1, 2 Ministério da Educação e Saúde MES in Rio de Janeiro, 1936 – 1945, Architekten: Lucio Costa, Oscar Niemeyer, Affonso Eduardo Reidy, Carlos Leão, Jorge Machado Moreira, Ernani Vasconcellos 3 Igreja de São Francisco de Assis in Pampulha, Belo Horizonte, 1940 – 43, Architekt: Oscar Niemeyer, Tragwerksplaner: Joaquim Cardozo 4, 5 Edifício Itália, Bürogebäude in São Paulo, 1956 – 65, Stahlbetontragsystem, Architekt: Adolf Franz Heep 1, 2 Ministry of Education and Health MES in Rio de Janeiro, 1936 –1945, architects: Lucio Costa, Oscar Niemeyer, Affonso Eduardo Reidy, Carlos Leão, Jorge Machado Moreira, Ernani Vasconcellos 3 Chapel of St Francis of Assis in Pampulha, Belo Horizonte, 1940 –1943, architect: Oscar Niemeyer, structural engineer: Joaquim Cardozo 4, 5 Edifício Itália, office building in São Paulo, 1956 – 65; reinforced concrete structure; architect: Adolf Franz Heep 3
Während das Ministerialgebäude den Beginn der Moderne in Brasilien definiert, steht Niemeyers Pampulha-Ensemble für Expressivität und Charakter in der brasilianischen Architektur. Der Gesamtkomplex am Ufer eines künstlichen Sees in Belo Horizonte wurde von Niemeyer in den frühen 1940erJahren erschaffen und umfasst vier eigenständige Gebäude: eine Kapelle, ein Kasino, einen Club und einen Tanzsaal. Auf der Grundlage der Formensprache Le Corbusiers – mit Elementen wie »Brise-soleil«, freien Grundrissen und Schmetterlingsdächern – überwand Niemeyer die europäische Moderne und verlieh der rigiden Betonarchitektur Anmut und Leichtigkeit. So wird die Kapelle aus einer Abfolge von Betonschalendächern gebildet (Abb. 3), der Tanzsaal hingegen hat eine geschwungene Dachplatte. Hier zeigt sich Niemeyers Persönlichkeit – leicht, kompromisslos und kreativ –, die in gewissen Fällen zum Stereotyp der Nation selbst wird: sinnlich, smart und heiter. Die Strahlkraft des Entwurfs von Pampulha wird noch gesteigert, wenn man berücksichtigt, dass die Bilder des Gebäudeensembles in Europa nach der dunklen Periode des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht wurden. In den nächsten sieben Jahrzehnten entwickelte Niemeyer sein Werk weiter, indem er die Möglichkeiten der plastischen Formbarkeit von Stahlbeton vorantrieb und skulpturale Bauwerke erschuf. Darüber hinaus markiert Pampulha den Beginn von Niemeyers Zusammenarbeit mit Joaquim Cardozo – einem der wichtigsten Tragwerksplaner in Brasilien, der auch als Dichter bekannt war (seine Gedichte wurden beispielsweise in »The New Yorker«, in der Übersetzung von Elisabeth Bishop publiziert). Gemeinsam schufen sie das Werk, das Niemeyers Ruhm begründete, wie etwa die Casa das Canoas (Abb. 14). Den Unterschied zwischen dem rationalen europäischen Denken und der Haltung Niemeyers verdeutlicht die Anmerkung von Walter Gropius nach dem Besuch des Hauses. Canoas, als Wohnsitz des Architekten konzipiert, ist ein verglaster Pavillon, eingefügt zwischen den umliegenden Bäumen, mit ei-
16
ner geschwungenen Deckenplatte als Dach. Gropius konstatierte, das Haus sei schön, aber nicht zur seriellen Fertigung geeignet. Niemeyer, der deutscher Abstammung war, spottete bei jeder Gelegenheit über die Analyse des Bauhaus-Gründers: »Ich habe ein Zuhause für mich selbst geschaffen und auf die Bedürfnisse meiner Familie abgestimmt, ein Haus, das an das Gelände adaptiert ist, sich zum Wald öffnet, das Sonnenlicht von Rio de Janeiro filtert und Gropius hätte es gefallen, wenn es multiplizierbar wäre. Er konnte nicht weggehen, ohne Unsinn von sich zu geben.« Über die statischen Berechnungen für Pampulha und Canoas hinaus arbeitete Cardozo mit Niemeyer an zahlreichen Projekten, wie etwa den Bauten in Brasilia. Er war sein wichtigster Mitarbeiter, der Projektverantwortliche für die Errichtung der bedeutendsten skulpturalen Bauwerke Niemeyers, dem von vielen – nicht nur von Gropius – vergeworfen wurde, den Beton nicht rational 4 zu verwenden. Das Verhältnis zwischen Architekt und Ingenieur, häufig schwierig, beruhte auf gegenseitigem Respekt. So wie eine Mutter, die ihr geliebtes Kind hätschelt, erfüllte Cardozo alle Wünsche Niemeyers. Denn dieser hätte kein »Nein« des Tragwerksplaners akzeptiert – für jede neue Herausforderung fand Cardozo einen Weg. Die letzten Jahre seines Lebens war der PoetIngenieur verbittert, nachdem er für den Tod von 64 Arbeitern infolge des Einsturzes des Tragwerks einer von Niemeyer entworfenen Turnhalle verantwortlich gemacht wurde. Nach Cardozos Tod arbeitete Brasiliens wichtigster Architekt mit anderen Fachingenieuren, wie Bruno Contarini (verantwortlich für die Konstruktion des Museums für Zeitgenössische Kunst in Niterói) und José Carlos Sussekind, der am Spätwerk Niemeyers einen wesentlichen Anteil hatte. Der Paulista-Brutalismus Eine andere wichtige Persönlichkeit, die mit dem Entwurf für das Ministerialgebäude die Bühne betrat, war Affonso Eduardo Reidy, der in Brasilien als erster Sichtbeton in der
5
Architektur einsetzte. Für den Hauptpavillon des Museu de Arte Moderna (MAM) in Rio de Janeiro schuf Reidy mit dem Tragwerksplaner Arthur Jerman aus Emílio Baumgarts Unternehmen eine ingeniöse Abfolge aus Vförmigen Rahmen (Abb. 6, 7). Während der jeweils innere Stützenarm des V das erste Obergeschoss ablastet, tragen die äußeren Stützen das Dach, von ihnen wiederum ist das Mezzaningeschoss abgehängt. Reidys brutalistische Architektursprache war inspiriert von Le Corbusiers Unité d’Habitation in Marseille, aber ebenso geprägt von den skulpturalen Formen Niemeyers. Umgekehrt beeinflusste der Sichtbeton des MAM eine brasilianische Architekturentwicklung, die