fluxus-Künstler Ben Vautier 1965 eine Postkarte,
Franka Maubach und Shuyang Song
„Über eine halbe Million Besucher haben die große Preußenausstellung in Berlin gesehen“, resümierte der FAZ -Korrespondent Peter Jochen Winters im November 1981. Der Andrang sei ein Zeichen „für das wiedererwachte Geschichtsinteresse der Deutschen“.1 Drei Monate lang war der Martin-Gropius-Bau in Berlin (West) Ort einer gigantischen Schau preußischer Geschichte, die in der Bundesrepublik Maßstäbe für die innovative Vermittlung von Geschichte setzte. „Exponat Nr. 1“ war das Gebäude selbst: im Krieg zerstört, behelfsmäßig saniert, unmittelbar an der Mauer gelegen, daneben die Brache des ehemaligen Gestapogeländes.
Schon am Eröffnungstag wurden Forderungen laut, in dem Gebäude ein „repräsentatives Museum für deutsche Geschichte“ unterzubringen, das zur „Einheit der deutschen Nation“ beitragen solle, wie Winters mit patriotischem Pathos schrieb.2 Tat-
Auf der Suche nach der deutschen Identität
Die „Preußenrenaissance“ und die Gründung des Deutschen Historischen Museums
sächlich lässt sich die Gründung des Deutschen Historischen Museums (DHM ) 1987 ohne die Vorgeschichte der „Preußenausstellung“, die ihrerseits Teil einer größeren „Preußenrenaissance“ war, kaum verstehen. Die Ausstellung, die unter dem Titel Preußen. Versuch einer Bilanz firmierte, könnte so als ein „Probelauf“ verstanden werden. Sie prägte die seit 1976 im Berliner Abgeordnetenhaus laufenden Diskussionen um das Konzept eines nationalhistorischen Museums – des späteren DHM – maßgeblich mit.3 Warum stehen ausgerechnet diese Ausstellung und die Pläne für ein Museum zur Nationalgeschichte in so engem Zusammenhang?
Ein doppeldeutscher Geschichtsboom
Die 1970er und vor allem die 1980er Jahre waren in der Bundesrepublik von einem außerordentlichen Geschichtsboom geprägt. Preußen war nur eines von vielen historischen Themen,
für die „Preußenausstellung“, 1981
Auf der Suche nach der deutschen Identität
Hängung des Reiterstandbildes Wilhelms I. an einen Ballon im Lichthof des Martin-Gropius-Baus
Poppe im Gespräch mit Matthias Struch
„Ich war nicht stark, ich war zu wütend, um aufzugeben“
Ulrike Poppe, Bürgerrechtlerin und Protagonistin der DDROpposition, arbeitete von 1976 bis 1988 in den Sammlungen des Museums für Deutsche Geschichte (MfDG), eine der VorläuferInstitutionen des DHM. Während dieser Zeit protestierte sie 1976 gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, eröffnete mit Gleichgesinnten 1980 den ersten unabhängigen Kinderladen im Prenzlauer Berg, war 1982 Mitbegründerin der DDR-Initiativgruppe „Frauen für den Frieden“ als Teil eines internationalen Netzwerks und in weiteren oppositionellen Gruppen aktiv. Ihr Engagement führte zu einer umfassenden Überwachung und „Zersetzung“ durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Matthias Struch hat Ulrike Poppe zu dieser Zeit befragt. Das Gespräch, hier in Auszügen, fand im Dezember 2024 in Poppes Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg statt. Bei unsicherer Erinnerung holte sie telefonisch eine Freundin und ehemalige Kollegin am MfDG oder ihren früheren Mann und Wegbegleiter, den Physiker und Bürgerrechtler Gerd („Poppoff“) Poppe, der Ende März 2025 verstorben ist, hinzu.
Ulrike
Ulrike Poppe am Zeughaus, Juli 2025
„Die Geschichte ist ein Versprechen oder eine Drohung für die Zukunft.“