Fassaden Atlas

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Beton

gitter aus. Karl Moser wählte bei der Kirche St. Antonius in Basel (1927) eine strenge, ­kubische Formen­sprache mit schalungsrauen Sichtbeton­flächen, die das Material der Fas­ saden wie im Innenraum kraftvoll zur Wirkung bringen. Ein Bau, bei dem Beton in der Modellierung der Fassaden virtuos eingesetzt wurde, ist das Goetheanum in Dornach (1928) von Rudolf Steiner. Allerdings erfordert die Umsetzung derart plastischer, organischer Gestaltungen einen hohen Arbeitsaufwand sowie eine ausgefeilte handwerkliche Technik beim Schalungsbau.

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In den 1950er-Jahren entwickelt sich der Beton zu einem Massenbaustoff, der in allen Bau­ aufgaben Anwendung findet. Ein wesentlicher Impulsgeber ist Le Corbusier mit seinem Be­­ streben, den Beton in dessen unmittelbarer, »roher« Materialität – dem »Béton brut« – zu zeigen. Er nutzte diesen gekonnt als Gestaltungsmittel in der reliefartigen und / oder plastischen Durchbildung der Fassadenfläche, z. B. beim Kloster Sainte-Marie-de-la-Tourette (1960) in Éveux bei Lyon (Abb. B 3.2). Während das Schweizer Büro Atelier 5 beim Bau der Siedlung Halen bei Bern (1961) auch im (Klein-)Wohnungsbau rauen Sichtbeton ­verwendet, setzt Louis Kahn beim Bau des Jonas Salk Institute in La Jolla (1965) auf möglichst glatte Oberflächen. Und es ist ebenfalls Kahn, der erstmals durch die Ausbildung von Schattenfugen sowie die sorgfältige Platzierung der Schalungsanker, die Betonfassaden durch ein orthogonales Lineament strukturiert und zugleich den Herstellungsprozess ablesbar macht. Viele Architekten nutzen in den 1960er- und 1970er-Jahren verstärkt die Optionen der räumlichen Formbarkeit von Außenwand und Baukörper sowie der Gestaltungsmöglichkeiten der Oberfläche. Singuläre Bauten stellen in dieser Zeit die Wallfahrtskirche in Neviges (1968), sowie das Rathaus in Bensberg (1969) von Gottfried Böhm dar. Dieser modellierte – insbesondere bei dem Kirchenbau – einen plastisch zerklüfteten Baukörper, dessen mächtige, opake Oberflächen durch die feine Textur der Schalungsstrukturen jedoch nicht monoton wirken (Abb. B 3.3). Einen ebenfalls sehr plastischen Umgang mit dem Material Beton zeigt das Bürogebäude von Barbosa & Guimarães Arquitectos in Porto (2009). Hier bestimmen die polygonalen Fas­ sadenflächen nicht nur die äußere Gestalt, sondern auch die Innenräume des Gebäudes. Während Carlo Scarpa in fast schon (kunst-) handwerklicher Manier die Formbarkeit des Betons auslotete – besonders bei der Grabstätte für die Familie Brion in San Vito d’Altivole bei Asolo (1975) –, verwendete Paul Rudolph beim Art and Architecture Building der Yale University in New Haven (1958 – 64) eine industrielle Strukturschalung (Abb. B 3.1). Die an Kanneluren angelehnte Profilierung der farbigen Oberflächen lässt im Wechsel der glatten Rillen und rau gebrochenen Stege ein differen-

ziertes Licht- und Schattenspiel entstehen. Durch Beimischung lokal vorgefundener Stoffe und / oder durch die Strukturierung der feuchten Oberfläche eröffnen sich weitere gestalterische Optionen, wie dies Auer + Weber bei dem Hotel der ESO am Cerro Paranal (2001) (siehe S. 123) oder Herzog & de Meuron beim Schaulager in Basel (2003) zeigen (Abb. B 3.8). In jüngster Zeit versuchen Architekten, den Eindruck der monolithischen Bauweise umfassend, bis ins Detail zum Ausdruck zu bringen. Die Vermeidung jeglicher Arbeitsfugen, der Verzicht auf das Abzeichnen der Schalungs­ anker sowie äußerst minimierte Bauteilquerschnitte bei gleichzeitig neuartigen optischen Wirkungen führen auch bei diesem extrem ­leistungsfähigen Material zu enormen bautechnischen Herausforderungen. Vorfertigung

Da die Herstellung von Beton auf der Baustelle konstruktive und herstellungstechnische Nachteile aufweist, versucht man, die Konstruktionen in gleichartige, transportable Elemente zu zerlegen, die in Fertigteilwerken seriell produziert werden können. Dies ermöglicht bei witterungsunabhängiger Arbeit eine höhere Qualität und Präzision in der Produktion sowie bessere Standards in der Oberflächengüte. Anfang der 1890er-Jahre entsteht in Frankreich eine erste Feldfabrik zur Vorfertigung von Betonelementen, und der französische Steinmetz François Hennebique verwirklicht 1896 mit einer transportablen Raumzelle aus 5 cm dicken, bewehrten Betonplatten ein erstes serienmäßig hergestelltes Gebäude. Ab 1920 nehmen die Montagebauweisen im Bereich des Stahlbetons an Bedeutung zu. Architekten wie Ernst May, der ein eigenes ­System mit unterschiedlich großen Wand­ blöcken in einer Reihe von Siedlungen in Frankfurt am Main (u. a. Praunheim, 1927) ­einsetzte, oder Walter Gropius, der in der ­Siedlung Dessau-Törten (1927) auf eine kleinteilige Bauweise mit Schlackenbetonhohl­ steinen zurückgriff, arbeiteten an Konzepten einer breiten Vorfertigung. Auch wenn sich die Systemansätze weder ­bautechnisch noch wirtschaftlich durchsetzen konnten, bilden diese Experimente eine wichtige (Vor-)Stufe auf dem Weg zur Industrialisierung des ­Bauens [2]. In den 1950er- und 1960er-Jahren findet vor allem der Großtafelbau – das Bauen mit groß­ formatigen, tragenden Wänden – eine weite Verbreitung. Während die Systembauweise zu massenhaft umgesetzten, sehr schematischen Fassaden geführt hatte, kehrten sich im Zuge der sogenannten Postmoderne diese Ansätze nahezu ins Gegenteil, indem Vorfertigung und plastische Formbarkeit von Beton­ elementen für ein beliebiges Farben- und Formenspiel genutzt wurden. Architektonische Antworten formulieren Architekten wie Angelo Mangiarotti (siehe S. 116.), Bernhard Hermkes (Gebäude der Architektur-


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