LESEPROBE Wilhelm und Alexander von Humboldt

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WIlhElM und alExanDER Von hUMBOlDt hERaUSGEGEBEn VOn DaVID BlanKEnStEIn BÉnÉDIctE SaVOY RaPhaEl GROSS aRnUlF ScRIBa FüR DaS DEUtSchE hIStORISchE MUSEUM



Inhalt 5

Raphael Gross Vorwort

9

David Blankenstein und Bénédicte Savoy Matrix Europa

23 Kindheit ohne Gott 35 Lorraine Daston

Die ganzheitliche Aufklärung

43 Offene Beziehungen 55 Liliane Weissberg

171 182

Globale Interessen Jürgen Osterhammel Globalisierung und Kolonisation

191 Tobias Kraft

El Valle de Anahuac. Zur politischen Semantik der Humboldt’schen Kartografie Neuspaniens

Die Lektionen des Hauses Herz

65

Patricia Rahemipour und Kathrin Grotz Wie Wissen wächst. Alexander von Humboldt, ein Album amicorum und die Pflanzen

199 214

75 91

Politische Schlachtfelder Glenda Sluga Die Erschaffung einer «internationalen Ordnung»

Kräfte messen Peter Burke Der Spezialisierung standhalten. Die Brüder Humboldt als Universalgelehrte

223

Ottmar Ette Alexander, Wilhelm und die Wissenschaft(en) der Humboldts

103 Ausweitung der Denkzone 123 Markus Messling

231 Bildungskapital 247 Heinz-Elmar Tenorth

139

257 Mehr Licht

Weltansichten. Wilhelm von Humboldt und das Bewusstsein der europäischen Moderne

147

Mauricio Nieto Olarte Americanismo und Eurozentrismus. Natur und Politik im Werk von Alexander von Humboldt Fabiano Kueva Alexander von Humboldt in der Audiencia de Quito. Äquatoriale Triangulationen

Wilhelm von Humboldt – der Bruder

261 Anhang 261 Objektverzeichnis mit Bildnachweis 286 Biografien 288 Personenregister 292 Leihgeber und Dank 294 Impressum


Vorwort

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Für mich stehen die Brüder Humboldt vor allem für zwei für die deutsche Geschichte zentrale Vorstellungen: für die auch sprachlich schwer übersetzbare Vorstellung der «Bildung» sowie der «Wissenschaft». Beide Begriffe sind im Positiven wie im Negativen stark mit der deutschen Geschichte verbunden, insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert. Mir war es wichtig, dass diese beiden Pole in der Ausstellung und im Katalog deutlich zum Vorschein kommen. Die von Wilhelm von Humboldt stark geförderte Vorstellung von Bildung als einem Programm der ständigen Vervollkommnung der Persönlichkeit kann, wie die Umsetzung in die Schulsysteme zeigt, schnell kippen. Viele deutsche Schriftsteller von Robert Musil bis Hermann Hesse haben diese Schrecken anschaulich geschildert. Wie ambivalent das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis bewertet werden kann, zeigt der zwanghafte Wissensdurst von Alexander von Humboldt. Seine Selbstversuche mit Grubengas, Sauerstoff und Elektrizität sind legendär. Insofern sind alle gegenwärtigen Würdigungen der berühmten Brüder erst dann auch wirklich ein Gewinn für unser historisches Verständnis, wenn sie genau dies nicht übergehen. Ich bin daher beiden Kuratoren und unserem Team, das die Ausstellung gemacht hat, besonders dankbar, dass sie meine diesbezüglichen Anregungen so deutlich aufgenommen haben. Erste Planungen für eine Ausstellung zu dem Brüderpaar nahm das Deutsche Historische Museum bereits 2015 in Angriff. Mit David Blankenstein und Bénédicte Savoy wurde ein Kuratorenteam gewonnen,


6 das im Jahr zuvor eine vielbeachtete Ausstellung zu den Humboldts in Paris realisiert hatte. Ihnen ist es gelungen, die erste große Ausstellung in Deutschland über beide Brüder zu konzipieren, die, ausgehend von den sehr unterschiedlichen Lebenswegen Wilhelm und Alexander von Humboldts, das Verhältnis von Wissen und Macht, Reisen und Erkenntnis, Mensch und Natur herausarbeitet. Vor dem Hintergrund der politischen, technischen und kulturellen Entwicklungen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts zeigt die Ausstellung, wie sich die Perspektive auf den Menschen und seine Umwelt unter dem Einfluss der Wissenschaft und einem neuen Bewusstsein für die Geschichte veränderte. Die Ausstellung basiert auf der im Zuge neuerer Forschung vielfach akzentuierten Herstellung von Zusammenhängen im Handeln der Brüder, etwa auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft oder in Bezug auf Politik und Diplomatie bis hin zur Geografie. Sie verortet die Humboldts als Europäer im Kontext der Herausforderungen und Chancen ihrer Zeit und blickt aus einer transnationalen Perspektive auf die gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Verhandlungsund Gestaltungsräume, die sich ihnen und ihrer Generation seit dem späten 18. Jahrhundert eröffneten. Wilhelm und Alexander von Humboldt stehen für Urteilskraft, diplomatisches Geschick und wissenschaftliche Neugier. Mein Dank gilt all jenen Personen, die am Entstehen dieser Ausstellung und ihres begleitenden Kataloges beteiligt waren. An erster Stelle sind die Kuratoren David Blankenstein und Bénédicte Savoy, der Projektleiter Arnulf Scriba, die Projektassistentin Friederike Nitz und Nicole Schmidt, Registrar des Projekts, zu nennen. Sie haben die Ausstellung mit Leidenschaft und Fachkenntnis klug konzipiert, vorbereitet und engagiert realisiert. Konstruktiv beraten wurde das Ausstellungsteam von einem Fachbeirat, dem Hartmut Dorgerloh, Moritz Epple, Ottmar Ette, Tobias Kraft, Sabine Kunst, Markus M ­ essling,


7 Irina Podgorny, Barbara Schneider-Kempf und Liliane Weissberg an­gehörten. Ihnen gebührt mein großer Dank ebenso wie der Agen­ tur BOK + Gärtner für die Ausstellungsgestaltung, dem Fachbereich Bildung und Vermittlung unter Leitung von Brigitte Vogel für die Umsetzung der Inklusiven Kommunikationsstationen sowie der konservatorischen Betreuung und den Werkstätten unter den Leitungen von Martina Homolka und Nicholas Kaloplastos. Für Gestaltung und Lektorat dieses Kataloges bin ich Heike Grebin und Andreas Trogisch von Troppo Design sowie Ilka Linz, Julia Niehaus und Wanda Löwe zu großem Dank verpflichtet. Ein eben solcher gebührt selbstverständlich auch all jenen Museen, Archiven, Bibliotheken, Privatsammlern und Eigentümern von Familiennachlässen, die mit ihren Leihgaben zum Gelingen der Ausstellung beigetragen haben.

