Leseprobe Historische Urteilskraft 06

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Historische Urteilskraft

Magazin des Deutschen Historischen Museums

Glaube – Biologie – Macht

Volker Braun über Strapazen der Urteilskraft

Annett Gröschner über das Zeughaus

Julia Franke über Elefanten im Kanzleramt

Natur und deutsche Geschichte

Mit Beiträgen von Margot E. Fassler, Annette Kehnel, Frank Uekötter u.a.

Liebe Leserinnen und Leser,

unser Titelbild zeigt bauliche Spuren der geplanten Reichsautobahn bei Gräfendorf zwischen Fulda und Würzburg. Die Arbeiten wurden 1939 abgebrochen. Die Künstlerin Laura J. Padgett hat im März 2024 die Überreste fotografiert, die unter Moosen und Gräsern verschwinden.

Die Fotografie führt in das dunkelste Kapitel unseres Titelthemas „Natur und deutsche Geschichte“, mit dem wir dem sich wandelnden Begriff und der veränderlichen Bedeutung von „Natur“ nachgehen. Wie der Bau der NS -Autobahnen zu einem Projekt deutschen Naturschutzes verklärt wurde, führt Nils Franke in seinem Beitrag aus. Insgesamt umspannt der Untersuchungszeitraum der Beiträge 900 Jahre: In einführenden Artikeln geben Annette Kehnel, Jutta Nowosadtko

Editorial

und Frank Uekötter einen Überblick zu Mittelalter, Neuzeit und dem 19. und 20. Jahrhundert. Margot E. Fassler erkundet Hildegard von Bingens Begriff der viriditas, darauf folgen die Beiträge von Hiram Kümper zur Hanse und Viktoria Urmersbach zum Wald. Tilo Wesche stellt die Dialektik der Naturverhältnisse bei Horkheimer und Adorno vor. Stephen Milder untersucht die frühe Anti-Atomkraftbewegung und Astrid M. Eckert erläutert das Nationalparkprogramm der späten DDR

In der ersten Ausgabe des DHM -Magazins erschien ein Essay von Daniel Kehlmann über den namensgebenden Begriff „Historische Urteilskraft“, der eine Reihe zu diesem Thema eröffnete – in der aktuellen Ausgabe ist es nun Volker Braun, der unter dem Titel „Strapazen der Urteilskraft“ mit einer Pointe aufwartet, die die Urteilskraft der Leserinnen und Leser auf die Probe stellt.

Im zweiten Teil des Magazins ordnet Julia Franke die Elefanten-Sammlung Juliane Webers in den historischen und Sammlungskontext ein – Juliane Weber war die langjährige Büroleiterin von Bundeskanzler Helmut Kohl. Sie verstarb im Dezember 2023. Liliane Weissberg sprach über die Bedeutung der Aufklärung mit Martha C. Nussbaum, Lorraine Daston und Neil MacGregor. Ansbert Baumann beleuchtet für uns die Geschichte des Gastarbeiterfußballs in der Bundesrepublik. AnnaCarolin Augustin beschäftigt sich mit Schenkungen des MfDG an das USHMM Ulinka Rublack, Stephanie Neuner, Brigitte Reineke und Mathias Lang trafen sich in unserer Gemäldesammlung, um die Augsburger Monatsbilder zu erkunden. Laura J. Padgett erstellte einen Foto-Essay zur Lage des Zeughauses in Berlin-Mitte, den

Annett Gröschner mit ihren Überlegungen begleitet – ermöglicht hat diese beiden Beiträge eine großzügige Spende des Museumsvereins, dafür mein großer Dank!

Das Ziel des Deutschen Historischen Museums ist die Stärkung historischer Urteilskraft. Von Anfang an, also seit 2018, unterstützen uns Christiane und Nicolaus Weickart in vollem Umfang darin, dieser Idee in dem gleichnamigen Magazin und einer Symposiumsreihe nachgehen zu können: Ich möchte mich herzlich bedanken für das Vertrauen, das sie uns und unserer Arbeit entgegenbringen.

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.

Ihr Raphael Gross

Inhalt

Raphael Gross 1 Editorial 4 Autorinnen und Autoren Volker Braun 6 Strapazen der Urteilskraft

TITELTHEMA

Natur und deutsche Geschichte

Glaube – Biologie – Macht

Annette Kehnel

10 Commons-Wirtschaft im Mittelalter

Wie unsere Vorfahren Externalitäten internalisierten

Jutta Nowosadtko

15 Natur in der Frühen Neuzeit

Frank Uekötter

19 Von der Unzähmbarkeit des Fragilen

Natur im 19. und 20. Jahrhundert

Margot E. Fassler

24 O leuchtend grüner Zweig sei gegrüßt

Die natürliche Welt bei Hildegard von Bingen

Hiram Kümper

30 Mächtige Brückenwärter

Die Hanse und der nordeuropäische Handel mit Nahrungsmitteln

Viktoria Urmersbach

Vom

Nils Franke

Von den Wurzeln und der Breitenwirkung lokaler Proteste

Astrid M. Eckert

Das Nationalparkprogramm der späten

Laura J. Padgett

Fotografien aus dem Berliner Zeughaus

Annett Gröschner

Zeughaus ohne Zeug

Stephanie Neuner im Gespräch mit Mathias Lang, Brigitte Reineke und Ulinka Rublack

Ansbert Baumann

„Gastarbeiterfußball“ in der Bundesrepublik Deutschland

Anna-Carolin Augustin

Transatlantische Kulturdiplomatie und Wege jüdischen Kulturguts

Julia Franke

Ein Blick auf Elefanten im Bundeskanzleramt der Bonner Republik

Liliane Weissberg fragt Martha C. Nussbaum, Neil MacGregor und Lorraine Daston

Autorinnen und Autoren

Anna-Carolin Augustin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut in Washington D.C. Dort beschäftigt sie sich unter dem Projekttitel Remnants Saved from the Fire. A Transnational History of Jewish Ceremonial Objects after 1945 mit den Objektbiografien und Migrationsbewegungen jüdischer Ritualobjekte nach 1945.

Ansbert Baumann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte an der Universität des Saarlandes und Lehrbeauftragter an der Eberhard Karls Universität Tübingen sowie am Institut d’études politiques de Paris.

Volker Braun war Mitarbeiter am Berliner Ensemble und von 2006 bis 2010 Direktor der Sektion Literatur der Akademie der Künste, Berlin. Im Jahr 2000 erhielt er den GeorgBüchner-Preis. Zuletzt erschien Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben

Lorraine Daston

ist emeritierte Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und Gastprofessorin im Committee on Social Thought der University of Chicago. Sie hat zahlreiche Publikationen zu Themen der Wissenschaftsgeschichte veröffentlicht. Ihre neuesten Bücher sind Rules: A short History of What We Live By und Rivals: How Scientists Learned to Cooperate

Astrid M. Eckert ist Professor of modern German and European History an der Emory University in Atlanta. 2022 erschien ihr Buch Zonenrandgebiet. Westdeutschland und der Eiserne Vorhang. Derzeit ist sie Fellow am Wissenschaftskolleg in Greifswald und arbeitet zur Geschichte des Naturschutzes in der DDR.

Margot E. Fassler ist Keough-Hesburgh Professor of Music History and Liturgy an der University of Notre Dame. 2022 veröffentlichte sie Cosmos, Liturgy, and the Arts in the Twelfth Century: Hildegard’s Illuminated ‚Scivias‘

Julia Franke ist Kulturwissenschaftlerin und Leiterin des Fachbereichs Alltagskultur II (Zivile Kleidung und Textilien – Politik – Religiöse Kulturen –Sonderinventar – Abzeichen) am Deutschen Historischen Museum.

Nils Franke ist Historiker und Kommunikationswissenschaftler. 2017 erschien Naturschutz – Landschaft – Heimat. Romantik als eine Grundlage des Naturschutzes in Deutschland

Annett Gröschner ist Schriftstellerin und Journalistin. 2021 erhielt sie den Großen Kunstpreis Berlin – Fontanepreis und den Klopstock-Preis des Landes Sachsen-Anhalt. Zuletzt erschien Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat.

Annette Kehnel ist Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim. 2021 erschien Wir konnten auch anders: Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit

Hiram Kümper ist Professor für Geschichte des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit an der Universität Mannheim. 2020 veröffentlichte er Der Traum vom Ehrbaren Kaufmann: Die Deutschen und die Hanse

Mathias Lang ist Gemälderestaurator im Fachbereich Konservierung und Restaurierung am Deutschen Historischen Museum.

Neil MacGregor ist Kunsthistoriker und Museumsexperte. Er war langjähriger Direktor der National Gallery und des British Museum in London, bevor er von 2015 bis 2018 als Gründungsintendant des Humboldt Forums in Berlin wirkte. Seit 2021 ist er Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Musée du Louvre. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählen Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten und Deutschland. Erinnerungen einer Nation

Stephen Milder ist Assistant Professor an der Rijksuniversiteit Groningen und Research Fellow am Rachel Carson Center der LMU München. Er ist der Autor von Greening Democracy: The Anti­Nuclear Movement and Political Environmentalism in West Germany and Beyond, 1968–1983.

Stephanie Neuner ist Historikerin. Sie leitet den Fachbereich Ständige Ausstellung am Deutschen Historischen Museum.

Jutta Nowosadtko ist Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der HelmutSchmidt-Universität, Hamburg.

