human error. Louisa Clement

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Installationsansicht / Installation view, 2023, Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen

INHALT CONTENTS

FRANK SCHMIDT

„Ich weiß nicht, ob ich eine Skulptur bin.“

Zur Rolle der Stellvertreterinnen und des Körperbildes bei Louisa Clement

‘I don’t know whether or not I am sculpture.’

On the Role of Representatives and the Body Image as Seen by Louisa Clement

ARMIN GRUNWALD

Menschen und Roboter – Grenzauflösungen zwischen Mensch und Technik

Humans and Robots – Abolishing the Boundaries between Humankind and Technology

KATHARINA RÜPPELL im Gespräch mit / in Conversation with LOUISA CLEMENT

LOUISA CLEMENT

human error compression

Repräsentantin / Representative mould take care

Danielfut20_25 Lucky Girl 4w heads body fallacy dt transformationsschnitt

PAULA MODERSOHN-BECKER

1, 16/17

16/17, 21, 25

4/5, 29, 33

36/37, 40/41

44, 45, 49, 52, 53

57, 61

12/13, 64, 65, 68/69

72, 73, 76, 77

81, 85

88/89, 92/93

33, 39, 43, 62, 63, 78, 79, 83, 86, 87, 96

Vorwort Preface
Fotografie als Handlungsort Photography as Place of Action Biografie Biography Impressum, Dank Colophon, Acknowledgements 10 14 18 30 46 54 66 71 90 94
Installationsansicht / Installation view, 2023, Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen

HUMAN ERROR

„Wir, die Menschen, rennen auf die KI zu wie die Mücken auf eine Windschutzscheibe.“

Jenny Holzer (art, Mai 2023)

Unter großem medialem Echo wurde ChatGPT ab Ende 2022 aufgenommen. Sofort wurde der leicht bedienbare KI-Chatbot mit Fragen gefüttert, um Texte aller Art zu generieren. Schon bald jedoch mischte sich auch Kritik in die Begeisterung über die schier unbegrenzten Möglichkeiten dieser KI. Künstlerinnen wie Jenny Holzer und auch Louisa Clement beleuchten die Auswirkungen differenziert und warnen davor, sich der KI blind auszuliefern. Gerade Künstler*innen sind gegenüber dem Thema sensibilisiert und erkennen, dass KI eben eines nicht ist: intelligent und kreativ. Sie kann Kreativität lediglich simulieren. Der GPT (Generative Pre-trained Transformer) wird von Menschen „gefüttert“ oder eben „geschult“ und findet seine Ergebnisse nach Wahrscheinlichkeiten. Um zu einem Resultat zu kommen, „halluzinieren“ diese Rechner aus Mangel an Informationen nicht selten Fakten. Nicht unwesentlich ist zudem die Frage, welche Personen mit welchen Rollenbildern den Chatbot trainieren. Insbesondere Closed-Source-Programme – und hierzu zählt ChatGPT derzeit – erweisen sich als intransparent hinsichtlich einer Überprüfbarkeit und Richtigkeit der Quellen. Die Kunst hingegen nimmt für sich in Anspruch, der Wahrheit verpflichtet zu sein.

Genau an dieser Schnittstelle zwischen Individuum und Kollektiv, Künstlerin und Werk sowie der Frage nach dem Finden und Darstellen von „Wahrheit“ bewegt sich das Werk von Louisa Clement. Eine nicht unwesentliche Bedeutung in ihrem Schaffensprozess kommt dem Zufall zu – ein Moment, das dem Wesen einer Maschine völlig fremd ist. Auch wenn eine KI vieles kann, bleiben gewisse Bereiche eben allein dem Menschen vorbehalten.

Wir befinden uns aktuell im Zeitalter der digitalen Transformation. Und Wandlung – von Körpern ebenso wie von sich selbst überlassenen Kriegsabfällen – spielt eine zentrale Rolle in Clements Œuvre: verrottende Munition, scheinbar misshandelte Frauenkörper und Puppen, mit denen man sich unterhalten kann. Veränderung und Abkehr von Sehgewohnheiten werden in Clements Werken anschaulich und regen zum Diskurs an.

Die gesellschaftliche Vereinnahmung von Körpern ist ein weiteres zentrales Thema von Louisa Clement. Hier finden sich Parallelen zu Paula Modersohn-Becker, die sich in zahllosen Studien und Gemälden mit dem nackten Körper, auch dem eigenen, auseinandergesetzt hat. Rund 120 Jahre liegen zwischen diesen beiden Künstlerinnen. Umso spannender ist ein Vergleich vor dem Hintergrund gewandelter gesellschaftlicher, soziologischer und politischer Verhältnisse.

Mit human error. louisa clement setzt das Paula Modersohn-Becker Museum die Reihe von Ausstellungen fort, in der sich zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler mit Aspekten der Sammlung beschäftigen. Trotz epochenbedingter Unterschiede bleiben manche Fragen – etwa die nach dem künstlerischen Selbstverständnis – über die Zeit erstaunlich aktuell.

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Diese Ausstellung ist einmal mehr durch die Zusammenarbeit und mit Unterstützung vieler entstanden. Mein Dank gilt zuallererst Louisa Clement für ihre Begeisterung und ihren Einsatz, dieses Projekt mit uns in Bremen zu realisieren.

Die Stiftung Kunst und Natur hat uns großzügig den wichtigen Zyklus heads leihweise zur Verfügung gestellt. Weitere Leihgaben stammen von der Künstlerin und deren Galerien. Stellvertretend möchte ich Shao-Yi Hou von Eigen + Art für ihre stete Unterstützung danken.

