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Spaghetti al Dente: Monte-Rosa- Durchquerung mit Biss

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Kurz gemeldet

Kurz gemeldet

von Laura Jantz-Klinkner

Fotos: Laura Jantz-Klinkner und Vikki Schaefer

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Schritt für Schritt. Einatmen. Ausatmen. Die Steigeisen nden guten Halt. Noch ein Schritt. Bloß nicht nach unten schauen oder gar über dieses Unterfangen nachdenken. Ein Fehltritt, eine Unachtsamkeit, ein Stolperer bedeuten den sicheren Absturz. Erste Löcher im überwechteten Grat. Vor uns liegen noch einige Kletterstel– len im IIer- bis IIIer-Gelände. Mit Steigeisen – das habe ich bisher nicht so oft gemacht. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ist die Dufourspitze nicht doch eine Nummer zu groß für mich?

Einige Wochen vorher: „Hi Laura, Lust auf eine Woche Hochtouren in der Schweiz, Ende Juli? LG Vikki“, dazu ein Link. Als ich die Beschreibung der vorgeschlagenen Tour im Monte-RosaMassiv lese, muss ich zunächst schmunzeln: Sie wird „Spaghetti-Runde“ genannt, da sich Start und Ende zwar in Zermatt be nden, man aber zwischendurch mehrheitlich auf italienischen Hütten übernachtet und dort mit Unmengen an Pasta verköstigt wird. Das hört sich schon mal gut an! Weiter heißt es, man könne dort „Viertausender sammeln“, bis zu zwölf Stück in fünf Tagen. Darunter anspruchsvolle Gipfel wie Liskamm oder Dufourspitze, doch auch leichtere Ziele wie die Vincentpyramide, die man quasi im Vorbeigehen mitnehmen kann. Ich schaue mir ein paar Videos im Internet an – und erschaudere. Grate, die gerade einmal breit genug sind, um einen Fuß vor den nächsten zu setzen. Steile Eis- und Firn anken. Schmale Gletscherbrücken. Natürlich weiß ich, dass Videos von Helmkameras nie repräsentativ sind und Steilheiten dabei immer extremer aussehen, als sie tatsächlich sind. Aber ich muss trotzdem schlucken. Reicht meine Hochtourenerfahrung für so etwas aus? Habe ich die Nerven für diese Ausgesetztheit? Bin ich konditionell t genug? Ich möchte auf keinen Fall in der Statistik der Bergrettung auftauchen – weder als Absturzopfer noch als „vollkommen überforderte Bergsteigerin (32) aus Augsburg“. Die weitere Recherche beruhigt mich wieder: Von den ersten Hütten könnte man notfalls allein und ohne Gletscherkontakt ins Aostatal absteigen, auch müsse man nicht alle Gipfel mitnehmen. Es gibt also genug ExitOptionen. Nun bin ich wirklich ange xt. Mein Mann bestärkt mich: „Mach das! Ich sehe dir doch an, dass du eigentlich Bock drauf hast!“ – also sage ich zu.

Noch einmal Komfortzone Die Tour beginnt zunächst recht komfortabel mit einer Übernachtung im Hotel „Bergfreund“ in Herbriggen. Die Wirtin, mit Verweis auf die aktuellen Corona-Geschehnisse nach eigener Aussage „81 Jahre und sechs Monate alt und nicht einen Tag im Leben krank gewesen!“, empfängt uns freundlich. Hier kennt man sich mit SpaghettiAspirant*innen aus, das Hotel ist bei Bergführer*innen und ihren Gruppen ebenfalls beliebt. Bei Panaché (Radler) und feinem Essen werfen wir – Vikki, Laura & Laura und Joachim – einen Blick auf Karte und Material, planen den Transfer nach Zermatt und sortieren unsere Futtervorräte. Eigentlich habe ich bei Bergtouren ja immer dauerhaft Hunger und musste schon so manches Mal Traubenzucker einwerfen, obwohl der Gipfel bereits in Reichweite war. Aber ich kann ja schlecht zehn Kilo Essen mitschleppen! Ich orientiere mich an Vikkis „Ein-Riegel-Taktik“ und kann mich immerhin zu einer Reduktion des Fresspaketes auf anderthalb Riegel pro Tag durchringen. Weniger ist nicht drin, sonst verhungere ich garantiert. Wir genießen die vorerst letzte Nacht in richtigen Betten mit auschiger Bettwäsche und duschen noch einmal ausgiebig – und ich bin jetzt schon neidisch auf Joachims praktischen Kurzhaarschnitt. Zwar bin ich auf Reisen auch mal länger ohne ießendes Wasser ausgekommen, aber mir graut vor einer Woche mit „Helmfrisur“ und ohne Haarewaschen. Wenn ich zu dem Zeitpunkt gewusst hätte, welche anderen alpinen Herausforderungen mir bevorstehen …