Martha C. Nussbaum ist Ernst Freund Distinguished Service Professor of Law and Ethics an der University of Chicago. Ihre jüngste Veröffentlichung ist Justice for Animals: Our Collective Responsibility. Im Oktober 2024 erscheint The Tenderness of Silent Minds: Benjamin Britten and his ‚War Requiem‘. Derzeit arbeitet sie an einem Buch über die Oper mit dem Titel The Republic of Love: Opera, Breath, and Freedom.

Laura J. Padgett  ist eine US-amerikanische Künstlerin, die vor allem mit den Medien Fotografie und Film arbeitet. Sie lebt in Frankfurt am Main.

Brigitte Reineke ist Kunsthistorikerin und leitet den Fachbereich Zentrale Dokumentation und Provenienzforschung am Deutschen Historischen Museum.

Ulinka Rublack lehrt Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit am St John’s College in Cambridge/GB. Zuletzt erschien von ihr Dürer im Zeitalter der Wunder

Frank Uekötter ist Professor an der RuhrUniversität Bochum, wo er den Lehrstuhl für Technik- und Umweltgeschichte leitet. 2022 erschien Atomare Demokratie. Eine Geschichte der Kernenergie in Deutschland.

Viktoria Urmersbach ist Historikerin, Journalistin, Autorin und Leiterin des Stadtteilarchivs Ottensen e. V. – Geschichtswerkstatt für Altona.

Liliane Weissberg ist Christopher H. Browne Distinguished Professor in Arts and Science an der University of Pennsylvania und Literatur- und Kulturwissenschaftlerin.

Tilo Wesche ist Professor für Praktische Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zuletzt erschien 2023 Die Rechte der Natur. Vom nachhaltigen Eigentum

Autorinnen und Autoren

CommonsWirtschaft im Mittelalter

Wie unsere Vorfahren

Externalitäten

internalisierten

Das deutsche Wort „Allmende“ kommt aus dem Althochdeutschen und meint wörtlich „al(ge)meinde“ (alagimeinida, engl. common land, franz. pâturage commun, ital. pascolo comune).1 Heute hat sich der Begriff „Commons“ durchgesetzt, da für manche „Allmende“ zu sehr nach saftigen Schweizer Wiesen und romantischen Almhütten klingt und irreführende Assoziationen wecken könnte. Bei der gemeinschaftlichen Nutzung von Ressourcen jedoch geht es um viel mehr als nur um gemeinsame Weiderechte. Wer in die Geschichte zurückblickt, kann feststellen, wie weit diese Praxis verbreitet war: Das gesamte Mittelalter hindurch wurden Wälder gemeinschaftlich bewirtschaftet, ein gemeinschaftlich organisiertes Recht galt für das Sammeln von Brenn- und Bauholz, für das Stechen von Torf sowie für die Nutzung von Baustoffen, wie Steinen, Kalk, Kies oder Schilf. Auch wurden Gewässer, Fischteiche oder Obstwiesen gemeinsam genutzt. Im Nordwesten Europas wurde vielerorts Plaggendüngung betrieben, für die man gemeinsam die Erdoberfläche von kargen Landstrichen abtrug, als Streu im Kuhstall verwendete, um sie dann, angereichert mit Viehmist, als Dünger auf Allmenden und Privatäcker auszubringen. Viele Gemeinden bewirtschafteten gemeinschaftlich Immobilien- und Werkzeugparks, Stallungen, Ökonomie- und Lagerräume oder auch Mühlen, Hammerschmieden, Waschhäuser, Bad- und Backstuben, Darröfen, Öltrotten, Scheunen und Getreidespeicher. Vielerorts geschah die Trockenlegung von Sumpfland in Korporationen, auch Brücken, Wege und Bewässerungsanlagen wurden gemeinschaftlich organisiert ebenso wie öffentliche Dienstleistungen für die Sicherheit und Fürsorge, wie etwa Rattenfänger, Nachtwächter oder die Feuerwehr. Wo man hinblickt, finden sich Korporationen, Bruderschaften, Zünfte und Nachbarschaften als Bewirtschaftungsgemeinschaften.2

Transhumanz, die seit Jahrhunderten praktizierte Wanderweidewirtschaft auf nicht eingehegten Weidegebieten, in Südfrankreich. Sie wurde 2023 in die „Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ der UNESCO aufgenommen

Garrett Hardin und der Mythos von der „Tragödie der Allmende“

Diese historischen Fakten sind vielen nicht bekannt. Nach wie vor gilt es als ausgemacht, dass gemeinschaftliche Bewirtschaftung von Ressourcen zwar etwas Schönes sei, aber leider in der Praxis nicht funktionieren könne. Was allen gemeinsam gehört, wird von allen gemeinsam vernachlässigt. Das gilt als Binsenweisheit. Man stelle sich eine Bergweide vor, frei zugänglich zur Nutzung für alle. Jeder rational kalkulierende Bauer im Dorf würde möglichst viel Vieh auf diese Weide treiben, denn es kostet ihn nichts und er profitiert unmittelbar, spart Futter und verkauft mehr Milch. Die Kosten für den Schaden durch Überweidung dagegen würden von der Dorfgemeinschaft gemeinsam getragen, er müsste sie also nur anteilig bezahlen und überdies entstünden sie erst mit Verzögerung – dann, wenn die Weide wirklich ruiniert wäre. Schlussfolgerung: Jeder ist der Gefangene des Systems, das ihn geradezu zwingt, seine Herde ständig zu vergrößern. Eine Gesellschaft, die an die Freiheit der Gemeingüter glaubt, rennt zwangsläufig in den Ruin: „Freedom in a commons brings ruin to all.“3

Das Beispiel stammt von dem US-Ökologen Garrett Hardin aus seinem berühmt gewordenen Aufsatz The Tragedy of the Commons aus dem Jahr 1968 und scheint sich auf den ersten Blick mit unserer Alltagserfahrung zu decken: mit dem Ärger über die Teeküche einer Wohngemeinschaft, in der sich Geschirr- und Müllberge türmen und keiner den Wasserhahn repariert, mit der Erinnerung an den mit viel

Enthusiasmus angelegten Gemeinschaftsgarten, der daran scheiterte, dass jeder ernten, aber keiner Unkraut jäten möchte. „Was gemeinsam genutzt wird, wird gemeinsam vernachlässigt“ – quod communiter geritur, communiter neglegitur, sagte bereits Aristoteles. Der durchschlagende Erfolg von Hardins „Tragödie der Allmende“ ist nicht weiter verwunderlich. Sein Aufsatz zählt zu den meistzitierten des 20. Jahrhunderts und lag lange den Forschungen zur Allmende zugrunde.4

Elinor Ostrom und die Gegenstimme der politischen Ökonomie

Inzwischen ist Hardins Ansatz mehr als ein halbes Jahrhundert alt. In den Wissenschaften hat sich das Blatt gewendet, unter anderem mit den Forschungen der Ökonomin und Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom: „Die wichtigste Lehre für die Analyse der öffentlichen Politik, die ich aus meiner intellektuellen Reise gezogen habe, ist, dass die Menschen eine komplexe Motivationsstruktur und mehr Fähigkeiten zur Lösung sozialer Dilemmata haben, als in der früheren Rational-Choice-Theorie angenommen wurde.“5 Menschen sind zur kooperativen Nutzung kollektiver Ressourcen (Allmendegüter) in der Lage.

In dieser Kurzformel sind die Ergebnisse ihrer langjährigen Forschungen zusammengefasst. Ostrom untersuchte über Jahrzehnte hinweg Formen der gemeinschaftlichen Nutzung, insbesondere von Wasservorräten und Fischgründen, und stellte fest, dass die Fähigkeiten der

Von der Unzähmbarkeit des Fragilen

Natur im 19. und 20. Jahrhundert

Wenn nichts mehr geht, geht immer noch Natur. „Neue, uns auch jetzt noch unerklärliche Eigenschaften der Natur haben all unserer Bemühungen gespottet“, erklärte der Vorstandsvorsitzende der BASF Carl Bosch 1921 auf der Trauerfeier für die Opfer der Explosionskatastrophe von Oppau.1 Mehr als 500 Menschen waren gestorben, weil ein Düngemittelsilo bei einer Lockerungssprengung in die Luft geflogen war. Der explodierte Stickstoffdünger war ein Produkt der Hochdrucksynthese, die BASF im Chemiewerk Oppau bei Ludwigshafen im großen Stil nutzte. Da hätte es nahegelegen, über die Risiken industrieller Großtechnik zu reden. Bosch sprach jedoch lieber über Natur, und damit stand er nicht allein: Noch heute kann man seine Trauerrede auf der Internetseite der BASF nachlesen.

Wer über den Naturbegriff nachdenkt, stolpert mit einer gewissen Unvermeidlichkeit über die Bemerkung von Raymond Williams, „Natur“ sei das vielleicht komplexeste Wort der englischen Sprache.2 Inzwischen ist fast ein hal-

bes Jahrhundert seit dem Erscheinen seiner Keywords vergangen, und neben der Komplexität besticht das Wort inzwischen auch durch seine Unverwüstlichkeit. Normalerweise zeigen Begriffe bei inflationärem Gebrauch gewisse Abnutzungserscheinungen, aber die Natur dient weiterhin als quicklebendiger Bezugspunkt für politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Anliegen aller Art. Der Fantasie scheinen bei diesem Spiel kaum Grenzen gesetzt. Natur taugt als Legitimation für soziale Bewegungen, als Slogan für Marketing-Abteilungen, denen gerade nichts Besseres einfällt, als Etikett für Erholungsgebiete und vieles mehr, und meist bedarf es keiner tiefschürfenden Überlegungen, um die Naivität des Bezugs zu erkennen. Genutzt wird der Begriff trotzdem. Natürlich.