Lena Mozer hat diesen außergewöhnlichen Katalog in enger Abstimmung mit der Künstlerin gestaltet. Kathleen Herfurth und Imke Wartenberg vom Deutschen Kunstverlag haben zusammen mit Ilka Backmeister-Collacott und Aaron Bogart (Lektorat Deutsch/Englisch) sowie Lisa Davey (Übersetzung ins Englische) ebenso professionell wie engagiert diese zweisprachige Publikation betreut.

Ich freue mich, dass wir den Physiker und Philosophen Armin Grunwald, unter anderem Mitglied des Deutschen Ethikrates, gewinnen konnten, seine Sicht auf das sich rasant wandelnde Verhältnis von Mensch und Maschine vor dem Hintergrund der KI-Debatte darzulegen. Ihm und Katharina Rüppell danke ich für ihre erhellenden Texte.

Neben unseren langjährigen Partnern, der Karin und Uwe Hollweg Stiftung und der Sparkasse Bremen, hat es sich die Waldemar Koch Stiftung einmal mehr zur Aufgabe gemacht, die Reihe zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler mit zu ermöglichen.

Dieses Vorwort wie auch die übrigen Texte sind nicht von ChatGPT verfasst worden. Angesichts einer Ausstellung mit aktuellen und uns noch lange und kontrovers beschäftigenden Themen ist Transparenz angebracht. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass auch die folgenden Beiträge nicht ganz frei von Einflussnahme sind. Ihre Autor *innen sind durchaus „vorprogrammiert“ und mit Informationen „gefüttert“, die nicht immer verifizierbar sind und mitunter auch falsch sein können. Ich finde, dass Sie dies wissen sollten, bevor Sie sich auf das Wagnis der Lektüre und des Ausstellungsbesuchs einlassen.

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FRANK SCHMIDT

„ICH WEISS NICHT, OB ICH EINE SKULPTUR BIN“

Zur Rolle der Stellvertreterinnen und des Körperbildes bei Louisa Clement

Rocky heißt das „Spielzeug“, dass sich Frank N. Furter, einem modernen Frankenstein gleich, zum erotischen Zeitvertreib erschafft. Eingewickelt in Binden entsteigt der Modellathlet in der Rocky Horror Picture Show einem gläsernen Behältnis, um sich anschließend singend seines Lebens zu erfreuen (S. 19). Die Faszination, ein zumindest menschenähnliches Lebewesen zu erschaffen, zieht sich durch Mythos, Literatur und Kunst: Prometheus, Pygmalion, Frankenstein oder auch Geppetto, der Pinocchio aus einem Holzklotz schnitzt, sind die Schöpfer von Wesen, die als Gefährten, Helfer oder – wie auch Rocky – lediglich dem Zeitvertreib dienen. Mitunter werden Androide, Roboter oder Cyborgs geschaffen, wie Commander Data aus Raumschiff Enterprise, die Replikanten aus Blade Runner oder der humanoide Roboter als idealer Partner in Maria Schraders Film Ich bin dein Mensch. Die Trennlinie zwischen Mensch und Maschine ist dabei häufig nicht klar zu ziehen. Die aktuelle Diskussion über Chancen und Risiken von künstlicher Intelligenz (KI) zeugt von einem anhaltenden und stetig wachsenden Interesse an diesem Thema.

Mit ihren Repräsentantinnen (S. 28/29) hat sich Louisa Clement ein Ebenbild geschaffen. Es scheint ihr somit nicht um das Andere im Sinne einer Person zu gehen, die man sich als Partner*in oder zur Vervollkommnung des Selbst

wünscht. Doch was und wer sind diese Wesen, die seit gut zwei Jahren in Museen und Ausstellungen anzutreffen sind? Sie selbst scheinen es jedenfalls nicht ganz zu wissen. Zwar behaupten sie, Louisa zu sein, doch ob sie eine Skulptur oder gar ein Kunstwerk sind, entzieht sich ihrer Wahrnehmung: „I don’t know whether or not I am sculpture“, lässt uns die Repräsentantin im Gespräch wissen. Auf Museumsbänken sitzend, befinden sie sich im gleichen Raum wie die Besucher*innen. Dies ist irritierend und vertraut zugleich. Man ist an die lebensechten Figuren eines Duane Hanson erinnert, die den einen oder anderen Museumsgast in ihrer realen Anmutung erschreckt haben mögen. Sprechen kann man mit Hansons Figuren allerdings nicht. Ist es nicht ein Wunsch von Kunstinteressierten, den Künstler oder die Künstlerin direkt zu seinem oder ihrem Werk zu befragen? Mit den Repräsentantinnen scheint dies nun möglich. Wir fragen, und die mit Clements Daten gefütterte Puppe antwortet dank eines mit KI ausgestatteten Chatbots. Doch so einfach ist es nicht. Schließlich entwickelt sich die Künstlerin nach der „Programmierung“ weiter, sodass wir mit einer Louisa Clement des Jahres 2022 sprechen, nicht mit der „aktuellen“. Auch ist deren Radius der Wissens- und Erfahrungsaneignung größer. Die Puppe lernt zwar auch, wenn sie sich mit ihren Gegen-