Warm-Up am einfachsten Viertausen der der Alpen Am nächsten Morgen starten wir gemüt- lich mit dem hoteleigenen Shuttlebus nach Zermatt. Von dort geht es per Seil bahn zum Klein Matterhorn und wir rei- hen uns in die Spur aufs Breithorn ein. Dieser Berg gilt als der einfachste Viertausender der Alpen. Die Vielzahl an Seil- schaften stört jedoch kaum, da wir die Tour bewusst entspannt angehen wollen. Oben stehen wir sogar kurz allein am

Gipfel Breithorn

Gipfel und können einen ersten Blick auf das Meer aus Bergen werfen, das wir in den kommenden Tagen durchqueren wollen. Von der anderen Seite grüßt stolz das Matterhorn, an seinem Gipfel ein Wolkenfahne. Bei diesem Panorama stört der anschließende Hatscher zum Rifugio Guide Val d’Ayas kaum. Beim Eintritt in die Hütte blickt uns allerdings Che Guevara von einem Poster bereits kritisch entgegen – missbilligt er etwa auch den hier in ationären Einsatz von Einweg-Plastik-Geschirr? Die erste Pastaportion der Tour bekommt dadurch leider ein „Geschmäckle“, aber das Hüttenteam ist ansonsten ausgesprochen sympathisch. Vor allem scheinen sie sich über weibliche Gäste zu freuen, von denen es auf der Tour nicht allzu viele gibt. Dass wir noch dazu ohne Bergführer unterwegs und damit erst recht in der Minderheit sind, wird uns hier zum ersten Mal bewusst. Als einzige Gruppe widmen wir uns dem (analogen) Kartenstudium und der ausgiebigen Planung des nächsten Tages. Nach dem Abendessen spricht uns dann ein älteres Ehepaar an, ob sie einmal unsere Karte ausleihen dürften. Einige Minuten später kommen sie freudestrahlend zurück und zeigen uns stolz die darauf eingezeichnete Hütte. Ihr Bergführer sei nur mit GPS unterwegs und sie hätten nun zum allerersten Mal ihre gebuchte Tour auf einer Karte lokalisiert …

Alles, was das Alpinist*innenherz begehrt Als wir am nächsten Morgen verhältnismäßig spät starten, wähnen wir uns im Aufstieg zum Pollux kurzzeitig allein im Monte-Rosa-Massiv. Die Einsamkeit währt jedoch nur kurz, da es an der Schlüsselstelle – einer Art Kamin mit einer kurzen, mit Ketten versicherten IIIer-Stelle – zum Stau kommt. Von oben seilen sich Menschen ab, von unten drängen neue Seilschaften nach oben. Doch die Sonne scheint, die Laune ist gut, und mit gegenseitiger Rücksichtnahme kommen alle heil rauf und runter. Einzig ein Bergführer zieht und treibt seinen australischen Gast etwas ruppig nach oben und steigt mir dabei auf die Handschuhe. Robert ist durch Corona in Europa gestrandet und hat noch nie im Leben einen Gletscher gesehen. Kurzentschlossen hat er die Tour gebucht und steht nun überglücklich an der Madonnen gur unterhalb des Gipfels. Ich freue mich mit ihm über seinen Erfolg, aber bin mir zugleich nicht sicher, ob sich solche Leute über- oder ich mich einfach unterschätze?!