Als Grundlage des menschlichen Lebens ist Natur leider weniger robust. Im 21. Jahrhundert weiß jeder aufgeklärte Zeitgenosse um die ökologische Selbstgefährdung des Menschen, und das ist lediglich der planetarische Schlusspunkt einer Geschichte der hemmungslosen Aneignung natürlicher Ressourcen in der Moderne. Wer die GeSatirisches Plakat gegen Umweltzerstörung und die Macht von Konzernen, KünstlerGruppe „Foto, Design, Grafik, Öffentlichkeitsarbeit“ (FDGÖ), 1978

schichte der Mensch-Natur-Beziehung im Sauseschritt durch die Jahrhunderte betrachtet, dem drängt sich der Eindruck auf, der Mensch habe sich im 19. Jahrhundert in einen Makroparasiten verwandelt. In völlig neuartigen Dimensionen wurden Naturräume verschmutzt, Bodenschätze geplündert, Lebewesen ausgerottet oder ans andere Ende der Welt verschickt, und meist war die Frage nach den Folgen ein schwacher Nachgedanke –sofern sie überhaupt gestellt wurde. Nie zuvor hat die Menschheit ihre natürlichen Lebensgrundlagen derart brutal ausgebeutet.

Allmacht und Ohnmacht

Eine solche globale Rücksichtslosigkeit lädt zu einem ähnlich globalen intellektuellen Rundumschlag ein. Die jüngste Fassung legte kürzlich Philipp Blom in seinem Buch Die Unterwerfung vor, eine Weltgeschichte des menschlichen Wahns, über der Natur zu stehen.3 Die Beweislage erscheint auf den ersten Blick eindeutig. Wer mag schon von etwas anderem als blindwütiger Hybris reden, wenn Menschen sich an der eigenen Macht über die Natur berauschen und buchstäblich den Ast absägen, auf dem sie sitzen? Aber ähnlich wie bei der Natur ist es auch bei der Gefährdung der Natur: Es lohnt sich, genauer hinzusehen.

Gewiss fehlte es nicht an festlichen Reden, die zum Beispiel bei der Eröffnung eines Verkehrsprojekts den menschlichen Sieg über eine widerstrebende Natur beschworen. Die feierliche Stimmung relativierte sich im Alltag jedoch schnell. Mal blockierte ein Erdrutsch die neu gebaute Passstraße, mal wuchs der Frust im automobilen Stau, und natürlich interessierte es die Menschen auch, wer eigentlich die Kosten solcher Großprojekte trägt. Wer tief in der Erde einen Tunnel durch die Alpen trieb, konnte mit menschlichen Allmachtsfantasien wohl ohnehin nicht viel anfangen, und das war die Extremversion einer Urerfahrung des schaffenden Menschen. Früher oder später lernte man, dass man besser mit der Natur arbeitete als gegen die Natur.

Außerdem gab es auch Menschen, die sich für die Natur begeisterten. Ein nicht unerheblicher Teil der deutschen Kunst- und Literaturgeschichte kündet von den Emotionen, die der Kontakt mit der freien Natur auszulösen vermag. Im 20. Jahrhundert konnte man die Faszination der Alpen oder des Schwarzwalds auch an den Hotelbuchungen ablesen. Hinzu kamen zahlreiche Verbände und Körperschaften, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert

O leuchtend grüner Zweig sei gegrüßt

Die natürliche Welt bei Hildegard von Bingen

Die Vorstellung Hildegard von Bingens (1098–1179) von der Natur ist eng verknüpft mit ihrer theologischen Deutung des Kosmos und der Stellung der Erde und des Menschen darin. Ausgehend vom ersten Teil der Genesis entwarf Hildegard eine Geschichte der Schöpfung und Neuschöpfung, wobei sie die ererbte Tradition vor dem Hintergrund des Christentums des 12. Jahrhunderts weiterentwickelte. Wie vor ihr Augustinus, der sich in fünf teils selbstständigen Schriften mit dem Anfang der Bibel und der Schöpfungsgeschichte auseinandergesetzt hatte, ging Hildegard bei ihrer Beschäftigung mit dem Göttlichen von der sie umgebenden Welt aus.

Im vorliegenden Beitrag werden einige Motive aus liturgischen Liedern Hildegard von Bingens herausgearbeitet und gezeigt, wie Hildegard ihrer Auffassung von der Natur in Gesängen der Gemeinschaft Ausdruck verlieh, deren Leiterin sie war. Darüber hinaus werden drei Miniaturen einbezogen, die Hildegard für ihr zwischen 1141 und 1151 entstandenes Visionswerk Liber Scivias schuf.

Hildegard glaubte an die reine Schönheit der Welt vor dem Sündenfall Adams und Evas, die für sie den Gipfel der Schöpfung darstellten. In ihrem Lied O quam mirabilis est1 preist sie die Herrlichkeit dieser ersten Menschengeschöpfe, deren Erschaffung Gott bereits vor Anbeginn der Zeiten vorausgesehen hat. In dem wundervollen Antlitz des vom Odem des Heiligen Geists zum Leben erweckten Menschen offenbart sich die gesamte Schöpfung.

O quam mirabilis est præscientia divini pectoris quæ præscivit omnem creaturam. Nam cum Deus inspexit faciem hominis quem formavit, omnia opera sua in eadem forma hominis integra aspexit.

O quam mirabilis est inspiratio quæ hominem sic suscitavit.

O wie wunderbar ist das Vorherwissen des göttlichen Herzens, das vorherwusste alle Kreatur.

Denn als Gott das Gesicht des Menschen ansah, den er geformt hatte, erblickte er all seine Werke heil und ganz in dieser Gestalt des Menschen.

O wie wunderbar ist der Hauch, der den Menschen so erweckte. (Nr. 60, S. 180 f.)

Hildegard war aber auch davon überzeugt, dass die gestürzten Engel der Schöpfung die natürliche Welt bereits mit ihren schlechten Taten infiziert hatten (Genesis, Tag 1, die Erschaffung des Lichts und der Engelscharen sowie die Trennung des Lichts von der Finsternis mit dem Sturz Satans und seiner Diener). Somit waren nahezu von Beginn an das Gute und das Böse in der Welt, und die Menschen waren gezwungen, sich zu entscheiden. Die Unausweichlichkeit der felix culpa, der „glücklichen Schuld“, setzte den Mechanismus von Erlösung und Neuschöpfung in Gang. Über den Menschen heißt es bei ihr: „[Als er] durch Adams Fall in die Entfremdung ging, / nahmen die Elemente Lebensfreude auf / mit rötlich schimmerndem Himmel, / o lobwürdige Maria, / und singen dir tönendes Lob“ (Nr. 8, Cum processit factura, S. 37 f.).

Diese Vorstellung offenbart sich auch in zwei Miniaturen des Scivias-Manuskripts, das noch zu Hildegards Lebzeiten im Kloster Rupertsberg entstand.2 Die Originalhandschrift ist seit 1945 verschollen; um 1930 fertigten Nonnen der Abtei Sankt Hildegard in Eibingen eine exakte farbige Kopie manuell an, die den Illustrationen zum vorliegenden Text zugrunde liegt.3 Die erste Abbildung, f. 4r, stammt aus dem ersten Buch der Visionsschrift Hildegards und stellt die natürliche Welt in dem Moment dar, in dem Adam sie verlässt.4 Kopfüber stürzt er in die Flammen der Hölle, ausgestoßen aus dem prächtigen Garten, in dem er einst zu

Miniatur „Fall des Adam“ aus dem Rupertsberger Scivias-Kodex der Hildegard von Bingen, um 1175 (Original verschollen, Handkopie auf Pergament um 1930)

Hause war. Unten rechts sprießen die blühenden Bäume des Garten Eden mit ihren Früchten, während weiter oben eine Schlange als todbringender satanischer Schatten Gift auf eine grüne Wolke speit, in der Sterne die verdorbenen, nunmehr sterblichen Kinder von Adam und Eva symbolisieren. In den Bildecken hat Hildegard die vier Urelemente der Schöpfung angeordnet: Luft (links oben), Wasser (links

O leuchtend grüner Zweig sei gegrüßt

Vor 80 Jahren veröffentlichten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Das Jahrhundertbuch gilt nicht nur als Gründungsurkunde der Kritischen Theorie. Es hat zudem die damalige Zeit so scharfsinnig auf den Begriff gebracht wie kaum ein anderes. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts –Krieg, Holocaust, Diktatur, Flucht – werden mithilfe der Gedankenfigur einer Dialektik der Aufklärung gedeutet.1 Sie gehen demnach auf die Naturherrschaft zurück, die sich im Zuge der Aufklärung durchgesetzt hat. Indem das Verhalten zur Natur als Ursache für die Katastrophen betrachtet wird, legen Horkheimer und Adorno mit ihrem Dialektik-Konzept ein theoretisches Fundament, auf dem sich auch die Ökologiekrisen des 21. Jahrhunderts begreifen lassen.