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FRANK SCHMIDT

übern unterhält, doch löst sie sich auf diese Weise sukzessiv von ihrer „Mutter“. Die Existenz von mehreren Repräsentantinnen – auch dies muss bedacht werden –führt in der lernenden Entwicklung zu mehreren „Louisas“, mehreren sich von der Künstlerin weg entwickelnden Persönlichkeiten. Doch dass sie überhaupt eine solche besitzen, darf bezweifelt werden. Denn ihnen fehlt ein Bewusstsein und damit eine Grundvoraussetzung für die Definition des Menschen. Jean-Paul Sartre unterscheidet in Das Sein und das Nichts zwischen dem „An-Sich“ und dem „Für-Sich“. An-Sich sind die Dinge des Alltags, aber auch Tiere und selbst der menschliche Körper. Menschen sind dem Für-Sich zuzuordnen, da sie ein Bewusstsein entwickeln und sie es vermögen, sich aus einer anderen Perspektive heraus zu betrachten.¹ In der Interaktion mit den Betrachtenden wird die Repräsentantin, so Thomas D. Trummer, zu einer „abgespalteten Kreatur, einem Simulanten, der Teile des Charakters vermittelt“.² Mit Sartre sei so eine Eigenschaft des Menschlichen erfüllt. Doch ist dem so? Auf den ersten Blick wirken sie kühl, unnahbar – ein Eindruck, der sich auch beim noch recht roboterhaften Sprechen nicht verflüchtigt. Um die spezifische Verbindung zwischen Louisa Clement und ihren Repräsentantinnen besser einordnen zu können, gilt es aber zunächst, kurz

auf die (kunst)historischen Vorläuferinnen der Repräsentantinnen einzugehen.

DIE REPRÄSENTANTINNEN IN DER TRADITION DER (KUNST-)PUPPEN

Bei Puppen handelt es sich um mehr oder weniger menschenähnliche Kreaturen, die dazu dienen, Eigenschaften, das Aussehen oder gar das Wesen von Menschen zu simulieren. Es sind Objekte der Selbstreflexion, die eine Auseinandersetzung mit dem Selbst aus einer dritten Perspektive ermöglichen. So geht der Begriff etymologisch auf das lateinische Wort pupilla zurück. Im Auge des Gegenübers entdecken wir das eigene Spiegelbild. Der englische Begriff doll wiederum kommt vom griechischen Wort eidolon und meint das Idol oder Götzenbild.³ Auch in dieser Funktion werden Puppen mitunter gebraucht, etwa bei Oskar Kokoschkas pathologischem Versuch, durch eine lebensechte Nachbildung Alma Mahlers die Trennung von seiner Geliebten zu verarbeiten.⁴

Die Idee, einen an sich leblosen Körper zu beleben, fasziniert die Menschen seit jeher. Im 18. Jahrhundert ermöglichten fortschreitende handwerkliche und technische Errungenschaften die Fertigung von „Automaten“, die

Filmstill aus / Film still from The Rocky Horror Picture Show, 1975 19

mithilfe einer Uhrwerkmechanik beispielsweise Klavier oder Schach spielen konnten.⁵ Der menschliche Körper selbst, so sah es Julien Offray de La Mettrie in seiner Schrift Der Mensch eine Maschine (1748), sei eine solche Maschine.⁶ Bereits früher beschäftigten sich Leonardo da Vinci und Agrippa von Nettesheim mit künstlichen Lebensformen, wie Horst Bredekamp ausführlich darlegt.⁷ Eine Feder allein genügt Agrippa von Nettesheim allerdings nicht, um einem Automaten Lebenskraft einzuverleiben. Hierzu bedarf es der Sprache und damit des Logos.⁸

Duane Hanson, Cleaning Lady, 1972, Öl, Polyester, Kleidungsstücke, Eimer, Putzlappen / Oil, polyester, clothes, bucket, cleaning rag, 81 × 117 × 95 cm, Staatsgalerie Stuttgart

und massenhaft gefertigt, haftete ihnen der Warencharakter der Modewelt an, und sie waren somit ein Affront gegenüber der herrschenden Kunstauffassung.¹⁰ Neben der Verwendung derartiger „Readymades“ schufen zahlreiche Künstler*innen ihre eigenen skulpturalen Puppen. In Ergänzung zu dem bereits erwähnten Oskar Kokoschka seien hier – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Hans Bellmer, Allen Jones, Tony Oursler, John de Andrea, George Segal und Duane Hanson genannt. Am Beispiel der Letztgenannten sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Repräsentantinnen herausgearbeitet werden. Duane Hansons Figuren aus Polyester sind meist in einen erzählerischen Kontext eingebunden: die Putzfrau mit ihren Eimern (S. 22 o.), Tourist*innen in typischer Kleidung mit Taschen und Fotoapparat oder Einkaufende. Wir begegnen diesen „Everyday Guys“, unseren etwas überzeichneten aber doch sehr realen und vertrauten Zeitgenoss*innen auf Augenhöhe, da sie – anders als üblicherweise Skulpturen – bekleidet sind und ohne Sockel präsentiert werden. Es sind letztlich – in der Tradition der niederländischen Wirtshaus- und Familienszenen – moderne Genredarstellungen. In einen Museums- und Ausstellungsraum versetzt, wirken sie nicht selten deplatziert, doch aus eben diesem Kontrast entsteht ein Diskurs mit den Betrachtenden. Genre und Erzählung fehlen den Repräsentantinnen, die, derart bezugslos, auch an jeden Ort versetzt werden können. Wie Hanson bindet auch George Segal seine Protagonist*innen

