theaterTREFFENText DIENSTAG 3. Juni

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Treffen

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25. theatertreffen deutschsprachiger schauspielstudierender

dienstag, 3. juni 2014

Kaukasus ein Kubus Die Theaterakademie Hamburg zeigt Ein Held unserer Zeit nach dem Roman von M.J. Lermontow „Du willst Soldat sein. Siehst aus wie ein Model.“ So wird der Protagonist Petschorin, gespielt von Pablo Konrad, nach wenigen Minuten von einem Soldatenkollegen beschrieben. Petschorin trägt einen schicken schwarzen Anzug mit GlitzerDetails, das lange Haar ist lässig nach hinten gebunden. Keine Frage: Er hat ein souveränes Auftreten. Ein moderner Lebemann, ein spielerischer Casanova, der sich nicht entscheiden möchte: Will er die Tscherkessen-Prinzessin Bela oder lieber die schöne Fürstin Mary oder am Ende doch nur eine heiße Affäre mit der verheirateten Vera. Die Frauen bestimmen sein Leben ebenso wie die Langeweile, die ihn immer wieder einholt. Seine Heimat, der Kaukasus, und seine Damen reichen ihm nicht. Er ist rastlos, möchte immer weiter, ständig auf der Suche nach neuen (Liebes-)Abenteuern. In M. J. Lermontows Romanvorlage Ein Held unserer Zeit ist Petschorin ein melancholischer Dandy, ein pessimistischer Fatalist. Nicht so bei Pablo Konrad. Ein phantastischer Roman der russischen Romantik wird hier zum klamaukigen Melodram: eine Kreuzung aus Disney-Musical und Charlie-ChaplinStummfilm? Die Schauspieler haben nur 60 Minuten Zeit, einen rund 210 Seiten Roman auf die Bühne zu bringen. Der Regisseur Johannes Enders entscheidet sich für einen interessanten Ansatz: Alle sind zugleich Erzähler und Akteure. In der dritten Person beschreiben sie ihre eigenen Charaktereigenschaften und Handlungen sowie die der Anderen, während sie nur einen

Moment später das spielen, wovon sie gerade noch, frontal zum Publikum, sehr sachlich berichtet haben. Sie wechseln sich ab. Dadurch entstehen zuweilen unheimlich komische Situationen. So sitzt

Peng Peng.

Foto: Christian Enger

Gruschnitzki mit Petschorin in der Badewanne, erhebt sich kurz, um über sich selbst festzustellen: „Dieser Gruschnitzki ist ziemlich witzig.“ Das ist Mio Neumann in der Tat, der sowohl diesen Bengel als auch Asamat spielt. Er wirbelt, fällt und tanzt über die Bühne, entwickelt sich

vom eher schüchternen Jungen zum überzeichneten Musical-Star, der mit seiner Duett-Partnerin Sophie Krauß ein schrilles Lovesong-Medley trällert. In Enders’ Inszenierung stehen die Schauspieler im Zentrum: Sie spielen, singen, spaßen. Johanna Link schillert als Bela über die Bühne, bezirzt ihre Bewunderer mit Konfetti-Regen und wird im Pantomime-Duell mit Petschorin vom scheuen Bambi zur aufmüpfigen Trauben-Fresserin. Spitzbübisch und sinnlich zugleich. Johannes Enders’ Arbeit springt zwischen unterschiedlichen Genres hin und her; der Theatermacher will sich nicht so recht entscheiden: klassisches Liebesdrama mit kitschigen Musical-Einlagen, spontanes Mitmach-Theater inklusive Wodka fürs Publikum und düsteres Gesellschaftsportrait mit finalem Schießduell in einem Paket. Im Kontrast zu den überzeichneten und verspielten Figuren steht das reduzierte Bühnenbild: in der Mitte nur ein hölzerner Kubus, der als Klettergerüst sowie als kinematographischer Schaukasten dient – darum wölbt sich kahle weiße Wand. Mehr ist da nicht. Das Bühnenbild: ein sehr minimalistischer Kaukasus. Ein entrückter, für uns fremder Ort, der doch austauschbar und universell ist. Die Projektionen an den weißen Seitenwänden werden zu Spiegeln und Fenstern. Während im einen Moment dort die Personen kopfüber und ein wenig verzerrt abgebildet werden, schauen sie im nächsten in die Ferne – in die Leere dieser Welt. Julia Weigl