Der benachbarte Castor ist anschließend schnell erreicht. Hier lauert kurz vor dem Gipfelgrat allerdings eine kleine Herausforderung auf uns: Es gilt, den Bergschrund zu überklettern und anschließend gute zehn Meter im steilen Firn hochzusteigen. Wir meistern die Stelle souverän und Vikki bekommt sogar von einem Schweizer Bergführer(!) ein Lob für ihre Sicherungstechnik. Oben ist für kurze Zeit noch einmal unsere volle Aufmerksamkeit gefragt, da sich der Grat teilweise ausgesprochen schmal präsentiert. Die Tour auf die „Zwillingsgipfel“ Pollux und Castor bietet damit alles, was das Alpinist*innenherz erfreut: Leichte Kraxelei in Fels und Firn sowie eine tolle Gratüberschreitung mit grandioser Aussicht – und dabei nie zu schwierig. Eine super Tour! Nur der abermalige lange Marsch zur Quintino-SellaHütte schmälert das Vergnügen etwas, zumal es jeden Nachmittag ab 14 Uhr zuzieht und ein kalter Wind, teilweise mit Hagel, über die Gletscherlandschaft fegt. Frühes Aufstehen und zügiges Vorankommen sind folglich angesagt.

Heulender Wind und jaulende Waden Der Abstieg vom Castor wird bei mir von einem mulmigen Gefühl begleitet. Man konnte heute mehr als einen Blick auf den Liskamm werfen, dessen 1.000 Meter lange und extrem ausgesetzte Traverse eine Variante der Spaghetti-Runde darstellt. Wäre das auch etwas für uns? Ich habe innerlich eigentlich schon meine Entscheidung getro en und würde notfalls allein ins Tal ab- und zur nächsten Hütte wieder aufsteigen. Am Abend checken wir den Wetterbericht, der für den nächsten Tag Sturmböen mit über 80 km/h voraussagt. Nur sehr wenige geführte Gruppen wagen die Überschreitung, alle anderen geben sich mit der

Spannende Kraxeleien am Grenzgrat

leichteren Route über den Il Naso zufrieden. Unter diesen Bedingungen steht der Liskamm nun ohnehin für keinen von uns mehr zur Diskussion, und ich bin erleichtert. Allerdings geht es Laura zusehends schlechter. Sie hatte tagsüber schon über Schwindel und Übelkeit ge- klagt. Nachdem ihr die dünne Luft auch noch den Schlaf raubt, fühlt sie sich nicht t genug, um weiterzugehen. Traurig verabschieden wir uns nach dem Frühstück von ihr – sie wird allein ins Aostatal absteigen und versuchen müssen, sich mit dem ÖPNV wieder zurück nach Zermatt durchzuschlagen.

Dass sie die richtige Entscheidung ge- tro en hat, zeigt sich dann am Naso, der uns mehr Kraft kostet als erwartet. Zu nächst muss man im Blockgelände über eine Felsrippe (bis II) kraxeln. Bei optimalen Bedingungen gilt die Tour als leicht – allerdings besteht die nun vor uns lie- gende, bis zu 50° steile Flanke heute nicht aus weichem Tritt rn, sondern aus Blankeis. Als wir kurz zuvor beratschlagt hatten, mit welcher Taktik wir am e zientesten und sichersten vorankommen, hatte ich für mich den Vorstieg eigentlich ausgeschlossen. Vikki verfügt über die größte Erfahrung, Joachim ist wesentlich tter und unerschrockener als ich. Doch als ich die Wand so vor mir sehe, reizt es mich eigentlich schon ein bisschen … Die beiden ermuntern mich, so weit vorzusteigen, wie ich mir zutraue. Auf den ersten Metern komme ich zügig voran und ich fühle mich gut. Dann sträubt sich mein Körper jedoch gegen die ungewohnte Belastung und zunehmende Steilheit. Die Waden brennen durch das permanente Stehen auf den Frontalzacken und der Arm wird vom Pickelein- satz müde. Mehr als einmal muss ich mich dicht an die Wand drücken, um mich vor den Windböen zu schützen. Dazu kommt die mentale Anspannung, so etwas macht man ja nicht alle Tage! Früher als erho t richte ich den Standplatz ein. Trotzdem bin ich auch ein bisschen stolz, dass ich mich das überhaupt getraut habe. Weiter oben verschlechtert sich das Eis zunehmend. Wir wissen zwar, dass irgendwo Stangen kommen sollen, um den zweiten Standplatz zu bauen, können diese aber noch nicht sehen. So muss der arme Joachim eine Weile herumbasteln, um einen geeigneten Platz für seine Eisschrauben zu nden. Außerhalb seiner Sichtweite und nur wenige Meter entfernt entdecke ich in der dritten Seillänge die Stangen, und es wird deutlich acher. Hinterher ist man immer klüger: Die erste Seillänge ausklettern, die zweite weitersteigen bis zur Stange – das spart Zeit und Nerven! Am „Gipfel“ (der Naso ist teilweise nicht als solcher anerkannt, sondern gilt eher als vorgelagerter Hügel des Liskamms) suchen wir uns eine windgeschützte Mulde und schnaufen erst mal ordentlich durch. Vor uns liegt – mal wieder – ein langer Abstieg zur nächsten Hütte. Wie schön, dass wir einen Pausentag vor uns haben!