Auch wenn sie leblose Kunstprodukte sind, so tragen Puppen „die Möglichkeit der Verlebendigung in sich“ und „bieten sich der Belebung durch die Phantasie des Benutzers an“.⁹ Zahlreiche Künstler*innen des 20. Jahrhunderts haben sich mit Puppen auseinandergesetzt und sie in ihre Arbeiten integriert. In der Exposition Internationale du Surréalisme 1938 in Paris irritierte nicht zuletzt eine Reihe von Mannequins-Puppen das Publikum (S. 22 u.). Industriell 22
Raoul Ubac, Mannequin de Agustín Espinosa, 1938, Paris, Musée d’Art Moderne

in alltägliche Situationen und Schauplätze ein, in einer Bar am Tisch (S. 23) sitzend oder bei der Toilette. Allerdings unterscheiden sich die weißen Gipsfiguren deutlich von ihrer realen Umgebung aus Tischen, Stühlen und Waschbecken. Segal ist dieser Bruch mit der Realität wichtig, der einen Prozess beim Betrachtenden anstößt, über die Menschen und ihre Befindlichkeiten nachzudenken. Erstaunlicherweise wird es für den Betrachtenden so leichter, sich in diese auf den ersten Blick austauschbaren, entindividualisierten Menschen hineinzuversetzen. Segal unterstreicht auf diese Weise die Verlorenheit und Entfremdung des Menschen in seiner Umwelt. Indem sich Louisa Clement auf die Figur konzentriert und diese nicht in einen narrativen Kontext einbindet, ist sie universell einsetzbar: im Museum wie im privaten Bereich einer Sammlerin. Sie eröffnet so einen weiteren Interpretationsraum und einen leichteren Zugang. Als Edgar Degas erstmals seine mit einem Gazerock und Ballettschuhen bekleideten und mit Rosshaar versehenen Tänzerinnen öffentlich präsentierte, löste dies starke Ablehnung aus.¹¹ Mit der klassischen Vorstellung von Skulptur waren diese beinahe real anmutenden Figuren nicht in Einklang zu bringen. Heute ist die Tatsache, dass Clement ihre Repräsentantinnen nicht selbst modelliert, sondern bei einer Firma für Sexpuppen in Auftrag gibt und anschließend einkleidet, im Hinblick auf den Kunststatus nicht mehr relevant. Was nun befremdet ist deren unifor-

mer, austauschbarer Charakter, und damit ein Thema, das die Künstlerin bereits seit Jahren umtreibt. Louisa Clement arbeitet meist in Serien. Nicht nur aus diesem Grund ist der Rückblick auf ihre wichtige frühe Fotoarbeit heads (2014/ 2015, S. 68/69) im Hinblick auf die Repräsentantinnen sinnvoll. Dabei geht es weniger um den Umstand, dass es sich in beiden Fällen um Puppen handelt. Vielmehr thematisieren die heads wie die Repräsentantinnen den Gegensatz von Individuum und Kollektiv. Die 55 Köpfe, die entfernt an die gesichtslosen Puppen in einigen Bildern Giorgio de Chiricos erinnern, wirken austauschbar, und doch sind sie bei genauerer Betrachtung verschieden. Kein Kopf gleicht dem anderen. Die Repräsentantinnen hingegen unterscheiden sich äußerlich nicht und gleichen zudem der „realen“ Louisa Clement. Der serielle Charakter dieser Arbeit verdeutlicht allerdings, dass wir lediglich dem Schein erliegen, hierin die Künstlerin selbst zu sehen.

DAS MULTIPLE ICH IM SELBSTPORTRÄT

Der von der Künstlerin gewählte Begriff gibt bereits einen konkreten Hinweis. Repräsentanten sind Personen, die vom Urheber an seiner statt entsandt werden; identisch können sie demnach mit diesem nicht sein. Was spitzfindig klingen mag, ist essenziell zum Verständnis der Puppen. Sie sind nicht Louisa Clement. Bei einem Angriff auf eine Repräsentantin werden keine Persönlichkeitsrechte verletzt. Der Tatbestand wäre Sachbeschädigung, auch wenn derartige juristische Fragen in Zukunft sicherlich stärker hinterfragt werden. Schließlich sind die Repräsentantinnen nicht kreativ und können also, anders als die Person Louisa Clement, keine Kunst erschaffen. Damit könnte man es bewenden lassen, doch lässt ein Blick auf das Genre des Selbstporträts eine vertiefende Betrachtung zu. Auch dieses ist ja nicht, selbst wenn es ihm ähnelt, mit dessen Urheber gleichzusetzen. Louisa Clement hat in einem Interview die Deutung als Selbstporträts bejaht. Neben der äußeren Ähnlichkeit ist die Figur mit persönlichen Daten der Künstlerin gefüttert. Zudem sollen die Puppen auch ein Spiegel unserer Zeit und ein Spiegel der Personen sein, die mit ihnen sprechen.¹² Indem wir dies nämlich tun, erkennen wir die

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George Segal, The Restaurant Window, 1967, Mixed Media, 244 × 340 × 206 cm, Museum Ludwig Köln

Möglichkeit eines sinnvollen Gesprächs an und nehmen so unser Gegenüber, die Puppe, ernst.

