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Dramatische Ereignisse während einer Jugendleiterausbildung
Nach der Rettungsübung kommt ein realer Rettungseinsatz
von Paul Pöller
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Das Abseilen eines Verletzten wird geübt
Gerne schaue ich die Aufzeichnungen meiner Erlebnisse beim Alpenverein durch und stoße dabei auf viele Ereignisse, die mich bewegt und beein usst haben. Ein solches war im Juli 1983 die Fortbildungsveranstaltung für Alpenvereinsjugendleiter. Dazu sollten wir eines freitags im Prinz Luitpold-Haus in den Allgäuer Alpen erscheinen.
Am Vormittag dieses Freitags waren Bundesjugendspiele, und als Lehrer war ich als Kampfrichter beim Werfen eingeteilt. Am Nachmittag dann fuhr ich mit meinem Jugendleiterkollegen Robert Schuh, und dazu Michael Reusch und Martin Kopp zum Giebelhaus im Ostrachtal. Wir stiegen noch zum Prinz Luitpold-Haus auf.
Dort trafen wir die anderen schwäbischen Jugendleiter und unseren Ausbilder, den Bergführer Martin Freuding aus Pfronten.
Der nächste Tag brachte ein anspruchsvolles Programm. Wir übten am Fuß der Westwand der Fuchskarspitze in kleinen Gruppen als erstes Standplatzsicherung. Dann richteten wir einen Flaschenzug ein, mit dessen Hilfe man Verletzte abseilen kann, wenn man im Notfall ganz auf sich allein gestellt ist. Für den Fall, dass ein Seil nicht genügt, lernten wir, wie eine einwandfreie Seilverlängerung geht. Damit war der Vormittag ausgefüllt.
Am Nachmittag galt es, diese Kenntnisse in einiger Höhe an der Wand anzuwenden. Dazu stiegen wir ein Stück an der bekannten Westverschneidung auf. Dort simulierte einer der Seilschaft einen Verletzten. Der Partner nahm ihn gesichert bei sich auf den Rücken und seilte sich zusammen mit ihm vorsichtig ab. Uns war natürlich klar, dass eine solche Aktion im Ernstfall bei möglicher-
weise schlechten Wetterbedingungen, wenn dann auch noch große Nervosität dazukommt, äußerst schwierig wäre. So etwas müsste man vor allem oft üben. Der Nachmittag endete im Wiesengelände mit einem weniger kraftraubenden Thema: Gehen in einer Viererseilschaft, was auf einem Gletscher oft vorkommt.
Rettungseinsatz in nächster Nähe
Am Sonntagmorgen traf sich unsere ganze Gruppe bei wunderbarem Wetter vor der Hütte. Es sollte ja weiter an der Fuchskarspitze trainiert werden. Plötzlich kam Unruhe auf, und schon verkündete unser Bergführer, dass auf der Hütte ein Notruf eingegangen sei. Wir erfuhren von ihm, dass in der Gelben Wand der Fuchskarspitze ein Kletterer verunglückt und schon der Rettungshubschrauber angefordert sei, und dass er bei dem Einsatz selbstverständlich benötigt werde. Das hieß für uns, dass unser Programm nicht durchgeführt werden konnte. Das bedeutete aber auch, dass wir nun einen echten Noteinsatz nur wenige Meter von der Stelle entfernt, wo wir wieder üben wollten, beobachten konnten. Es stellte sich heraus, dass ein Mann einer Zweierseilschaft ins Seil gestürzt war; er war zwar nicht abgestürzt, aber er hatte sich stark verletzt, weil er durch die Pendelbewegung des Seils heftig auf dem Fels aufgeschlagen war.
Wir saßen ein Stück entfernt vom Wandfuß und konnten die Seilschaft sehr gut beobachten, wussten aber nicht, wie es um den Verunglückten stand. Nach kurzer Zeit erschien der Hubschrauber. Der konnte aber nicht nahe an die Wand heran iegen, sondern musste hoch über der Unglücksstelle schweben und einen Retter an einem langen Seil hinablassen. Es dauerte lange, bis die beiden Bergsteiger im Hubschrauber waren. Wir hatten meist schweigend zugeschaut. Als allmählich wieder Gespräche begannen, merkten wir, wie sehr uns dieses Ereignis nahe gegangen war. Für uns war auch klar, dass diese Fortbildung damit zu Ende war.
Wir waren sicher, dass unser Bergführer nicht nochmal zu uns kommen konnte. Natürlich hätten wir auch ohne ihn noch üben können. Aber fast alle sagten, dass sie an diesem Tag mit Klettern nichts mehr zu tun haben wollten. Robert und ich saßen auch unschlüssig da. Dann meinten wir, dass es nicht gut für unsere Klettermoral sei, jetzt einfach heimzufahren. So beschlossen wir, wenigstens eine leichte Tour zu machen.

Darstellung des Prinz Luitpold-Hauses in einem historischen Buch, 1894.
Doch noch eine Tour
Die Westverschneidung, wo wir am Vortag geübt hatten, bot sich als Route im dritten Schwierigkeitsgrad an. Es waren nur wenige Meter zum Einstieg. Doch vor uns waren zwei Seilschaften, die kaum vorwärts kamen. Sie zu überholen schien unmöglich. Was nun? Knapp neben uns war die Gelbe Wand, Schwierigkeitsgrad 5, wo der Unfall passiert war. Die kam natürlich nicht in Frage, aber wenige Meter weiter links war die Schwarze Wand. Wir wussten, dass es eine Vierertour ist, und sagten uns: „Die packen wir jetzt“. Robert führte, und ich kam auch mit den etwas unangenehmen Passagen ganz gut zurecht. Aber dass nur wenige Meter neben uns der Unfall geschehen war, konnten wir nicht ganz ausblenden, zumal die ganze Wand noch im Schatten lag und wegen des dunklen Gesteins – sie hat ihren Namen nicht umsonst – besonders düster wirkte. Am Ausstieg emp ngen uns die strahlende Sommersonne und eine kleine Blumenwiese. Wir legten uns völlig entspannt hin und gestanden uns, wie erleichtert wir waren.
Leider habe ich meinen Freund und Partner Robert Schuh viel zu früh verloren. Er erlitt bei einem Absturz im Klettergarten Konstein ein SchädelHirntrauma. Von da an war er fast völlig gelähmt und hatte auch die Fähigkeit zu sprechen verloren. Die einzige Äußerung, die ihm noch möglich war, war eine Art Schnauben, wenn er mit etwas nicht einverstanden war. Daraus konnte man schließen, dass er wohl auch komplizierte Sachverhalte verstehen konnte. Seine Frau Claudia und seine Töchter p egten ihn hingebungsvoll viele Jahre lang bis zu seinem Tod.