Viertausender To Go Wir verbringen den Tag auf dem Rifugio Gnifetti abwechselnd mit Essen und Schlafen. Vor allem die hausgemachte Pizza Gnifetti und die diversen frischgebackenen Kuchen haben es uns ange- tan, und der Körper verlangt nach Kalorien. Auf der Sonnenterrasse komme ich mit einem sonnengegerbten Bergführer ins Gespräch, der die Gegend scheinbar wie seine Westentasche kennt. Nachdem ich ihm von unserer Tour berichtet und die Dufourspitze als mögliche Option genannt habe, blickt er mich mitleidig- zweifelnd an: „Das würde ich nicht machen, das ist ganz schön schwierig! Und dann noch ohne Bergführer …“ – Er traut es uns also nicht zu. Hat er Recht? Oder muss er das sagen, um der Daseinsberechtigung seines Berufsstandes Nachdruck zu verleihen? Ich berichte den anderen von meiner Begegnung – nun sind alle verunsichert.

Leider müssen wir unsere Schlaf-EssRoutine am nächsten Morgen beenden. Wir wollen auf dem Übergang zur Mar- gherita-Hütte gleich mehrere Gipfel quasi im Vorbeigehen mitnehmen und da der Schnee bereits morgens ziemlich sulzig ist, ist frühes Aufstehen angesagt. Diesen Plan verfolgen aber nicht nur wir: Beim Aufstieg zur Vincentpyramide sehen wir die Lichter unzähliger Seilschaften. Technisch leicht, wird die Tour oft auch ohne Akklimatisierung angeboten – viele möchten sich einfach den Traum erfüllen, einmal auf einem Viertausender zu stehen. Und die Berg führer*innen scheinen für Pausen nicht viel übrig zu haben, sondern zerren ihre Seilschaften regelrecht nach oben. Wir haben uns gut an die Höhe gewöhnt und kommen zügig voran, überholen sogar die eine oder andere Gruppe. Die Vincentpyramide ist schnell erreicht, jedoch ziemlich zugig. Das Schwarzhorn lassen wir aus, da an der steilen Eis anke

Rifugio Gnifetti – Schlemmen wie im Schlara enland

Blick von der Dufourspitze auf Grenzgrat und Signalkuppe mit Margherita-Hütte

kurz vor dem Gipfel Stau herrscht und der Wind weiter au rischt. Wir kommen uns schon ein wenig abgestumpft vor, als wir beschließen, dass es auf einen Viertau sender mehr oder weniger nicht ankommt … Dafür nehmen wir noch das kleine Balmenhorn mit der großen Jesusstatue und die Ludwigshöhe mit und überschreiten die Parrotspitze. Die ganze Zeit über haben wir dabei unser heutiges Ziel im Blick: Die Capanna Margherita thront weithin sichtbar auf der Signalkuppe. Mehrfach wird sie vom Hubschrauber ange ogen – sie ist mit 4.554 m die höchstgelegene Schutzhütte Europas und verfügt daher über eine aufwändige Ver- und Entsorgung. Aber egal wie hoch die Hütte, Wlan gibt es überall in Italien! Wir kommen früh auf der Hütte an, der Nachmittag ist herrlich, wir dösen in der Sonne und posten Angeberbilder von der Terrasse. Am Abend müssen wir uns dann bezüglich der Planung für den nächsten Tag entscheiden. Dufourspitze – ja oder nein? Wir fühlen uns gut akklimatisiert und beschließen, die Dufourspitze zu versuchen. Wir wollen über den Grenzgrat zum Gipfel und auf der anderen Seite über den Westgrat zur neuen MonteRosa-Hütte wieder absteigen. Doch am nächsten Morgen der Schock: Joachim geht es nicht gut, er fühlt sich nicht t genug für die Dufourspitze! Mein erster Impuls ist, mich direkt nach dem Frühstück wieder ins Bett zu legen und die Tour abzuhaken. So ganz überzeugt war ich ja eh nie und so würde sich – wie beim Liskamm – das Thema von allein erledigen. Aber Vikki ist wild entschlossen und sie ermutigt mich: „Lass uns das wenigstens mal anschauen! Und lass uns so weit gehen, wie wir kommen, und so weit wir es uns zutrauen! Ansonsten drehen wir halt wieder um.“ Nun gut.

