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Grandios einfach

Der tiefe Süden der Isère treibt zufrieden mit der Zeit. Die kleinsten Dörfer werden von einer Handvoll mutiger Bauern und ehemaligen Städtern bewohnt, die ein reicheres Leben fernab der hektischen Zivilisation suchen. Oh, und hatten wir bereits erwähnt, wie schön es dort ist?

Is Re

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In einem Sträßchen voller verwitterter Häuser strahlen Stockrosen in der prallen Sonne. Ich suche nach einem Lokal fürs Mittagessen, doch die Auswahl ist eher spärlich in den kleinsten Dörfern der Region. Doch wie mir zuflüstert wurde, befindet sich am Marktplatz von Clelles eine gute Adresse. Auf den Tisch kommt, was gerade vorhanden ist. Alles ist lecker, frisch und größtenteils aus biologischem Anbau vom eigenen Hof.

Le Bistrot de la Place entpuppt sich als Volltreffer, eine Adresse, wie man sie auf Reisen überall zu finden hofft. Mit Stühlen unter dem Dachvorsprung des ehemaligen Dorfbrunnens und Büchertausch. Das Stimmengewirr der Gäste weht über den Platz, um bei der Mairie Widerhall zu finden. Links und rechts vom Rathaus stehen – ordentlich getrennt –die ehemalige Mädchen- und Jungsschule.

Ursprünglich wollte ich nur eine Plat du jour, daraus aber ist eine Formule complète geworden. Es ist einer dieser Momente, in denen plötzlich alles stimmt. Ein Tisch im Schatten, einfache Häuser in der Umgebung, eine unprätentiöse Terrasse und ein gesunder vegetarischer Hauptgang der schmeckt. „Das Gemüse kommt von unserem Hof“, sagt die Bedienung. „Im Sommer vollständig und im Winter immerhin zur Hälfe“.

Ich rücke meinen Stuhl nach hinten und genieße noch ein bisschen weiter. Links plätschert der Springbrunnen, aus der Küche klingt ein Lachen und am Nebentisch bestellen die Gäste noch eine Flasche Wein und einen freien Nachmittag. Gleich lasse ich mich weitertreiben durch die Matheysine und die Trièves, eine Region im tiefsten Süden des Departements. Einen Plan? Brauche ich nicht. Ich lasse mich einfach treiben, von Dorf zu Dorf und schaue was alles passiert.

Schöne Weiler

Die Isère ist vor allem für ihre hohen Berge bekannt. Für Wanderer, Kletterer, Mountainbiker und im Winter für Skifahrer. Auch die Seen gehören zu den Top-Attraktionen. Doch jener Zipfel im tiefen Süden, wo die Regionen Matheysine und Trièves liegen, ist immer ein bisschen unbeachtet geblieben. Abgesehen von La Mure vielleicht, wo sich ein kleiner Zug quer durch die Felsen seinen Weg zu einem Aussichtspunkt bahnt. Die Bahn wurde vor über 130 Jahren für den Kohletransport nach Grenoble angelegt. Damals galt sie als technische Meisterleistung, denn auf einer Strecke von 30 km mussten 142 Tunnel, Viadukte und Brücken errichtet werden. Später dienten die Gleise dem Personenverkehr zum Klosterkomplex Notre-Dame de la Salette. Vorbei an kleinen Dörfern setze ich meinen Weg durch die Täler fort. Die Gegend liegt auf einem Plateau, das von den Gipfeln des Vercors, des Massif de Dévoluy und des Massif des Écrins umgeben wird. Auf dem Plateau ist die Landschaft nur leicht gewellt. Nacheinander erreiche ich Le Perrier, Lalley, Saint-Maurice-en-Trièves und Le

Monestier-du-Percy. In Prébois, noch so einem hübschen Weiler, begegne ich dem Winzer Samuel Delus. Auch ihn hat es nach Trièves verschlagen, um ein ruhiges und gehaltvolleres Leben zu führen. „Hier bin ich aufgewachsen, aber ich habe jahrelang in Paris gewohnt”, erzählt er unterwegs zum Weinkeller seiner Domaine de l’Obiou. „Ich habe als Techniker in der Filmbranche gearbeitet. Seit einigen Jahren bin ich Winzer. Die Region eignet sich gut zum Anbau von Trauben. Früher waren die ganzen Hänge rundum das Dorf damit bepflanzt, doch durch die Landflucht sind die meisten verschwunden oder verwildert. Gemeinsam mit einigen Winzern arbeite ich daran, dies rückgängig zu machen.“ Samuel spricht bescheiden über die Wiederauferstehung des Weinbaus: „In der französischen Weinbranche spielen wir mit unseren zwölf Hektar keine Rolle. Doch wir sind mit Liebe und Leidenschaft dabei. Die Weine werden immer besser und bekannter. Auf dem Lande verdient man weniger Geld, aber das Leben ist gehaltvoller.“

Aufschlagseite links: ein kleines Schloss in Clelles; rechts: das Bistrot de la Place in Clelles. Links: das Plateau am Fuß des Grande Tête; unten: Winzer Samuel Delus; schmale Gassen in Mens, für Packesel gemacht.

