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Im Land von Ebbe und Flut

Kurorte aus der Belle Époque, Austern, Leuchttürme, Wellenreiter, Bootsfahrten und Nadelwälder machen die französische Westküste zu einem attraktiven Reiseziel.

Ein Küsten-Trip am Atlantik von Arcachon nach Rochefort.

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CÔTE D’ARGENT, CÔTE DE BEAUTÉ & CÔTE SAUVAGE

Im Hafen von Arcachon wartet die Empreint auf mich, das Boot von Patrick und Laurent. Die beiden Freunde – natürlich mit gestreiftem T-Shirt, Tätowierungen und wilden Haaren – organisieren Bootsfahrten im Bassin d’Arcachon. Der joviale Patrick manövriert am Steuer und erklärt, der zurückhaltende Laurent schenkt den Wein ein und serviert herrliche Häppchen. Als die Männer vernehmen, dass ich schon seit ein paar Stunden an der Küste bin und noch keine Austern verkostet habe, reagieren sie fast empört. „C’est impossible!” Das geht aber wirklich nicht! Patrick telefoniert mit einem kleinen Restaurant in Cap Ferret und im Nu steht eine brünette Dame lächelnd am Strand, watet durch die Brandung und reicht uns eine großzügige Schale Austern mit Zitronenvierteln. Dass ihre Hosenbeine nass werden, stört sie nicht.

„Restaurant“ ist in diesem Falle übrigens ein großes Wort, denn Cap Ferret sollte nicht verbaut werden, sondern sein ursprüngliches Aussehen erhalten. Das ist gelungen, Häuser dürfen die Baumwipfel nicht überragen und Gastronomie ist nur begrenzt zugelassen. Ausschließlich Austernzüchter dürfen in der Bucht ein Strandlokal betreiben. Das Angebot ist klar begrenzt: Austern, große Garnelen, Wellhornschnecken, Pasteten, Brot mit gesalzener Butter, Weißwein, Rosé und Wasser. Sonst nichts, nicht einmal Rotwein oder Kaffee. Laurent zeigt, wie man eine Auster isst. „Ganz einfach,“ sagt er.

„Den Muskel, mit dem die Auster sich an der Schale festhält, trennt man mit der Seite der Gabel durch, dann etwas Zitrone hineingeben und die Auster direkt aus der Schale schlürfen.“ Er warnt vor der tripoliden Auster, also genmanipulierten sterilen Exemplaren. „À éviter“, zu vermeiden. Patrick zufolge ist sie an der Form der Schale zu erkennen, das eine Ende kräuselt sich nach oben. Der Etikette nach gehört es sich übrigens nicht, die ausgeschlürften Schalen ins Meer zu werfen, für Badegäste sind die scharfkantigen Schalen nämlich eine unwillkommene Überraschung.

Auf Stelzen

Wie Patrick erzählt, ist der südlichste Zipfel der Presqu’île, also der Halbinsel Cap Ferret, Eigentum von Benoît Bartherotte. Der Mittsiebziger verbrachte als kleiner Junge seine Sommerferien am Cap Ferret, später erstand er ein großes Grundstück, das er bis heute mit Mann und Maus gegen die Erosion und das gierige Wasser verteidigt, indem er tonnenweise Schutt im Meer versenkt.

Neugierige Zaungäste werden nicht toleriert, Bartherotte hat nicht einmal davor zurückgeschreckt, zwei Fischer, die auf sein Gelände kamen, unter Beschuss zu nehmen. Sie könnten ja die Ruhe seiner Gäste stören – der Prinz von Monaco, Isabelle Adjani, Leonardo DiCaprio und andere waren schon hier. Der Schriftsteller Frédéric Beigbeder war einst ein Pariser Dandy. Heute ist er bekannt als der

Einsiedler von Guétary, das südlich von Biarritz liegt. Er schildert in Un barrage contre l'Atlantique (2022) Bartherottes wahnwitzigen Kampf gegen das steigende Wasser. Er schrieb das Buch als Gast von Bartherotte am Cap Ferret, wo der Ozean und das Bassin d’Arcachon zusammentreffen. Die Größe des Bassins ist übrigens sehr veränderlich. Bei Ebbe ist es kaum 60 Quadratkilometer groß, bei Flut erstreckt es sich über fast 160. Wenn die Flut steigt, bleiben nur ein Teil der Île aux Oiseaux und zwei Cabanes tchanquées über Wasser, große Holzhütten, die auf hohen Stelzen stehen.