Freilich standen Horkheimer und Adorno die Erderwärmung, Ressourcenerschöpfung, Globalvermüllung und das Artensterben nicht so deutlich vor Augen wie heutigen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Umso mehr fällt die Hellsichtigkeit auf, mit der sie die Naturverhältnisse in den Mittelpunkt ihrer Krisenbeschreibungen rückten. Aus heutiger

Dialektik der Naturverhältnisse

Auswege aus den Ökologiekrisen

Sicht lässt sich ihr Projekt als eine Dialektik der Naturverhältnisse aufgreifen. Diese Dialektik bietet eine zeitgerechte Gesellschaftstheorie für das Anthropozän und soll im Folgenden in drei Schritten entfaltet werden. Erstens dient sie zur Diagnose der Ökologiekrisen und deren Ursachen. Sie erklärt, weshalb die Emanzipation von der Natur in einen ökologischen Kontrollverlust umschlägt. Zweitens hilft sie, Auswege aus den Ökologiekrisen aufzuzeigen. Die Dialektik der Aufklärung gilt zu Recht als das „schwärzeste Buch“2 in der Kritischen Theorie; allerdings nur, um zugleich auf einen Ausweg zu verweisen. Nicht Verzweiflung und Schwarzmalerei sind ihr Ziel, sondern Hoffnung und Antworten. Die Kritik an der Aufklärung soll, so Horkheimer und Adorno in der Vorrede, „einen positiven Begriff von [Aufklärung] vorbereiten, der sie aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst“.3 Die Dialektik der Naturverhältnisse beschreibt somit nicht nur ein Problem; sie bietet auch die Lösung. Drittens lässt sich im Rückgriff auf sie die Rechtspraxis begründen, der Natur eigene Rechte zu

Die Besetzung des Kernkraftwerk-Bauplatzes im südbadischen Wyhl ist als Beginn der bundesdeutschen Anti-Atombewegung zum Mythos geworden. Hier hat die ortsansässige Bevölkerung den Bau eines prestigeträchtigen Großprojekts gestoppt. Doch wie kam es zu dieser unerwarteten Demonstration in einer konservativen ländlichen Region? Und welche weiterreichenden Auswirkungen hatten diese und andere lokale Proteste auf die Umweltpolitik und sogar auf die demokratische Partizipation?

Am 18. Februar 1975 erzwangen Demonstrierende einen „Abbruch der Arbeit“ auf der Baustelle eines Kernkraftwerks im südbadischen Wyhl am Kaiserstuhl. Ein Artikel in der Badischen Zeitung beschrieb, wie um 11 Uhr etwa 300 Menschen auf dem Bauplatz eintrafen. Die Bauarbeiter, die an der Zufahrtstraße mit Roden beschäftigt waren, wurden durch die Eindringlinge „ohne körperliche Gewaltanwendung veranlasst, die Arbeiten einzustellen“. Während

Die Anfänge der deutschen AntiAtombewegung

Von den Wurzeln und der Breitenwirkung lokaler Proteste

manche Demonstrierende „auf die Baggerschaufeln“ sprangen, stellten sich andere „vor die Ketten der Raupen und rede[te]n auf die Arbeiter ein“. Innerhalb einer Stunde war „jede Maschine außer Betrieb gesetzt“.1

Die Mehrheit der Demonstrierenden an diesem Dienstagmorgen waren ländliche Frauen. Hätte die anwesende Presse nach einem auffälligen Rädelsführer gesucht, so war keiner in Sicht: Die bekanntesten – fast ausschließlich männlichen – Gesichter des Widerstands gegen das Kernkraftwerk Wyhl, wie der Landarzt, der Dorfapotheker oder der Besitzer der Getreidemühle, waren nicht zu sehen. Sie hatten gerade in einer Waldhütte unweit der Baustelle eine Pressekonferenz abgehalten. Erst als eine einzelne Frau am Rande der Pressekonferenz vorschlug, einen Spaziergang zum Bauplatz zu machen, konnte sich die verwirrende Szene dort entfalten.2

Trotz der scheinbaren Unordnung konnte kein Zweifel daran bestehen, dass es sich um eine gut vorbereitete Aktion handelte. Die Menschenmenge auf dem Bauplatz wurde im Laufe des Tages immer größer. Männer, deren Frauen „morgens nach Wyhl hinunter gegangen sind“, kamen am Nachmittag. Sie waren „bewaffnet mit Speck, Eintopf in der Thermoskanne und der Schnapsflasche im Wams“.3 Bis zum Abend standen Zelte und Planwagen auf dem Platz. Kernkraftgegner und -gegnerinnen aus Baden und dem Elsass saßen ums knisternde Lagerfeuer herum und erzählten sich Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg. Sie blieben – von einer kurzen Unterbrechung nach einem Polizeieinsatz abgesehen – bis November auf dem Bauplatz. Mit dem Bau wurde nie wieder begonnen. Die Bauplatzbesetzung war nicht der einzige Grund dafür, dass der Bau des Kernkraftwerks nicht weitergeführt wurde. Klagen vor Gericht und auch die Tatsache, dass der Strom aus dem geplanten Kernkraftwerk in den 1980er Jahren einfach nicht mehr so dringend gebraucht wurde, wie Anfang der 1970er Jahre prognostiziert, trugen zur Entscheidung der Landesregierung bei, das Projekt aufzugeben. Die größte Wirkung in der bundesdeutschen Öffentlichkeit hatte die Besetzung, als sie durch eine Fernsehreportage bekannt wurde. Bereits in den 1980er Jahren bezeichnete der Sozialwissenschaftler Dieter Rucht den Protest in Wyhl als den Beginn der bundesdeutschen AntiAtombewegung.4 Der Historiker Joachim Radkau schrieb, mit dem Kampf um das geplante Kernkraftwerk Wyhl habe

sich die Atomkontroverse „schlagartig“ zugespitzt.5 Der Einstieg in den deutschen Atomausstieg könnte also in Wyhl liegen.

Der Atomausstieg kam dann allerdings erst fast ein halbes Jahrhundert später – nach mehreren Anläufen. Und auch die Tatsache, dass im April 2023 die letzten drei deutschen Kernkraftwerke vom Netz gingen, bedeutet noch lange nicht, dass die Geschichte der Atomkraft in Deutschland zu Ende ist. Selbst wenn nie wieder ein Kernkraftwerk ans deutsche Stromnetz geht, wird der in den letzten Jahrzehnten angefallene Atommüll die Menschheit über Jahrtausende begleiten. In mehreren anderen europäischen Ländern laufen außerdem die Kernkraftwerke weiter. In Finnland ging in derselben Zeit, in der die letzten drei deutschen Kernkraftwerke vom Netz gingen, das 1600-Megawatt-Kernkraftwerk Olkiluoto 3 ans Netz.

Die Kleinarbeit von Wyhl

Welche Bedeutung hatten also Demonstrationen wie die der Bauplatzbesetzung in Wyhl? Welchen Beitrag konnte eine einzelne lokale Demonstration zu einem so langwierigen Prozess leisten? Um diese beiden Fragen zu beantworten, muss man das sogenannte „Beispiel Wyhl“ etwas genauer betrachten und in seinen Kontext einordnen. Denn die Anti-Atombewegung und ihre Wirkung waren sowohl von unermüdlicher Arbeit vor Ort wie auch von ihrer Wahrnehmung andernorts geprägt.

Sternmarsch gegen das Kernkraftwerk Wyhl, 1974

Annett Gröschner

In den Coronajahren bin ich viel spazieren gegangen.

Ein einfacher Satz. Ich versuche, ihn im Gedächtnis zu behalten, auch, weil aus Erfahrung die Jüngeren bald nicht mehr wissen, was mit Coronajahren gemeint ist oder auch ich erst einmal überlegen muss – wann war das nochmal? Anders als Kriege verbannen wir die Seuchen aus unserem kollektiven Gedächtnis. Als Überlebende möchten wir über das Überlebthaben nicht länger nachdenken. Auch für die Geschichtsschreibung, wie wir sie kennen, sind Pandemien nur eine Begleiterscheinung.

Im zweiten Coronajahr entdeckte ich Anna Louisa Karsch, die Karschin, für mich – jene preußische Dichterin des 18. Jahrhunderts, die als Kind im tiefsten Schlesien als Ziegenhirtin zu lesen und am Spinnrad zu dichten angefangen hatte und als Erste ihres Geschlechts in Deutschland von der Arbeit als Dichterin zu leben vermochte, allerdings mehr schlecht als recht. Berühmt wurde sie mit Kriegsgedichten zu Ehren Friedrich II

Zeughaus ohne Zeug

Im Jahre 1761, mit 38, kam sie aus Glogau nach Berlin und lief gleich los, erkundete die Stadt wie eine Touristin, die die vom Herrscher in Auftrag gegebenen Sehenswürdigkeiten der Residenzstadt in Augenschein nimmt. Dabei entstand das Gedicht Castanien-Baeume, das den Lustgarten beschreibt und die Spree, besser gesagt den Kupfergraben, aber eigentlich steht das Zeughaus im Mittelpunkt des Textes:

„An ihren Ufern prangt der Bau, den einst Bellonen / Ihr königlicher Freund zum Tempel gab. / Mit trozigem Gesicht schaut hier von ihren Thronen / Des Schreckens Göttin hoch herab. // Zehn Thore öfnen sich. — Aus ihrem Heiligthume / Versorgt mit Waffen sie den Held: / Ihr donnerndes Geschoß trägt schnell zu FRIEDRICHS Ruhme / Des Krieges Schrekken durch die Welt. // O möchten wir doch bald von deiner Hand Irene, / Die Thore fest verschlossen sehn! / Und friedlich denn mit uns, Bellona! deine Söhne / In dieser Bäume Schatten gehn.“1

Ein frommer Wunsch. Zwei Jahre herrschte noch die Schreckensgöttin, dann war der Siebenjährige Krieg vorbei.

