Tageslicht als Baustoff Merete Madsen Peter Thule Kristensen
In der Architektur des 20. Jahrhunderts wird Tageslicht zu einem zentralen Thema. Tageslicht nicht nur als Mittel, um Licht in die Häuser zu bringen oder als ein traditionelles Symbol für das Tranzendente, sondern Tageslicht als eigener Baustoff, der durch Architektur in Szene gesetzt ist. Gleichzeitig wird Tageslicht mehr und mehr dazu genutzt, Raum – eine maßgebende Größe in der modernen Architektur – zu gestalten und aufzulösen. Raum wird Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr nur als negativer Leerraum zwischen Wänden, sondern als etwas Eigenständiges, eine grenzenlose Fülle betrachtet. Und gerade Tageslicht kann einen konturlosen Raum auf eine fast stoffliche Art gestalten – genauso wie es in einem flüchtigen Strahl den Augenblick intensiv erlebbar machen kann. Der Raum erhält eine besondere Bedeutung, wie sie etwa in den Bildern des dänischen Malers Vilhelm Hammershøi thematisiert wird (Abb. 1). Betrachtet man Tageslicht unter diesem Aspekt, so ist es nicht primär aus funktionalen und physiologischen Gründen notwendig, wie etwa im Funktionalismus proklamiert. In vielen bedeutenden Bauten des 20. Jahrhunderts dient Tageslicht ebenso dazu, Stimmung und Bewegung zu erzeugen, den Raum auf eine neue Art zu artikulieren.
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Bereits im 19. Jahrhundert werden Werte und Symbole immer kurzlebiger, die bisher bekannte und als ewig gültig empfundene Weltordnung ist aufgehoben, auch in der Architektur werden traditionelle Positionen hinterfragt. Dies fordert die Kreativität, die künstlerische Energie und Experimentierfreude der Architekten, Licht und Raum werden als eigenständige Phänomene erforscht. Es ist interessant zu verfolgen, wie Tageslicht zum »Baustoff« wird, der dazu beiträgt moderne Räume zu formen. Was sind es für Räume, die das Tageslicht 92
und dessen Begleiter, der Schatten, mitgestalten? Und wie kann Tageslicht dazu beitragen, diesen Räumen eine besondere, eine spirituelle Stimmung zu verleihen, die in unserer schnelllebigen Welt durch den Verlust einer allgemein gültigen, traditionellen oder religiösen Bildsprache schwierig zu vermitteln ist? Die folgende Auswahl europäischer Beispiele zeigt, wie Tageslicht als Baustoff im 20. Jahrhundert entdeckt und eingesetzt wurde: in den Bauten von Mies van der Rohe und Le Corbusier betont das Tageslicht mit Hilfe von Reflexen oder durch ein komplexes Zusammenspiel von mehreren gleichzeitig auftretenden Lichtquellen eine räumliche Vielschichtigkeit. In den Werken anderer Architekten findet man Beispiele, in denen Tageslicht als Streiflicht ein eigenständiges Gestaltungsmittel ist, bei wiederum anderen erzeugt gebrochenes Licht einen spirituellen Charakter. Wir sehen weiter Beispiele, in denen das Licht Orte in einem sonst offenen Raum lokalisiert oder aber durch Schlagschatten Zeichencharakter erhält. Schließlich gibt es Beispiele, bei denen weiches Tageslicht beinahe schwerelose Räume schafft. Die Projekte sind chronologisch geordnet und enden mit einem Ausblick auf aktuelle Tendenzen. Lichtreflexe Die Eigenschaft von Glas, räumliche Verbindung durch Transparenz zu schaffen, wird bei vielen Architekten des 20. Jahrhunderts zu einem wichtigen Gestaltungselement. Als Inspirationsquelle dient ihnen die Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts, in der neue Materialien und die sich daraus ergebenden konstruktiven Möglichkeiten wie z. B. Stahlkonstruktionen große Glasflächen erst ermöglichen. Glas kann darüber hinaus auch die Umgebung reflektieren und damit die Wirkung von Licht und Schatten verschleiern, die sonst Raum und Form betont.