Auf der Hütte hatten wir eigentlich noch mehr Menschen im Verdacht, die Dufourspitze ersteigen zu wollen – was der Orientierung im kombinierten Gelände ja durchaus dienlich sein könnte. Darunter eine Jugendgruppe vom SAC (Schweizer Alpen-Club), eine ambitioniert dreinblickende Zweierseilschaft mit Bergführer („Das Nordend hab’ ich schon … Jetzt fehlt nur noch die Dufourspitze“), ein Paar – Typ Kaltenbrunner / Huberbuam – und eine sympathische JungsTruppe aus Deutschland. Unser Plan geht allerdings so nicht auf: Die zwei kernigen Burschen samt Bergführer ziehen uns schnell davon. Die Jugendlichen gehen nur bis zur Zumsteinspitze. Das Pärchen kommt uns wieder entgegen („Too di cult for us!“) und die Deutschen sind weit hinter uns und drehen schließlich auch um. Damit müssen wir uns der Tour wohl allein stellen.

Gehen. Atmen. Bis zur Zumsteinspitze ist die Tour noch leicht und der Sonnenaufgang grandios, aber für eine lange Pause haben wir keine Zeit. Wenn wir den Gipfel versuchen wollen, müssen wir zügig vorankommen: Immerhin müssen wir auch über den Grenzgrat wieder zurück, Joachim in der Margherita-Hütte einsammeln und den langen Abstieg zur Monte-Rosa-Hütte scha en. Zunächst gilt es, zum Grenzsattel hinunterzugelangen. Schnell entscheiden wir uns fürs Abseilen, ein Abklettern erscheint zu heikel. Außerdem sind genug solide Bohrhaken vorhanden. Der Sattel ist dann außerordentlich schmal – so schmal, dass man nur einen Fuß vor den anderen setzen kann. Das Morgenlicht scheint durch die Löcher, die bereits in der Wechte sichtbar werden. Dort, wo man sich eigentlich ganz gern mit dem Pickel aufstützen würde. Im einfachen Gelände war ich schon so manches Mal gestolpert, hier darf das einfach nicht passieren. Ich bin ultrafokussiert. Und fühle mich seltsam frei in dieser Reduktion auf das „Wesentliche“: Gehen und Atmen. Beim bloßen Anblick des Grates war mir vorher ganz anders geworden, doch nun nden die Steigeisen sicheren Halt und ich wie in Trance den Übergang in leichteres Gelände. Am laufenden Seil steigen wir weiter, kom-

men gut voran, nden unseren Rhythmus. Vikki bewegt sich sehr souverän, das gibt auch mir Sicherheit. An zwei IIIer-Stellen sichern wir vom Standplatz aus. So einen „Flow“ hatte ich zuvor noch nie, hatte ihn nicht einmal für möglich gehalten. Und plötzlich … stehen wir tatsächlich am Gipfel. Mir kommen fast die Tränen. Vor Glück, Erleichterung, Erstaunen über das eigene Können. Bin ich tatsächlich gerade über den Grenzgrat auf den mit 4.634 m höchsten Berg der Schweiz gekraxelt? Bin ich! Unglaublich! Dazu diese Aussicht! Nach drei Stunden konzentrierten Steigens gönnen wir uns eine ausgiebige Pause, machen eine Million Bilder. Da wir über dieselbe Route wieder zurück müssen, wissen wir, welche Schwierigkeiten vor uns liegen, und machen uns schweren Herzens auf den Rückweg. Aber es geht gut, ich wage mich sogar für die letzte Seillänge in den Vorstieg. An der Zumsteinspitze fallen wir uns ein weiteres Mal in die Arme: Alle technischen Schwierigkeiten haben wir nun überwunden, auf uns wartet nur noch der Hatscher zur Monte-Rosa-Hütte und am nächsten Tag das Ende der Tour.

