vision.salzburg 02/22

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STARK durch LIEBE

TEXT MARKUS DEISENBERGER FOTOS BETRA BARATOVA

≈ Wie würden Sie Judith beschreiben? Wie sieht es in den Abgründen ihrer Seele aus? Judiths Charakter und die Beweggründe, mit Blaubart eine Beziehung einzugehen und sie zu vertiefen, unterscheiden sich von Inszenierung zu Inszenierung. Das ist das Schöne an dieser Oper, dass sie sehr viele Möglichkeiten für unterschiedliche Interpretationen anbietet. Eine Judith, die ich sang, war eine verzweifelte Frau in einer langjährigen Ehe, die die abgestumpfte Routine endlich einmal durchbrechen und alte Probleme, die all die Jahre unter den Teppich gefegt wurden, ans Tageslicht bringen wollte. Sie war kompromisslos und durch ihre Bereitschaft gestärkt, die Beziehung endlich zu beenden, wenn sich nichts weiter ändert. In einer anderen Inszenierung war Judith eher das Opfer: eine naive, neugierige Braut, die gerne nach dem Liebesakt kuscheln und plaudern möchte, und überhaupt nicht vorbereitet ist auf das, was dann auf sie zukommt. Ich glaube, in Salzburg wird wieder eine andere Interpretation im Vordergrund stehen, und ich freue mich auf die »neue« Judith, die wir zum Leben erwecken werden. ≈ Wie nahe fühlen Sie sich ihr? Die erwachsene, reife, zu einer tiefen und wahren Verbindung strebende Judith ist mir am nächsten. Wie sie, will

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fe st sp ie l _ sp e c ial

DIE LITAUISCHE SOPRANISTIN AUŠRINE STUNDYTE SINGT DIE JUDITH IN »HERZOG BLAUBARTS BURG«. MIT VISION.SALZBURG SPRACH SIE ÜBER ABGESTUMPFTE ROUTINE IN DER BEZIEHUNG UND DIE ULTIMATIVE LIEBE. auch ich meinen Partner ganz und voll kennen und verstehen, auch das Dunkle und scheinbar Schamhafte. Alles, was man am liebsten von der Welt und sogar vor sich selbst zu verstecken versucht, will ich umarmen. Und dasselbe erhoffe ich von meinem Gegenüber. Das »naive Opfer« ist weniger interessant für mich. ≈ Wie ohnmächtig ist man als Frau in einer heute sogenannten toxischen Beziehung? Was tun, wenn die Fassade fällt? Heute ist man als Frau genauso frei, zu gehen wie ein Mann. Die Beziehung besteht aus zwei Menschen, und die Dynamik darin ist weniger vom Geschlecht und mehr von Persönlichkeit bestimmt. Ich habe in meiner Beobachtung von Beziehungen sehr oft gerade die Männer als »Opfer« erlebt, und die Frauen als »Täter«. Mir gefällt dieser Krieg der Geschlechter nicht, der sich gerade zuspitzt. Es gibt für mich keine Frauen und Männer. Es gibt Menschen, Charaktere und Persönlichkeiten. Sie sind schwächer oder stärker, und im Zwischenspiel mit den anderen kommt die eine oder andere Seite zum Vorschein. Das Schwerste, aber auch das Schönste ist es, eine Balance zu finden. ≈ Die Macht der Liebe. Was kann sie, was kann sie nicht überbrücken?

Was ist eigentlich die wahre absolute Liebe? Kann sie jemand wirklich beschreiben? Wenn man annimmt, dass sie nicht die romantische, die besitzergreifende Liebe ist, was ist sie dann? Ich persönlich empfinde die ultimative Liebe als Zulassung und Annahme des Ist-Zustands. Solch eine Liebe kann (fast) alles überbrücken. ≈ Sie haben in Salzburg die Elektra gesungen, die sie selbst als »schwarzen Puma« bezeichnet haben? Wie sehen Sie Judith im Gegensatz zu ihr? Schwach? Überhaupt nicht schwach. Aber reif und weise. Und sie ist sehr stark aufgrund ihrer Liebe und Empathie. Sie ist nicht so besessen und selbstzerstörerisch wie Elektra. Judith kämpft mit unerlässlicher Liebe und Zärtlichkeit. Das ist ein anderer Weg − aber nicht unbedingt der leichtere. Vielen Dank für das Gespräch.

Aušrine Stundyte stammt aus Vilnius und studierte Gesang an der Litauischen Musikakademie und an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. Sie begann ihre Karriere mit Auftritten an der Oper in Leipzig. 2019 feierte sie als Salome ihr Hausdebüt an der Wiener Staatsoper. 2020 gab sie als Elektra ihr Salzburger-Festspiel-Debüt.


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