Prof. Dr. Raphael Gross

Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum


daVid BlanKenstein und BÉnÉdicte saVoY

einleitunG

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matriX euroPa

matrix, die; –, matr i zen ̱ (aus lat. mātrīx für muttertier, zuchttier, Gebärmutter, mutterleib) (math.) anordnung von Größen in einem schema von waagerechten zeilen und senkrechten spalten. hier an den übertragenen sinn «hülle, in der etwas geformt wird» anknüpfend: da, wo man herkommt

Rom, den 17. Dezember 1804. Ein unbemannter Gasballon schwebt über den Vatikan, durchfliegt die römische Campagna, geht auf dem Braccianosee zu Wasser und wird von Fischern ans Ufer gezogen. Eine Inschrift habe er getragen, sagt man, mit dem Hinweis, das edle Flugobjekt sei einen Tag zuvor im Rahmen der Feierlichkeiten zu Napoleons Krönung in Paris in die Luft gestiegen. Von sehr günstigen Winden getragen soll es dann von selbst den Weg nach Rom gefunden haben, über die Alpen, direkt von der neuen in die alte Hauptstadt Europas. Wilhelm von Humboldt war damals preußischer Gesandter bei der Kurie in Rom. Er meldete das wundersame Ereignis dem König in Berlin und wog dabei in eleganten französischen Sätzen ab, ob es sich um eine wahre Begebenheit handele oder nicht vielmehr um «eine Betrügerei» mit dem Ziel, «die öffentliche Meinung zu beeinflussen».1 Er entschied sich für Ersteres und kommentierte die Symbolik des Ereignisses: «Der Umstand, dass der Ballon, den man bei der Krönungsfeier von Kaiser Napoleon aufsteigen ließ, […] seine Fahrt in der alten Hauptstadt der Welt beendet hat, wird Anlass für eine Menge Assoziationen sein.»2 In nur 22 Stunden hatte es das kleine aerostatische Wunder geschafft, das neue Empire Napoleons mit dem Imperium der alten Römer zu verbinden, eine Fahrt durch Europas Raum und Zeit, die für Humboldt auch in biografischer Hinsicht Verbindungen schuf: Im Frühjahr 1804 war seine Frau Caroline mit den gemeinsamen Kindern von Rom nach Paris aufgebrochen, weil sie dort dringende Bankgeschäfte erledigen und ein weiteres Kind zur Welt bringen wollte. Sein Bruder Alexander lebte ebenfalls in Paris, wo er seit der Rückkehr aus Amerika im August 1804 seinen neu erworbenen Ruhm genoss, wissenschaftliche Forschung betrieb und Napoleons Krönung beiwohnte.


10 Der zielstrebige Ballon wird heute im Museo storico dell’Aeronautica Militare von Bracciano aufbewahrt, direkt am Ufer des Sees, an dem er niederging und den die italienischen Luftstreitkräfte bis in die 1970er Jahre als Wasserflugplatz nutzten. Ob er nun wirklich in jener winterlichen Nacht des Jahres 1804 vom Winde getragen von Paris nach Rom flog oder nicht – für das Europa der Jahre um 1800 und für die Familie Humboldt als Teil davon ist er eine Dingmetapher, die wohl passender nicht sein könnte.

Der Traum vom Weltreich Als der Ballon über Europa flog, befand sich der Kontinent seit knapp 15 Jahren in quasi-permanentem Kriegszustand. Dabei blieb es auch im darauffolgenden Jahrzehnt. Zwischen 1792 und 1802 hatten wechselnde Bündnisse europäischer Mächte auf verschiedenen Schauplätzen Kriege gegen die Französische Republik geführt. Ab 1804 führte Napoleons Traum vom Weltreich zu blitzartigen Eroberungskampagnen in ganz Europa. Bald erstreckte sich Frankreich zwischen Atlantik und Rhein, Elbmündung und Pyrenäen, Ärmelkanal und Tiber. Selbst die iberische Halbinsel und damit die Herrschaftszentren der lateinamerikanischen Kolonien gerieten in dieser Zeit unter französische Kontrolle. Bei allem französischen Expansionsdrang war der Traum vom Imperium auch ein alter europäischer Traum. Er speiste sich aus antiken, byzantinischen, mittelalterlichen und kolonialen Vorstellungen und Sehnsüchten. Mit dem Versuch seiner Verwirklichung setzte Napoleon mit kriegerischen Mitteln politische Debatten der Aufklärung fort, die in vielen Ländern, nicht nur in Frankreich, seit Mitte des 18. Jahrhunderts virulent waren. Die Diskussion über Europa sowie Projekte zu nachhaltigen internationalen Ordnungen, untrennbar verbunden mit der Utopie eines «ewigen Friedens», beschäftigten die aufgeklärten Kreise von Königsberg bis Madrid spätestens seit den 1760er Jahren. Bereits 1761 hatte Jean-Jacques Rousseau den Plan einer «Art einheitlichen Systems» für die Mächte Europas entworfen, «das sie durch eine gleiche Religion, durch gleiches Völkerrecht, durch die Sitten, die Literatur, den Handel und eine Art Gleichgewicht» verbinden müsse.3 In seinem daran anknüpfenden Entwurf Zum ewigen Frieden spielte Immanuel Kant 1795 mit dem Gedanken einer föderati-


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Angeblich anlässlich der Feier der Kaiserkrönung Napoleons 1804 hergestellter Gasballon, in seinem heutigen Bewahrungszustand, ItAF Museum of Vigna di Valle. © Fabrizio Sanetti, ItAF Museum of Vigna di Valla