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kritik

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Gespenster Die Hochschule für Musik und Theater Leipzig zeigt mit dem Schauspielstudio Dresden Juli Zehs politisches Stück Corpus Delicti Nur ein paar Jahrzehnte in der Zukunft wird Deutschland von einem System regiert, in dem Gesundheit alles ist. Die Parole lautet „Santé“. Jeder Bürger hat sich durch Sport und die unbedingte Vermeidung toxischer Substanzen wie Tabak gesund zu halten. Die Höchststrafe für Vergehen besteht in der als „Einfrieren auf unbestimmte Zeit“ getarnten Todesstrafe. In Corpus Delicti von Juli Zeh ist der Körper selbst zum potenziellen Verbrecher geworden. Die von Marie Luise Lichtenthal entworfene Bühne ist eine sterile Mischung aus Seziertisch und Macbook. Zwei an einer Seite offene Quadrate mit abgerundeten Ecken greifen ineinander. Diese Konstruktion kann Gerichtssaal sein, wie einsames Appartement oder Bach und wilder Wald. Die Schauspieler treten darin stark als Kollektiv auf, rezitieren gemeinsam, stecken in etwas skurrilen, leicht futuristischen Kostümen. Ein Gerichtsprozess wie aus einem Alptraum Kafkas beginnt. Das Prusten, das sonst bei jeder unpassenden Gelegenheit durch die Muffathalle schallt, verstummt.

für den Zuschauer der sichere Anhaltspunkt in dieser Dystopie. Kilian Land und Nadine Quitter sind Gespenster. Sie geben den etwas sehr selbstbewussten Außenseiter Moritz und die Ermordete Sibylle, die am eigenen schönen Körper leiden und sterben musste. Die beiden streifen mahnend um das Geschehen im Gerichtssaal oder erwachen in filmschnittartigen Rückblenden zum Leben. Den jungen Schauspielern gelingen diese teils harten Wechsel problemlos.

Juristen sind machtlos

Todesstrafe Einfrieren Mia Holl ist angeklagt. Es geht um verschiedene Verstöße gegen geltendes Recht zum Schutze der Gesundheit. Sie hat geraucht und zu wenig Sport getrieben. Aber das ist nur der Vorwand. Dem Gericht und den Medien geht es um den Selbstmord ihres Bruders Moritz. Der hat sich, der Vergewaltigung und des Mordes angeklagt, im Gefängnis erhängt. Eine eindeutige DNA-Analyse hatte ihn des Verbrechens überführt. Nina Gummich verkörpert diesen Leidensweg Mia Holls durch ein System der Angst und Überwachung. Sie wirkt intelligent und verletzlich. Sie ist

Körperwelten-Zitat? Foto: Matthias Horn

Lukas Mundas und Justus Pfankuch als Journalisten begleiten das Geschehen mit der Kamera, die live auf eine Leinwand oberhalb der Bühne überträgt. Die mediale Überwachung ist in diesem Staat allgegenwärtig und die Zuschauer finden sich als anonyme Beobachter zu Komplizen gemacht mitten im Geschehen wieder. Die Überwachung ist perfekt und nahtlos fügt sich die Performance der beiden an: Die aalglatten Skandaljournalisten Kramer und Würmer vertreiben mehr als einmal alle anderen Gespenster von der Bühne. Die Angst ist ihr Metier. Juristen sind gegen die Macht der Medien hilflos: Max Rothbart als Anwalt Rosentreter spielt den liebenswürdigen Trottel mit zerzaustem Haar und fliegender Aktentasche, Pauline Kästner die cholerische und überforderte Richterin Sophie. Die SlapstickEinlagen funktionieren, wären aber nicht unbedingt für die Inszenierung nötig. Tobias Krüger als Staatsanwalt Bell redet vor allem schnell und undeutlich. Trotz großartiger Einzelleistungen funktioniert dieses Ensemble am besten im Kollektiv. Als unheimlicher Fitness-Chor oder bei den filmartigen Rückblenden. In einer Sze-