Gemeinschaftssinn

In ihrem Atelier bei Clelles bestätigt die Schmuckdesignerin Dorothée Brunel diesen Eindruck. Ihre kleinen Kunstwerke stellt sie vor allem aus Abfallprodukten von Glas und gebrauchten Kaffeekapseln her. „Die Menschen, die sich hier niederlassen, haben eine Gemeinsamkeit“, erklärt sie. „Wir haben uns alle für ein ähnliches Leben entschieden, das sorgt für ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Wir versuchen gemeinsam, die Infrastruktur aufrecht zu erhalten. Und das funktioniert immer besser.“

Natürlich hat dieses Leben auch seine Nachteile. Wer in die Stadt möchte – Gap und Grenoble sind mit dem Auto ungefähr eine Stunde entfernt – oder einkaufen will, kann das kaum mit öffentlichen Verkehrsmitteln tun. „Doch wir haben eine Whatsapp-Gruppe, in der die Bewohner kundtun, wo sie hinfahren. So können andere mitfahren. Das ist praktisch und gesellig. Auch gibt es ein Elektroauto, das wir für solche Zwecke teilen.“ Die Gegend ist weniger ausgestorben, als dies auf den ersten Blick scheint. Ja, aus einigen Dörfern sind viele Bewohner weggezogen, doch andernorts ist der Gemeinschaftssinn geblieben. Das ist auch historisch bedingt, da sich hier viele Protestanten niedergelassen haben, die andernorts vertrieben worden waren. Hier konnten sie ihr eigenes Leben führen. Dieses Gefühl sitzt tief und zieht andere an.

So existiert zum Beispiel eine Route, die zu Handwerkern führt: La route des savoir-faire du Trièves. Sie führt zu Menschen wie Winzer Samuel und Schmuckdesignerin Dorothée, die ihrer Arbeit mit Leidenschaft nachgehen, das entschleunigte Leben genießen und die sich mit weniger Komfort und Luxus begnügen. Neben Bauern warten auch Töpfer, Korbflechter, Geigenbauer, Goldschmiede, Schreiner, Kaffeeröster sowie diverse Künstler auf Besucher. Von meinem Standort in La Mure, das sich leicht erhöht auf einem Grat befindet, folge ich einer Weile der Route Napoléon, jener berühmten Strecke, die der gefallene Kaiser nach seinem Exil auf Elba genommen hat, um abermals nach der Macht zu greifen. Unterwegs nehme ich eine Abzweigung zum Ende der Welt, das den kuriosen Namen Le Désert (die Wüste) trägt.

Links: der azurblaue See Lac de MonteynardAvignonet; oben: Craft-Beer in der Brasserie Matheysine; das hübsche Zentrum von Mens.

Himmlischer Gesang

Das Tal ist formvollendet. Nachdem die Straße eine Biegung macht, gibt sie für einen Moment den Blick auf die mächtigen mehr als 3000 m hohen Gipfel des Parc National des Écrins frei. Die schroffen Felsenformationen bilden einen herben Kontrast zu der lieblichen Landschaft im Tal. Ein leise vor sich hinplätschernder Bergbach, ein Dorf mit Kapelle, eine schlichte Brücke, Blumenfelder. Der Asphalt endet bei einer Handvoll Häuser in, genau, Le Désert. Dahinter beginnt eine andere Welt: das Hochgebirge. Doch man braucht kein Kletterer zu sein, um ein paar Kilometer über den Weg zu wandern. Je weiter man läuft, desto kleiner fühlt man sich hier, denn die hohen Felsen scheinen einen hier vollständig zu umschließen. Der Wasserfall La Pisse eignet sich gut als Wendepunkt. Mit dem Massif des Écrins im Rücken kehre ich vollends zufrieden in die Zivilisation zurück. Zur Krönung des Tages bietet sich nun noch ein Bad in einem der azurblauen Seen an. Oder auch ein Gläschen auf einer Terrasse am Wasser wie der von La Guinguette – inklusive ihrer fürstlichen Aussicht auf den Lac du Sautet und das Massif du Dévoluy in Richtung Süden.

Am Abend schlendere ich noch ein wenig durch die Altstadt des Örtchens Corps. Auf dem Weg zur Machtergreifung hat Napoleon hier übernachtet. Ein Schild an der Fassade eines Hauses erinnert daran. In der Abenddämmerung höre ich durch die offenen Kirchentüren einen himmlischen Gesang. Ich suche einen Tisch fürs Abendessen und schmiede einen Plan für meinen letzten Tag in der Region.

Vom See in die Schlucht

Eigentlich stand das große Kloster Notre-Dame de la Salette auf dem Programm, doch davon sehe ich ab, weil ich mich noch ein letztes Mal treiben lassen möchte. Frei sein, mal links abbiegen und dann wieder rechts. Also folge ich einer Straße, die am Seeufer vorbei durch die Schlucht von Le Drac führt, um über eine große Brücke die Fahrt zu Dörfern und Weilern zu erlauben, die im Morgenlicht leuchten. Auf einmal denke ich: Hier war ich schon mal. Das Prébois von Winzer Samuel, das ökologische Zentrum Terre Vivante mit seinen Gärten, Clelles mit dem wunderbaren Bistrot de la Place und links die steilen Wände von Vercors. Über schmale Sträßchen geht es auf und ab, als würde ich mich zwischen Himmel und Erde fortbewegen. Und dann geht es plötzlich eine Passstraße hinauf, zum Col de l’Arzelier. Auf einmal merke ich, dass ich mich nicht mehr im tiefsten Süden der Isère befinde. Die Region hat mich sanft von dannen ziehen lassen.

Links: das Dorf Mens: oben: Weiler auf dem Weg nach Le Désert; schlichte Schönheit in Prébois.