11 ven, implizit von Europa ausgehenden, immer weiter wachsenden «Weltrepublik». Als Mittelpunkt für einen solchen Bund erhoffte er sich, «ein mächtiges und aufgeklärtes» Volk, das den Freiheitszustand der Staaten sichern und sich nach und nach «immer weiter ausbreiten» könne.4 Integration nach Innen und Expansion nach Außen: Das war eine der politischen Vorstellungen, die Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausmachten. Wilhelm hielt 1799 für sich fest: «Die Welt ist jetzt in dem Zustande, wie zur Zeit von Roms Aufkommen. Europa ist Griechenland. Die andern Welttheile Barbarei. Europa hat Colonien wie Griechenland. Es kann eine Nebenbuhlerin entstehen. Aber können wohl je die Asiaten, Amerikaner und Negern, wie die Völkerwanderungs-Horden aufstehen?»5 Nach der Französischen Revolution und unter Napoleon wurde der Drang nach Vereinheitlichung in allen Lebensbereichen (von der Sprache bis zur Währung) zu einer bedeutenden Erfahrung für alle Europäer. Dies umso mehr, als das Vereinfachen und Normieren in und außerhalb Frankreichs auch als Instrument zur Beherrschung von Raum, Zeit und Geist diente. Das Modell war römisch: ein Recht, ein Straßennetz, eine Armee und eine Sprache. Neue Formen der Organisation von Raum (Straßenbau), Zeit (Post- und Telegrafiewesen), Körper (Konskription) und Geist (Gesetze, Religion, Zensur etc.) trugen nicht nur zur Vereinheitlichung des europäischen Territoriums bei, sie waren auch (nicht zuletzt als Grundlage militärischer Strategien) eine Voraussetzung für die Beschleunigung von Austausch und Kommunikation, wie die Humboldts sie erlebten und nutzten. Sie schufen auch in ganz alltäglichen Dingen Verflechtung, Homogenität und – trotz aller Widerstände gegen Napoleons gewaltsame Integrationspolitik – Gemeinschaft. Die großen, um 1800 angelegten Straßen und Telegrafenlinien, die Europa durchquerten, führten nach Paris. Alle statistischen, polizeilichen, steuerrechtlichen Informationen, die unter Napoleon europaweit systematischer denn je gesammelt wurden, füllten dort die Akten der Zentralverwaltung. Tausende von Gemälden und antiken Skulpturen wurden in den Galerien Europas beschlagnahmt und an die Seine verbracht. Sogar das «Gedächtnis Europas» kam ab 1810 dorthin, nachdem Napoleon befohlen hatte, die Archive der europäischen Großmächte aus Rom (päpstliches Archiv), Wien (Habsburger), den verschiedensten deutschen (Klein-)Staaten und aus


12 Madrid (kastilische Krone) in der Hauptstadt des Empire zentralisieren und neu klassifizieren zu lassen. Wer damals – wie die Brüder Humboldt – die französische Sprache beherrschte, international gut vernetzt und in der Lage war, von Berlin, Wien, London, Rom oder eben Paris aus zu agieren, war ein Europäer und auf dem ganzen Kontinent zuhause. In der Literatur, auf Landkarten und Tableaus, in Form von Karikaturen, Brettund Gesellschaftsspielen, Gedichten oder Reiseführern, als Titel von Büchern und Zeitschriften wurde Europa zunehmend präsent. In der Forschung sprach man von «europäischen Methoden», so zum Beispiel Wilhelm von Humboldt in seinen bahnbrechenden Überlegungen über die Bhagavad Gita, in denen er riet, den «einen oder den andren [darin enthaltenen] Commentar auf Europäische Weise zu commentieren».6 Das Europäisch-Sein avancierte sogar zum beliebten Thema in Briefen und Salons, nicht zuletzt in Berlin. Die junge Rahel Levin, später Varnhagen, beschrieb die Stimmung in der von Napoleon besetzten Stadt 1807: «[Moritz] übt sich in l’Europe, wie ich die französische Sprache nenne; ist viel bei mir, übersetzt, liest manches, muss gute Gesellschaft sehen, goutiert, und ist von [Alexander von] Humboldt protegiert – wegen ihres Spaßens und Witzelns –, den ich viel sehe. […] Diese Herren Delmar, Pauline, Rebecca machen meine Soiréen aus. Sie trinken alle Bier. Humboldt auch. Humboldt liest uns was, und isst, und bemüht sich liebenswürdig zu sein. Vorgestern lernten die Franzosen Madame Bethmann bei mir kennen. Sie hatte es verlangt. Sie spricht noch kein Wort Europäisch. Die Gesellschaft war aber zufrieden mit einander.»7 Neben der infrastrukturellen Integration Europas spielte um 1800 in bestimmten Kreisen auch die Vorstellung einer intellektuellen Aneignung und Transformation alles Fremden innerhalb des eigenen Kontinents eine Rolle. Am drastischsten artikulierte das Friedrich Schlegel 1803 in einem Aufsatz, den er in Paris verfasste und in seiner von Paris aus herausgegebenen Zeitschrift Europa publizierte – auch er lebte damals mit seiner jungen Frau und deren Kind in der französischen Hauptstadt, von den Humboldts nach Kräften gemieden. «Es ist ein angeborener Trieb des Deutschen», schrieb Schlegel, «daß er das Fremde liebt; besonders die Schönheit der südlichen Länder zieht ihn mit unwiderstehlichem Reize an. Stolz auf seine Hoheit und nordische Kraft, sehnt er den-


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noch sich unablässig nach dem Glanze jener Gegenden, wie nach seiner alten Heimath. […] Gegenwärtig, da die politische Existenz der deutschen Nation zum Teil gar anders modifiziert worden ist, zum Teil ganz und gar aufgehört hat, kann sich jene vielumfassende Neigung nur noch im Gebiete der Wissenschaft und der Kunst zeigen; einem Gebiete, wo keine Fesseln die natürliche Erweiterungsund Eroberungssucht des menschlichen Geistes hemmen. […] Die deutsche Literatur wird, nach dem gegenwärtigen Anfange zu urteilen, in nicht gar langer Zeit, alle andren älteren Literaturen verbannt, sich einverleibt und in sich aufgenommen haben.»8 Solche Formen des innereuropäischen wissenschaftlichen Kannibalismus waren um 1800 sicherlich nicht das Modell, das die Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt verfolgten und das der reisende Alexander außerhalb Europas verbreitet hätte. Doch kann man nicht oft genug daran erinnern, dass auch im frühen 19. Jahrhundert Wissenschaft und Forschung, selbst wenn es um Poesie, Sprache oder Landschaften ging, hochpolitische Angelegenheiten waren, die auch zu ideologischen Zwecken betrieben werden konnten. Erst recht, wenn ihr Gegenstand nicht innerhalb Europas lag, sondern in (von Europa aus gesehen) entlegenen Regionen der Welt.