Die verwüstete Ruhmeshalle im Zeughaus, November/Dezember 1943

Die vier großformatigen Gemälde des 16. Jahrhunderts, die sogenannten Augsburger Monatsbilder, sind Highlight-Objekte der Sammlung des DHM. Sie begeisterten in der 2021 abgebauten Dauerausstellung das Publikum und werden auch in der neuen Ständigen Ausstellung im Zeughaus zu sehen sein. Was erzählen uns diese Gemälde über ihre Epoche, inwiefern sind sie historische Quellen ihrer Zeit? Was wissen wir heute aufgrund der umfangreichen Restaurierungsarbeiten über die Bilder? Und welche neuen kulturgeschichtlichen Fragestellungen ergeben sich?

Werkstatttermin: Augsburger Monatsbilder

Stephanie Neuner im Gespräch mit Mathias Lang, Brigitte Reineke und Ulinka Rublack

Ausschnitt aus dem „Oktober, November, Dezember“-Gemälde der Augsburger Monatsbilder, zweite Hälfte 16. Jahrhundert, unbekannte Werkstatt in Süddeutschland

STEPHANIE NEUNER Eines der vier sogenannten Augsburger Monatsbilder liegt vor uns auf dem Boden. Es ist das Monatsbild April, Mai, Juni. Es ist vom alten Keilrahmen abgenommen. Warum?

MATHIAS LANG Alle Augsburger Monatsbilder erhalten einen neuen Zierrahmen im Stil der Renaissance für die neue Ständige Ausstellung. Wir denken, dass sie ursprünglich in einem Stadthaus oder Landsitz einer Patrizierfamilie in einer Wandvertäfelung eingebaut waren. Später sind sie wahrscheinlich herausgeschnitten worden, was erklärt, warum die Bilder leicht unterschiedliche Formate haben. Bei ihrer Neuaufspannung wurde die bemalte Leinwand einfach über den Rand des neuen Spannrahmens geknickt. Wir haben uns jetzt für den ungewöhnlichen Schritt entschieden, alle Bilder für die Rahmung auf eine Höhe zu bringen. Dazu werden die Originale mit Zusatzleinwand ergänzt und durch Retusche komplettiert.

Verrät uns die Rückseite des Gemäldes etwas über seine Geschichte? Gibt es Aufdrucke oder Beschriftungen?

BRIGITTE REINEKE Rückseiten können an sich schon etwas über Bilder und ihre Geschichte verraten und im besten Fall auch über ihre Vorbesitzer. Diese Rückseite hier verrät nicht viel. Wer der Auftraggeber war, wissen wir nicht. Wir schauen nicht auf die originale Leinwand, sondern auf die Leinwand einer Doublierung des 19. Jahrhunderts, also eine ergänzte Gemälderückseite. Es gibt Thesen zur Provenienz, wonach sich der Gemäldezyklus im späten 19. Jahrhundert im Besitz der Wittelsbacher befunden hat und in der Mitte des 20. Jahrhunderts in einem Schloss in der Nähe von Regensburg wiederaufgetaucht ist. Die Bilder kamen jedenfalls aus dem Kunsthandel 1990 ans DHM und waren ziemlich viel unterwegs gewesen.

ML Als die Bilder im DHM ankamen, waren sie in sehr schlechtem Zustand. Sie waren stark beschädigt und bereits mehrfach überarbeitet und unfachmännisch ausgebessert sowie übermalt worden. Die Oberfläche wurde vermutlich durch eine unsachge-

mäße Behandlung stark in Mitleidenschaft gezogen, vielleicht mit Scheuersand und einer Wurzelbürste, wohl mit dem Ziel, einen proteinhaltigen Firnis, der stark gebräunt war, abzutragen. Im Laufe der Zeit wurden die großformatigen Werke wahrscheinlich im Zuge von Transporten und Lagerungen geknickt und gefaltet. Das ist heute an Fehlstellen in der Malerei noch erkennbar. Die Nahtlinien in der Mitte zeigen, dass der Malträger aus zwei Stoffbahnen besteht.

Die Augsburger Monatsbilder sind auf Leinwand gemalt. Diese Originalleinwand spielt für Sie bei der Datierung der Gemälde eine wichtige Rolle. Warum?

ML Wir kennen nördlich der Alpen kaum Malerei auf grundierter Leinwand für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts. Hauptsächlich wurde Holz als Malträger verwendet. Eine Ausnahme sind die großen Orgelflügel aus bemalter Leinwand in der Kirche St. Anna in Augsburg, die Jörg Breu d. Ä. zugeschrieben werden. Außerdem kommt die graue Imprimatur, die in den Augsburger Monatsbildern Verwendung findet, im deutschen Raum erst Ende des 16. Jahrhunderts auf. Dies lässt die Überlegung zu, dass die Gemälde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstanden sind.

Dennoch finden wir schon früher im 16. Jahrhundert Malerei auf Leinwand, auch gerade mit Bezug zur patrizischen Lebenswelt, richtig?

ULINKA RUBLACK Insbesondere für ephemere und repräsentative Bilder, die nicht unbedingt lange haltbar sein sollten, wurde Leinwand verwendet, zum Beispiel für Darstellungen von Festzügen oder Turnieren. Auch Lucas Cranach d. Ä. malte bekanntlich auf Leinwand. Deswegen kommt mir die These etwas zu verabsolutierend vor, dass in der ersten Hälfe des 16. Jahrhunderts nördlich der Alpen kaum auf Leinwand gemalt worden sein soll.

ML Natürlich wurde ausgehend von der sogenannten Tüchleinmalerei Leinwand schon früher genutzt, aber hier wurde die Leinwand nicht grundiert. In der wissenschaftlichen Untersuchung von Gemälden verbinden wir beispielsweise Beobachtungen zur Maltechnik mit verwendeten Materialien, die für eine Datierung richtungsweisend sein können. So finden wir in den Augsburger Monatsbildern Reste spätgotischer Maltechnik, gleichzeitig sehen wir aber eine schnelle und „wirtschaftliche“ Ausführung, die für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts ungewöhnlich ist und eher zum Ende des 16. Jahrhunderts einsetzt.

Die Reichsstadt Augsburg gilt als bedeutende Kunststadt der Renaissance. Wie fanden bedeutende Kunstwerke und Künstler aus anderen europäischen Ländern ihren Weg nach Augsburg?

UR Durch die Reichstage war Augsburg eine internationale Stadt. Tizian malte hier 1548 das bekannte Portrait von Karl V. auf Leinwand. Ich habe mich außerdem mit Hans Fugger beschäftigt – er starb 1598 –, und er bekam beispielsweise Lieferungen seiner Agenten aus Venedig, zusammengerollte Leinwände mit flämischer Malerei, zusammen mit anderen Dingen wie Salami.

Es sind vor allem die vielen Einzelszenen in den Monatsbildern, die uns fesseln. Etliche Details haben Sie rekonstruiert. Wie sind Sie vorgegangen?

Mathias Lang und Brigitte Reineke

Ansbert Baumann

Die deutsche Fußballnationalmannschaft der Männer wird oft als ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft interpretiert, in der inzwischen mehr als jede vierte Person eine Migrationsgeschichte hat. Tatsächlich wurde der Fußball in Deutschland wie kaum eine andere Sportart von Migration und dem Diskurs um Identität und Zugehörigkeit geprägt. So kamen die Ersten, die hierzulande Fußball und Rugby spielten (die Sportarten waren damals nicht eindeutig zu unterscheiden) und dann auch die ersten Fußballvereine gründeten (etwa 1873 den Dresden English Football Club), aus England.1 Dementsprechend galt Fußball zunächst als „undeutsche“ Sportart und wurde als „Fußlümmelei“ und „englische Krankheit“ denunziert.2 Noch 1934 stellte das Brockhaus-Lexikon dem „englischen Sport“ das „deutsche“ Turnen entgegen, welches ursprünglich „der Wehrhaftmachung des deutschen Volkes“ gedient habe.3 Als der FC Schalke 04 im gleichen Jahr zum ersten Mal deutscher Fußballmeister wurde, feierte eine polnische Sportzeitung angesichts der zahlreichen Spieler mit polnischen Nachnamen dies mit der Schlagzeile, Polen hätten die deutsche Meisterschaft gewonnen. Die Schalker Vereinsführung ließ daraufhin einen offenen Brief in den Medien publizieren, demzufolge alle Spieler Deutsche seien.4 Die Reaktion des Vereins verdeutlicht, wie sehr man darum bemüht war,

Vielfalt am Ball

„Gastarbeiterfußball“ in der Bundesrepublik

Deutschland

İlyas Tüfekçi, einer der ersten aus einer türkischen Einwandererfamilie stammenden Bundesligaspieler, nach einem Tor für den VfB Stuttgart gegen den Hamburger SV. Vorn mit der Nummer 10: Hansi Müller.