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Star Wars-Zitat?

kritik

Foto: Matthias Horn

ne beobachten Mia und Geister-Sibylle mit Blick auf den Zuschauerraum im imaginären Fernseher die reißerische Berichterstattung der beiden BoulevardJournalisten, die in ihrem Rücken gerade live aufgeführt wird. Die beiden Frauen streiten und schalten die hinter ihnen agierenden Männer immer wieder und immer schneller stumm und laut. Diese spielen virtuos mit. Eine erschreckende gute Szene, in der Kamerablick, Propaganda und Zuschauerwahrnehmung ineinander übergehen. Diese Inszenierung ist ein Versuch, politische und ästhetische Ereignisse zusammenzudenken. Juli Zeh schrieb 2009 gemeinsam mit Ilija Trojanow in ihrem Buch Angriff

Freiheit, das fast gleichzeitig mit Corpus Delicti erschien: „Bislang ist in Deutschland kein einziger terroristischer Anschlag aufgrund verschärfter Sicherheitsgesetze vereitelt worden. Viele der neu eingeführten Maßnahmen sind zum angegebenen Zweck der Terrorismusbekämpfung erwiesenermaßen ungeeignet. Politiker argumentieren für mehr Überwachung mit falschen Tatsachen und widersprüchlichen Angaben; Juristen versteigen sich in absurden Denkbeispielen, um die Folter wiedereinzuführen; Journalisten agieren ohne kritische Distanz als Propheten einer amorphen Bedrohung. Es herrscht Angst. Angst verkauft Zeitungen, Angst bringt Wählerstimmen, Angst auf die

cult:online

treibt Sicherheitspolitik zu Höchstleistungen, Angst ist nicht mehr wegzudenken aus Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsprognosen.“ Die Angst vor den Gespenstern vergangener und gegenwärtiger Fehler, aber noch mehr die Angst vor geistlos agierenden Körpern. Ein Phänomen, das den Medien gut bekannt, dem Theater jedoch fremd ist. Der Körper wie die Daten sind auf der Bühne kein corpus delicti, sondern ein notwendiges Gegenprogramm, welches zeigt, dass kein handelnder Mensch durch eine DNS-Analyse zu fassen ist. Diese Inszenierung und die Schauspieler haben den Beweis erbracht. Nicolas Freund

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Vom falschen Leben Simon Stephens wird auf dem diesjährigen Theatertreffen gleich zweimal auf die Bühne gebracht „Do I think of myself as the Iggy Pop or David Bowie of British theatre? Or the David Hasselhoff? Big in Germany…“, war Simon Stephens lässige Reaktion auf eine provokante Frage in einem Interview mit dem Economist. Der britische Gegenwartsautor lässt sich nicht gern in Schubladen stecken. Der Journalist griff in diesem Gespräch eine frühere Aussage von Stephens auf, in der er englische Dramatiker in zwei Kategorien einteilte: diejenigen, die auf dem Broadway Erfolg haben und die anderen, die es in Deutschland schaffen. Stephens gelingt beides: Broadway und Deutschland. Er adaptiert Klassiker für ein MainstreamPublikum und entwickelt eigene Stoffe, die vor allem in der Off-Szene gefeiert werden. Nahezu zeitgleich im Jahre 2014: Ibsens A Dollhouse im Young Vic in London und Carmen Disruption in Hamburg.

Schock-Zustand Auf dem diesjährigen Theatertreffen in München ist Stephens gleich zweimal vertreten. Den Anfang macht die Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover mit einer szenischen Collage aus zwei Stephens-Texten: Pornographie und Motortown. Die Mixture trägt den Titel Immer schön hinter der gelben Linie bleiben. Es ist eine Auseinandersetzung mit zwei schwierigen Stoffen. Beide Originaltexte beschäftigen sich mit Traumata, mit post-traumatischen Störungen. Das U-Bahn-Attentat 2005 in London und der Irakkrieg werden als Auslöser verwendet. Der Schock-Zustand. Wie kann ein Leben nach diesen Erfahrungen noch

Mann knutscht.