Das Paula Modersohn-Becker Museum bewahrt eines der bedeutendsten Selbstbildnisse des 20. Jahrhunderts, das in kaum einem Überblickswerk über dieses Genre fehlt. Im 1906 entstandenen Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag – dem ersten weiblichen Selbstakt der Kunstgeschichte – zeigt und befragt sich die Künstlerin zugleich selbstbewusst wie schonungslos (S. 39). Ihr Blick in den Spiegel offenbart eine Malerin am Scheideweg zwischen Familie und künstlerischer Erfüllung.¹³ Dieses Bild, das zu Lebzeiten lediglich von einem sehr engen Kreis an Freunden und Familie gesehen wurde, war sicherlich nicht für die breitere Öffentlichkeit bestimmt, die es zweifellos aufgrund der distanzlosen Darstellung von Nacktheit kritisiert hätte. Und doch hat auch Paula Modersohn-Becker mit ihm eine Art Repräsentantin geschaffen, durch die sie sich ihrer Situation bewusst werden und diesen aktuellen „Status“ auch ihrem Umfeld vermitteln wollte. Das Bild tritt, wenn auch auf andere Art als die Repräsentantinnen, in Dialog mit seiner Umgebung. Noch heute fragen sich die Betrachtenden, was es aussagen, was es über die Person der Künstlerin offenbaren mag. Und schließlich ist das Bild ein Spiegel seiner Zeit, indem es die Situation von Künstlerinnen und die ihnen von der Gesellschaft zugedachte Rolle hinterfragt.

In ihrer jüngsten Arbeit hat Louisa Clement die Idee des Selbstbildnisses weiterentwickelt und um eine zukünftige Dimension erweitert. Compression (S. 21, 25) besteht aus einer winzigen Aluminiumkapsel, die ihr gesamtes bisheriges Werk, biokybernetisch gespeichert in einer DNA digital data storage, enthält. Mit einem untrüglichen Gespür für aktuelle Themen gelingt es Clement, diese in zugleich sinnliche wie überzeugende Formen zu bringen. Die Fragen, die sie dabei aufwirft, berühren ihr künstlerisches Selbstverständnis ebenso wie die Grenzen der eigenen Identität: Wohin entwickelt sich die Kunst? Und wie werden wir künftig das Menschsein definieren? Die Künstlerin macht sich mit dieser Arbeit wie auch mit den Repräsentantinnen verfügbar. Als Ware ist ihre Arbeit (und damit auch sie selbst?) käuflich. Diese Zurschaustellung macht Clement angreifbar. Und eben an diesem Punkt trifft sie sich erneut

mit Paula Modersohn-Becker und deren revolutionärem Selbstbildnis von 1906, in dem diese schutzlos ihre Wünsche und ihre fragile Selbstbehauptung offenbart.

ZEITLOS UND VERLETZLICH: DER KÖRPER

Paula Modersohn-Becker und Louisa Clement verbindet darüber hinaus ein Interesse am Körper, an dessen Präsenz, überzeitlichen Gehalt aber auch Verletzlichkeit. Für Modersohn-Becker ist er universeller wie existenzieller Ausdruck des Menschen. In seiner Allgemeingültigkeit überbrückt er große Zeiträume und stellt so eine Verbindung mit archaischen Menschendarstellungen her, etwa aus der altägyptischen Epoche (S. 96). Für Louisa Clement trifft zu, was Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora über Puppen ausgeführt haben: „Der Körper, so die heute verbreitete Meinung, ist nicht mehr länger der Ort des Natürlichen, Authentischen, Eigentlichen, zu dem ihn das aufkommende bürgerliche Denken im 18. Jahrhundert stilisierte; er ist vielmehr ein Konstrukt, eine offene Projektionsfläche für historisch wechselnde Einschreibungen, die sich in dem weiten Spannungsfeld zwischen Natur und Artefakt bewegen.“¹⁴ Auch in Clements Fotoarbeiten der Serie body fallacy (S. 44, 45, 49, 52, 53) sind die Körper Projektionsflächen für die Betrachtenden. Trotz ihrer Nacktheit sind sie nicht eigentlich erotisch aufgeladen und zudem stark fragmentiert. Der gewählte Ausschnitt betont den artifiziellen Charakter der Körper. Die hieraus sowie aus ihrer Perfektion resultierende künstliche Anmutung und auch Kälte irritieren und verunsichern. Menschen machen Fehler. Nicht zuletzt dieser Umstand macht sie menschlich. Was uns an den Repräsentantinnen und den von ihren Körpern abgeleiteten Fotoarbeiten irritiert, ist deren scheinbare Fehlerlosigkeit und Perfektion. Dies ist auch Clement bewusst, wenn sie den Figuren in nachfolgenden Serien scheinbar Verletzungen zufügt oder lediglich Körperteile zeigt (S. 72, 73, 76, 77). In der Videoarbeit human error (S. 1) rollen willkürlich Köpfe umher, die dem gruseligen Ersatzteillager einer futuristischen Produktionsstätte von Humanoiden oder Cyborgs entstammen mögen. Clements Repräsentantinnen sind auf ein funktionierendes WLAN angewiesen. Fällt dieses aus,

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vermelden sie sachlich: „I am not connected to the internet“. Es sind diese ungewollten Momente, die in das Konzept von Louisa Clement passen und die sie nicht selten aufgreift, indem sie das künstlerische Potenzial dieser „Zufälle“ erkennt und nutzt. Bei der Rückkehr von einer Ausstellung hatte die Kleidung Spuren auf dem Körper einer Puppe hinterlassen, die an Verletzungen erinnerten. Clement fotografiert diesen „verletzten“ Körper. Ohne Kenntnis dieses Hintergrunds drängt sich das Thema Häusliche Gewalt – oder Gewalt überhaupt – auf, doch lässt die Künstlerin diese Lesart offen. So wie Clement die Repräsentantinnen in die Freiheit und aus ihrem Einflussbereich entlässt, so übergibt sie auch die Deutung in die Obhut der Betrachtenden. Diese können sich der Verantwortung nicht entziehen, sich für eine oder mehrere Lesarten zu entscheiden.