keineswegs als migrantischer Verein zu gelten. Unter den Spielern ließ sich das Bestreben, als Deutsche wahrgenommen zu werden, bereits seit den 1920er Jahren daran festmachen, dass etliche ihren polnischen Nachnamen eindeutschten. Auch in der Meistermannschaft von 1934 gab es mit Emil Rothardt, ursprünglich Czerwinski, einen entsprechenden Fall, während Valentin Przybylski seinen Nachnamen abgelegt hatte und sich nur noch Valentin nannte. Die Stars der damaligen Schalker Mannschaft, Ernst Kuzorra und Fritz Szepan, die masurische Wurzeln hatten, spielten bereits seit den 1920er Jahren in der deutschen Fußballnationalmannschaft. In jener blieb die Einwanderung aus Polen über Jahrzehnte hinweg mit Spielern wie Stanislaus Kobierski, Horst Szymaniak, Hans Tilkowski, Reinhard Libuda, Miroslav Klose und Lukas Podolski präsent. Die im Kontext der bundesdeutschen Anwerbepolitik stehende Zuwanderung aus südeuropäischen Staaten wurde erstmals in den 1990er Jahren anhand der Nationalspieler Bruno Labbadia, Fredi Bobic und Mustafa Doğan sichtbar. Vordergründig scheint sich beim Blick auf die Fußballnationalmannschaft also einmal mehr die integrative Kraft des Fußballs zu bestätigen.5

Dieses Potenzial wird im Alltag auf lokaler Ebene und in den unte-

Veranstaltung der 1971 in Baden-Württemberg gegründeten Jugoliga im Stuttgarter Neckarstadion

ren Ligen häufig infrage gestellt. Migrantisch geprägte Vereine haben mit Vorurteilen zu kämpfen, die so weit reichen, dass man sie als Indikator für die vermeintliche Existenz von Parallelgesellschaften wahrnimmt. Übersehen wird dabei, dass solche Vereine keineswegs ein neuartiges Phänomen sind und viele der heutigen „Traditionsclubs“ ursprünglich von Migration geprägt waren.

Impulse der „Gastarbeiter“ und das Eigenleben der Verbände Die sogenannten Gastarbeiter, die nach 1955 in die Bundesrepublik kamen, bildeten frühzeitig eigene Fußballmannschaften. Dabei gilt gemeinhin der 1962 von italienischen VW -Mitarbeitern ins Leben gerufene ISC Lupo Wolfsburg als ältester Club dieser Art.6 Tatsächlich entstanden schon wesentlich früher eigenständige monoethnische Fußballmannschaften. Jedoch ist es schwierig, diesbezüglich genauere Angaben zu machen, weil die Entwicklung von den ersten Treffen einiger Fußballspieler über die Etablierung von Vereinsstrukturen bis hin zur Eintragung in das bundesdeutsche Vereinsregister von vielen Unwägbarkeiten abhängig war, die von Ort zu Ort sehr unterschiedlich sein konnten und nicht zuletzt auch einen Anpassungsprozess an die bundesdeutschen Rechtsverhältnisse voraussetzten. Die Initiative zur Entstehung entsprechender Vereine und Organisationen ging dabei immer von einzelnen Migranten aus, die sich um eine aktive Freizeitgestaltung bemühten und darum, dass die mehrheitlich jungen Männer nach der Arbeit einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen konnten. Dabei wurden sie häufig von den Ar-

beitgebern unterstützt, die ebenfalls um positive Impulse für ihre Arbeitskräfte bemüht waren. Schon allein aufgrund der exklusiven Statuten des Deutschen Fußball-Bunds (DFB ), die damals lediglich zwei ausländische Spieler in einer Mannschaft zuließen, hatten „Gastarbeiter“ zunächst formal keine Möglichkeit, als Gruppe bestehenden deutschen Vereinen beizutreten. Aus diesem Grund gab es im Großraum Stuttgart bereits Anfang der 1960er Jahre eine Vielzahl von griechischen Mannschaften, die einen eigenen Dachverband, den Griechischen Fußballverband Baden-Württemberg, bildeten und ab September 1961 in der Griechischen Liga Baden-Württemberg gegeneinander antraten. Im selben Jahr entstand die AS Italia 61 Nürnberg, die vom Bayerischen Fußball-Verband in der Saison 1962/63 als erste „Gastarbeitermannschaft“ zum regulären Spielbetrieb zugelassen wurde; die Mannschaft des ISC Lupo Wolfsburg erhielt in der Spielzeit 1965/66 eine entsprechende Genehmigung des Niedersächsischen Fußballverbands. Diese damals noch in Widerspruch zu den Vorgaben des DFB stehenden integrativen Maßnahmen blieben jedoch Einzelfälle.7

Stattdessen etablierten sich immer mehr eigenständige Strukturen: So spielten beispielsweise ab 1965 griechische Fußballvereine eine deutsche Meisterschaft aus. Darüber hinaus gab es in Hessen zahlreiche spanische Clubs, beispielsweise den bereits 1961 gegründeten CD Español Offenbach, die in einer bis 1991 existierenden Spanischen Liga Hessen gegeneinander antraten. In Nordrhein-Westfalen entstanden ebenfalls viele migrantische

Transatlantische Kulturdiplomatie und Wege jüdischen Kulturguts Anna-Carolin Augustin

Am Vormittag des 13. März 1990 fand in der US -amerikanischen Hauptstadt eine außergewöhnliche Pressekonferenz statt. Anlass war das vielleicht letzte diplomatische Geschenk der DDR an die USA . An jenem Tag übergab DDR -Botschafter Gerhard Herder in Washington, D. C. hunderte von Objekten und Archivalien mit Bezug zur Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoah an das im Aufbau befindliche United States Holocaust Memorial Museum (USHMM ). Die Objekte stammten aus mehr als 25 Museen und anderen Institutionen der DDR . Auch das im Ostteil Berlins gelegene Museum für Deutsche Geschichte (MfDG ), dessen Sammlung dem heutigen Deutschen Historischen Museum (DHM ) nach dem Zusammenbruch der DDR übertragen wurde, beteiligte sich mit einigen Objekten an dieser Schenkung. Neben anderen Artefakten waren sechs jüdische Ritualtextilien der Sammlung des MfDG entnommen und nach Washington übergeben worden. Diese Textilien, so gab das Pressematerial für die anwesenden Journalistinnen und Journalisten in Washington an, seien nach den Novemberpogromen 1938 im Keller einer Synagoge gefunden worden.

Ein Geschenk der DDR

In dem historischen Moment, in dem Botschafter Herder die Geschenke überreichte – wenige Monate nach dem Mauerfall und nur fünf Tage vor den ersten freien Wahlen –, war das Schicksal der DDR bereits besiegelt. Vor dem Hintergrund dieser fundamentalen Umwälzungen geriet der Schenkungsakt in Washington, an den im Vorfeld vonseiten der DDR große Hoffnungen auf eine ökonomische Annäherung an die USA geknüpft waren, zur Randnotiz. Mit viel Pomp sollte die Übergabe öffentlich zelebriert werden, „um damit entsprechende politische Wirkung im Sinne unserer Politik zu erzielen“.1 Die Botschaft, die mit der Schenkung um die Welt gehen sollte, sprach Gerhard Herder aus: Es sei seiner Regierung ernst „mit der Feststellung, dass das gesamte deutsche Volk eine Verantwortung für die Vergangenheit“ habe.2 Obwohl die Schenkung hunderter Objekte aus verschiedenen Museen der DDR der materialisierte Höhepunkt der neuen staatlichen Erinnerungspolitik war, ist er heute kaum bekannt.3

Der Kurswechsel staatlicher Erinnerungspolitik in der DDR

Dieser neue Kurs der DDR begann Mitte der 1980er Jahre. Jahrzehntelang hatte die Fokussierung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED ) auf den antifaschistischen Widerstand den Personen und Initiativen, die sich in der DDR für das Gedenken an die Shoah einsetzten – etwa jüdischen Intellektuel-

len, Gemeindemitgliedern oder Kunstschaffenden –, nur wenig Raum gelassen.4 Die Weigerung der Staatsführung, die Rückgabe geraubten jüdischen Eigentums oder materielle Entschädigungen gesetzlich zu regeln, sowie das Fehlen eines entsprechenden Abkommens mit Israel trugen dazu bei, dass eine Konfrontation der breiten DDR -Bevölkerung mit ihrer eigenen historischen Verantwortung für die Shoah ausblieb. Für jüdisches Leben in der DDR hatte dies Konsequenzen: Finanziell vom Staat abhängig und wenig handlungsfähig, fristeten die wenigen und kleinen jüdischen Gemeinden ein Schattendasein. Die Wende der Erinnerungspolitik erfolgte erst und vermutlich auch nicht zufällig im Jahr der westdeutschen „Bitburg-Kontroverse“. Als Helmut Kohl und Ronald Reagan am 5. Mai 1985 die Kriegsgräberstätte Bitburg-Kolmeshöhe besuchten, auf der sich auch Gräber von Angehörigen der Waffen-SS befinden, diskreditierte sich die Bundesrepublik in den Augen vieler. Die DDR nutzte den Skandal, um sich – noch dezidierter als sonst – als das „antifaschistische, bessere Deutschland“ zu präsentieren.5

Ebenfalls seit Mitte der 1980er Jahre suchten US -amerikanische Museumsteams intensiv in Europa nach Artefakten, mit denen im zukünftigen US -Holocaust-Museum „jüdische Geschichte in Deutschland vor und während des Nationalsozialismus kraftvoll und authentisch“ erzählt werden sollte.6 Im Sommer 1988 bat in diesem Kontext Harvey M. Meyerhoff, Vorsitzender der Planungskommission des Museums, den DDR -Botschafter in Washington um die Zusammenarbeit beim Aufbau der Sammlung.