funktionieren? Die zweite Inszenierung folgt am Freitag. Dann wird die Aufführung der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt/Main gezeigt: Stephens „Punk Rock“. Was könnte es also sein, dass gleich zwei Schauspielschulen dazu inspiriert, die Werke des 43-jährigen Briten auf dem Theatertreffen zu zeigen? Simon Stephens’ Erfolg begann 1998 am Royal Court Theatre in London. Nur wenige Jahre nach Sarah Kanes Blasted und Mark Ravenhills Shopping and F***king, die eine neue Phase im englischen Theater auslösten. Junge Dramatiker wollten ihr Publikum mit brutalen und aggressiven Inhalten konfrontieren, vielleicht auch schocken. Das war die Geburtsstunde des „In-Yer-Face Theatre“, eines Theaters, das seine Zuschauer am Kragen packen und solange schüt-

Foto: Isabel Winarsch

teln soll, bis sie die Message kapieren. Es geht nicht mehr darum, inhaltsleere Kunst zu schaffen, sondern zu provozieren, Themen anzusprechen, die zuvor ignoriert oder gar vermieden wurden. Pornographie, Gewalt, Psychosen, Homosexualität. Das entsprach auch dem Zeitgeist in Deutschland. Wenn sich ein (englischer) Regisseur in Berlin oder Hamburg präsentieren wollte, entschied er sich für Mark Ravenhill oder Sarah Kane – oder eben für Simon Stephens. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Krieg, Mord, Tabubrüche In Kritikerumfragen von Theater heute wurde Stephens in den letzten neun Jahren fünf Mal zum besten ausländischen Dramatiker des Jahres gewählt. Kritiker und Theatermacher sind sich also einig,


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dass seine Stücke noch immer Relevanz haben. Vielleicht liegt dies an seiner universellen Herangehensweise. Stephens beschreibt in einem Interview mit der Zeit, dass seine Dramen einen „Blick auf die Straße“ reflektierte. Er orientiert sich an dem, was in der Gesellschaft passiert, und deshalb gibt es bei ihm Krieg und Mord, Tabubrüche und Grenzüberschreitungen. Der Untergang des Individuums in der Masse der Großstadt. Die Absurdität des Anonymen. Themen, die nicht nur auf England beschränkt sind, sondern universell funktionieren. Sie sind zeitlos.

Er will das Absurde der menschlichen Existenz und der Welt zeigen. Was Wunder, dass er Beckett zum Vorbild hat und mehr als einmal über Waiting for Godot sprach. Im Zeit-Interview erklärte Stephens: „Wladimir sagt zu Estragon: Gehen wir? Estragon sagt Ja. Und sie bewegen sich keinen Millimeter. Diesen Moment habe ich gestohlen und in ungefähr fünf Stücken verwendet. Er sagt alles über uns: Wir wissen, dass wir falsch leben.“ Julia Weigl

Wir bedanken uns für die großzügige Unterstützung bei:

Weinende Zuschauer Immer denkt Stephens bei seiner Arbeit vor allem an das Publikum. Er mag es nicht, wie er in dem Zeit-Interview sagte, „wenn Schauspieler auf der Bühne weinen. Die Einzigen, die im Theater weinen sollten, sind die Zuschauer. Manchmal muss man die Gefühle auf der Bühne verknappen, damit sie im Publikum entstehen.“ Stephens will nicht Unterhaltung, er will Emotionen.

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Post-traumatische Zärtlichkeit. Foto: Isabel Winarsch

Dr. Robin W. Bartels, Dr. Gerhard Beiten, Dr. Christoph Bulfon, Thomas Deininger, Achim Hartz, Carsten von der Heyden, Dr. Joachim Giehl, Prof. Dr.Dr. Joseph Kastenbauer, Dr. Georg Kellinghusen, Dr. Goswin von Mallinckrodt, Dr. Jörg Schweitzer, Hubert Stärker, Boltz Wachtel Dental und der v. Finck Stiftung

Bildunterschrift xxxx xxxxxx

I want you!

Foto Isabel Winarsch


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Versöhnung! Versöhnung? Die Hochschule der Künste Bern präsentiert einen Abend mit vier Soli

...und bin so klug als wie zuvor.