Die Welt in Tabellen Zurück zum Ballon. «Ich habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen wissen, alles in Einem Werke darzustellen» schrieb Alexander von Humboldt als alter Mann 1834.9 Zwischen seinen frühen Jahren und diesem Zeitpunkt hatte eine Vielzahl innovativer Messinstrumente eine radikale Veränderung des Bewusstseins von Perspektive, Maßstab und Totalität mit sich gebracht, sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Betrachtung. Dies veränderte nicht nur das Koordinatensystem für naturwissenschaftliche Forschungen. Auch in der Geschichtsschreibung, Philosophie, Literatur oder Kunstproduktion veränderte sich der Rahmen, in dem geforscht, spekuliert, gedichtet oder gemalt wurde. Genaue Uhren, exakte Sextanten, Quadranten, Kompasse und Inklinationsnadeln erreichten zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Präzision, die es erlaubte, abstrakte Netze aus Längen- und Breitengraden über


14 den ganzen Erdball zu legen – der Meter ist die immer noch jedem geläufige Folge davon – , womit das Gefühl einer mentalen, wenn auch nicht gleich materiellen Beherrschbarkeit und Berechenbarkeit der Welt einherging. Wissenschaftler und Ingenieure ließen immer effizientere Bohrgeräte ins Erdeninnere treiben, die in Tiefen von Hunderten von Metern unterirdische Wasserquellen erschlossen, die viel bewunderten «artesischen Brunnen», die bald auch die Imagination von Schriftstellern anregten. Gleichzeitig stiegen auch immer mehr wissenschaftlich ausgestattete oder bemannte Ballons in die Luft, die die Grenzen des bis dahin Mess- und Erlebbaren erweiterten. Alexander von Humboldt, der bei der Besteigung des Chimborazo 1802 höher vorgedrungen war als je ein europäischer Mensch vor ihm (5600 Meter), erlebte schon bald darauf, wie sein Kollege und Freund, der Physiker Joseph Louis Gay-Lussac, an Bord eines solchen Ballons 1804 einen neuen Höhenrekord aufstellte (7017 Meter), der wiederum noch zu Lebzeiten Humboldts von den britischen Aeronautikern Charles Green und Spencer Rush 1839 in England getoppt wurde (7900 Meter). Spätestens jetzt war das Bewusstsein eines Blicks von oben nicht mehr rückgängig zu machen. Ebenso wenig wie das Wissen um die Möglichkeit eines visuellen Zugriffs auf kleinste, entfernteste, ja unsichtbare Körper. Denn auch die Teleskopie und Mikroskopie verbesserten sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts so rasant, dass die Wahrnehmung mit bloßem Auge um mehrere darunter oder dahinter liegende Ebenen erweitert wurde. Auch das hatte nicht nur naturwissenschaftliche Folgen: Die Betrachtung des mikroskopisch Kleinen oder astronomisch Großen setzte im frühen 19. Jahrhundert nicht einfach das Bekannte auf neuem Niveau fort, sie machte neue, schwindelerregende Dimensionen von Wirklichkeit fassbar und suggerierte gleichzeitig, dass es im Kosmos entferntere, kleinere, weitere Entitäten geben musste. Ähnliches gilt für die Bestimmung von zuvor unvorstellbaren Zeiträumen (anhand von Fossilen) oder ultraschnellen Geschwindigkeiten (anhand von gereizten Nerven), die ebenfalls das Bewusstsein für den eigenen Platz im Koordinatensystem der Menschheit veränderten. Aufsteigen, herabsinken, raus- und reinzoomen, messen, skalieren, vergleichen: Nicht mehr die lose Kompilation zufällig gefun-

Tabellen zur Meteorologie und Klimatografie aus dem als Begleitatlas zu Alexander von Humboldts Kosmos gedachten Physikalischen Atlas von Heinrich Berghaus, Gotha 1845. Courtesy David Rumsey Map Collection


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15 dener Daten war das Ziel von Wissenschaftlern, Verwaltungen oder ganzen Staaten in Europa, sondern ihre methodisch stringente, möglichst lückenlose Erhebung und ihre systematische Verarbeitung zur wissenschaftlichen bzw. wirtschaftlichen und politischen Anwendung. Listen aus Zeilen und Spalten in konzentrierter und übersichtlicher Form schienen ein umfassendes Bild aller möglichen Phänomene liefern zu können: von Temperaturschwankungen in den Tropen, über Schriftsysteme in Indien, Dialekte in Frankreich, Bodenschätze im Ural, ja sogar von Kunstsammlungen und Museen in Europa. Der Schriftsteller Stendhal wurde 1811 mit dem Entwurf einer der wohl berühmtesten Matrizen dieser Zeit beauftragt: Sie sollte das Musée Napoléon (Louvre) in die Lage versetzen, seine gigantischen, in ganz Europa beschlagnahmten Kunstsammlungen binnen kürzester Zeit zu erfassen. Dazu schrieb Stendhal: «Wir werden innerhalb einer einzigen Zeile jedes beliebige Gemälde, wie schön es auch ist, beschreiben können. […] Unsere Arbeit wird zwar keine pittoreske Schönheit aufweisen, dafür aber die administrative Schönheit: Klarheit und Knappheit».10 In diesem Sinne – wenngleich in der Regel ohne staatlichen Auftrag – arbeiteten auch Wilhelm und Alexander als typische Vertreter ihrer Zeit. Alexander scheint zwar recht früh versucht zu haben, sich durch das «Designen» eigener, organischer, ästhetischer Darstellungsformen von solchen Matrizen zu befreien. Doch finden sich in seinem Nachlass und in seinen Publikationen, wie auch in denen seines Bruders, Listen und Tabellen zuhauf: in Form seitenlanger Aufzählungen von Wörtern, Schriften und Morphemen, von den Sprachen der alten Ägypter, Hindus, Chinesen bis zu denen amerikanischer, sibirischer oder polynesischer Völker bei Wilhelm. Bei Alexander sind es unzählige Seiten seiner Reisetagebücher und Materialiensammlungen zu seinem Reisewerk oder zum Kosmos voll mit Daten zu Temperaturen, Pflanzen, Klimamessungen, Vulkanausbrüchen, Bevölkerungsentwicklungen, Ein- und Ausfuhrstatistiken für den transatlantischen Warenverkehr, inklusive Aufstellungen zu in die spanischen Kolonien eingeführten Sklaven. Zugespitzt formuliert: Im Europa des 19. Jahrhunderts – und in gewisser Hinsicht in den Arbeitszimmern der Brüder Humboldt – war die Tabelle eines der privilegierten Werkzeuge zur Erschließung und Darstellung der Welt. Nicht, dass das Anlegen und Befüllen von Tabellen nicht auch in anderen Weltregionen eine lange