Kulturwald

Das Land hinter den Dünen ist ein regionaler Naturpark, der vornehmlich aus Wäldern besteht, die im Auftrag von Napoleon III. angelegt wurden. Ursprünglich war die Gegend um Bordeaux sandiges Sumpfland, wo ständig Krankheiten und

Erosion auf der Lauer lagen. In dem Bemühen, die Gegend bewohnbar zu machen, startete der Kaiser 1857 ein Aufforstungsprojekt. Landbesitzer wurden verpflichtet, Nadelbäume zu pflanzen. Die blühende Forstindustrie ist in dieser Gegend bis heute neben dem Weinbau der größte Wirtschaftszweig; das Holz wird hauptsächlich zu Papier oder Pellets verarbeitet. Die Wälder und die ebene Landschaft sind ein Paradies für Radfahrer.

Mitten in den Wäldern liegen die Seen Lacanau und

Aufschlagseite links: rustikal-schöner Blick auf Cap Ferret von der Bucht aus; rechts: Buchhandlung Corinne in Soulac-surMer. Linke Seite, v.l.n.r.: Patrick und Laurent, die Bootsführer von Des Hommes et des Mers; frische Austern; der rot-weiße Phare de la Coubre.

Oben: Strandrestaurant.

Hourtin, seines Zeichens der größte Süßwassersee Frankreichs. Es sind Oasen für Wassersportler, die hier nicht auf Ebbe und Flut zu achten brauchen. Lacanau-Océan liegt nur wenige Kilometer vom See entfernt und ist bei Surfern wegen der hohen Wellen sehr beliebt, dieses Stückchen Küste gehört zum Golf von Biskaya. Hier findet jedes Jahr im August der Surfwettbewerb Lacanau Pro statt. Auch Anfänger aber kommen hier auf ihre Kosten, zum Beispiel in der Surfschule Big Mama. Anfang des 20. Jh. gab ein Dichter dem Küstenabschnitt den schönen Namen Côte d’Argent (Silberküste), an der Lacanau und Arcachon liegen. Sie erstreckt sich über mehr als 200 Kilometer in einer fast schnurgeraden Linie von der Mündung der Gironde bis zum Fluss Adour nördlich von Biarritz.

Nostalgie in Soulac-sur-Mer

Arcachon ist bekannt für seine Häuser aus der Belle Époque, die in der Ville d'Hiver stehen. Die Winterstadt ist ein höher gelegenes, sehr grünes Viertel. Auch die Badeorte nördlich von Arcachon punkten mit wunderschönen Villen. In Soulac-surMer hat das Tourismusbüro einen Circuit des villas soulacaises zusammengestellt: Eine zwei Kilometer lange Spazierroute entlang pracht- und fantasievoller Häuser, die an der Basilique Notre-Dame-de-laFin-des-Terres beginnt. Im Sommer stehen Strandkörbe mit blau-weiß-gestreiftem Tuch verstreut auf den breiten Sandstränden von Soulac. Dasselbe Blau schmückt die Fassade der Librairie de Corinne. Die gut sortierte Buchhandlung ist ein „petit paradis du livre, en bord de mer“. Zusammen mit den Villen und kleinen Strandcafés wie Martine à la plage (benannt nach der süßen Kinderbuchheldin) verbreitet Soulac eine angenehme Nostalgie –zumal es hier keine modernen Hochhäuser gibt. Von Soulac aus ist das etwa acht Kilometer entfernte Port de Talais ein schönes Ausflugsziel. Der ehemalige kleine Hafen zählt etwa 30 blauweiße Häuschen. Françis, der im Zweiten Weltkrieg geboren wurde, ist einer der stolzen Besitzer – und geistiger Vater des blau-weißen Anstrichs. „Es sind die Farben der Fähre über die Gironde, wo ich gearbeitet habe“, erklärt er. Ein Foto seines Großvaters aus dem Ersten Weltkrieg ziert die Wand seiner vier mal fünf Meter großen Cabane, sein Vater war in der Austernfischerei beschäftigt. Françis’ Tochter kommt mit ihren Kindern gerne in dieses Häuschen. „Sie joggt viel, speziell für sie habe ich eine Dusche eingebaut“, sagt er und zeigt stolz sein winziges Badezimmer. Die Ferienwohnungen hier sind für die Menschen aus der Gegend gedacht. Außerdem erfahre ich, dass man hier im

Guinguette Le Relais de Sophie gut Austern essen kann. Guinguettes sind kleine SommerRestaurants, die ursprünglich eine Bühne für Dorffeste mit Musik und Tanz waren. Anwohner bieten Besuchern von Port de Talais schon mal spontan einen Aperitif an, erzählen Françis und sein Nachbar. Gut gelaunt empfehlen sie das hiesige Austernfest Fête de l’Huître, das am zweiten Samstag im Juli steigt.