„Alle Gelübde, Verbote, Bannsprüche, Strafen und Schwüre, die ich gelobe, von diesem Jom Kippur an, bis zum erlösenden nächsten Jom Kippur. Alle bereue ich, alle seien ausgelöst, erlassen, aufgehoben, ungültig und vernichtet.“ – So beginnt das jüdische Gebet Kol Nidre, das am Versöhnungstag, dem Jom Kippur, stehend drei mal wiederholt wird. Diesen höchsten jüdischen Feiertag nimmt Simon Labhart als Ausgangspunkt für sein gleichnamiges Theaterprojekt Jom Kippur – Versöhnungstag in dem er Allgemeines mit Individuellem und Konkretes mit Abstraktem vermengt: „So sind Versprechen eben alles Lügen und Witze. Ich widme dieses Projekt meiner Großmutter und diesem Cello.“ „Wenn es etwas gibt, was die Welt am meisten hasst, so ist es eine Frau, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten küm-

mert“, wird Calamity Jane, die amerikanische Westernlegende, zitiert. In ihrem Projekt Der Cowgirls Blues präsentiert Johanna Dähler fiktive Briefe dieser wohl bekanntesten weiblichen Figur der amerikanischen Pionierzeit an deren Tochter. Die Theaterarbeit hinterfragt den Mythos des Wilden Westens als Männerdomäne und dekonstruiert so stereotype Genderbilder. Der Darstellung des Weiblichen widmet sich ebenfalls Nina La Frida von und mit Nina M. Wyss : „Was gibt ein Mensch von sich preis, wenn er sich rückhaltlos der Selbstdarstellung aussetzt?“ Nina Wyss interpretiert das „Selbstbildnis mit abgeschnittenem Haar“ von Frida Kahlo und bringt diesen Prozess der Reflexion auf die Bühne: Die Themen sind Einsamkeit, Vergänglichkeit, der Wunsch nach Anerkennung. Gefühle in Farben ausgedrückt.„Weißt du noch? Damals?

Foto: Simon Labhart

Seattle? Sea World? Amerikaurlaub? Mama, Papa und wir zwei“ In For James erzählt Maximilian Reichert ein prägendes Kindheitserlebnis zweier Jungs. Busty und Max sind mit ihren Eltern in einem Aquarium. Das Walfischbecken ist gigantisch und es steht in einem veritablen Stadion. Und die zwei Jungs wollen ganz vorne sitzen. Diese vier sehr unterschiedlichen Solisten zeigt die Hochschule der Künste Bern auf dem diesjährigen Treffen der Schauspielschulen in München. Die Arbeiten wurden im 3 Studienjahr innerhalb der Bachelorprüfungen erarbeitet, die Themenkomplexe wurden von den Studierenden individuell gewählt und frei ausgearbeitet und umgesetzt. Zusammen könnten diese vier Episoden einen spannenden und unkonventionellen Theaterabend ergeben. Quirin Brunnmeier


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stellen, legen, setzen, ordnen English sprach – schwere sprach. Foto: Franz Meiller

HFF Potsdam-Babelsberg spielt Peter Handkes Kaspar Ein kieksender Kaspar-Chor kauert am vorderen Rand der Bühne. In den grauen Ganzkörperoveralls gibt jeder der acht Schauspielschüler der HFF „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg mal den Kaspar. Und flüstert: „Ich möcht ein solcher werden, wie einmal ein andrer gewesen ist.“ Doch zu Beginn der Inszenierung von Peter Handkes Kaspar sind sie alle noch gleich. Gefangen in ihren Baby-Stramplern und gänzlich unbefangen, was Möglichkeit und Macht der Sprache angeht. Ganz im Gegensatz zu den jungen Schauspielern, die in diesen Jumpsuits stecken. Dass diese einfühlsam und pointiert mit ihrem sprachlichen und performativen Werkzeug umzugehen wissen, beweist die folgende Aufführung. Regisseur Fabian Gerhardt inszeniert seine Version des Kaspar in drei Teilen. Die Texte hierfür sind klug und sehr passend aus unterschiedlichen Handke-Texten zuBildunterschrift xxxx sammengesammelt, auch xxxxxx Ausschnitte aus Lewis Carrolls beiden Alice-Büchern und einem Feuerbach-Text über Kaspar Hauser werden den Schauspielern in den Mund gelegt. Die Inszenierung demonstriert die Mechanismen von Spracherwerb und Sprache als Manipulations- und Machtinstrument. Geschichte und Schicksal des Findlings Kaspar Hauser, der als Jugendlicher in Nürnberg aufgefunden wurde und nur besagten einen Satz sprach, wird in einer ersten kurzen Episode anschaulich. Philipp Buder, der Vorzeige-Kaspar, trägt nur eine weiße Unterhose, die ihm wie eine Windel um die Lenden hängt. Auf einem viel zu großen Stuhl sitzt er an einem viel zu großen Tisch. Oder ist Kaspar viel zu klein? Alles scheint eine Frage der Perspektive zu sein. Sprache hat für ihn noch keine Bedeutung. Ich und Du kann er noch nicht unterscheiden. Erst als er von sei-