Im Dachgeschoss des Berliner Zeughauses provisorisch verwahrte jüdische Ritualtextilien, 1960er Jahre

Die Anfrage stieß auf offene Ohren. Die eigenen ökonomischen Interessen im Blick, bemühte sich die DDR -Führung bereits seit Langem um eine Verbesserung ihrer Bande zu den Vereinigten Staaten. Erst seit 1974 pflegten beide Staaten diplomatische Beziehungen. Den Aufbau des nationalen Holocaust-Museums der USA durch Artefakte aus Museumsbeständen der DDR zu unterstützen, versprach einen gewinnbringenden Tauschhandel: Museumsdinge gegen neue Sympathien und Ressourcen. Das Politbüro des Zentralkomitees der SED antwortete daher wohlwollend auf die Anfrage aus Washington.

Eine vielschichtige Museumskooperation

Um die bilaterale Museumskooperation zu realisieren, folgte im Sommer 1989 die Reise einer US -Delegation in die DDR . Die Begegnung des Museumspersonals beider Länder war auch eine Konfrontation unterschiedlicher Erinnerungspraxen. Dies offenbarte sich, als die US -Delegation, der auch Nachfahren verfolgter Jüdinnen und Juden angehörten, im MfDG einen Rundgang machte: „Wir besuchten […] [das MfDG ] zunächst informell und waren ziemlich entsetzt über die Abteilung zum Holocaust: Sie schien so klein, so unjüdisch und so sehr Teil von allem anderen zu sein.“7

Im Vorfeld der Reise hatte die US -Museumsdelegation thematisch geordnete Exponat-Wunschlisten zusammengestellt. Kultgegenstände, Möbel, Gebetbücher und Synagogen-Bauteile wurden gezielt für eine geplante Sektion zu den Novemberpogromen von 1938 benötigt. Solche Artefakte waren nach 1945 rar, da sie zu großen Teilen zerstört oder geraubt worden waren. Die Bedeutung der wenigen noch existierenden Reste des materiellen jüdischen Kulturerbes war zudem hoch, ihre Rückaneignung und Überführung in einen jüdischen Kontext für viele Jüdinnen und Juden ein Imperativ. Über Restitution und auf anderen Wegen, wie durch Handel, wurden in der Nachkriegszeit jüdische Kulturgüter an andere Orte transferiert. So manches Stück verblieb aber auf Dachböden, in Kellern und Depots.

Diese Stücke zu akquirieren, war 1989 die Absicht des USHMM . Das schwierige Vorhaben wurde allerdings von einem wachsenden, nichtjüdischen Interesse an jüdischer Geschichte und Kultur vor Ort erschwert. Charlotte Hebebrand, USHMM -Mitarbeiterin, berichtete: „Mein Hauptziel, Artefakte mit Bezug zur Kristallnacht zu finden, war nicht sehr leicht zu erreichen […]. Seit 1988, 50 Jahre nach der Kristallnacht, sind die Deutschen zunehmend daran interessiert, ehemalige Synagogen in Museen und Kulturzentren umzuwandeln und auch andere Spuren der Vergangenheit zu bewahren. Kein Museum möchte seine Judaica aufgeben, da es selbst so wenig davon besitzt.“8

Diese Beobachtung bezog sich zwar auf die Bundesrepublik, betraf aber ebenso die DDR . Dort weckten 1988 orchestrierte Shoah-Gedenkveranstaltungen und -Ausstellungen verstärktes Interesse an Zeugnissen jüdischer Geschichte und Kultur. Diese waren rar und Expertise zu ihnen kaum vorhanden. Selbst in der großen Sammlung des MfDG befanden sich lediglich ein paar jüdische Gebetsriemen, eine Messing-Menora, die das Museum

„Auf

ihrem Schreibtisch hatte sich eine

ganze Herde
1

von Elefanten versammelt. Große Elefanten, mittlere Elefanten, kleine Elefanten. Aus Stein, Glas, Edelmetall. Ich hatte schon durch meinen Vater von ihrer Schwäche für diese Tiere gehört, aber dass es so ein Massenauflauf war, damit hätte ich nicht gerechnet […]. Wahrscheinlich hatte Frau Weber einfach etwas für Dickschädel übrig – als Kohls Sekretärin sicher keine schlechte Eigenschaft.“

Elefantenrunde

Ein Blick auf Elefanten im Bundeskanzleramt der Bonner Republik

Die Elefantenherde befand sich in einem der wichtigsten Zimmer der Bonner Republik: im Vorzimmer des Bundeskanzlers, dem Reich von Juliane Weber. Als Regierungsrätin leitete sie das persönliche Büro von Helmut Kohl. Bereits seit 1965 arbeiteten beide zusammen, zunächst in Mainz, dann in Bonn und schließlich in Berlin. Während ihrer Bonner Zeit sammelte Juliane Weber Elefantenfiguren –insgesamt sollten es 655 werden – und stellte diese auch in ihrem Büro aus. Die Elefanten könnten vom frühen Aufstehen und von Nachtschichten genauso berichten wie von Anrufen, die sofort durchgestellt, und anderen, die regelmäßig abgewiesen wurden, oder von prominenten Gästen, die das Zimmer – hin und wieder mit einer Elefantenfigur in der Hand – betreten haben.

Vertraute von Helmut Kohl eine einflussreiche, aber kaum bekannte Frau der Bonner Republik. Neben dem Kanzleramtsminister und dem Regierungssprecher nahm sie an den Morgenlagen im Kanzleramt teil und gehörte zum engsten Zirkel um Helmut Kohl. „Keiner genoss jenes intime Vertrauen, das Juliane Weber zur mächtigsten (und einzigen) Frau im Orbit des Kanzlers und damit an der Spitze des Staates vor und nach der Vereinigung machte“,2 hob die Süddeutsche Zeitung ihre besondere Rolle in einem Nachruf hervor.

Elefantenparade: Auswahl an Elefantenfiguren aus der Sammlung

Juliane Webers

Juliane Weber, 1939 in Dresden geboren und 2023 in Königswinter verstorben, war als Büroleiterin im Bundeskanzleramt, als

Aufgrund der Präsenz der Rüsseltiere im Bonner Kanzleramt liegt es nahe, auch den Staatsmann, den Bundeskanzler, den Parteivorsitzenden Helmut Kohl in diesen Figuren zu reflektieren. Kohl, so der Theaterautor Lukas Bärfuss, habe sich zeitlebens gegen die seine politische Karriere begleitende Elefantenmetaphorik gewehrt: „Er hat dieses Bild abgestoßen

Was ist Aufklärung?

Die Bewegung der Aufklärung ist keine rückblickende Bezeichnung von Historikerinnen und Historikern, sondern der Begriff, seine Ambivalenzen und Widersprüche wurden bereits in der Epoche selbst kontrovers diskutiert. Die Fragen, die die Aufklärer aufwarfen, prägen noch heute unser soziopolitisches und kulturelles Erbe. Was ist Aufklärung? Das hat Liliane Weissberg, die Kuratorin der gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, Expertinnen und Experten aus Kunst, Wissenschaft und Politik gefragt. Drei der Interviews haben wir für dieses Heft ausgewählt. Lorraine Daston, Neil MacGregor sowie Martha C. Nussbaum zeigen anhand ihrer individuellen Blickwinkel, dass das Projekt der Aufklärung noch heute wichtige Fragen aufwirft und mögliche Antworten für die Gegenwart und für die Zukunft gibt.

Liliane Weissberg fragt

LILIANE WEISSBERG: Martha Nussbaum, was verstehen Sie unter Aufklärung?

MARTHA C. NUSSBAUM: Ich denke, im Wesentlichen ging es in der Aufklärung darum, dass jeder in der Lage sein sollte, selbst die Verantwortung für sein Leben und Denken zu übernehmen, ohne Bevormundung durch Könige, Diktatoren oder religiöse Autoritäten. Dafür mussten die Menschen zunächst einmal lernen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, was ein politisches Umfeld voraussetzte, das sie dabei unterstützte. Darüber hinaus – und das ist mir besonders wichtig – bedurften die Menschen einer neuen emotionalen Grundausstattung. Der Kitt der Monarchien war die Angst, und auch die religiösen Autoritäten stützten sich auf die Angst. In der Aufklärung mussten die Menschen eine Reihe neuer Gefühle erlernen, nämlich Empfindungen, die der wechselseitigen Achtsamkeit und dem Respekt vor der Würde des Einzelnen angemessen waren, ebenso wie Empfindungen des Mitgefühls für die Situation anderer Menschen. Dazu leisteten neben der Philosophie auch die Künste einen entscheidenden Beitrag. Momentan arbeite ich an einem Buch über Mozart, den ich für einen der großen Denker der Aufklärung halte. Für ihn stand fest, dass es einer Welt bedurfte, in der Frauen wie Männer ihre Vorstellungskraft nutzen, um sich in den anderen einzufühlen und zu lernen, ihr Leben statt von der Angst von Empfindungen der Reziprozität leiten zu lassen.

