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Das Praxis-Abenteuer

von Dr. Margareta Bögelein

Von der Pflicht bis zur Kür

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Fotos: Linke Seite: Jedes Jahr bringen Bauingenieur-Studierende das Gelände rund um die Coburger Hütte in Schuss. (Foto: Thomas Engel, DAV 2015) Rechte Seite: Auf der Heim + Handwerk beraten Studierende die Besucher. Wie merkt man, ob einem die eine oder die andere Sportart mehr Spaß macht? Durch Ausprobieren. Viel wichtiger ist die Frage nach der Freude am Tun bei der Berufswahl, doch die Methode ist die gleiche. Junge Menschen sollen daher bereits im Studium die Möglichkeit haben, sich mit dem favorisierten Beruf und seinen Herausforderungen in der Praxis auseinandersetzen. Die Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) haben die Berufspraxis von Anfang an im Blick und systematisch in das Studium integriert.

Bereits bei der Berufung neuer Professorinnen und Professoren wird darauf geachtet, dass sie enge Kontakte zur Praxis mitbringen. Für eine Professur an einer HAW sind – anders als bei anderen Hochschularten – besondere Leistungen bei der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse außerhalb des Hochschulbereichs zwingende Voraussetzung. Die Studierenden profitieren nicht nur in den Vorlesungen von den Beispielen aus der Praxis.

Prof. Dieter Sitzmann, der bis zum Ende des Wintersemesters 2020/21 an der Hochschule im Bereich Wasserbau und Siedlungswirtschaft lehrte, ermöglichte seinen Studierenden Praxiserfahrungen der besonderen Art. Jeden Sommer bietet er Studierenden an, rund um die Coburger Hütte des Deutschen Alpenvereins mit Blick auf die Zugspitze den Klettersteig „Hoher Gang“ auszubessern, die Wasserfassung der Hütte zu reparieren oder Wanderwege und Treppenanlagen in Schuss zu halten. Er sagt: „Das sind Praxiserfahrungen in einem ungewöhnlichen Umfeld, die viel Planung im Voraus und Teamarbeit verlangen. Denn dort gibt es keinen Baumarkt, in den man schnell mal fahren kann, wenn Schrauben fehlen.“

Wichtig ist ihm, dass die jungen Menschen lernen, Verantwortung zu übernehmen und sich aufeinander verlassen zu können. Deshalb liefen die Einsätze auch außerhalb des Lehrplans in die Freizeit. Damit das Projekt von Jahr zu Jahr weitergetragen wird, gibt es immer zwei bis drei Studierende, die ihre Erfahrungen als Paten an den nächsten Jahrgang weitergeben.

Pflicht-Praxissemester Mit dem obligatorischen Praxissemester, das systematisch in das Studium integriert ist, haben die deutschen HAWs international ein Alleinstellungsmerkmal. Konkret bedeutet das: Seit 50 Jahren verfügen die (Fach-)Hochschulen über ein breites Netz an Praxispartnern. Die Studierenden bewegen sich während ihres Praxissemesters – anders als bei einem freiwilligen Praktikum – in einem gesetzlich klar geregelten Umfeld, sowohl im Hinblick auf ihren Studierendenstatus, als auch auf die sozial- und arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen, die in standardisierten Verträgen mit den Praxispartnern festgelegt sind. Prof. Dieter Sitzmann, der Studierende und Praxispartner etliche Jahre als sogenannter Praxisbeauftragter betreute, fasst seine Erfahrungen so zusammen: „Bei meinen Projekten mit Praxispartnern saß ich oft ehemaligen Studierenden gegenüber. Denn oftmals ist die Praxisstelle auch die spätere Arbeitsstelle. In fast jedem Ingenieurbüro, in den Wasserwirtschaftsämtern und den kommunalen Abwasserverbänden in der Region arbeiten Absolventinnen und Absolventinnen von uns.“

In der Regel wird das Praktikum im vierten oder im fünften Semester absolviert. Das bietet den Studierenden die Chance, ihr erworbenes Grundlagenwissen anzuwenden und gleichzeitig zu erfahren, welche fachliche Richtung sie in den folgenden zwei oder drei Semestern vertiefen möchten. Die fachlichen und persönlichen Erfahrungen, die die Studierenden während ihres Praxissemesters machen, werden in begleitenden Seminaren an der Hochschule reflektiert und so für das weitere Studium nutzbar gemacht.

Es gibt aber noch mehr Möglichkeiten: Erfahrungen in der Kundenberatung können beispielsweise die Innenarchitektur-Studierenden der Hochschule sammeln. Bei der Messe Heim + Handwerk in München beraten sie seit 2006 die Besucherinnen und Besucher kostenlos. Dozentin Verena Fritsch bereitet sie darauf vor und begleitet sie. Die Besucherinnen und Besucher können ihre Ideen von den angehenden Profis überprüfen lassen oder erhalten Vorschläge und Tipps zu passenden Ausstellern auf der Messe.

Auch durch Unternehmensprojekte kommen die Studierenden frühzeitig in Berührung mit der Praxis. Prof. Gerhard Kampe aus dem Studiengang Integriertes Produktdesign pflegte beispielsweise bis zu seinem Ausscheiden aus der Hochschule im Frühjahr 2021 enge Kontakte zu Villeroy und Boch und davon profitierten auch seine Studierenden.

Fotos: Linke Seite: Die Entwürfe entstanden in studentischen Projekten mit Villeroy und Boch. Rechte Seite oben: Das futuristische Modell eines Fluggerätes wurde bereits 2007 entworfen. Rechte Seite unten: Die Konzeptstudie stammt aus einem Projekt mit dem Coburger Unternehmen Brose.

Prof. Kampe erzählt: „Mit Villeroy und Boch habe ich seit 2003 regelmäßig studentische Projekte gemacht, das letzte im Wintersemester 2020/21.“ Er fasst seine Beobachtungen so zusammen: „In den Projekten lernen die Design-Studierenden, ihre Entwürfe und die dahinterstehenden Ideen so zu präsentieren, dass der Auftraggeber sie versteht. Und sie lernen, sich empathisch in die künftigen Nutzer ihrer Produkte hineinzuversetzen.“ Ein halbes Jahr in einem Unternehmen oder einer sozialen Einrichtung mit Kolleginnen und Kollegen zusammenzuarbeiten, sich in kleineren oder größeren Projekten beweisen zu können und die eine oder andere zwischenmenschliche Hürde zu nehmen – das bringt Lebenserfahrung, eröffnet aber auch Wege für die Zeit nach dem Studium. Und für die Arbeitgeber ist es eine gute Gelegenheit, engagierte Mitarbeitende für sich zu gewinnen.

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