16 Tradition gehabt hätte, aber jetzt, so schien es ihnen, hatten europäische Gelehrte, Gesellschaften und Staaten etwas, das sie in die Lage versetzte, viele, möglicherweise sogar alle – selbst ästhetische oder linguistische – Phänomene in den eigenen Ländern, auf dem eigenen Kontinent und weit darüber hinaus einheitlich festzuhalten, zu klassifizieren und intellektuell wie auch politisch zu bewältigen. Ähnliches spielte sich im Bereich der Kartografie ab. Die scheinbar neutrale Form eines einfachen Rasters war jedoch alles andere als neutral: Die Systematik und die Terminologie entstammten europäischen Forschungsmethoden, die «Benennungsmacht» sowie die Auswahl der zu erhebenden Daten lag bei europäischen Geografen, Botanikern, Historikern etc. Eine Karte aus den 1840er Jahren zeigt beispielhaft, wie sich diese «Matrix Europa» auf die Welt legte: Sie ist Teil eines ursprünglich als kartografische und statistische Ergänzung zu Humboldts Kosmos vorgesehenen Atlas und zeigt die sogenannten phytogeografischen Reiche, botanische Bereiche also. Die Karte ist bunt aufgeteilt nach den Männern, die seit dem 18. Jahrhundert diese Regionen bereisten bzw. schon zusammengetragene Bestände untersuchten und die Pflanzen klassifizierten: das Reich Carl von Linnés reicht bis Sibirien, das von Adelbert von Chamisso umfasst unzählige Südsee-Inseln, Alexander von Humboldt hat immerhin einen kleinen Streifen in den Anden. Wissenschaftliche Erfassung war eben auch eine Form der symbolischen Aneignung. Der Historiker Dipesh Chakrabarty bringt es, übertragen auf den Bereich der Geschichtsschreibung, folgendermaßen auf den Punkt: «Europa [fungiert] im historischen Wissen als stillschweigender Maßstab für die Geschichte im Ganzen.» Seine These lautet, dass «im akademischen Diskurs über Geschichte […] Europa immer noch das souveräne, theoretische Subjekt aller Geschichten [ist], einschließlich derjenigen, die wir als ‹ indisch ›, ‹ chinesisch › oder ‹ kenianisch › bezeichnen.» All diese nationalen Geschichten seien «Variationen einer Meistererzählung», die in und für Europa entwickelt worden sei.11

MEIStERERZÄhlUnGEn Wer 1789 zwanzig Jahre alt war – hier seien lediglich Napoleon Bonaparte, Ludwig van Beethoven, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Hölderlin als exakte Altersgenossen Alexander von

umrisse der Pflanzengeographie mit weltkarte der phytogeografischen reiche aus dem als Begleitatlas zu alexander von humboldts Kosmos gedachten Physikalischen atlas von heinrich Berghaus, Gotha 1845 (Kat. 6.25)


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17 Humboldts genannt; August Wilhelm Schlegel, Johanna Schopenhauer und Germaine de Staël als die Wilhelms –, erlebte eine ungeheure Beschleunigung der Zeit, eine Erweiterung des allgemeinen Koordinatensystems des Menschen sowie den brutalen Auftritt der Nation als moralischer und politischer Kategorie mit. Wenn wir heute, 250 Jahre nach der Geburt dieser Männer und Frauen, an sie erinnern, drängt sich die Frage nach dem Warum und dem Wie dieses Gedenkens auf. Wie erklärt sich, dass im Europa des Jahres 2019 kaum jemand ein Wort über Napoleon Bonapartes 250. Geburtstag verliert – auch in Frankreich nicht –, während Alexander von Humboldt in unzähligen Büchern, Fernsehsendungen, Sonderbeilagen und Festakten gefeiert wird? Das war 1969 anders. Da erinnerte in Berlin kaum jemand an Humboldt und in Paris – in Deutschland aber auch – grassierte das Napoleonfieber. Jede Epoche sucht sich die Helden aus, die sie braucht. Und jede Epoche tut dies mit der eigenen «Matrix», die eben nicht neutral ist. Zwei lange Jahrhunderte nachdem Alexander von Humboldt neben Pflanzen und Steinen auch einzelne Artefakte und aufsehenerregende Bilder aus Amerika nach Europa brachte; nachdem Wilhelm von Humboldt begann, Sprachen aus allen Erdteilen zu sammeln; nachdem im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr Objekte aus Afrika, Amerika, Asien und Ozeanien in den Depots der europäischen Museen eintrafen und einige davon der Öffentlichkeit präsentiert wurden; nachdem Panoramen, Dioramen und weitere immersive Dispositive es zunehmend erlaubten, sich die Ferne nach Hause zu holen – gut 200 Jahre nach diesen Entwicklungen sind die Ferne und die «Welt» ganz andere Kategorien geworden als noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Was also haben wir heute an den Brüdern Humboldt? Haben wir nicht gerade hier und jetzt allen Grund, Meisterzählungen zu misstrauen? Bereits 1821 sagte Wilhelm von Humboldt, es sei «nichts so selten als eine buchstäblich wahre Erzählung […] und daher sind die Tatsachen der Geschichte in ihren einzelnen verknüpfenden Umständen wenig mehr als die Resultate der Überlieferung und Forschung, die man übereingekommen ist, für wahr anzunehmen, weil sie, am meisten wahrscheinlich in sich, auch am besten in den Zusammenhang des Ganzen passen.»12 Skepsis ist auch solchen Meistererzählungen gegenüber angebracht, die historische Persönlichkeiten zum Ausgangspunkt nehmen und sie


18 von allem historischen, politischen, ideologischen Kontext lösen. Das schließt eine historische Untersuchung oder Auseinandersetzung mit ihnen nicht aus. Aber Gegenstand von Untersuchung müssen sie bleiben, als sichtbare Elemente der Geschichte, in der vieles noch unsichtbar ist und der Erschließung harrt. Die Meistererzählung ist dazu nur bedingt geeignet.

Nicht in die Luft gehen, sondern in den Keller Den zielstrebigen goldenen Ballon aus dem Museo storico von ­Bracciano zeigen wir in dieser Ausstellung nicht. Wir hätten ihn gerne, zu gerne gezeigt, doch sein fragiler Zustand erlaubte keine Reise nach Berlin. Er bleibt, wo er 1804 gelandet ist, und soll dort restauriert werden. Der Besucher wird sich hier in Berlin mit Bildern von Ballons begnügen müssen, die in der Ausstellung und im Katalog an manchen Stellen zu entdecken sind, eingezeichnet oder buchstäblich in den Himmel geschrieben, wie in Alexander von Humboldts Naturgemälde der Anden. Alexander ist übrigens nicht nur höchsten Höhen entgegengestrebt wie 1802, er hat auch an Orten Pflanzen gesucht, wo niemand solche vermutet hatte, in tiefen, fast lichtlosen Bergwerksstollen. Eine Ausstellung versammelt Objekte, und diese Objekte gilt es zunächst zu suchen, wie nah oder fern sie auch sind. Um sie zu finden, steigen Historikerinnen und Historiker, Kuratorinnen und Kuratoren in der Regel nicht in die Höhe, sondern meist hinab in die Keller. Fundorte sind die Sammlungsdepots von Museen, Archive, Bibliotheken, Wohnzimmer und hin und wieder auch Dachböden. Dabei helfen Tabellen vielfältiger Art, Adressbücher, Verzeichnisse, Register, Datenbankauszüge und Metadatenbanken – stationär angelegt oder im weltweiten Netz. Auf diese Weise oft schlummernde Objekte aufzuspüren, gelingt, weil sie in der Vergangenheit von einer menschlichen Hand angefasst, bezeichnet, gezeichnet, vermessen, etikettiert, inventarisiert wurden. Oder weil andere Personen alte Tabellen, Register, Kataloge studiert haben, um deren Daten in neue und für uns lesbare Formen zu überführen, die öffentlich zugänglich und mitteilbar sind. Nach der Suche, im Angesicht des Objekts, im Depot oder später in der Ausstellung, zeigt sich dann etwas, das zwar keine Erzählung