Jean-Jacques Rousseau entwarf einen Gesellschaftsvertrag, der jedoch auf Männer beschränkt war. Frauen sollten aus dem öffentlichen Bereich des Staatswesens ausgeschlossen werden, da sie politische Verhandlungen stören würden. Wie könnte heute ein Gesellschaftsvertrag aussehen, der nicht nur die Frauen einschließt, sondern die Menschen aus allen Teilen der Welt mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten?

Zunächst einmal halte ich Rousseau für eine ausgesprochen komplizierte Figur. Er war keineswegs ein typischer Vertreter seiner Zeit. Mehr oder weniger gleichzeitig mit ihm verfasste etwa Mary Wollstonecraft ihre großartigen Werke zur Verteidigung der Rechte der Frauen, zugleich entwickelten auf dem Kontinent Olympe de Gouges und Madame de Staël ihre Vorstellungen von den Bürgerrechten der Frauen. Insgesamt war das 18. Jahrhundert keineswegs so ignorant wie Rousseau. Nehmen wir zum Beispiel noch einmal Mozart, der sich für die Zulassung von Frauen in den Freimaurerlogen einsetzte. Die Freimaurer waren eine der Stützen der Aufklärung, allerdings schlossen auch sie die Frauen von manchen Bereichen aus. Selbstverständlich geht es heute nicht mehr allein um die vollständige Inklusion von Frauen

und auch nicht von Menschen unterschiedlicher Herkunft, ein Projekt, dessen Anfänge ebenfalls in der Aufklärung lag. Vielmehr müssen wir heute auch Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten berücksichtigen, da Personen mit körperlichen und insbesondere mit kognitiven Einschränkungen lange vom öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden. Das große Projekt der Moderne besteht darin, sie zu vollständig gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern zu machen.

Was würde das für einen Gesellschaftsvertrag bedeuten? Sie haben angeregt, dass man fragt, was jeder tun und sein könnte. Was ist der Vorteil eines solchen an den Fähigkeiten und Befähigungen ausgerichteten Ansatzes?

Amartya Sen, der Wirtschafts-Nobelpreisträger von 1998, mit dem ich seit Langem zusammenarbeite, und ich haben versucht, das Erbe der Aufklärung würdig fortzuführen. Uns war aufgefallen, dass in der Entwicklungsökonomie der nationale Wohlstand am Bruttosozialprodukt pro Kopf bemessen wurde. Allerdings besagt dies nichts über das Leben der tatsächlichen Menschen, da auch das allgemeine Wirtschaftswachstum einen Anstieg bewirken kann, ohne dass sich an ihrem Leben etwas ändern würde, insbesondere an dem Leben der Menschen am unteren Ende der Gesellschaft. Sie brauchen Gesundheit. Sie brauchen körperliche Unversehrtheit. Sie brauchen die Möglichkeit, am politischen Leben teilzunehmen. Sie brauchen Zugehörigkeiten unterschiedlichster Form. Kurz gesagt, sie brauchen zahlreiche verschiedene Fähigkeiten, Befähigungen und Wahlmöglichkeiten. Sen und ich machten uns daran, einen neuen Vergleichsmaßstab zu entwickeln, der die Länder dafür belohnt, was sie für die rea-

Was ist Aufklärung?

len Menschen tun, und der das bei ihrer Einstufung berücksichtigt. Anschließend formulierte ich eine Theorie der minimalen Gerechtigkeit, mit einer Liste von zehn zentralen Fähigkeiten und Befähigungen, die in einem Land eine Art verfassungsmäßigen Schutz genießen sollten. Nur wenn ein Land bei sämtlichen zehn Punkten für die gesamte Bevölkerung ein Mindestniveau gewährleistet, herrscht in ihm minimale Gerechtigkeit. Ganz bewusst nahm ich in meine Liste nicht nur die politischen Freiheiten wie Versammlungs- und Redefreiheit oder freie Wahlen auf, sondern auch die materiellen Befähigungen, die Gesundheitsversorgung, die Möglichkeit, seine körperliche Unversehrtheit gegen Übergriffe zu schützen und so weiter. Sen besuchte als Kind die Schule von Rabindranath Tagore, einem indischen Gelehrten in der aufklärerischen Tradition, der sich für die Würde des Einzelnen einsetzte, und studierte verschiedene Denker der Aufklärung. Der Osten und der Westen vermischten sich also in dieser westbengalischen Kultur, in der Sen aufwuchs. Insofern kann man feststellen, dass die Aufklärung kein rein westliches Phänomen war, sondern auch in Indien tiefe Spuren hinterließ. Damit möchte ich sagen, dass wir nicht der übrigen Welt etwas Fremdes aufdrängen wollen, das überhaupt nicht in diesen anderen Kulturen verwurzelt wäre.

Im Verlauf der Französischen Revolution wurde 1789 eine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verabschiedet. 1948 dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, verkündeten die Vereinten Nationen ihre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Bedarf diese Allgemeine Erklärung abermals einer Revision?

Selbstverständlich, ständig. Stattdessen wurden notwendige Ergänzungen in neue Abkommen ausgelagert. Dazu gehört etwa die UN -Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, die von den meisten Ländern ratifiziert wurde, leider jedoch nicht von den Vereinigten Staaten. Dann ist da noch die UN -Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen oder jene über die Rechte indigener Völker.

Die Menschenrechtsbewegung ist ohne Frage eine wunderbare Angelegenheit und verfolgt noble Absichten. Doch bei der Formulierung ihrer Ziele wird sie immer wieder vom Widerstand einzelner Länder ausgebremst. Nehmen wir die Frage, ob Frauen ein Recht auf Abtreibung haben: Darüber wurde nicht einmal ernsthaft debattiert, trotz der enormen Bedeutung dieses Rechts und obwohl es in großer Gefahr ist. In meinen Augen sind all diese Abkommen ungenügend.

Die eigentliche Frage lautet: Haben sie einen Nutzen? In einem Land, das hinsichtlich dieser Rechte zutiefst gespalten ist, muss die Mobilisierung von der Bevölkerung ausgehen. Als in den Vereinigten Staaten die Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht („Roe versus Wade“) gekippt wurde, erwarteten die Menschen chaotische Zustände. Und so kam es auch, da die Gesetzgebung wieder an die einzelnen Staaten übertragen wurde. Zugleich erlebten wir jedoch eine neue Mobilisierung der Bevölkerung. Die Menschen hatten das Abtreibungsrecht als gegeben angesehen. Doch nun organisierten sie sich und brachten in den Staaten Referenden auf den Weg zur Frage, ob das Recht auf Abtreibung in der jeweiligen Verfassung festgeschrieben werden sollte. Jedes dieser Referenden erbrachte ein eindeutiges Votum für das Recht auf Abtreibung. Trotz der nach wie vor chaotischen

Zustände kam es also zu einer enormen Mobilisierung an der Basis, genau wie es die Aufklärung fordert: Jeder und jede soll sich für das, was ihr und ihm wichtig ist, einsetzen.

Sie haben sich immer wieder mit den Werken von griechischen und römischen Philosophen wie Aristoteles, Cicero und Seneca beschäftigt. Heutzutage erfreuen sich Griechisch und Latein an Schulen und Universitäten nur noch geringer Beliebtheit. Ist es sinnvoll, sich weiterhin mit der antiken Welt zu beschäftigen, und wenn ja: Sollten wir dann den Schwerpunkt von Griechenland und dem Römischen Reich hin zu anderen Orten und Kontinenten verlagern?

Für mich steht es außer Frage, dass wir uns auch weiterhin mit den Griechen und Römern auseinandersetzen sollten, nicht zuletzt wegen ihres entscheidenden Beitrags zu dem, was wir heute sind. Viele ihrer Gedanken, insbesondere der stoischen Philosophie, wurden von der Aufklärung aufgegriffen, etwa die Vorstellung von der Vollkommenheit des Selbst und die Achtung vor der Würde des Einzelnen. Ich denke, wir sollten von allen diesen Denkern lernen. Selbstverständlich gab es etwa auch im antiken Indien eine hoch entwickelte philosophische Kultur.

Einer der großen Irrtümer von John Stuart Mill, der für die Britische Ostindien-Kompanie arbeitete, war, dass die Inder „kulturlose“ Kinder seien – was für ein Unfug! Sie verfügten über raffinierte Logiksysteme und Erkenntnistheorien. Und der größte Rechtsphilosoph des 20. Jahrhunderts ist ein Mann, von dem die meisten in meinem Kollegium an der Juristischen Fakultät noch nie gehört haben: Bhimrao Ramji Ambedkar. Er war in Indien ein Dalit, ein sogenannter „Unberührbarer“. Er erwarb seine Ausbildung im Wesentlichen an der Columbia [University]. Seine herausragende Schöpfung, die indische Verfassung, diente Entwicklungsländern weltweit als Vorbild. Wenn von nicht westlichem Denken gesprochen wird, schwingt darin zumeist die Bedeutung des Primitiven, teils auch des Mystischen mit. Kaum jemand erkennt die ungeheure Verfeinerung, die Rationalität oder die sonstigen Errungenschaften in diesen Ländern an – auf eben jenen Gebieten, mit denen sich die westlichen Denker brüsten. Dabei müsste das unbedingt zum allgemeinen Bildungsgut gehören.

„Urteilskraft
nichts

an

ist

und für

sich Bestehendes; auch der Gebildete kann jederzeit Esel sein.

Volker Braun

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