Louisa Clement wiederum muss sich mit einer weiteren, persönlichen Fragestellung auseinandersetzen. Im Unterschied zu den makellosen Repräsentantinnen – und im Unterschied zu Oscar Wildes Dorian Gray, der seine ihn zunehmend entstellenden Laster und seinen Alterungsprozess einem Gemälde überträgt – wird sie altern. Dichter*innen und Künstler*innen haben seit jeher die Vergänglichkeit der Schönheit beschworen. William Shakespeare vergleicht in seinem Sonnet 60 das unaufhaltsam vergehende Leben mit sich endlos am Strand brechenden Wellen. Allein die Dichtung vermag die Schönheit und Jugend für die Ewigkeit zu bewahren. Vielleicht liegt darin eine Bedeutungsebene der Werke von Louisa Clement: dem Widerstreit von Vergänglichkeit und ewigem Leben die heutige Vorstellung entgegenzuhalten, dieses scheinbar unlösbare Paradoxon mittels neuester Technologie aufzulösen. Die Repräsentantinnen überdauern die Zeit. Dabei verhehlen Clements Arbeiten jedoch kaum die skeptische Haltung ihrer Urheberin gegenüber jener „schönen neuen Welt“. Die Gefahr ist zwar gering, dass sich ein Besucher, eine Besucherin – wie der Protagonist in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann (1817) in den Automaten Olimpia – in eine der Repräsentantinnen verliebt und schließlich daran zugrunde geht. Doch bieten Clements Werke reichlich Diskussionsstoff zu aktuellen Aspekten der KI, zur Unterscheidung von Mensch und Maschine wie zu zeitlosen Fragen nach der Aufgabe, der

Mission von Kunst und Künstler*in. „Car Je est un autre“ (Denn: Ich ist ein anderer): Arthur Rimbauds berühmte Zeile in einem Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871 verdeutlicht nicht zuletzt die Zerrissenheit des Künstlers zwischen dem Ich und der Welt. Louisa Clements Werke handeln von dieser Frage und davon, wie ein Werk zwischen der Person Louisa Clement, der Künstlerin Louisa Clement und den es Betrachtenden oszilliert.

1 Siehe Thomas D. Trummer, „Louisa Clement und ihre Repräsentantin“, in: Double Bind. Louisa Clement, hrsg. von Nadia Ismail, Ausst.-Kat. Kunsthalle Gießen, Dortmund 2021, S. 88–95, hier S. 88.

2 Ebd., S. 91.

3 S tefanie Dathe, „Puppen. Projektionsfiguren in der Kunst“, in: Puppen, Ausst.-Kat. Museum Villa Rot, Burgrieden, Biberach 2011, S. 4-14, hier S. 5f.

4 Neuere Forschung siehe: Bernadette Reinhold, „L’art pour l’artiste? Überlegungen zu Kokoschkas Puppe, ihrer Genese und Mythenbildung“, in: Régine Bonnefoit und Bernadette Reinhold (Hrsg.), Oskar Kokoschka. Neue Einblicke und Perspektiven, Berlin 2021, S. 244–291.

5 Dathe 2011 (wie Anm. 3), S. 7.

6 „Der menschliche Körper ist eine Maschine, die selbst ihre Federn aufzieht; ein lebendiges Ebenbild der unaufhörlichen Bewegung.“ Aus: Julien Offray de La Mettrie, L’Homme maschine. Der Mensch eine Maschine, übers. von Theodor Lücke, Stuttgart 2001, S. 41.

7 Horst Bredekamp, „Überlegungen zur Unausweichlichkeit des Automaten“, in: Puppen Körper Automaten. Phantasmen der Moderne, hrsg. von Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora, Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Köln 1999, S. 94–105.

8 Ebd., S. 97.

9 Dathe 2011 (wie Anm. 3), S. 5.

10 Siehe Ausst.-Kat. Düsseldorf 1999 (wie Anm. 7), S. 77.

11 Siehe Heike Fuhlbrügge, „‚Je est un autre‘ – die Puppe als Substitut in der zeitgenössischen Kunst“, in: Ausst.-Kat. Biberach 2011 (wie Anm. 3), S. 18–26, hier S. 19f.

12 L ouisa Clement // Interview // Casino Luxembourg_In_ residence_2022, https://vimeo.com/773749884 (18.6.2023).

13 Siehe Frank Schmidt, „Zu Selbstdarstellung und Adressat in den Selbstbildnissen von Paula Modersohn-Becker“, in: Ich bin Ich. Paula Modersohn­Becker. Die Selbstbildnisse, hrsg. von Frank Schmidt, Simone Ewald und Wolfgang Werner, Ausst.-Kat. Museen Böttcherstraße, München 2019, S. 12–17, insb. S. 14f.

14 Ausst.-Kat. Düsseldorf 1999 (wie Anm. 7), S. 66.

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Repräsentantin / Representative 2021 (Detail)

PAULA MODERSOHN-BECKER

Selbstbildnis mit Bernsteinkette um / ca. 1905

Installationsansicht / Installation view, 2023, Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen

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FOTOGRAFIE ALS HANDLUNGSORT

KATHARINA RÜPPELL: Als Meisterschülerin von Andreas Gursky an der Kunstakademie Düsseldorf bist du seit Studientagen bestens mit dem Medium Fotografie vertraut. Kannst du beschreiben, wie deine Haltung zur Fotografie ist?