Monte-Rosa-Hütte Der Grenzgletscher hat es spaltenmäßig noch einmal in sich – mehrmals breche ich ein, zum Teil bis zur Hüfte, die Beine baumeln ins Leere. Gruselig. Ohne die Spur (den Seilschaften vor uns sei Dank) würden wir vermutlich heute noch im Spaltenlabyrinth herumirren. Dann sehen wir endlich den futuristischen „Bergkristall“ namens Monte-Rosa-Hütte und bei mir stellt sich plötzlich eine große

Die neue Monte-Rosa-Hütte

Erschöpfung ein. Bis hierhin hieß es powern, hellwach sein. Jetzt kann man endlich wieder vor sich hin latschen und stolpern – und das ganz ohne Steigeisen.

Das erste Radler verdampft fast auf der Zunge. Ich bin so erschöpft, dass ich sogar kurz am Tisch einschlafe. Die Hütte ist wunderschön, die Zimmer sehr komfortabel, das Essen hervorragend. Nicht ohne einen gewissen Stolz tre en wir andere Gruppen wieder und berichten von unserem Gipfelerfolg, den uns so manch einer nicht zugetraut hatte. Am nächsten Morgen kann ich dann, gut erholt, das Panorama voll genießen: ein phänomenaler Ausblick auf Matterhorn und Gornergletscher! Joachim, dem es schon wieder besser geht, hat die Hütte bereits als Stützpunkt für die nächste Skitourensaison auserkoren. Wir bekommen sogar noch eine kurze Führung vom Wirt durch die Haustechnik der energieautarken Hütte. Ein würdiger Abschluss einer grandiosen Tour! Nach einer Woche in Schnee und Eis freuen wir uns nun wieder auf den Sommer im Tal, frisches Grün und die Annehmlichkeiten, die einem das Leben dort unten so bietet.

Rückblickend frage ich mich manch- mal, ob die Tour real war, ob ich wirk- lich auf der Dufourspitze stand. Gäbe es nicht die Beweisfotos, ich würde es fast nicht glauben. Die Spaghetti-Runde war eine geniale Tour, die ich sowohl über- als auch unterschätzt hatte. Es gab Momente, in denen ich am Limit war – und solche, in denen ich über mich hinausgewachsen bin. Für so einige im DAV mag es sicherlich eine „Pille-Palle-Tour“ ohne nennenswerte Schwierigkeiten sein. Für mich aber war es ein großartiges Westalpen-Erlebnis mit einer tollen Seilschaft. Und das eigentlich Wichtigste: Ich bin nicht verhungert!

Infos: Die Spaghetti-Runde ist eine eindrucksvolle, aber anspruchsvolle Hochtouren-Durchquerung im Wallis und im Monte-Rosa-Massiv. Auf der Grenze zwischen Italien und der Schweiz werden je nach Verhältnissen bis zu zwölf 4.000er bestiegen. Weite Gletscher, schmale Grate und luftige Kletterpassagen machen die Tour vom Klein Matterhorn zur Dufourspitze und von dort hinunter in Richtung Gornergrat zu einer hochalpinen Unter- nehmung, die nur erfahrenen Bergsteigern zu empfehlen ist. Beste Jahreszeit: Mitte Juni bis Anfang September, je nach Schneelage. Anforderungen: Hochtourenerfahrung; je nach Verhältnissen auch im Be- gehen und Absichern steiler Eis- und Firn anken. Für die Überschreitung der Dufourspitze sind zudem Erfahrung im Klettern mit Steigeisen bis III und entsprechende Sicherungstechniken im kombinierten Gelände not- wendig. Kondition für Tagesetappen von 6–8 Std. Dauer und ca. 1.000 Hm. Im Internet ndet man zahlreiche Infos und Tourenanbieter.

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