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nen Sado-Maso Eltern gezüchtigt und für die Welt der Erwachsenen dressiert wird, kennt er den Unterschied. Die Mutter im Lederkleid und der Vater mit der Peitsche prügeln ihm das gesellschaftskonforme Verhalten und den Gebrauch der Sprache regelrecht in den Leib. Im Hintergrund bestärkt der Chor die Ordnungsfunktion der Sprache: stellen, legen, setzen, ordnen. Immer wieder schlüpfen einzelne Schauspieler aus ihren Onesies und damit zugleich in andere Rollen. Probieren Worte aus wie Kleider. Spielen mit sprachlichen Konventionen und Bedeutungen. Streitgespräch, Monolog, Song. Das ist ebenso geistreich wie witzig, zuweilen auch erschreckend einfach und kompliziert zugleich. Und radikal, wenn aus den einzelnen Stimmchen ein totalitärer KasparRuf wird. Oder brutal. Handke selbst sagt über sein Stück, dass es auch „Sprechfolterung“ heißen könnte. Und dass Sprache auch mit Qual zu tun haben kann, illustriert der zweite Teil, der das Schicksal der im Keller gefangenen Natascha Kampusch in Erinnerung ruft. Sprache als Verließ – die Neonstäbe im Hintergrund verstärken

die Gitteroptik. Matthias Müller hat diese genialisch schlichte Bühne gestaltet, die zugleich Kellerloch, Seziertisch und Ort für Showeinlagen ist. Sprache ohne Denken geht natürlich nicht. Wie schwer wiegen Vergessen und Sprachlosigkeit! Wie wichtig ist der performative Sprachakt! Handke rückte diesen bereits durch die Uraufführung in den Vordergrund, die an zwei Orten gleichzeitig stattfand: in Frankfurt und in Oberhausen. Bei dieser Kaspar-Inszenierung ist es immer wieder der Kaspar-Chor, der die sprachlichen Vorgänge thematisiert: in einer performativen Einlage sogar als Simultanübersetzer und Kommentator. Sprache ist Macht, da sie Interpretationsraum schafft! Handkes Vorlage bietet unbestritten genug Stoff für sprachliche Spitzfindigkeiten, die die Welt bedeuten. Das grenzt mitunter an Sprachphilosophie und Logik und nimmt Wittgensteinsche Ausmaße an. Regisseur Gerhardt gelingt zusammen mit den Schauspielern ein virtuoses Sprach-Spektakel: Worüber man sprechen kann, darüber muss man nicht schweigen. Anna Steinbauer

Klappe zu.

Foto: HL Böhme


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Hauptsache: anti Rainer Werner Fassbinder ist gleich zweimal dabei: Katzelmacher und Blut am Hals der Katze

Hast du etwas Zeit für mich?

Foto: Universität für Musik und Darstellende Kunst Graz.