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19 darbietet, aber mit vielen Geschichten, Vorgängen, Beziehungsgeflechten verbunden ist. In Berlin, im Baskenland, in Italien und Großbritannien, in Frankreich, Polen und anderswo bewahren Sammlungen und Museen heute zahlreiche Erinnerungen an Alexander und Wilhelm von Humboldt. Sie bieten eine Chance, Geschichten, auch Heldengeschichten, ein wenig anders zu erzählen. Ein unscheinbarer Fisch im Glas, seit etwa 200 Jahren in Ethanol schwimmend, wurde von Alexander von Humboldt nicht in Amerika, sondern am Tegeler See geangelt und gelangte 1829 als Gabe an seinen ehemaligen Mitarbeiter und Freund Achille Valenciennes in die Forschungssammlungen des Pariser Muséum d’histoire naturelle bzw. in dessen Keller, wo er heute unter tausenden anderen Fischen steht. Oder ein Krokodil aus Marmor, das Werk unbekannter Bildhauer der Antike, das seit Ende des 18. Jahrhunderts in der Sala degli animali in den Vatikanischen Museen immer am selben Ort steht: Alexander sah es dort, als er von Mai bis Juli 1805 bei seinem Bruder Wilhelm in Rom weilte und jede Gelegenheit nutzte, Bibliotheken, Forschungsinstitute und eben auch Museen zu besuchen. Er hatte kurz zuvor in Amerika Krokodile studiert, seziert und gezeichnet, nun beurteilte er die Arbeit der Künstler und der Restauratoren und spürte deren Beobachtungsgabe und Naturwahrnehmung nach. Die Ausstellung und ihr Katalog bringen weit verstreute Objekte zusammen und zeigen ihre materielle Qualität, ihre Vieldeutigkeit und den Reichtum ihrer eigenen Geschichte (wie die ihrer Aufbewahrungsorte). Ob als Kunstwerk, «Reliquie» oder als historisches Zeugnis: Die Exponate stellen sich der Unzulänglichkeit der «administrativen Schönheit» entgegen, indem sie im Kontext mit anderen Objekten die Assoziation anregen oder als Gegenüber des Betrachters einen persönlichen, gar intimen Moment des Austauschs zulassen. Im besten Fall öffnen sie Räume, in denen Thema und Titel der Ausstellung in den Hintergrund treten, und führen den Besucher zu einer ganz eigenen parallelen Erzählung. Im 250. Jahr nach Alexander von Humboldts Geburt und 252 Jahre nach der seines Bruders stellt das Deutsche Historische Museum ihre Geschichte dar. Über fehlenden Nachruhm können Wilhelm und Alexander von Humboldt nicht klagen. Sie sind allgegenwärtig. Gerade in Deutschland. Sie waren ihrer Zeit voraus, heißt es, und sind deshalb noch unter uns. Doch das, was heute unter uns ist, hat


20 oft mehr mit Mythen zu tun als mit der historischen Wirklichkeit. Wilhelm, so heißt es, war ein umfassender Bildungsreformer, dem wir das Gymnasium, die Berliner Universität und die wahre Idee von Bildung verdanken. Alexander war Weltbürger und Abenteurer, er überwand mit einzigartiger wissenschaftlicher Energie die Spaltung zwischen Natur und Kultur, revolutionierte das Denken seiner Zeit und entdeckte Amerika ein zweites Mal. Es lohnt sich, manches zu hinterfragen und das Leben und Wirken der Brüder historisch zu betrachten: als ein Produkt der Zeit, in der sie lebten – um 1800 – und des Raums, von wo aus sie dachten – Europa. Worin die Bedeutung dieses alten Europas für uns heute liegt, das können zwei Brüder und eine Ausstellung sicherlich nicht beantworten. Aber sie können dazu beitragen, mithilfe historischer Zeugnisse einen Horizont zu schaffen, der dazu verleitet, sich von Neuem mit der Geschichte zu beschäftigen und über die Betrachtung historischer Akteure, Ereignisse, Objekte und ihrer Bewegungen zu einer neuen und eigenen Beurteilung dessen zu kommen, was damaliger und heutiger, eigener Horizont ist.

Übersetzungstabelle für geografische Begriffe, verfasst von Heinrich Berghaus, aus dem Nachlass Alexander von Humboldts, Biblioteka Jagiellońska, Krakau (Kat. 6.26)


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1 Wilhelm von Humboldt, Brief an Friedrich Wilhelm III., Rom, 22. Dezember 1804. In: Wilhelm von Humboldts Politische Denkschriften, Bd. 1 (1802–1810), hg. von Bruno Gebhardt, Berlin 1903, S. 11. Original in frz.

2 Ebd. 3 Jean-Jacques Rousseau: Auszug aus dem Plan des Ewigen Friedens des Herrn Abbé de St Pierre, 1713/61,

Sprache, Übersetzung der Autoren.