Entlegener Winkel

Lange Zeit war die vom Mündungsarm der Gironde und dem Atlantik umgebene Landzunge nordwestlich von Bordeaux ein vergessenes Stückchen Frankreich. Das änderte sich, als die Fähre über die Gironde zwischen Le Verdon-sur-Mer und Royan kam. Sie kann nur bei Flut fahren, aber die Wartezeit stellt kein Opfer dar. Sie lässt sich wunderbar mit einem schönen Lunch in einer Pêcherie vertreiben, oder beim Spaziergang nach Pointe de Grave, der an einem Leuchtturm, Pinien und üppigen Teppichen aus Steinkraut vorbeiführt, dessen zierliche weiße Blüten einen starken Duft verbreiten. Vom Ufer und während der Überfahrt ist der Cordouan zu sehen, der älteste Leuchtturm des Landes, der noch in Betrieb ist. Die Trichtermündung von Gironde ist ein Ästuar, wo sich das süße Flusswasser und das salzige Meerwasser in der seichten Bucht zu Brackwasser mischen. Dieses größte Ästuar Westeuropas entstand aus dem Zusammenfluss der Dordogne und der Garonne und es erstreckt sich zwischen Mooren, sumpfigem Grasland, Kalkfelsen und den Weingärten des Médoc. Im Watt und auf den Salzwiesen leben besondere Tiere und Pflanzen. Blaureiher, kleine Silberreiher, Storch sowie Wanderfische wie Stör, Aal und das blutrünstige Meerneunauge (Lamproia marine) sind hier zu finden. An den Ufern stehen die charakteristischen Carrelets, Fischerhütten auf Stelzen mit speziellen Netzen: quadratische Fischernetze an zwei gekreuzten Stangen, die von der Hütte aus hochgezogen werden.

Gesund und salzig

Nördlich der Gironde heißt die Küste Côte de Beauté Nicht nur wegen ihrer eigenen Schönheit, sondern auch, weil sie der Schönheit der Besucher zuträglich ist, Franzosen schwören auf die Thalasso-

Links oben: Honigverkäufer auf dem Mittwochsmarkt von Saint-Vivien-de-Médoc; unten: die blau-weißen Häuschen von Port de Talais, mit Françis' „Cabane“ im Vordergrund. Oben links: eine junge Dame serviert Austern an Bord; rechts: Place Colbert in Rochefort in der Nachmittagssonne.

Therapie. Viele kommen mehrmals im Jahr zur Meerwasserkur hierhin. Es ist reich an Salzen, Spurenelementen und Algen. Auch in Royan ist diese Behandlung beliebt, die bis vor 20 Jahren von der Krankenkasse finanziert wurde. Doch man kann natürlich auch einfach nur ins Meer hüpfen. In Royan befinden sich einige geschützte Sandstrände. Mal sind die gesäumt von Belle-ÉpoqueVillen, Carrelets und Terrassen (etwa die Plage Bureau in Saint-Palais-sur-Mer mit dem beliebten Restaurant Chez Bob), dann wieder sind sie von Dünen und Wald umgeben. Der Wanderweg Sentier des Douaniers verbindet die Strände miteinander. Über dem Strand bei Palmyre wacht wieder ein Leuchtturm. Er hat 300 Treppenstufen, eine weniger als der Leuchtturm von Cordouan. Es ist schon der dritte Turm an dieser Stelle, seine Vorgänger aus Holz und Stein hat sich die Flut geholt. Der heutige Turm mag zwar auf Stahlbeton gebettet sein, doch auch sein Untergang naht: Ursprünglich stand er ganze zwei Kilometer landeinwärts, jetzt trennen ihn nur noch 200 Meter vom Ufer. Vorläufig bietet der Turm eine wunderbare Panoramaaussicht auf die See, den Strand und die geordneten Nutzwälder der Côte Sauvage. Nur wenige Kilometer entfernt etwas außerhalb des reizvollen Dörfchens Mornac-sur-Seudre gewinnt der Salzbauer Sébastien Rossignol auf traditionelle Weise Meersalz. Er erzählt, dass in dieser Gegend im 18. Jh. mehrere tausend Salzbauern aktiv waren und kein einziger Austernzüchter. Heute tummeln sich hier tausende Austernzüchter, aber nur noch drei Salzbauern. „Wir haben von Juni bis September Saison und arbeiten mit fünf Elementen: Meer wasser, Sonne, Wind, Ton und menschlicher Kraft. Ich benutze Wasser aus dem Fluss Seudre, der bei Île d’Oléron mündet. Das Brackwasser leite ich in die Salzpfannen, dann tut die Natur ihr Werk. Sonne und Wind lassen das Wasser in den Becken verdunsten, nach zehn bis 20 Tagen kann ich ernten. Das Salz, dass ich morgens früh herausschöpfe, enthält Sedimentteilchen wie Ton und ist deshalb grau, der Handel verkauft es grobes graues Meersalz. Mittags, wenn die Sonne das Wasser erwärmt hat, „pflücke“ ich an windstillen Tagen die feinen Salzkristalle, die auf dem Wasser treiben, mit einem Lousse à fleur, einem feinmaschigen flachen Sieb an einem langen Stiel. Das ist Fleur de Sel, also die Salzblüte. Auf 100 Kilo graues Meersalz ernte ich durchschnittlich sieben Kilo Fleur de Sel, deshalb ist dieses feine klare, handgeschöpfte Meersalz zehn Mal so teuer.“