LOUISA CLEMENT: Die Fotografie ist eines der Medien, mit denen ich arbeite. Wenn ich fotografiere, dann mit dem Smartphone. Ausgangspunkt meiner Werke ist immer eine inhaltliche Frage zu der Zeit, in der wir leben. Das Medium ergibt sich dann aus den Inhalten.

KR: Du fotografierst auch, wenn du unterwegs bist. Wie entsteht daraus ein Werk?

LC: Ich lese viel. Ich recherchiere und denke lange über bestimmte Themen nach. Irgendwann entsteht eine Art inhaltliche „Überladung“, und die trifft auf das Leben. Doch die Motive, die in meinen Werken aufscheinen, suche ich nicht. Es ist eher eine Begegnung, die sich bereits lange in mir formte. Vor dem Fotografieren sehe ich die Arbeit. Ich weiß, wie die fertige Setzung aussieht, ohne sie konzeptuell bis in jedes Detail vorauszuplanen. Vieles geschieht auch zufällig. Letztlich ist das ein sehr persönlicher Prozess.

Ein Gespräch zwischen KATHARINA RÜPPELL und LOUISA CLEMENT über ihre fotografischen Arbeiten und die Rolle der Fotografie in Social Media

KR: Das Medium Fotografie spielt für dein künstlerisches Schaffen ja nicht nur als Ausdrucksmittel, sondern auch in seiner gesellschaftsprägenden Funktion eine Rolle. Vor allem in der Verwendung im Social-Media-Kontext.

LC: Im Social-Media-Kontext kommunizieren wir viel über die Bildebene. Und das meistens im Smartphone. So wird das Smartphone mit seiner Kamera Werkzeug und Handlungsort in einem.

KR: Du spielst damit auch auf das Bild an, das man über Fotografien auf Social Media von sich erzeugt?

LC: Ja. Die Identität, die wir uns im Internet aufbauen, ist eine Reduktion, Abstraktion und zumeist eine Überhöhung unserer selbst. Es geht darum, möglichst viele Likes zu erhalten, durch Standardisiertes, gesellschaftlich Anerkanntes, Positives – beziehungsweise das, was gerade als das „Wahre, Schöne, Gute“ angesehen wird. Wir löschen alles, was uns individuell und nicht perfekt erscheinen lässt, im Grunde die Dinge, die uns als Menschen erst interessant machen. Mit der Zeit versuchen wir dann, diesem Idealbild, das wir virtuell von uns aufgebaut haben, irgendwie nachzueifern. Wir füllen diesen Avatar immer weiter, leben dem Ganzen hinterher. Durch das Denken in postbaren Bildern reduziert sich auch unsere Wahrnehmung der Außenwelt und unsere Sensibilität für Momente und Emotionen.

KR: Inwiefern nimmst du in fotografischen Arbeiten wie body fallacy oder take care Bezug auf diese Scheinwelt?

Auf den ersten Blick glaubt man, in den beiden Werkgruppen sei ein menschlicher Körper abgebildet. Erst auf den zweiten Blick bemerkt man, dass etwas nicht stimmt. Man wird sich der Künstlichkeit der abgebildeten Körper-

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ausschnitte und der unnatürlichen Körperhaltungen bewusst.

LC: Ich suche die Linie zwischen der Scheinwelt und der realen Welt, wobei man auch hier das Wort real definieren müsste. Für mich sind die von dir erwähnten Körperfotografien eine Form von Schnittstelle.

KR: Wenn man diese Schnittstelle bedenkt, erhalten die Fotografien der Arbeit take care noch mal eine andere Bedeutung. Du zeigst darin Ausschnitte eines Körpers, der mit blauen Flecken übersät scheint. Die Bildsprache erinnert klar an Fotografien, die nach gewalttätigen Übergriffen zur Dokumentation der Verletzungen gemacht werden. Du nimmst dich damit einem hochsensiblen und gesellschaftlich immer noch nicht wirklich offen diskutierten Thema an.

LC: In der Kunst geht es darum, Unausgesprochenes in einen Kontext, eine Form zu setzen. Hierfür setze ich mich auch gezielt mit schon existierenden Bildsprachen auseinander. Und ja, bei take care nutze ich bewusst eine fast klinische Bildsprache. Für mich beziehen sich die Arbeiten sehr klar auf Gewaltverbrechen, eventuelle sexuelle Verbrechen, denen laut Studien des Ministeriums für Familie, Frauen und Jugend rund 35 % der Frauen allein in Deutschland auf unterschiedlichen Ebenen ausgesetzt sind. In take care ist es der verletzte Körper meiner „Repräsentantin“, ein digitales Abbild, welches ich als Ausstellungsstück zurück in die reale Welt geholt habe. Hier verbinden sich die Verletzungen direkt mit dem Internet, einem weiteren Ort, an dem diese Formen der Gewalt passieren. Auch deswegen ist die Trennung real/digital nicht haltbar.

KR: Die Fotografien der Werkgruppe body fallacy wirken auf den ersten Blick sehr ästhetisch, haben auf den zweiten Blick aber auch viel mit Brutalität und Zwang zu tun.

LC: Auch diese Serie beruht auf dem Körper der „Repräsentantin“. Es geht unter anderem um Machtverhältnisse, eine Unfähigkeit der Kontrolle und eine Hilflosigkeit, Grenzen-

losigkeit im digitalen Raum. Die Serie zeigt eine Illusion von Körperlichkeit, für die das Großformat wichtig ist. Die Formatfrage hat für mich immer einen inhaltlichen Bezug zum Menschen als Betrachter.