In: Kurt von Raumer: Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg und München 1953, S. 345. 4 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, 1795. In: Kant, Werke in zwölf Bänden, Theorie Werkausgabe Bd. XI, S. 211f. 5 Wilhelm von Humboldts Tagebücher, hg. von Albert Leitzmann, 2. Bd. 1799–1835, Berlin 1918, S. 44. 6 Wilhelm von Humboldt (1826), Ueber die Bhagavad Gitâ. Bemerkungen über die Langloissche Recension

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der Schlegelschen Bhagavad-Gitâ. An Schlegel nach 10 Stendhal, Brief an Dominique-Vivant Denon, 27. Oktober 1810, AMN Z 3 1810, zitiert nach: Marianne HamiBonn am 17. Junius 1825 geschickt. In: Indische Bibliothek 2, Heft 3, S. 328–372, hier: S. 363. aux und Jean-Luc Martinez: De l’inventaire N à l’in7 Rahel Levin, Brief an Ludwig Robert, Berlin, ventaire MR: le département des Antiques. In: Les 30. Januar 1807, zit. nach: Rahel Levin Varnhagen, vies de Dominique-Vivant Denon, hg. von Daniela Briefwechsel mit Ludwig Robert, hg. von Consolina Gallo, Tagungsband, 2 Bde., Paris 2001, S. 434f. sowie Abb. S. 441. Vigliero, München 2001, S. 75. 8 Friedrich Schlegel: Beiträge zur Geschichte der 11 Dipesh Chakrabarty: Europa provinzialisieren. Postmodernen Poesie und Nachricht von provenzalikolonialität und die Kritik der Geschichte. In: Sebasschen Manuscripten. (An A. W. Schlegel.). In: Europa. tian Conrad und Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des Eine Zeitschrift. 1803, Bd. 1, [Stück 2], S. 49–71, hier: Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den S. 49f. Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am 9 Alexander von Humboldt, Brief an Karl August VarnMain [u. a.] 2002, S. 283–312, hier S. 283. hagen von Ense, Berlin, 24. Oktober 1834. In: Briefe 12 Wilhelm von Humboldt: Ueber die Aufgabe des von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Geschichtsschreibers [vorgelesen in der KönigEnse aus den Jahren 1827 bis 1858, hg. von Ludmilla lich-preußischen Akademie der Wissenschaften Assing, Leipzig 1860, S. 20. zu Berlin am 12. April 1821], mit einer Einleitung von Albert Leitzmann, Leipzig 1919.



Kindheit ohne Gott

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Nicht mehr Gott, die Bibel, theologische Dogmen und feste Moralvorstellungen waren die Koordinaten des Aufwachsens der Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, sondern eine an der unmittelbaren Umgebung und der Natur geschulte Erfahrung der Welt. Früh setzten sich die Brüder durch Lektüre von Reiseberichten und Romanen, naturkundlichen Beobachtungen sowie eigenen Sammlungen und Erkenntnissen mit dieser Welt auseinander. Sie gehörten zur ersten Generation junger Europäer, die schon als Kinder den kritischen Geist der Aufklärung mitbekamen. Zeit ihres Lebens blieb das nordwestlich von Berlin gelegene Schloss Tegel für beide ein zentraler Bezugspunkt. Hier – und in den Wintermonaten in ihrer Berliner Wohnung – erhielten die Brüder eine an den Idealen der Aufklärung orientierte universelle Ausbildung. Angelehnt war diese Erziehung an die Ideen und Schriften des europaweit gelesenen französischen Schriftstellers und Pädagogen Jean-­Jacques Rousseau, die der belesenen Mutter, nach dem Tod ihres Mannes 1779 alleinerziehend, als Orientierung galten. Dafür engagierte sie fähige Privatlehrer, die als äußerst progressiv für ihre Zeit galten, eine am Diesseits ausgerichtete geistig-intellektuelle Entwicklung förderten und ihre Schüler zu mündigen Bürgern heranzubilden gedachten. Zunächst lag die Erziehung in den Händen des Pädagogen Joachim Heinrich Campe, der schon für den älteren Halbbruder Ferdinand nach Tegel geholt worden war. Ihm folgte 1777 der 20-jährige Gottlob Johann Christian Kunth, der nach dem Tod des Vaters 1779 auch die


24 Gutsverwaltung übernahm. Zusammen mit renommierten Fachlehrern und bekannten Aufklärern wie Christian Wilhelm von Dohm, Ernst Ferdinand Klein und Johann Jakob Engel bereitete Kunth Wilhelm und Alexander in den folgenden Jahren gezielt auf ein Universitätsstudium vor. Der umfassende geistes-, wirtschafts- und naturwissenschaftliche Bildungsplan war für die Brüder mit einem intensiven Arbeitspensum verbunden, wobei die Mutter als Nachfahrin hugenottischer Einwanderer besonderes Augenmerk auf die französische Sprachausbildung legte. In ihrer Kindheit gründen die Anlagen für viele der Interessen, Temperamente und Neugierden, denen sie zeitlebens folgen sollten. Die Abgeschiedenheit auf dem Lande, die beide Brüder zurückblickend durchaus als Isolation beschrieben, wurde nach der Verlagerung ihres Lebensmittelpunkts nach Berlin 1783 von einer weitaus geselligeren Jugendzeit abgelöst.


Kindheit ohne Gott

Kat. 1. 1- 2 Jugendporträts von Alexander und Wilhelm von Humboldt Johann heinrich schmidt ( 1749 – 1829) deutschland, 1784 freies deutsches hochstift/frankfurter Goethemuseum, frankfurt am main

Ganz im Stil des ausgehenden friderizianischen Zeitalters fertigte 1784 der Porträtmaler Johann Heinrich Schmidt diese Bildnisse von Alexander und Wilhelm an. Der aus Hildburghausen stammende und in vielen Metropolen Europas tätige Künstler hatte bereits um 1775 die Eltern der Brüder porträtiert. Aus diesem Grund lag es für die Mutter Marie-Elisabeth offensichtlich nahe, ihn rund neun Jahre später auch die Porträts der 17und 15-jährigen Söhne anfertigen zu lassen. Besonders charakteristische Züge haben diese etwas schablonierten Bildnisse nicht. Sie zeugen vielmehr von dem sozialen Umfeld, in das die Brüder hineingeboren wurden: Zwar ist die Familiengeschichte

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beider Elternteile eher bürgerlich geprägt, adlig sind die Brüder erst in der dritten Generation. Doch hatte ihr Vater aufgrund seiner Verdienste beim Militär die Kammerherrenwürde und eine gewisse Nähe zum König erlangt, das durfte sich auch in der bildlichen Repräsentation der Familie zeigen. Nach dem Tod der Mutter 1796 gingen die beiden Pastellporträts in den Besitz von Ferdinand von Hollwede über, dem Halbbruder der beiden Humboldts. Dessen Urenkelin verkaufte die Porträts an Friedrich Gunkel; seit 1956 sind sie Teil der Sammlung des as Frankfurter Goethe-Museums.