Illustre Figuren

Rochefort ist fast völlig von einer Schleife umgeben, die der Fluss Charente hier macht. Vor den Toren des Städtchens hilft die Fähre Pont Transbordeur Fußgängern und Radfahrern ans andere Ufer. Eine hübsche Ingenieurleistung, denn die riesige Gondel scheint über dem Wasser zu schweben. Im Ort sind vor allem das Musée de la Marine, die Corderie Royale (die 374 Meter lange ehemalige Seilerei) und der kleine Hafen interessant. Einiges erinnert an die Vergangenheit als Arsenal; Ludwig der XIV. machte den Ort zur Werft für Kriegsschiffe. Ein farbenfrohes Standbild erhebt sich über der Place Colbert, es erinnert an den Musikfilm Les Demoiselles de Rochefort (Die Mädchen von Rochefort) von 1967 mit Catherine Deneuve und ihrer Schwester Françoise Dorléac in den Hauptrollen. Rocheforts bekanntester Bürger war vermutlich Julian Viaud (1850-1923). Der Schriftsteller und

Seefahrer war eine schillernde Figur, die auch unter dem Namen bekannt war, den er von der Königin von Tahiti bekommen hatte: Pierre Loti. Sein Haus ist nun ein Museum, das gerade renoviert wird. Es sollte anlässlich seines 100. Todestages wiedereröffnet werden, aber dieses Ziel erwies sich als zu ehrgeizig. Es ist ja auch nicht irgendein Haus: Loti hatte sich bei der Einrichtung von seinen Reisen inspirieren lassen, also verfügt es unter anderem über einen blauen Salon, ein türkisches Zimmer und einen chinesischen Saal. Zur Einweihung des Saals gab Loti ein großes Fête chinoise mit mehr als 200 Gästen in Marineuniformen und Kostümen aus dem fernen Osten.

Zum Schutze des Städtchens mit seinem Arsenal zogen die Franzosen an der Küste Festungen hoch, die bekanntesten sind Fort Boyard und Fort Vauban. Auch hier bestimmen die Gezeiten das Bild, mal hohe Fluten und aufgewühltes Wasser, dann wieder endlose Strände und Schlick. Ein Küstenweg führt vorüber an Festungen, Fischerhütten und Villen aus der Belle Époque auf die Halbinsel von Fouras, wo es Austern für einen Euro gibt. An ihrer Spitze legt die Fähre zur Ile d’Aix ab, einer Insel mit weißen Fischerhäuschen, die wie ein i-Tüpfelchen die Erkundung dieser Ecke Frankreichs perfekt abrundet.

Links: Cap Ferret vom Bassin d'Arcachon aus gesehen. Oben von links nach rechts: Lucas und seine Kollegin vom Club de Voile Lacanau Guyenne am Lac de Lacanau; Wandmalereien am Phare de la Coubre; stattliche Villa mit Meeresblick am Boulevard de la Côte d'Argent in Royan.