„Er redet wenig und das noch muffig.“ Als typischen Münchner Grantler mit misstrauischen Augen und mürrischem Mund beschreibt Fritz Rumler den Regisseur Rainer Werner Fassbinder in einem ersten Spiegel-Artikel am 29.12.1969. Zu diesem Zeitpunkt hatte Fassbinder gerade seinen künstlerischen Durchbruch geschafft. Sein Spielfilmdebüt Katzelmacher startete im November 1969 in den deutschen Kinos. Grundlage für den Film war Fassbinders gleichnamiges Bühnenstück, das am 7.4.1968 im berüchtigten Münchner „Action-Theater“ uraufgeführt wurde. Die Aufführung dauerte nur knappe 40 Minuten. Nach der Pause gab es gleich noch eine zweite Premiere: Jean-Marie Staub inszenierte Ferdinand Bruckners Krankheit der Jugend. Der Regisseur hatte einfachheitshalber das komplette Fassbinder-Ensemble für sein Stück übernommen. Irm Hermann, Hanna Schygulla, Peer Raben IMPRESSUM theater treffen text ist ein Projekt des Studiengangs Kulturkritik der HFF/ Bayerischen Theaterakademie August Everding Herausgeber: Otto Falckenberg Schule

und Fassbinder selbst spielten die Hauptrollen an diesem Abend. Für Skandale hatte das kleine Off-Theater in der Münchener Müllerstraße schon vorher gesorgt. Man war hier „anti-alles“, wie die Münchner Abendzeitung 1967 schrieb. Klassische Stücke wurden radikal zusammengestrichen und drastisch interpretiert. Antibürgerliche Gesinnung und massive Polemik des „Action-Theaters“ sollten ein Gegenmodell zum Staatstheater bilden. Man arbeitete und lebte gemeinsam in dem ehemaligen Kino, konnte dort schlafen und essen. Der 22-jährige Fassbinder war fasziniert. Nur wenige Monate nachdem er zu der Gruppe um Peer Raben gestoßen war, wurde er zur bestimmenden Figur des Untergrund-Theaters. Und das, obwohl er bei der Mehrheit des Ensembles nicht gerade beliebt war. Das „Action-Theater“ zog allerlei schräge Vögel an, unter anderem auch einige

V.i.s.d.P: Prof.Dr. C.Bernd Sucher Redaktion: Quirin Brunnmeier, Benedikt Frank, Nicolas Freund, Sebastian Lauterbach, Antonia Mahler, Britta Schönhütl, Artur Senger, Anna Steinbauer, Julia Weigl

Gammler aus dem Englischen Garten. Als schließlich einer der vom Monopteros übergesiedelten Penner in einer Messerstecherei eine junge Schauspielerin verletzte, wurde das Theater kurz nach der KatzelmacherPremiere geschlossen. Zwei Monate später gründete Fassbinder sein „antitheater“, das zunächst in verschiedenen Schwabinger Kneipen probte. Aus diesem Theater formierte sich ein festes Schauspielensemble, das Fassbinder umgab und mit dem er auch seine ersten zehn Filme drehte. Für zwei Mark konnte man auf der Premiere des Katzelmacher die Textfassung von Fassbinders erstem Theaterstück kaufen. „Auf diesem Stück liegen keinerlei Rechte. Es ist für jedermann frei“, stand auf der Titelseite des Heftes. Die Schriftstellerin Marieluise Fleißer, die maßgeblichen Anteil an der Literarisierung des bayerischen Volksstücks hatte, diente Fassbinder als Vorbild für seine Milieustudie. Ihr widmete der Regisseur auch Katzelmacher. In dem Stück geht es um eine Gruppe junger Leute, die zusammen in einem Münchner Vorort herumhängen. Sie trinken Bier, streiten sich, lästern oder betrügen einander. Sie träumen von glücklichen Beziehungen, einer Schauspielkarriere oder einfach nur davon, anerkannt zu werden. Alle versuchen sie, der kleinbürgerlichen Langeweile zu entfliehen. In die Alltagstristesse platzt plötzlich ein griechischer Gastarbeiter – der Katzelmacher. Mit diesem abschätzigen Ausdruck bezeichnete man früher Gastarbeiter aus südlichen Ländern. Der Außenseiter wird für die anderen Figuren zur Projektionsfläche. Zur Figur, an der sich sowohl unerfüllte Sehnsüchte als auch Frust und Aggression der jungen Menschen entladen. Interessanterweise ist Fassbinder auf dem dieses Jahr mit zwei Theaterstücken vertreten: Graz präsentiert Katzelmacher, am Donnerstag wird Blut am Hals der Katze in der Fassung der Theaterakademie August Everding zu sehen sein. Anna Steinbauer


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