Kindheit ohne Gott

Kat. 1. 26 Geografische Zeichnungen Alexander von Humboldts im Alter von 13 Jahren Alexander von Humboldt ( 1769  –   1859) Berlin, 1783 Royal Geographical Society (with the Institute of British Geographers), London

Zum Lernprogramm von Wilhelm und Alexander von Humboldt gehörte auch die Ausbildung in der Geografie. Wilhelm berichtete im Alter von 14 Jahren, er kopiere häufig Karten, um sich so die Lage von Ländern, Provinzen und Städten einzuprägen. Auch Alexander erwähnte das Zeichnen als einen der Bereiche seiner Unterrichtung. Die Serie von fünf Zeichnungen aus dem Jahr 1783 weist den damals 13-jährigen Alexander als einen präzisen jungen Kartografen aus, der mit Zirkel und Lineal umzugehen verstand. Die ausradierten Hilfslinien verraten die Sorgfalt, mit der er nach Kartenvorlagen die Reduktionen fertigte, und die ästhetische Behandlung der in Tusche, verschiedenfarbigen Tinten und Aquarellfarben gezeichneten Blätter seinen

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versierten Umgang mit den gestalterischen Mitteln. Die drei auf weiteren Blättern dargestellten Planetensysteme, in denen er die geozentrischen Weltbilder des Ptolemäus und des Tycho de Brahe dem heliozentrischen kopernikanischen Modell gegenüberstellte, sind ein frühes Beispiel der Beschäftigung Alexanders mit der Geschichte der Wahrnehmung der Welt und des Kosmos. Als Instrument des Wissens über den Raum und der Orientierung des Menschen darin wurde die Kartografie erst im späten 18. Jahrhundert Bestandteil der allgemeinen Bildung und das Lesen – und Anfertigen – von Karten zu einer weiter verbreiteten Kulturtechnik, für die Alexander später wichtige DB Impulse lieferte.


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Kat. 3. 14 Prunkstuhl des Wiener Kongresses von Wilhelm von Humboldt Wien, wohl 1814 Mount Stewart, County Down

Ein grün belaubter Baum, begleitet von drei Sternen, darüber ein geharnischter Ritter mit einem Schwert in der Rechten bilden das Stammwappen der Familie Humboldt. Sie sind auf der Polsterung der Rückenlehne eines Stuhles angebracht, die Sitzfläche ziert das preußische Wappen. Der Stuhl aus vergoldetem Birkenholz ist einer von 20 Stühlen, die den Bevollmächtigten des Wiener Kongresses zugeordnet wurden und vermutlich durch den kaiserlichen Tischlermeister Gregor Nutzinger gefertigt worden sind. Nach dem Kongress seien die Stühle dem britischen Außenminister Robert Stewart Viscount Castlereagh zum Geschenk gemacht worden, so die Überlieferung in dessen Familie, als Teil einer Sammlung von Memorabilien des politischen Großereignisses, wie sie auch an anderen Orten

zusammengetragen wurden. Reste malachitgrüner Seide an den Polsternägeln verraten eine ursprünglich abweichende Bespannung. Edith, Marchioness of Londonderry, gab die heutige Polsterung mit aufgestickten Wappen 1930 in Auftrag, die dem Kupferstich des Wiener Kongresses von Jean-Baptiste Isabey entnommen wurden. Der Zeitpunkt der Überarbeitung, als Europa unruhigen Zeiten entgegenblickte, mag die Sehnsucht nach der historischen Ordnung des Kongresses ausdrücken. Europäisch ist noch mehr am Nachleben des Stuhles: In Wien gefertigt, seit 1815 auf dem Landsitz Castlereaghs Mount Stewart in Nord­ irland aufbewahrt, wurde das Wappen des preußischen Bevollmächtigten Wilhelm von Humboldt von Nonnen im französiDB schen Nantes gestickt.


Kat. 3. 18 Würfelspiel The Panorama of Europe. A New Politische Schlachtfelder

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Game London, 1815 Deutsches Historisches Museum, Berlin

Das Brettspiel The Panorama of Europe. A New Game erschien erstmals während der Versammlungen des Wiener Kongresses 1815. Spieleentwickler waren das britische Vater-Sohn-Gespann John und Edward Wallis. Durch die spiralförmige Wegeführung und die 40 malerischen Stadtveduten erinnert das Spiel zum einen an die klassische Bildungsreise des europäischen Adels und Bürgertums, zum anderen an die Neuordnung Europas nach der Niederlage Napoleons. Der Spieler beginnt seine Reise in der kleinen Hafenstadt Porto, durchquert Europa von West nach Ost und gelangt über Skandinavien schließlich

zum Zielort London. Die beigelegte Anleitung enthält, ähnlich einem Reiseführer, Wissenswertes zu den einzelnen Stadtfeldern und informiert über Sehenswürdigkeiten und historische Ereignisse. Unter den Beschreibungen verstecken sich positive wie negative Handlungsanweisungen, die wiederum auf Begebenheiten rund um die Umbrüche in Europa zu Zeiten der Befreiungskriege rekurrieren. So muss auf dem Feld «Leipzig» vier Runden pausiert werden, ehe ein erneuter Zug getan werden darf, um an die Opfer der Völkerschlacht von 1813 zu FN ­erinnern.


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Kat. 7. 3 Alexander von Humboldt in seinem Arbeitszimmer nach Eduard Hildebrandt ( 1818  –   1868) Berlin, 1847 Stiftung Deutsches Historisches Museum, Berlin

Der als Landschaftsmaler bekannte Eduard Hildebrandt hinterließ der Nachwelt drei sehr berühmte Porträts von Alexander von Humboldt: ein Ölgemälde von 1850 und zwei Aquarelle, die ihn in seinem Arbeitsumfeld zeigen, einmal in seinem « Arbeitszimmer » (1845), einmal in seiner « Bibliothek » (1856). Die museal anmutenden Raumdarstellungen wurden als Farblithografien reproduziert, jeweils von einer Faksimilehandschrift Humboldts begleitet. « Ein treues Bild meines Arbeitszimmers, als ich den zweiten Theil des Kosmos schrieb » ist unter der Lithografie von 1847 zu lesen. Das grüne Sofa, die Wandkarte, die Kisten mit den Kosmos-Dokumentensammlungen, die vielen Stapel von Büchern und Papieren auf und unter den Tischen entsprechen zeitgenössischen Besucherberichten.

Gleichzeitig trägt die visuelle Fixierung dazu bei, das Arbeitszimmer als Fabrik des Wissens zu stilisieren. Um 1843 traf Alexander von Humboldt in Berlin Eduard Hildebrandt, der gerade aus Paris zurückgekehrt war, wo er sich bei dem Maler Eugène Isabey fortgebildet hatte. Der Wissenschaftler begeisterte sich sofort für das Werk des jungen Künstlers und wurde ein enger Freund von ihm. Humboldt war sehr interessiert an Naturdarstellungen, die Landschaftsmalerei wird im zweiten Band des Kosmos ausführlich behandelt. Er protegierte Hildebrandt und empfahl ihn König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, der dessen viele Reisen – insbesondere nach Brasilien und Amerika – finanzierte und ihn Ende der 1840er Jahre zum HofBS/DB maler ernannte.


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