Ich gehe in meinen Arbeiten vom Maßstab des menschlichen Körpers aus. Der Körper ist für mich der kleinste Raum, in dem wir agieren. Wir müssen mit diesem kleinen Raum in einem viel größeren Raum, der Welt, klarkommen und dann gibt es noch das Metaverse, in dem der Körper ganz aus dem Spiel genommen wird. Heute, wo alles so schnell und so groß ist, muss man viel mehr auf seinen kleinen Körperraum achten, der einen definiert. Er ist unser Ausgangspunkt. Das Format der Fotografien hat bei mir viel mit dem eigenen Körper zu tun. In intimen Arbeiten wie take care, wo es um Verletzungen geht, verwende ich kleine Formate. Die body fallacies sind hingegen relativ großformatig, weil es um einen künstlichen „Überkörper“ geht, den man durch Filter schafft.

KR: Wenn du dich fotografisch mit solchen Themen auseinandersetzt, entsteht dabei nie nur eine ikonische Arbeit, sondern du arbeitest immer in Werkgruppen und Serien. Inwiefern vermittelt eine Mehrzahl von Fotografien deine Kernaussage besser als eine einzelne Setzung?

LC: Jedes Thema hat verschiedene Situationen und Blickpunkte. Meine Fragestellungen sind allgemeine Fragen, die für mich nicht aus einem einzigen Blickpunkt zu beantworten sind. Mir erscheint die ikonische beziehungsweise zentralperspektivische Betrachtungsweise für meinen Werkansatz weniger stimmig. Für mich ist jede Serie aber irgendwann beendet und abgeschlossen. Und dann gehe ich weiter, in die nächsten Serien, mit dem Wissen und den Erkenntnissen aus der vorherigen Serie. So bauen sich Themen und Gedanken und auch Werke auf. Man greift Themen wieder auf, manche beschäftigen einen länger, andere kehren immer wieder – das ist ähnlich wie das Leben.

KR: Ein weiterer Aspekt deiner Werkformulierung ist die Ausschnitthaftigkeit. Schon bei der Serie heads hast du dich für

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eine fragmentarische Darstellung entschieden und ausschließlich die Köpfe von Schaufensterpuppen fotografiert.

LC: Die Arbeit ist 2014 im Kontext der Selfies entstanden. Ich beziehe mich hier unter anderem auf das biometrische Passfoto. Mir ging es um die graue Linie zwischen Identität, Individualität und Standardisierung. In den Formaten breche ich mit der Normierung, weil die Breite der einzelnen heads variiert. Normierung und Nicht-Normierung: In der Höhe sind sie normiert, in der Breite individualisiert.

KR: Die Variation in der Breite der Fotografien wirkt in der Serie wie eine Art Stolperstein. Er unterbricht den uniformen Charakter und gibt auch eine Art Rhythmus bei der Betrachtung vor. Es ist eine kleine Unregelmäßigkeit, die einen nachdenklich macht. Die ansonsten eher strenge Serialität von heads erinnert aber doch an die BecherSchule, aus der du ja letztendlich kommst.

LC: Mit den Bechers habe ich mich in Düsseldorf natürlich auseinandergesetzt.

KR: Bei den Tableaus von Bernd und Hilla Becher ist die Anordnung der einzelnen Fotografien nicht dem Zufall überlassen. Bewusst festgelegte Nachbarschaften von Fotografien legen bestimmte Vergleiche innerhalb der Tableaus nahe, zum Beispiel wenn zwei Kugelgasbehälter mit ähnlichen Strebesystemen nebeneinander platziert sind. Die einzelnen Aufnahmen der heads sind nummeriert. Spielt diese Nummerierung in der Hängung der Arbeiten für dich eine Rolle?

LC: Die Nummerierung ist mir weniger wichtig. Aufnahmen sind zwar chronologisch entstanden, sie müssen aber nicht in der Reihenfolge der Nummerierung gesetzt werden. Das entsteht jeweils bei der Hängung im Raum. Zentral ist der Dialog der Werke untereinander und mit den Besucher*innen.

LC: Die Arbeit basiert auf Screenshots, die ich auf Instagram gemachte habe. Das Thema der „femme-enfant“ ist nicht neu, die Formen der Pädophilie, die im Netz zu sehen sind und salonfähig zu werden drohen, haben meines Erachtens aber eine neue Qualität und sind erschreckend. Auf dem erwähnten Instagram-Kanal inszeniert sich ein Mann mit einer klar als minderjährig zu identifizierenden Sexpuppe. Hierfür bekommt er Zustimmung. Es handelt sich um pädophile Handlungen beziehungsweise Andeutungen solcher Handlungen. Die Beiträge wurden nicht gesperrt. Die Likes erzeugen neue Bilder, User bestätigen einander, und Aufmerksamkeits- und Überbietungsspiralen setzen ein. Durch das schnelle Wechseln von Inhalten gehen auch solche Bilder unterbewusst in unser Bildgedächtnis ein, normalisieren sich. Das wirft grundlegende Fragen auf. Als Künstlerin hat man hier vielleicht die Möglichkeit, das Wegwischen und den schnellen Wechsel der Bilder und Thematiken anzuhalten: das Bild, die abgebildete Handlung und die Geschwindigkeit, in der sich das Bild durch das Internet bewegt, stillzus tellen. Durch den Stillstand und die Rekontextualisierung werden das Bild und die abgebildete Handlung sichtbar. Hoffentlich.

KR: In deiner neuesten fotografischen Arbeit verwendest du zum ersten Mal Fotografien, die du nicht selbst gemacht hast. Kannst du darüber mehr erzählen?

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